Wenk 2009, Gerhard Ebeling - Hermeneutische Berücksichtigung der Geschichtlichkeit der...

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Gerhard Ebeling Hermeneutische Berücksichtigung der Geschichtlichkeit der Verkündigung von Philipp Wenk Wohlen, 29.12.09

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Gerhard Ebeling Hermeneutische Berücksichtigung der Geschichtlichkeit der Verkündigung

von Philipp Wenk

Wohlen, 29.12.09

Gerhard Ebeling: Hermeneutische Berücksichtigung der Geschichtlichkeit der Verkündigung

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INHALTSVERZEICHNIS

1 Einleitung .......................................................................................................................... 3

Teil 1: Wenkscher Ebeling

2 Verhältnisbestimmung: Mensch und Geschichte .......................................................... 5

2.1 Geschichtlichkeit des Menschen .......................................................................................................... 5

2.1.1 Geschichtlichkeit der Einzelperson ................................................................................................. 5

2.1.2 Überindividueller Geschichtszusammenhang ................................................................................. 6

2.1.3 Geschichtlicher Wandel der Geschichtlichkeit des Menschen ........................................................ 6

2.2 Sprache und Zeit .................................................................................................................................. 7

3 Verhältnisbestimmung: Gott und Geschichte ............................................................. 11

3.1 Die Situation des Widerspruchs ......................................................................................................... 11

3.2 Zeitproblem in der Theologie ............................................................................................................. 12

3.3 Gott in der Geschichte ....................................................................................................................... 14

4 Verkündigung ................................................................................................................. 16

4.1 Wort Gottes in der heutigen Zeit ........................................................................................................ 16

4.2 Wort Gottes und Menschenwort ......................................................................................................... 17

4.3 Wort Gottes als Wort, das seinen Zweck erfüllt ................................................................................. 18

4.4 Wort Gottes in seinen Gestalten ......................................................................................................... 19

4.5 Dynamik innerhalb der verschiedenen Gestalten .............................................................................. 20

5 Tradition ......................................................................................................................... 22

5.1 Annäherung an den Begriff ................................................................................................................ 22

5.2 Frühkatholischer Traditionsbegriff .................................................................................................... 23

5.3 Tradition im Sinne der Reformation .................................................................................................. 25

6 Hermeneutik ................................................................................................................... 28

6.1 Ich ...................................................................................................................................................... 29

6.2 Sage .................................................................................................................................................... 29

6.3 Etwas .................................................................................................................................................. 30

6.4 Zu dir.................................................................................................................................................. 31

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Teil 2: Ebelingscher Wenk

7 Kritik an der hermeneutischen Theologie ................................................................... 33

7.1 Unterscheidung von Geschichte und Natur als Ausklammerung der Wahrheitsfrage ....................... 33

7.2 Folklorisierung der Wahrheiten in einer Gesellschaft des Spektakels ............................................... 34

7.3 Fenster- und Spiegelhermeneutik ....................................................................................................... 36

7.3.1 Fenster-Hermeneutik ..................................................................................................................... 36

7.3.2 Spiegel-Hermeneutik ..................................................................................................................... 36

8 Replik ............................................................................................................................... 38

8.1 Vom Text zurück in die Vergangenheit .............................................................................................. 38

8.2 Vom Text in die zukunftsweisende Gegenwart ................................................................................... 39

8.3 Einheit der beiden Blickrichtungen .................................................................................................... 39

9 Thesenreihe als Fazit ...................................................................................................... 41

10 Bibliographie und Abkürzungsverzeichnis .................................................................. 42

10.1 Gerhard Ebeling ................................................................................................................................ 42

10.2 Zitierte Werke anderer Autoren ......................................................................................................... 43

Gerhard Ebeling: Hermeneutische Berücksichtigung der Geschichtlichkeit der Verkündigung

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1 Einleitung

Der christliche Glaube beruft sich auf eine Person aus der Vergangenheit und überliefert dazu

Texte aus der Vergangenheit. Muss er da nicht zwingend verstaubt und überholt – der

Gegenwart nicht angemessen – dastehen?

Die Geschichtsbezogenheit der christlichen Verkündigung hat die Theologie wohl seit jeher

beschäftigt: Da die Person Jesu aus der Vergangenheit das Zentrum des Christentums

ausmacht, stellt sich automatisch die Frage, wie die Beziehung zu ihm zu denken sei.1 Dass

die Verkündigung selber aber geschichtlich ist, wurde speziell in der Neuzeit zu einer grossen

Herausforderung der Theologie, die verschiedene Wege beschritten hat, mit ihr umzugehen.

In der vorliegenden Arbeit setze ich mich mit Ebelings Weise der Berücksichtigung der

Geschichtlichkeit der Verkündigung auseinander. Es wäre wohl kaum möglich, eine Arbeit

darüber zu schreiben, ohne auf diejenige geschichtliche Ausprägung der Theologie zu

sprechen zu kommen, zu deren prominenten Vertretern Ebeling neben Fuchs und Jüngel

gehörte: die Hermeneutische Theologie.

Es handelt sich dabei um eine spezifische Richtung der evangelischen Theologie in der

zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Eines ihrer charakteristischen Merkmale besteht darin,

dass sie cognitio hominis und cognitio dei stets verbunden denkt: Es kann weder vom

Menschen noch von Gott geredet werden, ohne gleichzeitig auch vom Anderen zu sprechen.

Für Ebeling ist typisch, dass er – da man in der Praxis trotz Verbundenheit an einem Punkt

beginnen muss – beim Menschen beginnt.2

Ein weiteres Merkmal der Hermeneutischen Theologie ist ihr Bezug auf Bultmann, dessen

Erbe sie vertieft und weiterschreibt, indem sie sich dabei an den späten Heidegger anlehnt,

während Bultmann eher durch dessen Frühwerk (vgl. Sein und Zeit) geprägt war. Von

Bultmann kommt die Ablehnung einer Heilsgeschichte innerhalb der Geschichte und damit

die Hinwendung zum Heilsgeschehen, das als besonderes Verhältnis zur Geschichte

verstanden wird. Bei Ebeling findet dieses Heilsgeschehen seine Zuspitzung im Wort-

geschehen: Die Situation des Menschen wird durch das Ereignis von Gottes Wort so erhellt,

1 Natürlich wurde diese Frage zu unterschiedlichen Zeiten unterschiedlich stark gewichtet. 2 Man könnte auch bei Gott oder der Relation von Gott und Mensch beginnen.

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dass er sich coram deo erkennt, wodurch er ein neues Verhältnis zu sich selbst und zur

gesamten Welt (dazu gehört auch die Zeit) erlangt.

Die folgende Arbeit widmet sich Ebelings Verständnis des Heilsgeschehens und dem daraus

resultierenden Verhältnis zur Geschichte, das hermeneutisch berücksichtig werden muss. In

seinem Sinn wird mit der Besprechung des Menschen in seiner Grundsituation und seinem

Bezug zur Zeit begonnen und erst anschliessend von Gott und seinem Wirken in der Zeit

durch sein Wort gesprochen. Da sich Gottes Wort für Ebeling in der Verkündigung ereignet,

hat ihre Besprechung an dieser Stelle ihren Platz. Doch schwebt die Verkündigung nicht in

einem leeren Raum, sie ist zurückgebunden an historische Gegebenheiten – v.a. an die Bibel.

Wie Ebeling diesen Bezug versteht, soll erst nach dem Kapitel Verkündigung anhand des

Traditionsbegriffs erläutert werden, damit die Dynamik von der Bestimmung Gottes in der

Geschichte hin zur Verkündigung nicht unterbrochen wird. Das Stichwort Hermeneutik greift

das Vorangegangene nochmals auf und fasst es in einer neuen Form zusammen.

Weil ich darum weiss, dass jede historische Kenntnis beschränkt ist, habe ich diesen

darstellenden Teil Wenkscher Ebeling genannt. Doch darf eine Arbeit, die sich mit dem

Verständnis der Geschichtlichkeit befasst nicht bei der historischen Kenntnis einer

bestimmten Position stehen bleiben. Deshalb folgt auf den ersten Teil der zweite unter

Ebelingscher Wenk, in dem ich nun meine eigene Position vor Ebelings Texten darstelle.

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Teil 1: Wenkscher Ebeling

2 Verhältnisbestimmung: Mensch und Geschichte

Mit der Verhältnisbestimmung von Mensch und Geschichte widmen wir uns dem ersten

Kernthema dieser Arbeit. Ebeling bespricht den Begriff Geschichte in der Dogmatik des

christlichen Glaubens beim Behandeln des Themas Welt in zwei Geltungsbereichen.

• Im ersten steht Geschichte zusammen mit Natur und ist als unumkehrbarer zeitlicher

Ablauf3, als „zeitliches Nacheinander des Naturgeschehens“4 zu verstehen.

• Im zweiten liegt der Fokus auf dem Menschen, dessen Geschichtlichkeit durch sein

Verhältnis zur Zeit bestimmt ist.

Doch darf die Unterscheidung der Geltungsbereiche nicht dazu verleiten, das Ganze in zwei

von einander gesonderte Geschichtsbegriffe aufzuteilen. Die unumkehrbare Naturgeschichte

und Menschheitsgeschichte, die durch ihren Verhältnischarakter ein „Ineinandergreifen der

Zeitekstasen“5 ermöglicht, stehen stets in einer sich gegenseitig beeinflussenden Verbindung.

Gerade die letztere ist ohne die erste gar nicht vorstellbar.6 Dennoch liegt der Fokus dieser

Arbeit auf der Geschichte in Verbindung mit dem Menschen. Dessen Geschichtlichkeit soll

nun erläutert werden.

2.1 Geschichtlichkeit des Menschen

2.1.1 Geschichtlichkeit der Einzelperson

Es wurde schon erwähnt: Der Mensch kann sich zur Zeit verhalten. Er kann sich an die

Vergangenheit erinnern und die Zukunft planen – verflossene Zeit vergegenwärtigen und

noch nicht gekommene vorwegnehmen. So ist es ihm möglich, die Gegenwart weit

auszudehnen und damit die Unumkehrbarkeit der Zeit zu relativieren, die physikalische zur

erfahrenen und erfüllten Zeit werden zu lassen.7

Ebeling erkennt neben dieser grossen Chance des Menschen aber auch eine Gefahr: Weil der

Mensch nicht einfach in der Zeit ist wie alles sonstige Zeitliche, sondern zugleich in und

ausserhalb der Jetztzeit, kann seine Zeitüberlegenheit auch zum Problem, zur 3 Vgl. DcG, 271. 4 DcG, 281. 5 DcG, 281. 6 Vgl. DcG, 281. 7 DcG, 282.

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Zeitverfallenheit werden. Denn das Ineinandergeraten von Vergangenheit und Zukunft mit

der Gegenwart wird problematisch, wenn unverarbeitete Vergangenheit oder die

Ungewissheit der Zukunft den Menschen gefangen nehmen. Dann nämlich sieht er sich

gedrängt, vor der Vergangenheit in die Zukunft oder vor der Zukunft in die Vergangenheit zu

flüchten. Beide Male verliert er dadurch die Gegenwart.8

2.1.2 Überindividueller Geschichtszusammenhang

Die Geschichtlichkeit des Menschen darf nun aber nicht auf eine Art interne Geschichtlichkeit

der Einzelperson, auf den Selbstbezug des Menschen reduziert werden. Geschichte deutet in

Ebelings Verständnis gerade daraufhin, dass der Mensch nicht für sich alleine steht, sondern

auch mit der Welt in Beziehung steht. Er ist eingebettet in überindividuelle Zusammenhänge,9

in einen sozialen Kontext, und verwurzelt in einer bestimmten Tradition.10 Diesem Einge-

bettet-Sein kann sich keiner ganz entziehen. Kontext und Tradition waren vor der

Einzelperson da und prägten sie von klein auf ohne ihr Einverständnis. Sie liefern dem

Menschen die Kriterien seiner Entscheidungen, bilden den Rahmen, innerhalb dessen er sich

bewegt.11 Selbst die Einstellung gegenüber diesem Vorgeprägt-Sein durch Kontext und

Tradition – ob man sich darüber freut oder sich dagegen sträubt – ist bis zu einem gewissen

Grad dem Menschen von aussen her vorgegeben.12

Dieser überindividuelle Rahmen – geprägt durch jede einzelne Person, doch nie beschränkt

auf sie – stiftet Kontinuität im menschlichen Miteinander. Als geformte und das Leben

überdauernde Vergangenheit gründet die Tradition den Lebensraum der Gegenwart des

Menschen und bildet die Zukunft voraus durch seine Herkunft.13 Darum kann nach Ebeling

Freiheit nie beziehungslos zur Tradition verwirklicht werden.14

2.1.3 Geschichtlicher Wandel der Geschichtlichkeit des Menschen

Ebeling postuliert, dieser überindividuelle Geschichtszusammenhang sei seit dem Eintreten

der Moderne charakterisiert durch eine „Radikalisierung der Geschichtlichkeit“15 mittels der

historisch-kritischen Erforschung der Vergangenheit und einer gesteigerten Möglichkeit, die

Zukunft zu planen. Diese gesteigerten Möglichkeiten, sich zur Zeit zu verhalten, können sich

8 Vgl. ZuW, 135. 9 Vgl. GKV, 34. 10 Vgl. DcG, 285. 11 Vgl. GKV, 35. 12 Vgl. DcG, 283. 13 Vgl. GKV. 35. 14 Vgl. GKV, 34. 15 DcG, 283.

