Warten und Werten: Lebensbegriffe und Denk-Raum-Bilder in Siegfried Kracauers Kinotheorie der...

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Warten und Werten: Lebensbegriffe und Denk-Raum-Bilder in Siegfried Kracauers Kinotheorie der Geschichte Drehli Robnik in: Thomas Brandstetter, Karin Harrasser, Günther Friesinger (Hg.): Ambiente. Das Leben und seine Räume. Wien, Berlin: turia + kant 2010, S. 131-153 Ich möchte hier dem nachgehen, was in Siegfried Kracauers Theorie – einer Theorie, die ins Kino geht, durch Filme und Dinge denkt und sich in Geschichte als Erfahrungsform auflöst – an Leben wahrnehmbar, denkbar, erfahrbar wird. Wie sieht, wie theoretisiert, Kracauer – implizit vom Kino her, zur Geschichte hin – das, was so Leben heißt, worauf sich Biopolitiken der Produktivmachung beziehen und worin (andere) Möglichkeiten von Politisierung sich auftun? Dieser Frage nachgehend schlage ich zwei Richtungen ein, gehe zunächst dem Vernehmen nach, bis an den Punkt, an dem Leben als Murmeln erklingt, und dann dem Unvernehmen nach, wobei am Wahrnehmen und am Bild eher die Störungen und Unterbrechungen zählen. Und ich werde dabei im Auge behalten, wie sich bei Kracauer die Zeit des Lebens und seiner Formungen in Räumen ausprägt, die Bilder ebenso wie Bauten sind, Arten eines problematischen, im Wahrnehmen lesenden Denkens ebenso wie Formen eines prekären Wohnens in Übergängen. Vermessene Massen "Die Raumbilder sind die Träume der Gesellschaft. Wo immer die Hieroglyphe irgendeines Raumbildes entziffert ist, dort bietet sich der Grund der sozialen Wirklichkeit dar." 1 Dieser programmatischen Ansage in einem Zeitungsaufsatz von 1930 folgt Kracauers "Konstruktion" (so die Byline des Aufsatztitels), 1 Siegfried Kracauer: "Über Arbeitsnachweise. Konstruktion eines Raumes" [1930], in: ders.: Schriften 5.2: Aufsätze (1927-1931), S. 185-192, hier S. 186. 1

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Warten und Werten: Lebensbegriffe und Denk-Raum-Bilder in Siegfried Kracauers Kinotheorie der Geschichte

Drehli Robnik

in: Thomas Brandstetter, Karin Harrasser, Günther Friesinger (Hg.): Ambiente. Das Leben und seine Räume. Wien, Berlin: turia + kant 2010, S. 131-153

Ich möchte hier dem nachgehen, was in Siegfried Kracauers Theorie – einer Theorie, die ins Kino geht, durch Filme und Dinge denkt und sich in Geschichte als Erfahrungsform auflöst –an Leben wahrnehmbar, denkbar, erfahrbar wird. Wie sieht, wie theoretisiert, Kracauer – implizit vom Kino her, zur Geschichtehin – das, was so Leben heißt, worauf sich Biopolitiken der Produktivmachung beziehen und worin (andere) Möglichkeiten von Politisierung sich auftun? Dieser Frage nachgehend schlage ich zwei Richtungen ein, gehe zunächst dem Vernehmen nach, bis an den Punkt, an dem Leben als Murmeln erklingt, und dann dem Unvernehmen nach, wobei am Wahrnehmen und am Bild eher die Störungen und Unterbrechungen zählen. Und ich werde dabei im Auge behalten, wie sich bei Kracauer die Zeit des Lebens und seiner Formungen in Räumen ausprägt, die Bilder ebenso wie Bauten sind, Arten eines problematischen, im Wahrnehmen lesenden Denkens ebenso wie Formen eines prekären Wohnens in Übergängen.

Vermessene Massen

"Die Raumbilder sind die Träume der Gesellschaft. Wo immer die Hieroglyphe irgendeines Raumbildes entziffert ist, dort bietet sich der Grund der sozialen Wirklichkeit dar."1 Dieser programmatischen Ansage in einem Zeitungsaufsatz von 1930 folgtKracauers "Konstruktion" (so die Byline des Aufsatztitels),

1 Siegfried Kracauer: "Über Arbeitsnachweise. Konstruktion eines Raumes" [1930], in: ders.: Schriften 5.2: Aufsätze (1927-1931), S. 185-192, hier S. 186.

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sein wahrnehmend entzifferndes Durchdenken des "Arbeitsnachweises": eines paradigmatischen modernen Raumtyps durchgängigen Massenaufenthalts (der später unter Namen wie "Arbeitsamt" oder "Arbeitsmarktservice" firmiert). "Über Arbeitsnachweise" schreibt Kracauer:

"[D]ie Menschen [stehen] in diesen Räumen so nackt und bloß da wie die Wände, ein Objekt der Hygiene [...]. Keine Aura hüllt gnädig das Körperliche ein, die Körper treten vielmehr ohne Beschönigung ins grelle Licht der Öffentlichkeit, und die dazugehörigen Menschen sind nur noch Systeme, die bei Zufuhr von Milch nach vorangegangenem Essen schon funktionieren werden. In den Hinterhäusern der Gesellschaft hängen, Wäschestücken gleich, die menschlichen Eingeweide heraus. Ihnengelten auch die Plakate, die sich über Geschlechtskrankheiten und Geburtenregelung verbreiten. Dass die elementaren Lebensereignisse resolut angepackt werden, ist in der Ordnung und entspricht durchaus dem Walten der primitiven Gerechtigkeit."2