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– wie oben erwähnt – in zwei Richtungen entwickeln. Die positive Seite mit all ihren Chancen

und Gewinnen, welche die historische Forschung und die technische Entwicklung mit sich

bringen, will Ebeling nicht ausser Acht lassen. Doch der Kehrseite der Medaille, muss man

sich bewusst sein: Eine Radikalisierung der Geschichtlichkeit kann letztlich auch zu ihrem

Schwund führen, wenn historische Überlieferung verwechselt wird mit geschichtlicher

Tradition.16 Dies droht dann, wenn durch historische Objektivierung und Kritik nicht nur das

Bedrohende, sondern auch das Lebensspendende der Tradition ausgelöscht wird. Denn

Erkennen der Geschichte ist noch nicht dasselbe wie Leben der Geschichte. Ebeling verweist

hierbei auf Troeltsch, nach dem der Ausdruck rein historisch auf eine ganze Weltanschauung

verweise: „Verständlich ist etwas nur noch in seiner geschichtlichen Bedingtheit, als Bestand-

teil geschichtlicher Entwicklung. Einerseits gilt nur noch Geschichtliches. Andererseits ist

allem Geschichtlichen Geltung im strengen Sinn genommen.“17 Das ist der Grund, weshalb

„Historismus und Geschichtsfremdheit so dicht beieinanderliegen.“18

Diese Gefahr betrachtet Ebeling für seine Zeit als besonders akut. Trotz oder gerade wegen

des wachsenden Interesses an der Geschichte verliert diese immer mehr ihre einbettende

Funktion.19 Die durch die Erforschung der Geschichte angestrebte radikale Befreiung von der

Tradition führt nach ihm nicht in wahre Freiheit. Im Gegenteil, Halt und Geborgenheit gehen

dabei verloren,20 weil man meint, Freiheit unabhängig vom oben genannten überindividuellen

Geschichtszusammenhang der Tradition zu finden.

In welchem Verhältnis Ebeling zur Tradition steht, muss weiter unten in einem etwas anderen

Zusammenhang noch ausführlicher entfaltet werden. Nun aber soll das Verhältnis des

Menschen zur Zeit noch um einen weiteren Aspekt ergänzt werden.

2.2 Sprache und Zeit

Der Mensch lebt in der Zeit, indem er sich zur Zeit verhält. Nun fügt Ebeling hinzu, dass

dieses Verhältnis ein sprachliches ist. Sprache ist für den Menschen „der Schnittpunkt aller

16 Vgl. GKV, 37. 17 TuV, 4. 18 DcG, 283. 19 Vgl. TuV, 4f. 20 Vgl. GKV, 36.

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Dimensionen der Wirklichkeitserfahrung“21. Nur mittels der Sprache können Vergangenheit

und Zukunft gegenwärtig gemacht werden. Daraus ableitend wagt sich Ebeling sogar, die

„Evidenz der Gleichursprünglichkeit von Zeiterfahrung und Sprache“ 22 zu postulieren. Denn

Wort als gesprochenes Wort ist immer Zeitwort. Deutlich wird das, wenn man von der

elementaren Sinneinheit der Sprache ausgeht – dem Satz. Im Satz werden die Worte im

Medium der Zeit zusammengefügt – und zwar stets in Bezug auf die Gegenwart des

Redenden. Die Zeit des Satzes verortet den Inhalt der Aussage in der Vergangenheit,

Gegenwart oder Zukunft in Relation zur Jetztzeit der Rede.23

Dies wiederum führt dazu, dass nicht nur das Ausgesagte (der Inhalt des Satzes), sondern

auch die Aussage selbst (der Vorgang des Redens) zeitlich zu verorten sind. Was jetzt

gegenwärtige Rede ist, wird in Zukunft vergangene Rede sein. Zum Reden gehört folglich

immer auch die Situation – die Zeit – dazu, in der die Aussage ihren Platz und ihre Wirkung

hat, indem die Aussage die Situation trifft und dadurch verändert.24 Wenn jedes Wort also

seine bestimmte Zeit hat, dann ist deshalb auch nicht immer jedes Wort an der Zeit. Nicht

jedes Wort zeigt Wirkung und verändert die Situation, in die hinein es geschieht. Als

vollmächtig bezeichnet Ebeling ein Wort dann, wenn es die gegenwärtige Situation triff und

aussagt, wie sie ist.25

Weil der Mensch um die Zeitlichkeit des Wortes weiss – so folgert Ebeling –, kann die

Wortsituation des Menschen, welche seine Grundsituation ist,26 auch als Wortverantwortung

bezeichnet werden. Denn jede Aussage will verantwortet sein, sie behaftet den Redenden: Er

soll etwas zu sagen haben, das an der Zeit ist. Diesen scheinbaren naturalistischen Fehlschluss

vom Indikativ des Wissens um die Zeitlichkeit auf den Imperativ der Wortverantwortung

macht Ebeling an der Tatsache fest, dass keine Aussage ohne Bezug zur Zeit steht. Der

Redende kann gar nicht anders, als sich selbst in seinem Verhältnis zur Zeit zu verant-

worten.27

21 GuW, 397. 22 ZuW, 135. 23 Vgl. GuW, 409. 24 Vgl. GuW, 409. 25 Vgl. ZuW. 134. 26 Ebeling versteht unter Grundsituation „diejenige Situation, die für das Menschsein konstitutiv ist und die allen nur denkbaren Situationen des Menschen als letztlich bestimmend zugrundeliegt und in ihnen präsent ist.“ Sie ist deshalb eine Sprachsituation, „weil sich in ihr ein vielfältiges Sprachgeschehen vollzieht, in dem Ansprüche verantwortlich wahrgenommen werden unter der Herausforderung durch ein letztinstanzliches Angegangensein“. DcG, 189. 27 Vgl. GuW, 410.

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Doch wenn Ebeling von Wortverantwortung spricht, meint er mehr als nur die Notwendigkeit,

das eigene Verhältnis zur Zeit zu deklarieren. Wenn Wortverantwortung die Grundsituation

des Menschen ausmacht, dann muss sie weiter reichen. Hierbei stellt sich für ihn die Frage:

Worauf wird der Redende in seiner Verantwortung behaftet? Was für ein Verhältnis zur Zeit

wird von ihm gefordert? Um diese Frage beantworten zu können, muss zuerst die Frage nach

der Funktion des Wortes überhaupt gestellt werden. Was soll das Wort an sich leisten?

Ebeling präzisiert weiter: Was ist allein dem Wort möglich und deshalb seine ihm eigene

Funktion? Seiner Ansicht nach ist es das Gewähren von Zukunft und Freiheit.28 Denn nicht

schon die Zeitspanne des Lebens oder der Raum, in dem sich der Mensch bewegen kann, sind

Garanten dafür. Im Gegenteil scheint es so, dass „gerade die Zukunft und Freiheit, die wir

haben, selber der Ursprung der Bedrohung von Zukunft und Freiheit sind.“29 Es bleibt also

allein dem Wort überlassen, Zukunft und Freiheit zu eröffnen. Und dazu ist der Mensch in

seiner Wortsituation und damit Wortverantwortung gerufen. 30

Zudem gilt es zu bedenken, dass die Wortverantwortung als Grundsituation des Menschen

nicht von der Art ist, dass sie jemals endgültig geleistet werden könnte. Als existentielle

Aufgabe ist sie dem Menschen unaufhörlich auferlegt und fordert von ihm fortlaufend neues

Wort.31

Nun ist aber bereits oben angeklungen, dass gerade das Verhältnis des Menschen zur Zukunft

problematisch sein kann – ja grundsätzlich problematisch ist. Es gehört nach Ebeling zur

Geschichtlichkeit des Menschen, dass die Zeit immer und überhaupt nur problematisch

erfahren wird.32 Deshalb gehört es zur Grundsituation des Menschen als Wortsituation, dass

er bei seiner Sprachlichkeit behaftet wird, in der er sich selbst aber gar nicht mächtig ist: Es

wird von ihm ein Wort gefordert, zu dem er nicht fähig ist, nach dem er aber hungert.33 Diese

Grundsituation, die aufdeckt, dass der Mensch als einer, der zur Verantwortung gerufen ist,

weder das erste noch das letzte Wort haben, sondern letztlich nur antworten34 kann, und seine

Ohnmacht, die ihn zum Empfänger und nicht zum Täter macht,35 sie bringen den Menschen in

28 Vgl. GuW, 412; ZuW, 134. 29 GuW, 412. 30 Vgl. GuW, 413. 31 Vgl. WcG, 8f. 32 Vgl. ZuW, 135. 33 Vgl. GuW, 417f. 34 Vgl. GuW, 418; DcG, 189. 35 Vgl. GuW, 419.

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den Horizont derjenigen „Situation, die durch das Wort ‚Gott̒ angesprochen und gemeint

ist.“36 Davon muss jetzt ausführlicher die Rede sein.

36 GuW, 415f.

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3 Verhältnisbestimmung: Gott und Geschichte

Die Überleitung vom letzten Kapitel zu diesem mag erstaunen. Ausgehend von der Situation

des Menschen soll nun von Gott die Rede sein. Der bedrängte Mensch sieht sich überfordert

und beginnt von Gott zu sprechen, auf den er seine Bedürfnisse projiziert – könnte man

meinen. Ebeling ist sich der Gefahr des Vorwurfs bewusst, eine Art natürlicher Theologie zu

vertreten, und betont immer wieder, dies sei nicht der Fall.37 Es geht ihm nicht darum, aus der

eigenen Welterfahrung zu einer Gotteserkenntnis oder einem -postulat zu gelangen. Dennoch

ist es für ihn wichtig, zuerst von der Situation des Menschen in der Zeit zu reden – im

Gegensatz zum klassischen Aufbau vieler Dogmatiken, in denen zuerst über Gott und dann

erst von Gott her über die Welt geschrieben wird. Denn für Ebeling kann von Gott keine Rede

sein, ohne die Welt als Geschehen darin zur Sprache zu bringen. Gott ist nicht etwas

Zusätzliches zur übrigen Wirklichkeit und somit getrennt von ihr. Er zeigt sich nicht in einer

eigenen Wortschicht, die sich von der zwischenmenschlichen Sprache abhebt.38 Nach Ebeling

brächte die getrennte Behandlung von Gott und Welt den Nachteil mit sich, dass die

Gotteslehre in der Zeitlosigkeit verankert würde. Dies liesse die faktische Situation des

Redens über Gott unberücksichtigt und ermunterte zur Situationsvergessenheit. Denn ganz

unabhängig davon, wie man Gottes Verhältnis zur Zeit denkt, findet das Reden über Gott in

der Zeit statt. Dies muss reflektiert werden.39

3.1 Die Situation des Widerspruchs

Ebeling fordert deshalb im Gegenzug zur klassischen Dogmatik, dass beim Reden über Gott

stets die Erdenschwere der Welterfahrung dessen, der redet, ins Gewicht fallen soll.40 Eine

solche Herangehensweise an die Gotteslehre stösst immer wieder auf den Widerspruch der

Welterfahrung gegen das von Gott Ausgesagte. Für Ebeling ist dies aber kein Hemmnis der

Gotteslehre – im Gegenteil: Die „Symptome des Widerspruchs der Weltwirklichkeit gegen

das Reden von Gott [gehören] in dieses hinein als Gottes Materie.“41 Doch der Widerspruch

findet sich nicht nur auf der Seite der menschlichen Welterfahrung, die sich den Aussagen

über Gott entgegenstellt, sondern auch auf Gottes Seite, der in Gegensatz zur Welterfahrung

des Menschen tritt.42 Die zwei Seiten gehören in ihrer Spannung untrennbar zusammen.

37 Vgl. z.B. DcG, 291. 38 Vgl. WGuH, 340. 39 Vgl. DcG, 168. 40 Vgl. DcG, 290. 41 DcG, 168. 42 Vgl. DcG, 167.

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Formal könnte man das so ausdrücken: Vom Gottesbezug her (coram deo) werden Selbst-

und Weltbezug neu bestimmt und zwar so, dass Selbst- und Weltbezug ohne Gottesbezug als

dem ersteren entgegengesetzt verstanden werden. Um darauf hinzuweisen, wurde zuerst die

Grundsituation des Menschen geschildert: die Herausforderung, freisetzendes und Zukunft

gewährendes Wort zu bieten, und die gleichzeitige Unmöglichkeit, es zu finden und

auszusprechen. Allein in dieser Situation hat das Reden von Gott seinen Platz. Anhand von

zwei Begriffen soll dies exemplarisch dargestellt werden.

3.2 Zeitproblem in der Theologie

Die weiter oben dargestellte Radikalisierung der Geschichtlichkeit des Menschen in der

Neuzeit gehört zur heutigen Situation dazu, in die hinein von Gott geredet werden soll, und

muss darum in die Überlegungen miteinbezogen werden, v.a. dort, wo aufgrund dieser Verän-

derung „nur noch ein gebrochenes Verhältnis zur christlichen Sprachtradition“43 zu bestehen

scheint. Solche Überlegungen führen sehr weit und können eine totale Umformung des

christlichen Denkens fordern: Wie soll das Reden von Gott verantwortet werden, wenn nur

noch das Geschichtliche Geltung hat?44 Als Beispiel sollen hier zwei theologische Begriffe im

Zusammenhang mit Zeit und Gott behandelt werden, die im 20. Jahrhundert in eine Krise

geraten sind: Ewigkeit, Eschatologie.45 An ihnen soll sichtbar werden, wie Ebeling versucht,

diejenigen Widersprüche zu überwinden, die ein neuzeitliches Verständnis vom Reden über

Gott verhindern. Dadurch soll aber der zentrale Widerspruch, wie er oben beschrieben wurde,

umso deutlicher hervortreten können.