Warum ist für Kracauer dieses "Walten der primitiven Gerechtigkeit" in (der) Ordnung? Weil die Umstandslosigkeit dieser Gerechtigkeit einer Subjektivität entspricht, die kollektiv ist, jedoch nicht im Sinn von Sammlung, sondern von ständiger Neu-Aufteilung, von Individuationen im Modus des "Dividuellen", irreduzibler, eigenlogischer Teilungsakte auf Basis der Unmöglichkeit einer sauber-restlosen und stabilen Teilung. (In dieser Deutung kommen sowohl Deleuzes Sicht auf das "Dividuelle" als Unmittelbarkeit von Singulärem und Universellem bzw. als das, was bei jeder Teilung sein Wesen unddamit den Maßstab dieser Teilung ändert, zum Tragen als auch Rancières Begriff einer "Aufteilung des Sinnlichen, durch welche die Körper sich in Gemeinschaft befinden", die, als Zählung der Teile stets einen überzähligen Teil, der an nichts teilhat und nicht zählt, konfrontiert – etwa Arbeitslose in derLeistungsgesellschaft – und insofern notwendig Verrechnung im 2 ebd., S. 191f.

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Doppelsinn von zuordnender Verbuchung und Rechenfehler ist.3) Kracauer nennt diese dividuelle Kollektivität "Masse". Der Begriff hat manches mit dem gemein, was heutzutage als "Multitude" anvisiert wird; wobei letzterer Diskurs womöglich die bei Kracauer ausgelotete Vielheit, deren beliebiges, medialisiertes Leben ein Feld für Fälle von unerwartetem Auftauchen neuer Vermögen der Wahrnehmung und Affektivität ist,reduktionistisch auf ökonomische Voraussetzungen zurückführt.

Kracauer ist ein Theoretiker der Massenkultur, verstanden als Kultivierung dessen, was die Masse werden kann, was aus der Masse werden kann, Kultivierung unvorhergesehener Möglichkeitender Masse in ihren Bildungen, ihren Ornamenten, kurz: er ist ein Theoretiker des Lebens in der und als Masse – aber er ist kein Kollektivist. Ungefähr zeitgleich mit dem Arbeitsnachweise-Essay, in seiner Reportage-Serie Die Angestellten,kritisiert er das Zusammenhaltsethos sozialdemokratischer Gewerkschaften dafür, dass es "jede Abweichung" vom Kollektiv "mit dem Bann belegt" und "aus der Not der Uniformierung eine Tugend macht."4 Es geht in Kracauers Emphase der Masse nicht umPhantasmen und Praktiken des Zusammenhalts – wie sie die Rhetorik sozialdemokratischer Politik bis heute prägen –, nichtum Zusammenkuscheln (und zusammen Kuschen), sondern um Masse als Erfahrungszusammenhang und Subjektivierungsmöglichkeit von Leben in Vorläufigkeit und Überzähligkeit.

Im Arbeitsnachweise -Aufsatz setzt er den Warteraum der arbeitslosen Massen, ihrer verkörperten Ausgesetztheit und der ihr entsprechenden Gerechtigkeit, in ein Spannungsverhältnis zum "heiteren Himmel der oberen Schichten": Dort herrscht das Gesetz des Einzelnen, und dem Einzelnen könnte, so Kracauer,

3 Vgl. Gilles Deleuze: Das Bewegungs-Bild. Kino 1, [1983] Frankfurt/Main 1989, S. 129, 147; Jacques Rancière: Das Unvernehmen. Politik und Philosophie [1995], Frankfurt/Main 2002, Kapitel "Der Anfang der Politik", sowie S. 38;ders.: Hatred of Democracy [2005], London, New York 2006, Kapitel "Politics, or The Lost Shepherd".4 Kracauer: Die Angestellten. Aus dem neuesten Deutschland [1929], Frankfurt/Main 1971, S. 115

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eine Gerechtigkeit angepasst sein, die präzis und fakultativ ist, die, wie er schreibt, "umständlich" ist, indem sie nach den Umständen entscheidet. Aber das Gesetz des Individuums, desEinzelmenschen als Privatbesitzer an Leib, Seele und Handlungsspielräumen, ist Kracauer zufolge ein "Zerrbild" der umständlichen Gerechtigkeit; diesem gegenüber verdient die "barabarische" Gerechtigkeit, jene, die die Masse bei ihren heraushängenden Eingeweiden und ihren im grellen Licht veröffentlichten Körpern packt, den "unbedingten Vorzug": "Ein schlechter Individualismus drückt auf die gute Grobheit, die den einzelnen vernachlässigen muss. Nur mit der Masse selber kann eine Gerechtigkeit nach oben steigen, die wirklich gerechtist."5 In diesem Sinn ist Kracauer ein Wertender, einer, der Vorzug gibt und als öffentlicher Intellektueller ein kritischesVotum formuliert, indem er abschätzt. Zugleich aber ist er in kategorischer Weise ein Wartender, der absetzt, der immer auch ein Moment des Absetzens und Abstandes mit artikuliert: Darauf läuft sein häufiges Denkmotiv der "traurigen Vorläufigkeit" hinaus: Die von ihm bevorzugte, gut-grobe, barbarische Gerechtigkeit der Massen "ist ihrer Vorläufigkeit wegen mit Trauer umgeben"6. Wobei diese Trauer gerade nicht nostalgisch oder regressiv ist: Sie gilt nicht einer verlorenen, allenfallswieder herzustellenden Ursprünglichkeit, sondern ist die emphatische Markierung einer Einrichtung in der Vorläufigkeit, im programmatischen Warten, das wiederum kein Nichts-Tun in sicherer Distanz ist, sondern vielleicht, im Sinn von Kracauersfrühem Essay "Die Wartenden", "angespannte Aktivität und tätiges Sichbereiten"7, und das jedenfalls sich im Unsicheren absetzt und ohne Werten nicht auskommt.