Die Ewigkeit – ein traditionelles Attribut Gottes – sieht Ebeling in seiner Zeit von Grund auf

in Frage gestellt. Als Produkt der abendländischen metaphysischen Tradition, deren Wurzeln

in der Verschmelzung der griechischen Philosophie mit der christlichen Apologetik liegen,

stellt sie etwas dar, das mit dem heutigen Wirklichkeitsverständnis kaum mehr zusammenzu-

bringen ist. Durch diese Verortung des Ewigkeitsbegriffs in der Geschichtlichkeit und deshalb

Unterwerfung unter sie scheint auch Gott seine Zeit gehabt zu haben.46

Einige Theologen haben das Problem des Ewigkeitsbegriffs dadurch zu lösen versucht, dass

sie das griechische zyklische Zeitverständnis durch das hebräische lineare ersetzt haben, das

mit Ewigkeit schlicht die unbeschränkte Zeit, das objektivierte Nacheinander meint. Sie 43 TuV, 3. 44 Vgl., TuV, 8. 45 Vgl. ZuW, 124. 46 Vgl. ZuW, 125.

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verstehen Ewigkeit also als unendliches Weitergehen der Zeit, wie weiter oben die Zeit in

Verbindung mit der Natur beschrieben wurde. Dazu gibt Ebeling zu bedenken, dass – trotz

des richtigen und notwendigen Aufnehmens des Moments der irreversiblen Zeitrichtung –

diese Lösung noch zu kurz greift, weil sie verschiedenen neutestamentlichen Aussagen über

das ewige Leben nicht gerecht zu werden vermag. Denn ewiges Leben muss auch als

Qualifikation dieses zeitlichen Lebens verstanden werden können. Der Begriff Ewigkeit muss

also neben seiner Verbindung mit Gott als eines seiner Attribute auch in Verbindung gebracht

werden können mit dem Menschen im Hier und Jetzt.

Ein Lösungsansatz könnte die Aussage bieten, dass Ewigkeit „durch das Wort in der Zeit als

zeitbestimmendes Wort eröffnet wird“47. Ebeling versucht das Verhältnis von Zeit und

Ewigkeit von der Geschichtlichkeit der Offenbarung her zu bestimmen. Er richtet den Fokus

auf das Reden von Gott und tut damit auch dem modernen Zeitverständnis keinen Zwang an,

denn Reden ist ein geschichtliches Ereignis. Dennoch bleibt die Ewigkeit gewahrt, weil sie

eine Wirkung dieses zeitlich verortbaren Wortes ist. In dieser Hinsicht könnte von Gottes

Prädestination als Gegenwart der Zukunft gesprochen, sein Gericht als Gegenwart der

Vergangenheit und sein Wort als Präsenz der Gegenwart verstanden werden. Gott würde

dadurch zur gegenwärtig machenden Gegenwart durch sein Wort, das geschichtlich an uns

ergeht und den Menschen auf seine Grundsituation hin anspricht.48

Steht die Ewigkeit mit dem metaphysischen Zeitverständnis in Verbindung, von dem Ebelings

Zeitgenossen sich verabschiedet haben, so gehört die Eschatologie zum mythischen Zeitver-

ständnis, welches die eigenen kosmologischen Anschauungen in die Ur- oder Endzeit proji-

ziert. Dass die biblischen Aussagen darüber zusätzlich noch den Anschein von Historizität zu

erwecken suchen, macht es dem Menschen heute kaum mehr möglich, sie ernst zu nehmen.49

Interessanterweise ist gerade die Eschatologie in der Theologie des 20. Jahrhunderts zu einem

Hauptthema geworden. Das hatte u.a. mit der historischen Exegese zu tun, die stärker als

bisher die Bedeutung der Apokalyptik für das Urchristentum erkennen liess.50 Weil die ausge-

bliebene Parusie es aber unmöglich machte, die urchristliche Apokalyptik eins zu eins zu

übernehmen, suchte die frühe Dialektische Theologie darin einen Ausweg, dass die eschatolo-

47 ZuW, 127. 48 Vgl. ZuW, 127f. 49 Vgl. ZuW, 128. 50 Vgl. GcT, wo sich Ebeling mit Käsemann genau zu diesem Thema auseinandersetzt.

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gischen Erwartungen in allgemeine Strukturen uminterpretiert wurden und so die Zeit an sich

als eschatologische Zeit verstanden wurde, als Zeit der Entscheidung, als befristete Zeit.51

Nach Ebeling trifft eine solche „natürliche Eschatologie“52 noch nicht die Pointe der

christlichen. Sie ist höchstens Bedingung der Möglichkeit von christlicher Eschatologie. Das

Spezifische an dieser ist nämlich nicht die eschatologische Zukunft (auch wenn sie bereits

strukturell in der Gegenwart gedacht wird), sondern der „Anspruch eines scheinbar wider-

sinnigen eschatologischen Perfectum“53. Ohne den Zukunftscharakter der Eschatologie aufzu-

geben, verweisen alle Glaubensaussagen darauf, dass die in der Zukunft erwartete Wende in

Jesus bereits eingetroffen ist. Dieses eschatologische Perfectum spricht dem Menschen die

ersehnte Vollmacht in der Wortverantwortung zu, indem es Freiheit zur Zukunft eröffnet

durch seine Befreiung von der Vergangenheit, welche gleichzeitig Freiheit zur Vergangenheit

und Freiheit von der Zukunft mitbeinhaltet, denn „der Glaube als Versetztsein in die

gegenwärtig machende Gegenwart Gottes überlässt Vergangenheit und Zukunft dem Herrn

der Zeit“54.

Ewigkeit und Eschatologie – so gedacht – stehen also nicht der Zeit entgegen, sondern sind

eine bestimmte Art von Zeitverstehen, das in der bewussten und anerkannten Abhängigkeit

des Menschen von Gott seinen Ort hat, indem der Mensch sich und die Welt also vom Gottes-

bezug her versteht. Dieses Zeitverständnis darf wiederum nicht zeitlos verstanden werden.

Denn es begegnet uns geschichtlich und zwar im Wort.55

3.3 Gott in der Geschichte

Wird also aus der Geschichte heraus über Gott geredet, so kann es „nicht eigentlich um Gott

an sich oder um eine mystische Entrückung zu ihm“56 gehen. Vielmehr muss der Fokus auf

seinem Handeln in der und Eingreifen in die Geschichte liegen: Es geht um die Gegenwart

des Ewigen in der Zeit.57 Dies setzt natürlich voraus, dass Gottes Wirken in der Geschichte

tatsächlich schon zur Sprache gekommen ist. Zwar kann man aus der Geschichte allein noch

nicht Gottes Wort vernehmen – dies ist wieder ein Hinweis darauf, dass es nicht um

natürliche Theologie geht –, doch findet sich nach Ebeling in der Geschichte ein Echo auf

51 Vgl. ZuW, 129f. 52 DcG, 130. 53 ZuW, 130. 54 ZuW, 131. 55 Vgl. ZuW, 133. 56 DcG, 64. 57 Vgl. DcG, 64.

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Gottes – sprachliches – Wirken. Ein solches Echo ist zum Beispiel in der Frage nach dem

Warum des Seins statt des Nicht-Seins gegeben, ein weiteres im urchristlichen Zeugnis von

Jesus Christus. 58

Gerade das Letztere ist für den christlichen Glauben ganz zentral. Denn obwohl Gott alles in

allem ist und kein Teil der Geschichte ausserhalb seines Wirkens steht, gilt gleichzeitig, dass

sein Wirken an einem ganz bestimmten Geschehen „festgemacht und dort erkannt und

bekannt wird“59. Gottes Präsenz in der Geschichte durch sein Wort ist für den christlichen

Glauben in der Person Jesus Christus zu finden. In ihm besteht die Wende vom Gefordert-

Sein des Menschen in seiner Sprachverantwortung zum Befreit-Sein – einer Freiheit von und

zu der Zukunft und Vergangenheit.60

Will man also von Gott reden, so kann man dies nicht anhand eines abstrakten Systems tun,

das unabhängig von unserer Zeit bestehen soll, sondern man muss von ihm eine Geschichte

erzählen, eine Geschichte, deren Mittelpunkt die historische Gestalt Jesus von Nazareth

darstellt. Hierbei geht es aber um mehr als nur um historische Überlieferung bestimmter

vergangener Ereignisse. Denn es geht Ebeling nicht darum, einen Teil der Geschichte als

spezielle Geschichte – als Heilsgeschichte – zu qualifizieren.61 Vielmehr ist der präsentische

Charakter der Ereignisse um die Person Jesu für ihn von Belang. Um dies deutlich zu machen,

unterscheidet er die Begriffe Geschichte und Geschehen voneinander, wenn er sagt: „Diese

als geschehen erzählte Geschichte kommt als verkündete in Betracht und somit als ein nicht

vergangenes, nie vergehendes Geschehen, das in seiner Präsenz weitergeht: ausgerichtet auf

eine Zukunft, welche die Zukunft der Welt ebenso übergreift, wie der Ursprung dieses

Geschehens der Herkunft der Welt vorausliegt und deren Anfang allererst setzt.“62 In der

Verkündigung also wird die historische Überlieferung zur gelebten Tradition, zur Präsenz der

Vergangenheit, die Zukunft eröffnet.

58 Vgl. GuG, 291. 59 DcG, 293. 60 Vgl. DcG, 294. 61 Aus diesem Grund hat das Problem der zwei Naturen Jesu Christi für Ebeling kein Gewicht. Das Bekenntnis, dass Jesus der Christus sei, ist für ihn ein Bekenntnis zum Handeln Gottes in Jesus. Vgl. WcG, wo er diesen Gedanken im Kapitel Zeuge des Glaubens (S. 40-52) entfaltet. 62 DcG, 64f.

Gerhard Ebeling: Hermeneutische Berücksichtigung der Geschichtlichkeit der Verkündigung

16

4 Verkündigung

Es wurde erwähnt, dass Bedingung für alles Reden von Gott die Tatsache ist, dass Gottes

Wirken in der Geschichte bereits zur Sprache gekommen ist. Zur Sprache deshalb, weil nach

Ebeling Gottes Nichtvorzeigbarkeit allein dem Wort die Möglichkeit belässt, Gott anzuzei-

gen.63 Denn der Zusagecharakter des Wortes macht es ihm möglich, Abwesendes anwesend

sein zu lassen.64 Damit ist der nächste Schritt eingeleitet, den es nun zu gehen gilt.

Wenn unsere Rede von Gott authentisch sein soll, „dann muss dieses Reden von dem

herkommen, von dem die Rede ist“65. Das Reden muss also von Gott ausgehen, dessen Wille

es ist, in Erscheinung zu treten, es muss sein Reden – sein Wort – sein. So wird spätestens

beim jetzigen Thema Verkündigung die Besprechung des Wortes Gottes notwendig.66

4.1 Wort Gottes in der heutigen Zeit

Wurden oben Eschatologie und Ewigkeit als Problemfelder dargestellt, die in der Gegenwart

stark in Frage gestellt sind, so ist mit dem Begriff Wort Gottes ein weiteres solches Feld

eröffnet. Als überlieferter Begriff, der im heutigen Alltag kaum mehr vorkommt, ist er der

Gettoisierung anheim gefallen und wurde zu einem Wort für Eingeweihte. Ebeling spricht in

diesem Zusammenhang gar von einer ansteigenden Verfremdungskurve „von der Inanspruch-

nahme der Vokabel ‚Gottʻ bis hin zum Anspruch eines Menschen, im Namen Gottes zu

sprechen.“67

Dieser Verfremdung ist nicht beizukommen durch schlichte Modernisierung des

Wortschatzes, bei der man nach einer geläufigeren Vokabel sucht. Nach Ebeling liegt nämlich

die Schwierigkeit in der Sache selbst: Das Bewusstsein um die Grundsituation des Menschen

ist durch die Bedingungen des Zeitalters der Technik und der Massen in die Verborgenheit

verdrängt worden. Es ist darum schwierig geworden, sein Ge- und Überfordertsein in der

Sprachverantwortung zu erkennen. Hat aber gerade in dieser Sprachverantwortung die Rede

von Gott ihren Platz und ihre Wirkung, so muss sich jegliches Reden, das von sich

beansprucht, Gottes Wort zu sein, dadurch legitimieren, dass es „im Unterschied zur Situation

63 Vgl. DcG, 164. 64 Vgl. WGuH, 343. 65 DcG, 245. 66 Vgl. DcG, 246. 67 GuW, 421.

Gerhard Ebeling: Hermeneutische Berücksichtigung der Geschichtlichkeit der Verkündigung

17

des technischen Umgangs mit der Welt jene Grundsituation überzeugend zur Sprache

bringt“68.

Wort Gottes bringt nun aber die Grundsituation des Menschen nicht irgendwie zur Sprache,

sondern es schenkt darin Gewissheit, Rettung und Freiheit, indem es dem sprachlosen

Menschen Vollmacht zum Wort übermittelt.69 Aus diesem Grund ist es wenig sinnvoll, die

Sorge darüber, dass das Wort Gottes in der heutigen Zeit starken Anfeindungen ausgesetzt ist,

als Ausgangspunkt zur Behandlung des Wortes Gottes zu machen. Viel wichtiger ist die

Sorge um den Mitmenschen und die Welt.70 Denn für diese soll Gott zur Sprache kommen.

Im Hinblick darauf, ist es für Ebeling notwendig, den Begriff Wort Gottes zu klären.71

4.2 Wort Gottes und Menschenwort

Soll das Wort Gottes den Menschen in seiner Grundsituation treffen, so ist es von

entscheidender Wichtigkeit, dass Gottes Wort ganz und gar Menschenwort ist.72 Ebeling

betrachtet es als Kardinalfehler der Theologie, wenn zwischen zwei verschiedenen Wort-

formen unterschieden wird. Das, was Wort zu Gottes Wort macht, ist nicht in einer speziellen

Form von Wörtlichkeit zu finden, sondern liegt darin begründet, dass es Gott ist, der zu Wort

kommt. Denn für Ebeling ist es gerade das Wort, was Mensch und Gott miteinander

verbindet.73 Die Differenz vom unbestimmten Wort und dem Gotteswort macht allein der

Inhalt aus, bzw. der, welcher zur Sprache kommt. Und weil Wort immer Wortgeschehen ist,

kann man auch sagen, dass die Wirkung des Wortes den Gegensatz ausmacht. 74 Gottes Wort

ist nach Ebeling „heiles, reines, erfülltes Wortgeschehen […], also das, was Wort seiner

Bestimmung nach, und zwar selbstverständlich seiner Bestimmung nach im menschlichen

Miteinander sein soll“75. Im Wort Gottes wird also erfüllt, wozu der Mensch in seiner

Sprachverantwortung gerufen ist. Von hier wird Ebelings Übergang vom Reden über den

Menschen zum Reden über Gott etwas deutlicher. Das Wort ganz allgemein gelangt erst und

einzig als Gotteswort ans Ziel – oder umgekehrt, Wort, das sein Ziel erreicht, ist Wort Gottes.

68 GuW, 423. 69 Vgl. GuW, 425. 70 Vgl. TuV, 2. 71 Vgl. GuW, 424. 72 Vgl. Einleitung zum vorhergehenden Kapitel. 73 Vgl. DcG, 260. 74 Vgl. WGuH, 340f. 75 WGuH, 341.

Gerhard Ebeling: Hermeneutische Berücksichtigung der Geschichtlichkeit der Verkündigung

18

Denn das Menschenwort – ohne all seine Möglichkeiten und Fähigkeiten gering zu schätzen –

versagt am Ende in der entscheidenden Frage, in der letztendlichen Sprachverantwortung.76

4.3 Wort Gottes als Wort, das seinen Zweck erfüllt

Wort – so wurde oben gesagt – ist immer Wortgeschehen. Daraus folgt, dass Wort nicht in

seinem Sinngehalt aufgeht. Es ist mehr als Aussage. Die Frage nach der Zukunft, der Wirkung

des Wortes auf das Gegenüber gehört untrennbar zu seinem Inhalt. Aus diesem Grund steht

das Wort immer in Verbindung mit zwei Parteien: dem Sender und dem Empfänger. Wort ist

Mitteilung „in dem gefüllten Sinn von Partizipation und Kommunikation“77. In dieser

Gemeinschaft dient es dem gegenseitigen Verstehen, „dass etwa einer dem andern sich

mitteilt und so durch das Wort sich ‚Mit-Habenʻ ereignet“78.

Mitteilung und Verstehen setzen voraus, dass jemandem etwas noch nicht bekannt oder noch

nicht verständlich war. Dem hilft das zeitgemässe Wort ab, indem es Verborgenes ansagt,

Abwesendes anwesend sein lässt. Dadurch verändert sich die Situation. Sie wird durch das

treffende Wort erhellt, weil es sie nicht vergewaltigt, sondern nur aufdeckt, was bereits in ihr

verborgen war.79 Im Wort stellt sich heraus, wer der ist, der spricht. Es dient also dazu, „dass

sich der Mensch als Mensch herausstellt“,80 nämlich als Mensch, der dazu bestimmt ist,

Antwort zu sein.

Doch das Wort, in dem Gott zur Sprache kommt, darf nach Ebeling nicht einfach als

hinzutretende Ergänzung zur ursprünglichen Situation verstanden werden. Das aus ihm

resultierende Verstehen bezieht sich nicht auf einen Teil der Situation des Hörers, sondern auf

die ganze Situation als solche. Die Wirkung von Gottes Wort betrifft also die gesamte

Existenz des Menschen. Sie „entscheidet über Tod und Leben“81. So ist die weiter oben

genannte Freiheit, die allein durch das Wort Gottes gewährt werden kann, mehr als nur

Stärkung oder Verbesserung des Menschen durch neu gewonnene Ungebundenheit. Es geht

um die totale Veränderung des Menschen an sich, der darauf angesprochen wird, dass sein

Leben nicht die Antwort ist, die seiner Grundsituation als Wortverantwortung entspricht.

Gottes Wort lässt den Menschen ganz konkret sein Stehen coram Deo erkennen und eröffnet

76 Vgl. DcG, 260f. 77 WGuH, 342. 78 WcG, 82. 79 Vgl. GuW, 427. 80 WGuH, 343. 81 GuW, 427.

Gerhard Ebeling: Hermeneutische Berücksichtigung der Geschichtlichkeit der Verkündigung

19

darin „durch ein Wort des Glaubens, das Liebe bezeugt und deshalb hoffen lässt“82, wahre

Freiheit, die ihn an einen Ort ausserhalb seiner selbst versetzt in den fröhlichen Wechsel83 mit

Christus.84 Denn die wahrmachende85 Wahrheit des Menschen liegt in Jesus, in welchem der

Mensch sich in die eigene Grundsituation versetzt sein lassen darf und dadurch freigemacht

wird.86 Auf den Punkt gebracht, ist Wort Gottes „nicht vielerlei, sondern ein einziges: das

Wort, das den Menschen menschlich macht, indem es ihn zum Glaubenden macht, d.h. zu

dem, der Gott als seine Zukunft bekennt und darum dem Mitmenschen das schlechthin

Notwendige und Heilsame, nämlich wahres Wort, nicht schuldig bleibt“87.

Eine solche Definition – so einleuchtend sie klingt – mag wohl einige erstaunen. Wenn sie

nämlich am Sonntag in die Kirche gehen und dort ein Bibeltext vorgelesen wird, lautet oft die

abschliessende Formel: „Wort Gottes, unseres Herrn“, und zwar ganz unabhängig von der

Wirkung dieses nicht selten unverständlichen Wortes. Gibt es also neben der Wirkung auch

noch formale Kriterien, die darüber entscheiden, was als Wort Gottes zu gelten hat? In

welchen Gestalten tritt das Wort Gottes auf?

4.4 Wort Gottes in seinen Gestalten

In der Dogmatik des christlichen Glaubens beginnt Ebeling die Besprechung des Wortes

Gottes anhand von vier Gestalten, in denen es auftritt: als verbum praedicatum, verbum

scriptum, verbum incarnatum und als verbum aeternum.88 Während die letzte Gestalt – das

verbum aeternum als Gottes verbum internum89 – für das vorliegende Thema weniger zentral

ist, spielen die ersten drei Gestalten eine ganz wichtige Rolle. Als deren Grund und Zentrum

sieht Ebeling das verbum incarnatum. An ihm wird ganz deutlich sichtbar, dass Wort Gottes

keine abstrakte, ein für alle Mal offenbarte Lehre ist, sondern Person. Es ist Mensch geworden

in Jesus Christus. Ihn bezeugt das verbum praedicatum, dessen (abgeschlossener) schriftlicher

82 GuW, 429. 83 Vgl. WA 7, 25, 34. 84 Vgl. HME, 213f. 85 In Bezug auf den Begriff Verifikation fällt auf, dass Ebeling ihn zwar auch braucht – aber in modifizierter Weise, nämlich als verum-facere: wahr machen. Deshalb geht es ihm nicht primär um die Verifikation des Wortes Gottes als einem Versuch, durch sinnlich-empirische Feststellbarkeit dessen Aussage zu verifizieren. Vielmehr geht es ihm um die Verifikation des Menschen. „… auf jeden Fall ist es nicht zu leugnen, dass es den mit sich selbst nicht identischen, den sich selbst widersprechenden Menschen gibt. Sprachermächtigung wäre ein Zur-Wahrheit-Kommen, das den Menschen dazu frei macht, ohne Selbstwiderspruch von der Sprache Gebrauch zu machen.“ HS, 216f. 86 Vgl. GuW, 430. 87 WGuH, 344. 88 Vgl. DcG, 258f. 89 Vgl. DcG, 259.

Gerhard Ebeling: Hermeneutische Berücksichtigung der Geschichtlichkeit der Verkündigung

20

Niederschlag das verbum scriptum ist, von welchem wiederum neues verbum praedicatum

hervorgeht und zwar fortlaufend ohne Ende.90

4.5 Dynamik innerhalb der verschiedenen Gestalten

Anhand dieser Gestalten lässt sich erneut zeigen, dass mit dem Begriff Wort Gottes auf ein

Geschehen gewiesen wird: In diesem Zusammenhang deutet Ebeling auf die Bewegung vom

Text der Heiligen Schrift zur Predigt hin, damit das entscheidende Geschehen stattfinden

kann.91 Für ihn ist das verbum scriptum nur dann Wort Gottes, wenn es in diesem Wechsel-

spiel vom mündlichen zum schriftlichen steht, um wiederum mündliches Wort zu werden.

Darum sieht er das Verständnis des Wortes Gottes gefährdet, wenn es zu stark mit dem

geschriebenen Wort identifiziert wird.92

Ebelings Verständnis fusst dabei auf Luther: Für diesen hat das verbum scriptum seinem

Wesen nach eine Affinität zum Gesetz. Durch seine Herkunft aus der Vergangenheit und

seine Unveränderlichkeit in der äusseren Gestalt93 vermag es nicht zu wirken, wozu es als

Wort Gottes und als freisetzendes Evangelium bestimmt ist. Denn nur in seiner je neuen

Verkündigung, welche die gegenwärtige Situation des Hörers mitberücksichtigt und sie in

ihrer Wahrheit aufdeckt, kann aus Wort überhaupt freisetzender Glaube hervorgehen, kann

aus Wort Wort Gottes werden.94

Trotzdem wird dadurch die Heilige Schrift nicht überflüssig. Wie oben bereits erwähnt, fusst

das verbum praedicatum auf dem verbum incarnatum. Nun stellt sich aber die Frage, wie ein

Mensch in der Zeit nach Jesus überhaupt einen Zugang zu diesem in der Vergangenheit

inkarnierten Wort erhalten kann. Hier kommt dem verbum scriptum eine wichtige Rolle zu:

Wenn es – wie oben gesagt – verschriftlichtes ursprüngliches verbum praedicatum ist, so

haben wir nur durch seine Überlieferung als Christusüberlieferung95 Zugang zum ursprüng-

lichen Verkündigungsgeschehen. Doch ist dieser Zugang kein direkter, weil es eben vergan-

gene Verkündigung ist, die in eine ganz andere Situation hineinsprach, als es die unsere ist.

90 Vgl. DcG, 258f. 91 Vgl. WGuH, 326. 92 Vgl. DcG, 258. 93 Man beachte hierbei, dass gerade die Unveränderlichkeit der äusseren, textlichen Gestalt die Gefahr mit sich bringt, die Sache des Texts in dem je neuen Kontext zu verlieren. 94 Vgl. HME, 216f. 95 Vgl. WcG, 29.

Gerhard Ebeling: Hermeneutische Berücksichtigung der Geschichtlichkeit der Verkündigung

21

Dies macht die Auslegung der Schrift notwendig „auf das darin zur Sprache gebrachte

Wirklichkeitsverständnis hin“96, und zwar immer im Hinblick auf Jesus.97

Zur Aufgabe der Verkündigung gehört also die Interpretation der überlieferten Verkündi-

gung.98 Doch darf sie beim historischen Verstehen nicht stecken bleiben. Sie muss selbst zur

gegenwärtigen Verkündigung werden,99 da sie nicht einem Text sondern einem Geschehen

dienen soll.100 Dazu gewinnt die gegenwärtige Situation an entscheidender Relevanz. Sie

richtig zur Sprache zu bringen, entscheidet über die Verständlichkeit der Verkündigung.101

Die Verkündigung muss aufdecken, dass Christologie die sachgemässe Weise ist, von unserer

momentanen Situation zu reden – dass im Zeugnis vom menschgewordenen Wort Gottes das

Verborgene unserer heutigen Situation wahrhaftig zum Ausdruck kommt. Erst in dieser

erkennbaren Notwendigkeit der Verkündigung vollzieht sich wahrhaft Verkündigung.102

96 TuV, 47. 97 Vgl. TuV, 48. Daraus leitet Ebeling die Berechtigung der Frage nach dem historischen Jesus ab. Da im Rahmen dieser Arbeit nicht ausführlicher darauf eingegangen werden kann, wird der Leser auf das entsprechen-de Kapitel verwiesen in TuV, 51-82. 98 Vgl. TuV, 49. 99 Prägnant ausgedrückt: „…dass das Geschehen von Verkündigung angewiesen bleibt auf geschehene Verkün-digung und die geschehene Verkündigung zu neuer Verkündigung anweist und ermächtigt.“ TuV, 10. 100 TuV, 14. 101 Vgl. HTG, 68. 102 Vgl. TuV, 50f.