Figuren des Wartens und der Vorläufigkeit haben in der Kracauerschen Theorie viele Namen und Ausformungen. Einmal formuliert er sie, quasi in Dialog mit seinem "Freund Walter

5 Kracauer: "Über Arbeitsnachweise", S. 190f.6 ebd., S. 191.7 Kracauer: "Die Wartenden" [1922] in: ders.: Das Ornament der Masse. Essays, Frankfurt/Main 1963, S. 106-119, hier S. 117f.

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Benjamin", unter der Chiffre der Passage: "Abschied von der Lindenpassage" gilt es nicht zuletzt deshalb zu nehmen, weil der Durchgangsraum universell und mit dem geschichtlichen Sozialen selbst koextensiv geworden ist: "Was sollte noch eine Passage in einer Gesellschaft, die selber nur eine Passage ist?" fragt der Schlusssatz des Denk-Raum-Bildes von 1930, mit dem auch Kracauers noch selbst editierte Sammlung seiner Weimarer Essays unter dem Sammeltitel "Das Ornament der Masse" endet.8 "Massenornament" ist der heute geläufigste Name, den Kracauer jener endlosen Übergangshaftigkeit gibt, die sozialem Leben unter dem durchdringenden Zugriff kapitalistischer Rationalisierung und Biopolitik zukommt. Im Arbeitsnachweise-Aufsatz erscheint es ihm als möglicherweise, traurigerweise, gut und in Ordnung, wenn die vorläufige Gerechtigkeit "Massenmuster" nach Raum-, Zeit- und Quantitätsmaßen vermisst, wenn sie die "Massen mustert"9. Im Aufsatz "Das Ornament der Masse" von 1927 ist zum einen die Traurigkeit der Massenmusterung als Unvollständigkeit der kapitalistischen Rationalisierung von Subjektivität bezeichnet, als ein "Zuwenig" an Rationalisierung, das vor allem das Moment der Selbstaufklärung in der Selbstwahrnehmung der Massen unentfaltet belässt; und doch eröffnet sich zum anderen, in geschichtsphilosophischer Sicht, die Chance, "[d]ass in dem Massenornament die Natur entsubstantialisiert wird". Denn: "Dieim Massenornament eingesetzte menschliche Figur hat den Auszug aus der schwellenden organischen Pracht und individuellen Gestalthaftigkeit zu jener Anonymität angetreten, zu der sie sich entäußert, wenn sie in der Wahrheit steht und die aus dem menschlichen Grund herausstrahlenden Erkenntnisse die Konturen der sichtbaren natürlichen Gestalt auflösen."10

Die Massenornamente, die Kracauer hier im Sinn hat – anonymisierende Körper-Kaleidoskope in Girl-Tanztruppen oder 8 Kracauer: "Abschied von der Lindenpassage" [1930] in: ders.: Das Ornament der Masse, S. 326-332, hier S. 332.9 Kracauer: "Über Arbeitsnachweise", S. 190.10 Kracauer: "Das Ornament der Masse" [1927], in: ders.: Das Ornament der Masse, S. 50-63, hier S. 59.

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Stadionsportveranstaltungen – sind zwiespältig: "ästhetischer Reflex" des Taylorismus, zugleich Medienhieroglyphen eines vorläufigen Stadiums in Desorganisierungsprozessen, die der Vernunft und Gerechtigkeit Eingriffsmöglichkeiten verschaffen. Die wertende Absetzung vom gegenwärtig Bestehenden und die wartende Gespanntheit hin aufs Unbenannte einer gerechten Ordnung, das steht bei Kracauer, wie auch bei anderen ihm zeitgenössischen Autoren der Kritischen Theorie, im Horizont messianistischen Denkens, das Revolution utopisch und Utopie theologisch fasst. Es geht dabei um moderne Rationalisierungsprozesse als Erosion und Zerstreuung vorhandener Konfigurationen des sozialen Lebens, um Geschichte,die zugleich fragmentiert und die Fragmente in ihrer Ungefügtheit bewahrt, für Einbrüche, die aus einem Außen des Kontinuums der Modernisierungsgeschichte erfolgen.11