Gerhard Ebeling: Hermeneutische Berücksichtigung der Geschichtlichkeit der Verkündigung

22

5 Tradition

So weit fortgeschritten, lohnt es sich, das bisher Dargestellte nochmals von einer anderen

Seite her zu beleuchten. Dies soll anhand des Traditionsbegriffs geschehen.

5.1 Annäherung an den Begriff

Nach Ebeling ist Tradition ein „Strukturelement geschichtlichen Seins.“103 Mit geschicht-

lichem Sein ist auf die Verbindung von Geschichte und Mensch hingewiesen, welcher in der

Geschichte ist, indem er sich zur Geschichte verhält. Dieses Verhalten findet in der Spannung

zwischen Selbst- und Fremdbestimmung, zwischen Autonomie und Vorbestimmtsein statt.

Davon spricht der Begriff Tradition. Er deutet darauf hin, dass die Einheit von Vergangenheit

und Gegenwart nicht mechanisch, aus Naturgesetzen abzuleiten ist, sondern konstituiert wird

durch das Verhalten des Menschen zur Zeit in der Spannung von Freiheit und Gebundenheit.

Tradition ist also mehr als nur historische Überlieferung, beschränkt sich nicht nur auf das

dem Menschen Vorgegebene. Tradition als das kontinuitätsstiftende Element der Geschichte

ist „das aus der Vergangenheit in der Gegenwart zu Wort Kommende, Vernommene und

Aufgenommene“104. Ebeling stellt das anhand der zwei Bedeutungsmöglichkeiten von

Tradition dar. Im passiven Sinn meint Tradition als traditum den Gegenstand, der aus der

Vergangenheit in die Gegenwart überliefert wurde. Damit ist die Bedeutung von Tradition

aber noch nicht vollständig. Neben dem passiven Sinn gehört auch der aktive hinzu, der actus

tradendi, der Prozess des Tradierens, der sich zwar von der Vergangenheit herkommend

immer aber in der Gegenwart vollzieht. In ihrer Gesamtheit ist Tradition also die nicht

vergangene, sondern gegenwärtige, weil stets vergegenwärtigte Vergangenheit. In ihr werden

Vergangenheit und Gegenwart in einem fortlaufenden Ereignis zur Einheit verbunden.105

Diese Einheit von Vergangenheit und Gegenwart muss soweit gedacht werden, dass in der

Tradition die Vergangenheit nicht nur Gegenstand der Erinnerung ist, sondern in der Form

von Geltungsanspruch, Verpflichtung und Weisung für die Zukunft auftritt – und zwar stets in

bejahter Verpflichtung. Es wurde bereits erwähnt: Tradition geht nicht auf in dem

geschichtlich Vorgegebenen, das die Freiheit des Menschen einschränkt. Tradition im

umfassenden Sinn hört auf, Tradition zu sein, sobald sie nicht mehr bejaht, angenommen und

103 GKV, 31. 104 GKV, 32. 105 Vgl. GKV, 32f.

Gerhard Ebeling: Hermeneutische Berücksichtigung der Geschichtlichkeit der Verkündigung

23

weitergegeben wird.106 In dieser Freiheit, sich zum geschichtlich Vorgegebenen zu verhalten,

liegt auch die Verantwortung begründet, sich kritisch zum Überlieferten zu verhalten, zu

überprüfen und zu wählen, was davon als Norm für die Gegenwart in die Zukunft weisen darf

und soll.107

Nun wurde oben dargelegt, dass Wort nur dann Vollmacht haben kann, wenn es die Situation

der Gegenwart aufdeckt, ihr Verborgenes enthüllt und zu einem Verstehen des gegenwärtigen

Moments führt. Dasselbe gilt für die Tradition, die zur Geltung kommen will. Sie muss in

ihrem Vollzug „die Kraft zur Entfaltung und zur Entwicklung in sich“108 tragen. Sie muss das

Alte in neuer Weise in der neuen Situation ansagen, weil in einer neuen Situation das Alte in

alter Weise angesagt nicht mehr das ursprüngliche Alte ist, sondern etwas Anderes – so wie

das Wort Gottes nicht mehr Wort Gottes ist, wenn vergangenes Wort kopiert wird, anstatt

ausgelegt und neu von seinem Grund im menschgewordenen Wort her bezeugt wird.

Diese Analogie und Verbindung von Wort Gottes und Tradition, die hier anklingt, ist von

äusserster theologischer Brisanz. Anhand von zwei kirchengeschichtlichen Ausprägungs-

formen des Traditionsbegriffs soll dies dargestellt werden.

5.2 Frühkatholischer Traditionsbegriff

Die sogenannte „frühkatholische Zeit“ (Ende 1. bis 3. Jh.) war dadurch charakterisiert, dass

sich die christliche Kirche in einem Prozess der Identitätsfindung langsam von einer

unbestimmten und offenen Organisationsform zu einer einheitlicheren Institution bewegte.

Auseinandersetzungen mit dem Judentum und verschiedenen christlichen Häresien, die nicht

selten mit der Frage zu tun hatten, welche Texte für das Christentum Gültigkeit haben sollten,

wirkten verstärkend auf diese Vereinheitlichung.109

In diesen Auseinandersetzungen massen Theologen wie Irenäus und Tertullian dem formalen

Kriterium der Ursprünglichkeit das entscheidende Gewicht bei. Normativ sollte das Ur-

sprüngliche, das Apostolische sein. Tradition in diesem Sinn meinte eine vorfindliche Grösse:

z.B. das apostolische Schrifttum. Wahrheit konnte oder musste deshalb historisch begründet

und bewiesen werden. Doch die frühkatholische Kirche ging diesen Weg nicht radikal. Sie

106 Vgl. GKV, 33. 107 Vgl. GKV, 34. 108 GKV, 37. 109 Ausführlich berichtet darüber LKD, 55-110.

Gerhard Ebeling: Hermeneutische Berücksichtigung der Geschichtlichkeit der Verkündigung

24

schloss bestimmte Texte, die nicht direkt von Aposteln, sondern von deren Schülern verfasst

worden waren, in die Sammlung apostolischer Schriften ein. An die Seite des formalen

Kriteriums trat also noch ein Sachkriterium.110

Doch reichte dies noch nicht aus. Es war nicht nur so, dass nicht jede Schrift, die sich selbst

als apostolisch ausgab, tatsächlich von einem Apostel verfasst worden war, nein, auch

Häretiker konnten sich auf apostolische Schriften berufen, um ihre Position zu vertreten –

man denke hierbei z.B. an Markions Paulusrezeption. Neben der klaren Umgrenzung der

wahrhaft apostolischen Schriften wurde also auch die Frage nach dem richtigen Verständnis

dieser Schriften laut, eine Frage, die durch die regula fidei von Irenäus kurz und prägnant

beantwortet wurde. Weil also in der Auseinandersetzung mit den Häretikern über den

richtigen Glauben der Rückgriff auf das apostolische Schrifttum zu einer Patt-Situation

geführt hatte, verlor dieses Schrifttum seine Funktion als autoritative Richtschnur. Nicht mehr

die Schrift sagte, was zu glauben, sondern der Glaube – d.h. die regula fidei – sagte, wie die

Schrift zu verstehen sei.111

Ebeling wertet diese Entwicklung in doppelter Hinsicht: Einerseits bejaht er ihre historische

Berechtigung. Er anerkennt die dahinter stehende Intention, die Kirche an das ursprüngliche

Glaubenszeugnis zu binden. Dennoch stellt er einen doppelten Irrtum fest:

• Zum einen war nicht alles, was von der Kirche als apostolisch bezeichnet wurde,

tatsächlich aus apostolischer Hand

• Zum andern betrachtet er die Meinung für falsch, dass die Kirche im Verharren in

einer fixierten Tradition überhaupt geschichtlich existieren könne.

Ganz prägnant formuliert er: „Das Beste an der frühkatholischen Lehre von der Tradition war

die Bildung des neutestamentlichen Kanons, also das, womit die frühkatholische Kirche

letztlich am allerwenigsten anfangen konnte, und zwar der Kanon gerade in seiner Weite und

spannungsgeladenen Polyphonie. Denn in dieser Gestalt war die sogenannte apostolische

Tradition am besten geeignet, die Frage nach der Tradition nicht einfach zu beantworten,

sondern als kritische Frage wachzuhalten und somit über sich selbst hinauszuweisen auf Jesus

Christus als den Ursprung der Kirche.“112

110 Vgl. GKV, 39. 111 Vgl. GKV, 41. 112 GKV, 44.

Gerhard Ebeling: Hermeneutische Berücksichtigung der Geschichtlichkeit der Verkündigung

25

5.3 Tradition im Sinne der Reformation

Von Luthers Formel sola scriptura her, die ganz eindeutig auf die seit der frühkatholischen

Zeit geläufige Unterscheidung von Schrift und Tradition Bezug nimmt und dabei die

Tradition ausschliesst, scheint die hier gewählte Überschrift nur als Negativaussage sinnvoll

zu sein: Tradition im Sinne der Reformation bedeutet, keine Tradition zu haben. Doch dies ist

eine falsche Schlussfolgerung. Denn die particula exclusiva sola schliesst nicht die Existenz

von Tradition im Protestantismus aus, sondern deren theologische Relevanz als selbständiges

und gleichberechtigtes Gegenüber zur Schrift113 – Tradition als Offenbarungs-quelle.114

Aber auch diese Aussage darf nicht unkritisch stehen gelassen werden. Dass die Reformation

mit Vehemenz die alleinige Geltung der Heiligen Schrift vertreten konnte, setzt bereits eine

normative Tradition ausserhalb der Schrift voraus – nämlich die Kanonisierung der Heiligen

Schrift durch die alte Kirche, welche in Bezug auf das Alte Testament die spätjüdische

Septuaginta rezipierte und sich so nochmals auf eine weitere ausserbiblische, ja sogar

ausserchristliche, Entscheidung stützte.115 So scheint das sola scriptura ein Widerspruch in

sich zu sein.116 In der Folgezeit hat dann die protestantische Orthodoxie durch die Lehre von

der Verbalinspiration zusätzlich ein dogmatisches Fundament geschaffen zum Schutz des sola

scriptura. Dieses sollte den Ausschluss jeglicher normativen Tradition neben der Schrift

stützen. Doch damit hat sich die Orthodoxie noch stärker in den Selbstwiderspruch gestürzt.

Ebeling urteilt darüber: „Wenn daraus eine schlechthin dogmatische Tatsache wird, d.h. wenn

sowohl der Umfang des Kanons als auch der Sinn seiner Kanonizität schlechthin ausserhalb

jeder Diskussion steht, so ist der Protestantismus bereits im Prinzip katholisch geworden;

denn er gründet sich dann auf die Unfehlbarkeit einer frühkatholischen Lehrentscheidung.“117

Nach Ebeling führt der Ausweg aus diesem (scheinbaren) Selbstwiderspruch des sola

scriptura über die Erörterung des Kanonsverständnisses.118 Dazu hat die Theologie der

Aufklärungszeit Grosses geleistet. Sie hat wieder neu herausgestellt, „dass nicht der Inhalt der

Schrift seine Autorität von daher empfängt, dass er in der Schrift steht, sondern dass die

Schrift ihre Autorität empfängt von ihrem Inhalt her.“119 Dass gewisse Schriften als kanonisch

113 SPT, 92. 114 Vgl. GKV, 50. 115 Vgl. WcG, 34. 116 Vgl. SPT, 104. 117 GKV, 51. 118 Vgl. SPT, 107. 119 GKV, 53.

Gerhard Ebeling: Hermeneutische Berücksichtigung der Geschichtlichkeit der Verkündigung

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bezeichnet werden, ist also ein Anspruch, demgegenüber die Schriften sich zu bewähren

haben. Deshalb ist es für den Ausleger notwendig, sich auf die Dynamik einzulassen, in

welcher die Schriften ihre Kanonizität zur Geltung bringen – und zwar an der menschlichen

Wirklichkeit durch ihre Auslegung/Verkündigung. Denn für diese Wirklichkeit sind der

Kanon und dessen Anwendung in der Verkündigung bestimmt.120 Für Ebeling gehört also der

Gegenwartsbezug zur Sache des Kanons dazu.121

Wie weiter oben ausgeführt, muss die Verkündigung aufzeigen, dass Christologie die

angemessene Weise ist, von der momentanen Situation zu reden. Wenn der Kanon also der

Verkündigung dienen und an der gegenwärtigen Wirklichkeit zur Geltung kommen soll, dann

muss der Kanon seinen Brennpunkt ebenfalls in der Christologie haben, muss Zeugnis von

Jesus Christus sein.122 In diesem allein liegt die Einheit des Kanons begründet. Daraus leitet

Ebeling die Notwendigkeit von innerer Kanonskritik ab.123 Nicht nur jede Schrift, sondern

jeder einzelne Text muss auf seine Stellung im Kanon hin – in Luthers Worten: darauf hin,

wie er Christum treibet124 – überprüft werden. Dies gehört grundsätzlich zu einem angemes-

senen Umgang125 mit der Heiligen Schrift als Kanon von schriftlich fixierten, ursprünglichen

Zeugnissen Jesu Christi, die gegenwärtiges Christuszeugnis ermöglichen sollen.126 So sind für

Ebeling Biblizismus und Positivismus eine Tendenz zu traditionalistischer Verkehrung, die

den Theologen aus seiner Verantwortung entlässt, weil dieser beim Gegebenen stehen bleibt,

statt es als zukunftsweisendes Wort in der Gegenwart zu verantworten.127

Die geforderte Kritik ist allerdings nur dann sinnvoll möglich, wenn man der Schrift das

Vermögen zutraut, ihre Sache – Gottes in Jesus Christus menschgewordenes Wort128 – selber

zur Geltung zu bringen,129 wenn sie aufgrund ihrer Klarheit sui ipsius interpres ist und wenn

der Ausleger sich dementsprechend einlässt auf den Vollzug der Selbstauslegung der Schrift

120 Vgl. SPT, 110. 121 Vgl. SPT, 127. 122 Vgl. GKV, 53. 123 Prägnant formuliert Ebeling: „Wer die Möglichkeit einer Kanonsrevision bestreitet, denkt nicht evangelisch von der Heiligen Schrift.“ Doch darf diese Aussage nicht falsch verstanden werden. Deshalb setzt er sofort die nur scheinbar gegensätzliche These: „Wer dagegen sich für die Notwendigkeit einer Kanonrevision ereifert, denkt ebenfalls nicht evangelisch von der Heiligen Schrift.“ WcG, 34f. Beide Thesen sagen dasselbe: Es geht nicht um die vermeintlich „richtige“ Grenze des Kanons, sondern um den Vollzug des in ihm überlieferten Geschehens durch Auslegung und Verkündigung. 124 Vgl. WA DB 7, 384, 26-32. 125 Vgl. SPT, 110f. 126 Vgl. SPT, 131. 127 Vgl. TuV, 14f. 128 Vgl. SPT, 130. 129 Vgl. SPT, 127.