So verkürzt dies auch formuliert ist, steht als entscheidende Frage im Raum, ob dieses Außen eines von der Eigengesetzlichkeit des Kapitals bestimmten Geschichtskontinuums als ein ganz Anderes oder immer nur Künftiges und der Bruch als Totalbruch verstanden wird, oder aber ob Außen und Einbruch als kopräsente Virtualitäten und immer wieder auslotbare Handlungsspielräume innerhalb einer gegebenen Ordnung vorstellbar, wahrnehmbar, denkbar sind. Bei Kracauer ist letzteres der Fall: Wenn die "Wendung zur Photographie das Vabanque-Spiel der Geschichte [ist]"12, wenn alsomit der Durchdringung des Sozialen durch technisch reproduzierte Bilder offenbar alles auf die Karte der Entblößung des seelenlosen, desorganisierten körperlichen Lebens im Bild gesetzt wird, wenn also im fotografisch auf Dauer gestellten Anblick von Kontingenz immer auch die Chance mit eröffnet ist, dass die Endlichkeit einer gegebenen Ordnung 11 Vgl. Anson Rabinbach: "Between Apocalypse and Enlightenment: Benjamin, Bloch, and Modern German-Jewish Messianism" in: ders.: In the Shadow of Catastrophe. German Intellectuals between Apocalypse and Enlightenment. Berkeley,Los Angeles, London 1997, S. 27-65.12 Kracauer: "Die Photographie" [1927] in: ders.: Das Ornament der Masse, S. 21-39, hier S. 37.

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als Affekt anschaulich wird – dann geht Film noch einen kleinenSchritt darüber hinaus: Über das Festhalten und Manifestieren der Endlichkeit im fotografischen Bild des Lebens hinaus aktualisiert Film immer wieder die Möglichkeit, neue und andereAnordnungen des wesentlich Fragmentarischen zu erstellen und so"die Vorläufigkeit aller gegebenen Konfigurationen nachzuweisen, wenn nicht gar die Ahnung der richtigen Ordnung des Naturbestands zu erwecken."13 Ein gängiger Name dafür wäre "Montage", und es gibt einzelne Stellen bei Kracauer, in denen er die gleichsam "schwache messianische Kraft" (Benjamin) einesder Vorläufigkeit der Wirklichkeit zugewandten Kinos anspricht;so etwa in seiner Rezension des Films Potomok cingiz chana – Sturm über Asien (UdSSR 1928) von Vsevolod Pudovkin. Über diesen sowjetischen Montage-Filmemacher meint Kracauer 1929, das gegenwärtige Europa sei "reif dazu, von ihm durchschaut, in seine Elemente zerlegt und neu montiert zu werden."14

Ein Loch

Ich möchte nun aber gar nicht so sehr auf das allfällige Messianische von Montage-Ästhetik hinaus, sondern in einem ab jetzt etwas schnelleren Gedankengang so anknüpfen, dass die Sache wenn schon nicht konkreter, dann zumindest bildlicher, nämlich filmbildlicher wird. Ein Massenornament, das sind ja nicht nur Körperteil-Revuen und Stadionveranstaltungen, wie wirsie heute noch etwa aus Nordkorea oder von Wellenbewegungen eines Fußball- oder Beach-Volleyball-Publikums her kennen. Massenornamente kommen uns häufig auch als Film-Bilder ins Gedächtnis, paradigmatisch wiederum als jene abstrahierten Paraden aus Hollywood-Musicals der 1930er Jahre, exemplarisch bei Busby Berkeley, oder aus Leni Riefenstahls Triumph des Willens (D 1934) – wobei der Witz des Vergleichs dieser disziplinarischen Massenformationen gerade in ihren

13 ebd., S. 39.14 Kracauer: "Sturm über Asien. Zu dem Film von Pudowkin" [1929] in: ders.: Werke 6.2: Kleine Schriften zum Film 1928-1931, Frankfurt/Main 2004, S. 191-195, hier S. 195.

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Unterschieden liegt (schlicht gesagt, ist ja keineswegs jede durchorganisierte Fabrik gleich ein völkisches Biotop). Der fast reflexartige Fokus gängiger Assoziationen auf solche disziplinierten, uniformierten Massen verstellt allerdings ein wenig das Entscheidende an Kracauers Begriff der Masse, des Massenornaments, des Massenmusters: dass nämlich im Massenmuster "lose Gruppen zusammenströmen und zerrieseln"15, dass Masse kaleidoskopisch ist, ständige Neuaufteilung als Dividuation. Bildlich gesagt: An der Rationalität von Massenkonfigurationen anonymer Teile zählt weniger der Aspekt der Standardisierung, Einordnung des Besonderen ins Allgemeine (auf den Kracauers gelegentliche und verkürzende Wiederverwendungen des Massenornament-Begriffs etwa in Von Caligari zu Hitler16 abheben), als vielmehr die Dynamik von Auflösungund Zerstreuung. In letztere Richtung weist Kracauers Theorie des Films: Diese am Material und seiner Irreduzibilität orientierte Ästhetik hebt an der filmischen Formbildung gerade das Unabgeschlossene, sich selbst Durchkreuzende, sowie das Eigenleben singulärer Momente in der Entfaltung der Bilder hervor.17 Ein Massenornament, Auszug der menschlichen Figur aus den Besitzständen des Organischen und Bürgerlich-Individuellen,das sind ja, in Kracauers Beispielen, eben etwa auch Bildwerdungen von Erfahrung in dokumentarischen Kino-Essays, inArbeiten des italienischen Neorealismus, bei Jacques Tati und immer wieder bei Charlie Chaplin.