Gerhard Ebeling: Hermeneutische Berücksichtigung der Geschichtlichkeit der Verkündigung

27

und bereit ist, seinen Geist von ihr gar überwinden zu lassen.130 Dann nämlich kann der

Vorgang der Auslegung des Textes in ein Ausgelegtwerden durch den Text131 umschlagen –

kann sich Wortgeschehen ereignen.

In diesem Auslegen und Überprüfen der überlieferten Heiligen Schrift auf ihre Sache hin und

in ihrer Anwendung in der Verkündigung, welche den gegenwärtigen Moment christologisch

erhellt, vollzieht sich Tradition im zu Beginn dargestellten Sinn: als Zusammenspiel von

traditum und actus tradendi, in dem Gott in immer neuer – der neuen Situation

entsprechenden – Weise zu Wort kommt.

130 Vgl. SPT, 125; wo sich Ebeling auf Luther beruft: WA 97, 34f. 131 Vgl. dazu auch die Hinweise zur Verifikation in Anm. 84.

Gerhard Ebeling: Hermeneutische Berücksichtigung der Geschichtlichkeit der Verkündigung

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6 Hermeneutik

Der Begriff Hermeneutik, mit dem bereits in der Einleitung begonnen wurde, soll für diese

Arbeit eine Klammer darstellen. Hermeneutik ist nach Ebeling nämlich nicht als eine

Teildisziplin der Theologie neben anderen zu verstehen. In ihr wird auf das hingewiesen, was

zu jedem Theologietreiben gehört, da in ihr die theologische Aufgabe am umfassendsten auf

den Begriff gebracht wird – sie ist nach Ebeling in fundamentaltheologischem Sinn zu

verstehen.132 Deshalb bietet es sich an, anhand gerade dieses Begriffs das Vorangegangene

zusammenzufassen, weil die Geschichtlichkeit der Verkündigung – wenn sie ein theologi-

sches Problem ist – in der Hermeneutik als Fundamentaldisziplin der Theologie Berücksichti-

gung finden muss und zwar in einem auf die Gesamtheit des theologischen Treibens hin

ausgerichteten Fokus.

Ebelings Buch Einführung in theologische Sprachlehre, das er kurz nach seiner Rückkehr von

Tübingen nach Zürich als gedruckte Fassung einer Vorlesung herausgegeben hat, bietet

meines Erachtens eine gute Grundlage dafür. In ihm klingt sehr stark die umfassende

Perspektive des hermeneutischen Ringens um Verständnis an. Ja, Hermeneutik ist für Ebeling

die umfassendste Art und Weise, Sprache und damit Wirklichkeit zu verstehen.133 Dies soll

anhand einer Zusammenfassung des Kapitels Problemdimensionen einer umfassenden

Sprachlehre134 und des parallel dazu gegliederten Kapitels Grundriss theologischer

Sprachlehre135 aus dem genannten Buch aufgezeigt werden.

Im Satz: „Ich sage etwas zu dir“, sieht Ebeling ein taugliches Grundrissschema, um Sprache

als Lebensvorgang – Sprache also im umfassendsten Horizont – zu verstehen.136 Die

folgenden zwei Tabellen zeigen Ebelings Zuordnung verschiedener Aspekte zum gewählten

Grundriss, die im Folgenden erläutert werden sollen.

Problemdimensionen einer umfassenden Sprachlehre Ich sage etwas dir

Subjekt Akt der Äusserung Aussagegegenstand Adressat Ermächtigung Verantwortung Verstehenszumutung Verständigung

Ergänzungen der Problemdimensionen durch eine theologische Sprachlehre

132 Vgl. HT, 105. 133 Vgl. TS, 187. 134 Vgl. TS, 201-218. 135 Vgl. TS, 249-258. 136 Vgl. TS, 201.

Gerhard Ebeling: Hermeneutische Berücksichtigung der Geschichtlichkeit der Verkündigung

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Buchstabe und Geist

Binden und Lösen

Verborgenheit und Offenbarung

Streit und Friede

Erfahrung Erfahrung

von Freiheit

Erfahrung von Freiheit des Glaubens

Erfahrung von Freiheit des Glaubens

zur Liebe

6.1 Ich

Im Hinblick auf das Subjekt einer Äusserung stellt sich nach Ebeling die Frage nach der

Ermächtigung zur Äusserung. Wenn die Sprache als Lebensvorgang verstanden wird, dann

liegt ihr auch die Doppelbewegung des Lebens – das Innewerden (In-Sich-Einkehren) und das

Äussern (Aus-Sich-Heraustreten) – zugrunde. Ermächtigung des Subjekts zum Sprachge-

brauch ist nach Ebeling also die Macht, das Innewerden mit dem Äussern in Einklang zu

bringen, indem das Subjekt fähig ist, Wirklichkeit ungetrübt wahrzunehmen und diese auch

zum Ausdruck zu bringen und nicht etwas Anderes auszusagen.137 Sie erfordert ein „Wissen

um die grösseren Zusammenhänge“138. Sie setzt Erfahrung voraus.

Weiter oben wurde dargestellt, dass für Ebeling das Reden über Gott immer im Widerspruch

steht zur menschlichen Erfahrung der Wirklichkeit. Daraus geht hervor, dass es bei der

theologischen Rede von Erfahrung um eine Gegensatzerfahrung geht, die Ebeling am

Verhältnis von Buchstabe und Geist erläutert. Es geht ihm dabei um die Erfahrung des Lebens

als solches und damit um die Erfahrung der Strittigkeit des Todes und des Lebens. Erst das

Wissen um die todbringende Macht des Gesetzes und die Leben stiftende des Evangeliums

ermächtigt in letzter Konsequenz ein Subjekt zu einer Äusserung.139

6.2 Sage

Im Akt einer Äusserung werden die verschiedenen Satzelemente in eine ganz bestimmte

Verbindung gebracht (das Subjekt wird zum Redenden, das Objekt zur Aussage, der Adressat

zum Angesprochenen). Liegt der Fokus der Reflexion auf dieser Verbindung, stellt sich die

Frage, ob die verschiedenen Satzelemente angemessen miteinander verbunden werden, sodass

die Aussage die Situation, in der die Rede stattfindet, trifft und dadurch zurecht bringt.140

137 Vgl. TS, 202-204. 138 TS, 251. 139 Vgl. TS, 252. 140 Vgl. TS, 204-207.

Gerhard Ebeling: Hermeneutische Berücksichtigung der Geschichtlichkeit der Verkündigung

30

Damit dies geschehen kann, muss die Äusserung zeitgemäss sein und der Situation

entsprechen, gleichzeitig darf sie der Zeit aber nicht verfallen. Im Gegenteil, nach Ebeling ist

es gerade die Aufgabe der Äusserung, das der Zeit Verfallene in die Freiheit zu führen, indem

sie aufdeckt, was bindet und was löst. Darin liegt ihre Verantwortung. Der zu verantwortende

Akt einer Äusserung soll also die Erfahrung von Freiheit ermöglichen, indem er auf die

jeweilige Zeit eingeht und das Bindende und Lösende in ihr zur Sprache bringt.141

6.3 Etwas

Nach dem bisher Dargestellten könnte man versucht sein, gleich zum Adressaten

überzugehen. Dann hätte man scheinbar alles, was man bräuchte: Absender und Adressat, die

verbunden sind durch ein Prädikat. Doch Ebeling ist es wichtig zu betonen, dass der Akt der

Äusserung die zwei Parteien nicht unmittelbar verbindet. Die Verbindung kommt erst durch

ein Drittes, den Sachverhalt oder Äusserungsgegenstand, zustande. Deshalb kommt nicht nur

der Beziehung des Redenden zum Angesprochenen, sondern auch des Redenden und des

Angesprochenen zum Gegenstand der Aussage Bedeutung zu.142

In Bezug auf die theologische Rede könnte man ableiten, dass als das verbindende Dritte die

Heilige Schrift zu verstehen ist. Im Gegensatz zum flüchtigen Akt des Sprechens handelt es

sich bei ihr um einen festen Gegenstand, zu dem man sich in Beziehung setzen kann und

deshalb auch Beziehungsklärung notwendig wird, was man als Interpretation bezeichnen

könnte. Dass die Heilige Schrift als verschriftlichtes Christuszeugnis nicht Selbstzweck ist,

sondern selber nochmals auf etwas anderes, bzw. auf jemand anderes, hinweist, soll dadurch

nicht verdeckt werden.143

Weiter gibt Ebeling zu bedenken, dass der Gegenstand der Äusserung selber sprachlich und

damit der Möglichkeit von Missverständnissen ausgesetzt ist. Weil also der Redner und der

Hörer über ein Drittes verbunden sind, hat der Redner keinen direkten Zugriff auf den Hörer.

Und da dieses Dritte sprachlicher Art ist, kann der Redner ihm das mitdenkende Verstehen

nicht abnehmen. Eine Aussage ist deshalb für Ebeling immer auch eine Verstehenszumutung,

die vom Hörer Partizipation fordert.144

141 Vgl. TS, 253f. 142 Vgl. TS, 207f. 143 Auf diesen Punkt werde ich in der persönlichen Stellungnahme noch vertiefter eingehen. 144 Vgl. TS, 210f.

Gerhard Ebeling: Hermeneutische Berücksichtigung der Geschichtlichkeit der Verkündigung

31

Die Verstehenszumutung der Sprache des Glaubens nennt Ebeling die Erfahrung von Freiheit

des Glaubens. Diese Verknüpfung von Erfahrung und Glauben wird aber erst dann sinnvoll,

wenn der Zusammenhang von Gottes-, Welt- und Selbsterkenntnis erkannt wird. Erfahrung ist

nach Ebeling also nicht etwas auf den Glauben Folgendes, sondern Glauben und Erfahrung

stehen von Grund auf in Relation zueinander. Auch hier gibt Ebeling allerdings zu bedenken,

dass die Erfahrung nur in der Polarität von Verborgenheit und Offenbarung zu haben ist.145

6.4 Zu dir

Nachdem die Selbständigkeit des Adressaten durch seine eigene Beziehung zur Sache und die

daraus resultierende Verstehenszumutung einer Aussage angeklungen ist, gilt es weiter zu

bedenken, dass der Adressat kein leeres Blatt ist, das durch eine Aussage zum ersten Mal

beschrieben wird, sondern selber vorgeprägt ist und einen eigenen Kontext hat. Unterschiedli-

che Prägungen von Redner und Hörer erschweren das Einverständnis in einem Sachverhalt.

Dieses zu ermöglichen, betrachtet Ebeling als Aufgabe der Hermeneutik.146

Doch eine gelingende Verständigung hat noch tiefer greifende Probleme als kontextuelle

Unterschiede von Redner und Hörer. Die Sprache des Glaubens dreht sich um die Wahrheit,

die das Leben selbst betrifft. Sie steht darum im Widerspruch zur Unwahrheit. Deshalb bietet

sich der Theologie ein so grosses Feld von unversöhnlichen Gegensätzen. Theologie ist für

Ebeling eine Kampfsprache, die in der Polarität von Streit und Frieden das Wort ergreift.

Aber die Kampfmetaphorik soll nicht verschleiern, dass die Theologie ausgerichtet ist auf die

Erfahrung von Freiheit des Glaubens zur Liebe. Sie führt einen Kampf gegen die Unwahrheit,

der Liebe ermöglichen soll.