Um 1930 schreibt Kracauer in Zeitungsaufsätzen und Filmrezensionen über Chaplins Trampfigur; er tut dies ganz im Zeichen seines Massenornamentbegriffs, verstanden als diagnostische Optik. Deren Fragestellung ist: Was an Spielräumen, Subjektivierungen, Widerspenstigkeit und potenzieller Politisierung von beliebigem Leben wird in Massenornamenten, zumal in deren filmbildlich gestreuter Form, 15 Kracauer: "Arbeitsnachweise", S. 190.16 Kracauer: Von Caligari zu Hitler. Eine psychologische Geschichte des deutschen Films [1947], Frankfurt/Main 1979.17 Kracauer: Theorie des Films. Die Errettung der äußeren Wirklichkeit [1960], Frankfurt/Main 1985.

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sichtbar? "Die Frage ist: was noch übrig bleibt, wenn die Merkmale fortfallen, durch die sich die Menschen gemeinhin erstin bestimmte Menschen verwandeln. Übrig bleibt bei Chaplin der Mensch schlechthin, oder doch ein Mensch, wie er allerorten zu verwirklichen ist [...N]ur, wenn die Attrbute ausgeschieden sind, die den einen eignen und den andern nicht, kann der Mensch sichtbar werden, der eine Möglichkeit sämtlicher Menschen wäre."18 Dies schreibt Kracauer mit Blick auf "ChaplinsTriumph", das triumphale Sich-Erheben der ständig im Kräftespiel sozialer Alltagssituationen gebeutelten Filmfigur über die Ordnungen der "polizeilichen" (im Sinn Foucaults bzw. Rancières) Politik als Administration produktiver Bevölkerungen: "Es gibt eine Weltherrschaft, die sich von oben her der Welt auferlegt und alle Gewalt in sich zusammenfasst; Chaplin beherrscht die Welt von unten her, als einer der gar nichts repräsentiert."19 In einem filmisch eröffneten "Jenseits der Politik", wie Kracauer schreibt, in dem sich dennoch politische Fragen der Arten von Herrschaft und deren Beziehung zur Repräsentation stellen, deutet sich, eben etwa mit Chaplin,das Sichtbar-Werden, das bildliche Aktuell-Werden einer zu verwirklichenden Möglichkeit des geteilten, immer neu aufgeteilten Menschlichen, unter Wegfall von Gattungsklassifikationen und Individuierungsmerkmalen, an. Dafür zieht Kracauer in einem früheren Chaplin-Essay (anhand von The Gold Rush, USA 1925) die Begriffsbilder der "Ichspaltung"und "Schizophrenie" heran und formuliert seinen vermutlich kürzesten Satz, der nur lautet: "Ein Loch." Weiter heißt es: "Aber aus dem Loch strahlt das reine Menschliche unverbunden heraus [...]."20 Und in der Theorie des Films fühlt Kracauer sich vom unbezähmbaren Überlebenswillen des Chaplinschen Tramp an Zeitraffer-Filme über pflanzliches Wachstum erinnert.21

18 Kracauer: "Chaplins Triumph" [1931] in: ders.: Werke 6.2, S. 492-495, hier S. 493.19 ebd.20 Kracauer: "Chaplin" [1926] in: ders.: Werke 6.1: Kleine Schriften zum Film 1921-1927, Frankfurt/Main 2004, S. 269f, hier S. 269f.21 Kracauer: Theorie des Films, S. 366.

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Dem Vernehmen nach: Kino, Lager, Fabrik – und ein Murmeln

An diesem Punkt schlage ich vor, versuchsweise einen Weg durch Kracauers Lebens-, Geschichts- und Kinobegrifflichkeit zu nehmen, sowie durch heutige politische Theoreme, die Verwandtschaften mit Kracauer aufweisen, einen Weg, auf dem dieKracauersche Theorie von Leben in Massen (und als Bio-Massen) als vitalistisch erscheint. Dies vielleicht schon insofern, als, nicht nur im Register von buzzwords, Gleichklänge vernehmbar werden zwischen Kracauers Wertschätzung des Tramp – "Als sei er Straßenstaub, so kann er durch Poren und Ritzen dringen und sich festsetzen, wo er nur mag."22 – und dem Deleuzo-Guattaristischen Vitalismus der Nomadologie, des "Pflanze-Werdens" und des "Schizo". Noch deutlicher treten Korrespondenzen zwischen Kracauer und Giorgio Agamben zutage, nämlich dort, wo Agamben seine Theorie der souveränen biopolitischen Macht zu komplementieren versucht durch seine Anrufung der Politik einer "kommenden Gemeinschaft" des "beliebigen Seins". Es geht da um die messianistische, immer wieder auch religiös-mystisch aufgeladene Vorstellung einer Politik, in welcher das bloße Leben unmittelbar eine vergemeinschaftete Form annimmt, ohne individuierende Identitätsmerkmale oder staatliche Zugehörigkeitszuschreibungenvorauszusetzen.23 Agamben skizziert diese Utopie gelegentlich unter Verweis auf das filmische Bild als ethische Geste24, welche die Untätigkeit in der Tätigkeit, das uneigentliche Potenzial im angeeigneten Akt ausstellt, bloßstellt – und ganz explizit mit Verweis auf Kracauers "Massenornament"-Aufsatz: Agamben paraphrasiert Kracauers Text als Prophezeiung, die im Medium einer warenförmigen Medialisierung der menschlichen Erscheinung über die Form der Ware und des Spektakels hinaus weist, auf einen postmetaphysischen, postorganischen, "absolut mitteilbaren" Körper hin, der "nicht mehr generisch oder

22 Kracauer: "Chaplins Triumph", S. 493.23 Giorgio Agamben: Die kommende Gemeinschaft [2001], Berlin 2003.24 Agamben: "Noten zur Geste" in: ders.: Mittel ohne Zweck. Noten zur Politik [1996] Freiburg, Berlin 2001, S. 53-62.