Aus dem hier Dargestellten wird ersichtlich, dass es Ebeling in seiner Sprachlehre um mehr

geht, als um eine methodologische Entwicklung hilfreicher Arbeitsschritte, einen überliefer-

ten Text verständlich zu verkündigen. Wenn er versucht, der Sprache so zu dienen, dass sie in

ihrer Funktion richtig zur Geltung kommt,147 dann tut er dies, weil er sich davon Sprachhilfe

zum Leben verspricht.148 Hermeneutik – und dazu gehört unter Anderem die Berücksichti-

gung der Geschichtlichkeit der Verkündigung – dient nach Ebeling also dem in der Bibel

überlieferten Sprachgeschehen, welches das Leben in der Gegenwart aufdecken und

wahrmachen will. 145 TS, 255. 146 Vgl. TS, 211-213. 147 Vgl. TS, 188. 148 Vgl. TS, 226.

Gerhard Ebeling: Hermeneutische Berücksichtigung der Geschichtlichkeit der Verkündigung

32

Gerhard Ebeling: Hermeneutische Berücksichtigung der Geschichtlichkeit der Verkündigung

33

Teil 2: Ebelingscher Wenk

Nach dieser Darstellung von Ebelings Weise der Berücksichtigung der Geschichtlichkeit der

Verkündigung sollen Einwände gegenüber der hermeneutischen Theologie in Bezug auf das

Thema dieser Arbeit aufgegriffen und besprochen werden. Anhand dieser Besprechung

beziehe ich selber Position und setze mich ins Verhältnis zur vorangegangenen Darstellung

Ebelings.

7 Kritik an der hermeneutischen Theologie

7.1 Unterscheidung von Geschichte und Natur als Ausklammerung der

Wahrheitsfrage

In seinem Buch Theologische Hermeneutik149 beschreibt Wolfgang Nethöfel, wie zu Beginn

der Neuzeit nach den gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen den Konfessionen die

neu entstandene Einleitungswissenschaft zur Bibel sich um des Friedens willen darauf

verständigt hat, „zunächst genau zu erforschen, welchen inhaltlichen Sinn ein Text vermittelt.

Ob und inwieweit dieser textinterne Sinn mit tatsächlichen Sachverhalten übereinstimmt – ob

er also wahr ist –, das sollte fallweise und nach anderen als den Kriterien blosser

Textauslegung entschieden werden.“150 Durch diese Methode, die zunächst einen

Aussagesinn losgelöst vom Wahrheitsanspruch untersucht, war es nach Nethöfel möglich,

dass sich die Geisteswissenschaften im Gegensatz zu den Naturwissenschaften entwickelt

haben, woraus sich nach ihm der verhängnisvolle Gegensatz zwischen Verstehen von

Äusserungen und Erklären der Natur ergeben hat.151

Diese moderne Unterscheidung von Geschichte und Natur wird nach Nethöfel nun in der

Postmoderne auf sich selbst zurückgespiegelt als „mehr desselben“152. Es wird die „Geschich-

149 Vgl. TH. 150 TH, 7. 151 Vgl. TH, 8. Diese Unterscheidung geht auf Dilthey zurück und wird von ihm prägnant so ausgedrückt: „Die Natur erklären wir, das Seelenleben verstehen wir.“ IP, 1314. 152 TH, 247.

Gerhard Ebeling: Hermeneutische Berücksichtigung der Geschichtlichkeit der Verkündigung

34

te der Geschichte“153 oder der „Mythos vom Mythos“154 erzählt. In dieser Vergeschichtli-

chung der Geschichte liegt die Geschichtslosigkeit der Postmoderne.155

Man kann das auch anhand der Linguistik aufzeigen. Auf der Basis der Trennung von

Verstehen und Erklären konnte sie die klassische signum-res-Verbindung geradezu umkehren,

sodass de Saussure neu den Signifikanten als materiellen Bedeutungsträger des

Sprachzeichens definieren konnte. Nethöfel stellt darin den Wandel von einer antiken

Wahrheitsorientierung zu einer modernen Wirklichkeitsorientierung mit einem neuzeitlichen

Systemdenken fest.156 Die Frage nach der Beziehung von Signifikat und Signifikant wird

angesichts der verschiedenen Gebrauchsmöglichkeiten eines Wortes neu zum Problem.

Deshalb wird Hermeneutik als Orientierungshilfe gebraucht. Doch in der postmodernen

Überdeterminierung der Moderne157 wird die Orientierungsfunktion der modernen Hermeneu-

tik geradezu immateriell, da sie zu erkennen geben muss, dass ihre Methoden und Theorien

lediglich „Äquivalente ursprünglicher Orientierungssituationen“158 und deshalb austauschbar

sind.

Darum stehen nach Nethöfel Vertreter der hermeneutischen Theologie mit ihrem

geschichtlichen Entmythologisierungsprogramm ohnmächtig dem Trend einer Remythologi-

sierung der Geschichte gegenüber.159

7.2 Folklorisierung der Wahrheiten in einer Gesellschaft des Spektakels

Zu ähnlichen Aussagen kommt Michel de Certeau im Hinblick auf die Situation der Religion

in der gegenwärtigen Gesellschaft. Er geht dabei von den Informationsmedien (v.a. der

Zeitung) aus. Deren Funktion sei es nicht, „eine Tiefe der Welt oder gar die Ansage einer

Realität oder die Verkündigung einer Wahrheit der Geschichte sichtbar zu machen. (…) „die

überbleibenden Berichte der Presseschreibe und der Gesamtheit der ‚Massenmedienʻ

mythifizieren die lebendige Wirklichkeit“160. Es geht in der Medienwelt nach de Certeau also

nicht um Abbildung der Wirklichkeit, sondern um Produktion von Legenden.161 Dass dies an

der Darstellung der Religion in den Medien nicht spurlos vorbeigeht, versteht sich von selbst.

153 TH, 244. 154 TH, 247. 155 Vgl. TH, 245. 156 Vgl. TH, 14. 157 Vgl. TH, 246. 158 TH, 15. 159 Vgl. TH, 247. 160 GS, 157. 161 Vgl. GS, 157.

Gerhard Ebeling: Hermeneutische Berücksichtigung der Geschichtlichkeit der Verkündigung

35

Religion sei „nicht mehr das Zeichen einer Wahrheit“, sondern ein „zweideutiger Mythos

eines vielgestaltigen Rätsels“162. Ihre Aussagen haben keinen Anspruch mehr auf Wahrheit.

Sie sind vielmehr Produkte von sozialen, psychologischen und historischen Organisationen,

also Systemen. Sie zu verstehen heisse: „anhand einer Methode die Regionalität der religiösen

Fakten zu überwinden“163. Denn die religiösen Aussagen sind nicht mehr Signifikanten von

dem, wovon sie reden, also von dem, was sie zu erklären suchen. Vielmehr werden sie als

Symptome behandelt, die ihrerseits einer Erklärung bedürfen (soziale, politische oder

psychologische), da sie entgegen ihrer Intention ihr wahres Signifikat nicht erhellen, sondern

verdunkeln.164 Die Umkehrung von Signifikat und Signifikant, die bereits oben bei Nethöfel

angeklungen ist, erscheint hier nun gar verschärft im Umgang der gegenwärtigen Gesellschaft

mit den Aussagen einer Religion.

Doch die Frage nach der Wahrheit religiöser Aussagen stellt sich nach de Certeau nicht nur

von aussen, sondern – speziell in Bezug auf die christliche Religion – auch von innen her. Da

das Christentum eine Beziehung zu ihrem begründenden Ereignis – nämlich der Er- und dem

Bekenntnis Jesu als des Christus – voraussetzt, steht es „unter dem zweifachen Zeichen einer

Treue und einer Differenz gegenüber diesem Gründungsereignis“165. Das Christentum beruft

sich auf das Ereignis Jesu Christi, wiederholt es aber nicht, sondern setzt es in

unterschiedlichen Weisen fort. Deshalb – so de Certeau – wird die Wahrheit des Beginns „nur

durch den Raum von Möglichkeiten, den sie eröffnet“166 enthüllt. Verifikation heisst nach ihm

deshalb: „Dass das Christentum immer noch fähig ist, einen neuen Raum zu eröffnen, dass

eine Veränderung im Vollzug des Diskurses und in der Beziehung des Sprechers zur Sprache

ermöglicht, dass es, kurz gesagt, Glaubende ‚zulässt.ʻ“167 Diese Definition erinnert an

Ebelings Definition vom Wort Gottes.168 Auch dieses verifiziert sich dadurch, dass es den

Menschen verifiziert, d.h. zum Glaubenden macht.

Dieser produktive Aspekt des Christentums, welches in der Differenz Treue zum Alten

bewahrt, führt noch zu einem weiteren Punkt, der hier erläutert werden soll, bevor Bilanz

gezogen wird.

162 GS, 160. 163 GS, 161f. 164 Vgl. GS, 162. 165 GS, 174. 166 GS, 176. 167 GS, 178, 168 Siehe weiter oben.

Gerhard Ebeling: Hermeneutische Berücksichtigung der Geschichtlichkeit der Verkündigung

36

7.3 Fenster- und Spiegelhermeneutik

Im Buch Posthermeneutische Theologie169 schildert Marcus Döbert, nachdem er ganz ähnlich

wie oben die Problematik der Theologie in der Gegenwart aufgezeigt hat – er verankert sie

v.a. in der historisch-kritischen Exegese –, gegenwärtige Alternativvorschläge. Diese gliedert

er in drei Gruppen: Fenster-, Spiegel- und kommunitäre Hermeneutiken. Speziell die ersten

zwei sind für die Behandlung von Ebelings Position relevant. Sie sollen deshalb kurz erläutert

werden.

7.3.1 Fenster-Hermeneutik

Aus einem bestimmten Fenster kann jeder x-beliebige Betrachter hinausschauen, und er wird

dasselbe sehen, wie jeder andere. Eine Hermeneutik, die ihren Text als ein Fenster betrachtet,

geht davon aus, dass sich „unterschiedlichen Leserinnen und Lesern beim Lesen eines Textes

im Wesentlichen ebenfalls stets dasselbe Bild“170 offenbart. Eine solche Hermeneutik geht

also trotz aller Kritik von einer ungebrochenen Kongruenz von Signifikant, Signifikat und

Referent aus. Von der Auslegung des Texts erwartet sie einen Blick in die historische

Lebenswirklichkeit, die hinter diesem Text, bzw. in der der Verfasser des Texts steht.

Weil die Fenster-Hermeneutik sich heute nicht mehr auf den archimedischen Punkt der

objektiven Faktizität berufen kann, aber dennoch die rationale Kritik – die sie selber

angewendet hat durch ihre Unterscheidung vom „geschichtlichen Kern der Texte und vom

interpretierenden Subjekt in dieselben hinein projizierten ‚Konjekturen̒“ 171 – an einem

bestimmten Punkt abbrechen muss, um sich selbst nicht zu relativieren, beruft sie sich nach

Döbert meistens auf eine von folgenden zwei Invarianten:172

• Natürliche Invarianten: strukturale Universalien, anthropologische Konstanten

• Transzendentale Invariante: Offenbarungsqualität des kanonischen Textes.

7.3.2 Spiegel-Hermeneutik

Wer nicht gewillt ist, sich auf eine der genannten Invarianten zu stützen und somit der Kritik

freien Lauf lässt, sodass es nicht mehr möglich wird, gesicherte Aussagen über die

Vergangenheit zu machen, kann auf einen hermeneutischen Ansatz stossen, den man als

Spiegel-Hermeneutik charakterisieren könnte. Er geht davon aus, dass einem Text nicht 169 Vgl. PT. 170 PT, 86. 171 PT, 139. 172 Vgl. PT, 141.

Gerhard Ebeling: Hermeneutische Berücksichtigung der Geschichtlichkeit der Verkündigung

37

primär Stimmen aus der Vergangenheit entnommen werden können, sondern dass der

Interpret vielmehr seine eigenen in ihm – wenn auch durch den Text verfremdet – wieder-

findet. Döbert verweist hier auf Ricœurs „Sich-Verstehen vor dem Text“ anstelle vom

„Verstehen eines Textes“173.

Eine solche Hermeneutik wählt nach Döbert einen Mittelweg zwischen der modernen

Hermeneutik, die in ecoscher Terminologie ihren Fokus primär auf die intentio auctoris legt,

und individueller Willkür des Interpreten (intentio lectoris), indem sie in der intentio operis174

einen „festen Haftpunkt der Transzendenz“ sieht. Doch Döbert vermutet, dass auch diese

Zuflucht vor methodischer Manipulation und Missbrauch eines Textes „gegen die Wucht des

dekonstruktiven Ansturms“175 auf längere Zeit hin kaum wird standhalten können.

173 PT, 87. 174 Vgl. U. Eco, Die Grenzen der Interpretation, München 1992, 35. 175 PT, 172.

Gerhard Ebeling: Hermeneutische Berücksichtigung der Geschichtlichkeit der Verkündigung

38

8 Replik

8.1 Vom Text zurück in die Vergangenheit

Wie ich bereits bei de Certeaus Verifikationsverständnis angedeutet habe, erstaunt es mich,

wie nahe Ebeling den hier vorgestellten Kritikern der hermeneutischen Theologie steht. Er

scheint einen Grossteil ihrer Aussagen bereits vorweggenommen und zumindest ansatzweise

beantwortet zu haben. Doch diese Aussage ist ein Produkt von mir. Obwohl ich mir bewusst

bin, dass mein Verständnis von Ebeling nicht deckungsgleich mit seinem Selbstverständnis

ist, mache ich Aussagen über ihn – genauso, wie auch die genannten Kritiker andere Autoren

zusammenfassen und besprechen. Sie scheinen in ihrer Praxis ein grösseres Vertrauen in die

Verständlichkeit des Wortes zu haben, als sie theoretisch erklären.

Daran wird deutlich, dass die historisch-kritische Exegese mit ihrem Versuch, den Autor eines

Textes zu verstehen – trotz der berechtigten Kritik an ihr –, nicht sinnlos wird. Wenngleich

ihr Absolutheitsanspruch – die Meinung, mit totaler Sicherheit die Vergangenheit eins zu eins

abbilden zu können – aufzugeben ist (was heute wohl kaum jemand noch bestreitet), bleibt sie

dennoch ein wichtiges Instrument, sich mit Texten aus der Vergangenheit auseinander-

zusetzen.

In Bezug auf die Theologie heisst das: Weil das Christentum wesenhaft auf den Menschen

Jesus bezogen ist, in dem es Gottes fleischgewordene Selbstoffenbarung erkennt, und eine

Beziehung zu Gott im christlichen Glauben nur mittels der Person Jesu möglich ist, weil also

das Christentum historisch verankert ist, gehört das Bemühen um historische Erkenntnis

elementar zur theologischen Arbeit. Doch die Frage ist, was man sich davon erwartet. Anhand

Döberts Kritik schliesse ich, dass er von historischer Erkenntnis (wenn sie absolut möglich

wäre) die Begründung normativer Aussagen176 oder der Universalität des christlichen

Selbstverständnisses erwarten würde.177 Doch das ist meiner Meinung nach total verfehlt.

Die Normativität religiöser Aussagen lässt sich mit rein rationalen Argumenten nicht

begründen. Bereits Kierkegaard hat in seinen Philosophischen Brocken ausführlich

aufgezeigt, dass auch allumfassende historische Kenntnis des Lebens Jesu noch niemanden zu

176 Vgl. z.B. PT, 139. 177 Vgl. PT, 204.

Gerhard Ebeling: Hermeneutische Berücksichtigung der Geschichtlichkeit der Verkündigung

39

dessen Jünger macht.178 Deshalb ist auch für Ebeling historische – vermeintlich absolute –

Kenntnis nicht das Ziel der Hermeneutik. Man könnte sagen, dass sie notwendige, aber nicht

hinreichende Bedingung für den christlichen Glauben ist. Die daraus abgeleitete Frage, wie

viel an historischer Kenntnis notwendig ist, ob es also ein Mindestmass gibt, geht in eine

falsche Richtung, auf die Bultmann mit der Betonung des „blossen Dass“179 hingewiesen hat.

Dass dieses Dass aber immer nur mittels eines Was und Wie erfahrbar ist, weist historischer

Arbeit ihren Platz an: durch die fragmentarische Aufdeckung des Was und Wie die

Möglichkeit des Dass belegen.

Auch die Universalität des christlichen Selbstverständnisses hängt nicht von einer Beweisbar-

keit seiner Aussagen ab. Ob mein Nachbar sich als Gottes Geschöpf betrachtet oder nicht,

ändert nichts daran, dass ich in ihm Gottes Schöpfung sehe.

8.2 Vom Text in die zukunftsweisende Gegenwart

Damit bin ich zum produktionsästhetischen Ansatz der Spiegel-Hermeneutik hinüberge-

gangen (ohne dass das historische Fragen der Fenster-Hermeneutik als ergebnislos fallen

gelassen wurde). In Ebelings Zuordnung der Aufgabenbereiche bin ich von der Bibelwissen-

schaft nun zur Systematik (inkl. Praktische Theologie) gelangt. Die Hauptfrage lautet nun

nicht mehr, was meinte der Autor, als er den Text schrieb, sondern was sagt der Text mir? Wie

werde ich durch den Text verändert? Wie verstehe ich mich vor dem Text selbst neu?

Dieser Blickrichtung soll letztlich auch die historische Fragestellung dienen. Der Text kommt

erst zum Ziel, wenn er zu einem neuen Selbstverständnis des Lesers vor dem Text führt. Ich

betrachte es als Stärke von Ebeling, dass er beide Fragerichtungen – vom Text in die Vergan-

genheit (Fenster) und vom Text zu mir (Spiegel) – offen hält.

8.3 Einheit der beiden Blickrichtungen

Nun ist noch zu klären, wie die beiden Blickrichtungen zu verbinden sind. Ist der Text, der

Autor oder der Leser das Einheit stiftende Element? Meiner Meinung nach ist es keines der

Drei: Es ist Gottes Selbstoffenbarung durch sein Wort (im umfassenden Sinn180). Der

historische Umgang mit dem Text, der kontextuelle Verstehensbarrikaden aus dem Weg

178 Vgl. PB, 56f. 179 Vgl. Ebelings Besprechung davon in TuV, 115-116. 180 Da Ebeling spätestens ab 1969 Wort ganzheitlich in Verbindung mit Praxis bedenkt (vgl. z.B. die ausführliche Behandlung in TS, 25-32.), muss ich auf die Kritik gegenüber einer verkopften Wort-Gottes-Theologie nicht ausführlich eingehen.

Gerhard Ebeling: Hermeneutische Berücksichtigung der Geschichtlichkeit der Verkündigung

40

räumen und der produktionsästhetische Umgang, der den Leser in eine Haltung versetzen soll,

die es dem Text ermöglicht, sein hermeneutisches Potenzial zu entfalten und den Leser zu

einem neuen Selbstverständnis zu führen, stellen noch nicht das Wesentliche gelungener

Auslegung dar. Erst wenn der historische Umgang mit dem Text das dem Autor widerfahrene

Wortereignis so zur Sprache bringt, dass sich dieses Wortereignis erneut vollzieht und den

Leser sich selbst coram deo (nicht coram scriptura!) erkennen lässt und zwar gegenüber

diesem Gott, der sich in Jesus Christus offenbart hat, erst dann kommt die Auslegung an ihr

Ziel, weil durch sie Gott erneut zu Wort kommt.

Es mag als Nachteil oder gar als Ausrede betrachtet werden, dass mit Gottes Wirken ein

nicht-kontrollierbares, nicht-verifizierbares Element in den Auslegungsprozess hinein genom-

men wird. Doch muss es deshalb nicht fallen gelassen werden. Mit Ebeling zusammen soll

Rechenschaft abgelegt werden darüber, was unter Gottes Selbstoffenbarung zu verstehen ist,

um sie zumindest nachvollziehbar zu machen. Dadurch wird gleichsam der Spiess umgedreht:

Nicht die Selbstoffenbarung Gottes muss verifiziert werden, sondern sie verifiziert den

Menschen! Indem sie den Menschen zu einem neuen Selbstverständnis führt, hinterlässt sie in

ihm eine Wirkung. Dass das wirkungsvolle Geschehen der Offenbarung so stark betont wird,

darf nun aber nicht dazu verleiten, die Offenbarung auf das Erlebnis des Lesers zu reduzieren.

Sie bleibt unverfügbar ausserhalb seiner selbst.

Ich nehme also die zwei Hermeneutikmodelle (Fenster und Spiegel) auf, doch gleichzeitig

sollen sie durch den Rückgriff auf meine Ebeling-Interpretation überboten werden: Ich

erwarte mehr als historische Erkenntnis (Fenster) und will mich selbst vor mehr als nur dem

Text verstehen (Spiegel). Ziel ist ein Wahrwerden des Menschen, der sich und die gesamte

Welt als gegenwärtiges Geschehen coram deo erkennt, der sich in Jesus Christus offenbart

hat.

Gerhard Ebeling: Hermeneutische Berücksichtigung der Geschichtlichkeit der Verkündigung

41

9 Thesenreihe als Fazit

Mit einer Thesenreihe soll diese Arbeit abgeschlossen werden. Die wichtigsten Punkte meiner

Stellungnahme sollen hier nochmals prägnant und geordnet aufgeführt werden.

• Der christliche Glaube beruft sich auf ein historisches Ereignis (das Geschehen um die

Person Jesus von Nazareth).

o Das Zeugnis dieses Ereignisses ist uns textlich überliefert.

o Historische Kenntnis dieses Ereignisses ist notwendige, aber nicht hinreichen-

de Bedingung für den Glauben.

o Zum Aufgabenfeld der christlichen Theologie gehört die historische Auseinan-

dersetzung mit der Überlieferung.

• Der christliche Glaube beruft sich auf ein historisches Ereignis in besonderer Weise

(Jesus von Nazareth wird als der Christus, als Gottes Selbstoffenbarung erkannt).

o Nicht die Kenntnis von, sondern das Verhältnis zu diesem Ereignis ist das Ent-

scheidende des christlichen Glaubens.

o Das Zustandekommen und Sich-Vollziehen dieses Verhältnisses ist das erneute

Ereignis/Geschehen von Gottes Selbstoffenbarung.

• Das Geschehen von Gottes Selbstoffenbarung wirkt sich auf den Menschen aus.

o Sein Selbst-, Welt- und Gottesbezug werden coram deo neu.

o Diese Wirkung wird nicht als Anpassung/Korrektur des Alten, sondern als

Neuschaffung erfahren.

o Eine Folge dieser Wirkung ist die Freiheit von der Vergangenheit und der

Zukunft zur Vergangenheit und Zukunft durch Gottes gegenwärtig machende

Gegenwart.

Gerhard Ebeling: Hermeneutische Berücksichtigung der Geschichtlichkeit der Verkündigung

42

10 Bibliographie und Abkürzungsverzeichnis

10.1 Gerhard Ebeling

GKV181 Die Geschichtlichkeit der Kirche und ihrer Verkündigung als theologisches

Problem, SGV (207/208), Tübingen 1954.

H Hermeneutik, in RGG3, Bd. 3, H-Kon, 1959, 242-262.

WcG Das Wesen des christlichen Glaubens, Tübingen 1961.

TuV Theologie und Verkündigung. Ein Gespräch mit Rudolf Bultmann, Gerhard

Ebeling/Ernst Fuchs/Manfred Mezger (Hgg.), HUTh 1, Tübingen 1962.

WG Wort und Glaube, Tübingen 1962:

• WGuH Wort Gottes und Hermeneutik, in: WG, 319-348.

SPT „Sola scriptura“ und das Problem der Tradition, in: Wort Gottes und Tradition.

Studien zu einer Hermeneutik der Konfessionen, Heinrich Bornkamm u.a. (Hgg.),

KiKonf, Bd. 7, Göttingen 1964, 91-143.

WG II Wort und Glaube, Bd. 2, Beiträge zur Fundamentaltheologie und zur Lehre von

Gott, Tübingen 1969:

• GcT Der Grund christlicher Theologie. Zum Aufsatz Ernst Käsemanns über

„Die Anfänge christlicher Theologie“, in: WG II, 72-91.

• GuW Gott und Wort, in: WG II, 396-432.

• HT Hermeneutische Theologie?, in WG II, 99-120.

• HTG Hauptprobleme der protestantischen Theologie in der Gegenwart. Anfragen

an die Theologie, in: WG II, 56-71.

• ZuW Zeit und Wort, in: WG II, 121-137.

TS Einführung in Theologische Sprachlehre, Tübingen 1971.

DcG Dogmatik des christlichen Glaubens, Bd. 1, Prolegomena – Erster Teil: Der Glaube

an Gott den Schöpfer der Welt, Tübingen 1979.

WG IV Wort und Glaube, Bd. 4, Theologie in den Gegensätzen des Lebens, Tübingen 1995:

• HME Hermeneutik zwischen der Macht des Gotteswortes und seiner

Entmachtung in der Moderne, in: WG IV, 209-225.

181 Auf Kosten der schnellen Aufschlüsselung der verwendeten Abkürzungen wurde die chronologische Ordnung der Texte der Bibliographie zugrunde gelegt. Bereits aus dieser Gliederung lässt sich eine Gewichtsverlagerung bei Ebeling entdecken. War die Geschichtlichkeit in seiner Frühzeit für ihn wohl das Hauptthema, so wurde dieses ab 1969 von der Erfahrung abgelöst, was nicht heisst, dass die Geschichtlichkeit ganz verschwand. Die Einführung in Theologische Sprachlehre ist dafür ein gutes Beispiel. Die Studentenunruhen und Ebelings Erfahrungen mit ihnen in Tübingen könnten ein Anlass dazu gewesen sein.

Gerhard Ebeling: Hermeneutische Berücksichtigung der Geschichtlichkeit der Verkündigung

43

10.2 Zitierte Werke anderer Autoren

GS De Certeau, M., GlaubensSchwachheit (ReligionsKulturen 2), Stuttgart 2009.

IP Dilthey, W., Ideen über eine beschreibende und zergliedernde Psychologie, Berlin

1894.

LKD Hauschild, W.-D., Lehrbuch der Kirchen- und Dogmengeschichte, Bd. 1, Alte

Kirche und Mittelalter, Gütersloh 32007.

PB Kierkegaard, S., Philosophische Brocken. De omnibus dubitandum est (Gesammelte

Werke und Tagebücher 6), Simmerath 2003.

PT Döbert, M., Posthermeneutische Theologie. Plädoyer für ein neues Paradigma (Reli-

gionsKulturen 3), Stuttgart 2009.

TH Nethöfel, W., Theologische Hermeneutik. Vom Mythos zu den Medien (Neukir-

chener Beiträge zur Systematischen Theologie 9), Neukirchen 1992.

WA DB 7, 384, 26-32.

WA 7, 25, 34.