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individuell" ist, sondern "im wahrsten Sinn des Wortes beliebig."25

Agambens Verwendung des Massenornament-Begriffs als Optik auf unfundiertes soziales Leben läuft auf eine Art Umspring-Bild hinaus, bei dem hinter den entblößten, desorganisierten Körperndes Spektakels die Nackten und die Toten verdeckt sind: die demTod ausgesetzten nackten Leben "im Lager" und, frappierenderweise in einem Atemzug mit ihnen genannt, die "verstümmelten Leichen der Schlachthausszenen auf den Autobahnen".26 Bei Kracauer stellt sich aber nicht nur die Frage: Was wird im Massenornament, im Film-Bild, sichtbar?, sondern auch: Was heißt Sichtbarkeit, was ist Wahrnehmung, Sinnlichkeit, Subjektivität im Medium und im Horizont von Massenornament und Kino? Und daran anknüpfend: Wie vermittelt, wie moduliert das Massenornament, zumal das des Kinos, die Sinne der Massen, wie "massiert" Kino die Sinne in ihrer verkörperten Massenhaftigkeit? Eine Kracauersche Teil-Antwort, eine, wie ich zeigen möchte, unvollständige Antwort würde lauten: Das Kino vermittelt die Sinnlichkeit in Analogie zur rationalisierten Arbeitswelt. Kracauer prägt dafür die fast formelhafte Gleichsetzung von "Betrieb" und "Betrieb", wobei der eine der fordistische Industrie-, Büro- oder Handelsbetriebist, der andere die beschleunigte Betriebsamkeit von Konsum undReproduktion der Arbeitskraft im sogenannten Freizeitbetrieb der medialisierten Massenkultur: "Der Form des Betriebs entspricht mit Notwendigkeit die des 'Betriebs'", schreibt Kracauer 1926 über den "Kult der Zerstreuung" und meint damit die Kultur des Kinos.27

25 Agamben: Die kommende Gemeinschaft, S. 47.26 ebd, S. 49f27 Kracauer: "Kult der Zerstreuung. Über die Berliner Lichtspielhäuser"[1926], in: ders.: Das Ornament der Masse, S. 311-317, hier S. 314. Vgl. dazu auch: Drehli Robnik: "Betrieb und Betrieb – Affekte in Arbeit. Bild-Werdungals Wert-Bildung im Kino" in: Gabu Heindl (Hg.): Arbeit Zeit Raum. Bilder und Bauten der Arbeit im Postfordismus. Wien 2008, S. 114-137.

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Lief Kracauers Gleichung noch darauf hinaus, dass Fließband bzw. Büro-Effizienz und Kino die Massenerfahrung gleichermaßen zerstreuen, fragmentieren, desorganisieren, wobei dem Kult der Zerstreuung eine subjektivitätsbildende, eine, so Kracauer, "moralische Bedeutung"28 zukommt, so hat die Gleichung von Betriebund Betrieb eine Karriere gemacht, infolge derer sie uns heute in einer reduzierten bzw. vereinseitigten Form am vertrautestenist: Im Adornitischen "Kulturindustrie"-An- und Aufsatz hebt die Analogie von Fabrik und Freizeit-Kultur-Betrieb vor allem die lebensumfassende Disziplin eines rigiden fordistischen Schematismus und die totalitäre Subsumtion des Besonderen unterdas Allgemeine hervor. Dass Adorno etwas begrifflich vereindeutigt, was bei Kracauer noch als ambivalent gefasst ist– die Kultur der Zerstreuung oder die fotografische Bildwerdungdes beliebigen Lebens immer auch als Chance; das Massenornamentals "zweideutige Abstraktheit"29 –, wäre an anderer Stelle weiter zu diskutieren. Im vorliegenden Zusammenhang ist nun interessant, wie heutige postoperaistische Theorien der Massen-bzw. Multitudenkultur, denen nicht mehr bloß der eng begrenzte Raum der Fabrik (oder des Büros oder anderer "Betriebe"), sondern das soziale Leben in seiner Jederzeitigkeit und räumlichen Beliebigkeit als Ort andauernder Wertschöpfung gilt (Stichwort "soziale Fabrik"), die Erfahrungsbildungspotenziale von Kino und Kulturindustrie einschätzen. So rekurriert etwa Paolo Virno in seiner Grammatik der Multitude auf Benjamin, aber auch auf ein neu bewertetes Kulturindustrie-Verständnis, um dieGleichung von Betrieb und Betrieb gleichsam auf postfordistischerweiterter Stufenleiter zu reformulieren. Das heißt: Virno fokussiert Aspekte der Kultivierung und Bewirtschaftung von Erfahrung, in denen die Kulturindustrie – selbst noch in ihrer fordistischen Form, für die das klassische Studio- und Genre-Kinosystem Hollywoods stehen kann – über den engen Rahmen der fordistischen Disziplin hinausweist und in denen sie die Kommunikation und Kooperation weniger standardisiert als dass sie deren "tacit knowledges" und informelle Formen von 28 ebd., S. 31529 Kracauer: "Das Ornament der Masse", S. 59.

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Kreativität auslotet.30 Letztere sind in der postfordistischen Produktion und Sozietät, in der biopolitischen Produktion paradigmatisch. Deutlich wird dies zumal anhand dessen, was Michael Hardt und Antonio Negri "affektive Arbeit"31 nennen: jene Dienstleistungen, die Empfindungen und schiere Lebendigkeit produzieren, exemplarisch im Gesundheitsbereich und in der Unterhaltungsindustrie.

Ich möchte das Beispiel dieser postoperaistischen Autoren nur insofern anreißen, als daraus eines deutlich werden sollte: Heutige Theoretiker, die eine neue Politik auf ökonomische Gegebenheiten, zumal die Kulturalisierung von Ökonomie, gründenwollen32, stehen, wenn auch vermittelt und implizit, in einer diskurslogischen Tradition mit Kracauers Gleichsetzung von Betrieb und Betrieb, wenn sie eine soziale Produktivkraft beschwören, die sich als "Vitalismus der Massenkreativität" bezeichen lässt. So will Virno den Begriff der Biopolitik zurückgeführt wissen auf die Frage nach der Erschließbarkeit der schöpferischen Produktivitätspotenziale des Lebens schlechthin – also auf die reelle, nicht mehr nur formelle Subsumtion von Lebenszeit unter das Wertgesetz. Virnos postmarxistische Aneignung von Foucaults Begriff gibt sich demystifizierend, versteigt sich aber in einen religiösen Jargon der Anbetung der Arbeitskraft, wenn er schreibt: "Das Leben, der reine und schlichte bios, erlangt eine spezifische Bedeutung als Tabernakel der dynamis, der schieren Potenz."33

Bei Kracauer selbst lässt sich, um nun einen ersten Durchgang abzuschließen, die Gleichung von Betrieb und Betrieb und die Frage, was das Kino an Ungleichem in die Analogie zur 30 Vgl. Paolo Virno: Grammatik der Multitude. Öffentlichkeit, Intellekt und Arbeit als Lebensformen. Wien 2005, S. 76ff.31 Michael Hardt, Antonio Negri: Empire. Die neue Weltordnung [2000], Frankfurt/Main 2003, etwa S. 303f.32 Zu Kritiken am postoperaistischen Politikkonzept, zumal dessen puristischen und ökonomistischen Zügen vgl. etwa: Oliver Marchart: "Der Auszug aus Ägypten. Eine Einleitung" in: Chantal Mouffe: Exodus und Stellungskrieg. Die Zukunft radikaler Politik. Wien 2005, S. 7-23.33 Virno: Grammatik der Multitude, S. 114.

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industriellen Rationalität mit einführt, bis hin zu vitalistischen Passagen in seiner Theorie des Films verfolgen, die notorisch geworden sind. Wie kommt Kracauer – weiterhin entlangder Frage, wie Kino massenhafte Sinnlichkeit moduliert – dorthin? Zunächst gibt es fast so etwas wie einen Begriffsabtausch zwischen Kracauer und Benjamin: Hatte Benjamins "Kunstwerk"-Aufsatz seine Emphase der "zerstreuten Wahrnehmung" von Kracauer übernommen und ausgebaut, so lesen sich die bei Miriam Hansen überlieferten starken Stellen aus Kracauers 1940 auf der Flucht vor den Nazis verfassten Notizen zur späteren Theorie des Films wie ein Upgrade der Benjaminschen Kino-Ästhetik des Schocks und des taktilen Beschusses. Packt Biopolitik an den Orten des Massenlebens die entblößten Eingeweide an, so zielt Film auf den Menschen "mit Haut und Haar": Kracauer schreibt, dass Film-Bilder "direkt die materiellen Schichten des Menschen [erregen]: seine Nerven, seine Sinne, seinen ganzen physiologischen Bestand", und: "Das 'Ich' des dem Film zugewandten Menschen ist in ständiger Auflösung begriffen,wird unablässig von den materiellen Phänomenen gesprengt."34

Die Um- und Über-Schreibungen, die von diesen frühen Notizen zur 1960 erstveröffentlichten Theory of Film führen, sind ein Kapitel für sich.35 An dieser Stelle lässt sich schematisch sagen, dass Kracauers Rezeptionsphysiologie des Subjekts der Kino-Erfahrung zum Teil in einer sensualistischen Ästhetik aufgeht; diese beschreibt die bewusstlosen "organischen Spannungen" und "namenlosen Erregungen" des Kinopublikums in Analogie zum Drogenkonsum (im Original ist von Kino-"Habitués" als "dope addicts" die Rede).36 Im Fluchtpunkt dieser Rede stehen Offenbarungsfiguren, in denen Kino vom Raum verflüssigter Lebensformen in einen Ort des Entauchens in

34 Kracauer zit. n. Miriam Bratu Hansen: "Dinosaurier sehen und nicht gefressen werden: Kino als Ort der Gewalt-Wahrnehmung bei Benjamin, Kracauer und Spielberg" in: Gertrud Koch (Hg.): Auge und Affekt. Wahrnehmung und Interaktion. Frankfurt/Main 1995, S. 249-271, hier S. 264f.35 Vgl. Hansen: "Introduction" in: Kracauer: Theory of Film. The Redemption of Physical Reality. [1960] Princeton1997, S. vii-xlv.36 Kracauer: Theorie des Films, S. 217f; ders.: Theory of Film, S. 159.

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schiere Lebensflüsse mutiert: Kracauer schreibt von der grundlegenden "Affinität" von Film "zum Kontinuum des Lebens oder 'Fluss des Lebens' [...], der natürlich identisch mit abschlusslosem, offenem Leben ist"; er beschwört unter Verweis auf Whitman, Nietzsche oder Bergson den "Begriff vom Leben als solchem", "Leben als mächtige Entität" und Film als "das 'flimmernde Lebensrad'"; und er strapaziert immer wieder eine physiotherapeutische Metaphorik dessen, was "die Kamera dem Schoß der Natur abgewinnt", von der "Nabelschnur zwischen Bild und Wirklichkeit", vom filmästhetisch wiederzugewinnenden Wirklichkeitsdirektkontakt als "Bluttransfusion" und Stillung von "Lebenshunger".37 "Der Begriff des Lebens," heißt es programmatisch in der Theorie des Films, "mag auch diese Wirklichkeit meinen, die über die anämische Raumzeit-Welt der Naturwissenschaft hinausreicht." Diese Neuauflage des Kracauerschen Bemühens, ein Moment der Ungleichheit zwischen wissenschaftlich schematisierter Ordnung und der sinnlich-affektiven Dimension festzuhalten, erfolgt um den Preis, dass Kino nun nicht mehr als zu Dynamiken vielheitlicher Massensubjektivität affin gedacht ist, sondern zu einer untergründigen Vitalität: "Bilder beginnen zu tönen und die Töne werden wieder zu Bildern," schreibt Kracauer. Das ist der Moment, in dem "dieses unbestimmbare Murmeln – das Murmeln des Seienden – zu[m Kinozuschauer] dringt".38

Dieser erste Gang durch Kracauers Lebens-, Kino- und Geschichtsbegrifflichkeit geht dem Vernehmen nach – in zweierlei Sinn: Erstens endet er mit einer vitalistischen Epiphanie, kraft derer Film uns das Murmeln des Seienden – im Original: "the murmur of existence"39 – wieder vernehmen lässt. Zweitens geht dieser erste Gang insofern dem Vernehmen nach, als er in ein Bild von Einvernehmen mit der Welt und dem Leben einmündet, ein Einvernehmen, dessen Wiederherstellung das Kino uns realitätsfernen AnämikerInnen bietet. Gelangen wir also mit

37 Kracauer: Theorie des Films, S. 109, 230f, 224, 23238 ebd., S. 225.39 Kracauer: Theory of Film, S. 165.

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Kracauer vom Kontinuum der Modernisierung über die Desorganisierung des bürgerlichen Individuums hin zur ungeteilten Kontinuität des Lebensflusses?

Dem Unvernehmen nach

Hier setzt nun der zweite Gang durch die Art, in der Kracauer Leben, Kino und Geschichte denkt, an. Und der geht dem Unvernehmen nach und bemüht sich um ansatzweise Rekonturierung der politischen Dimension Kracauerscher Theorie. Dieser zweite Gang könnte dort beginnen, wo Kracauer, zeitgleich zu seinem Essay über Arbeitsnachweise, ins konzeptuelle Verhältnis zwischen Leben und kontinuierlicher Bewegung eine Ungleichheit,ein Unvernehmen, einführt. Er tut dies zumal in der bereits zitierten Studie Die Angestellten. Wie deren Untertitel Aus dem neuesten Deutschland schon anklingen lässt, ist unausgesetzte, dauerinnovative Mobilität ganz die Sache fordistischer Betriebsamkeit, die allerdings genau dadurch ständig Rationalisierungstode distribuiert: "Es werden fortdauernd Betriebe fusioniert, Abteilungen aufgelöst oder zusammengelegt.Ist Stillstand Tod, so bedeutet diese Bewegung für die älteren Angestellten keineswegs Leben."40 Wohlgemerkt: Die Administrierung produktiver Kapitalbewegung ist nicht einfach dem Leben entgegengesetzt; vielmehr versteht und kritisiert Kracauer sie als biopolitische Selbst-Intensivierung von geschäftigem Leben nach Art einer Gesellschaft im Bergson´schenSinn, die nicht nur leben, sondern durch flexible Binnen-Feinjustierung immer besser leben will: "Insoweit die Gesellschaft Natur ist, drängt sie wie alle lebendigen Naturgebilde nach Selbstkorrektur ihrer Schäden."41 Solche Selbstkorrektur vollzieht sich, mit Kracauers Beispielen fordistischer Biopolitik und Effizienzsteuerung formuliert, seitens des Staates durch Wirtschaftspolitik, die geburtenstatistisch Überangebote an Büroarbeitskräften kalkuliert; seitens der Unternehmen durch neue Methoden 40 Kracauer: Die Angestellten, S. 47.41 ebd., S. 52.

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betriebswissenschaftlicher Führung (Funktionsprüfung mittels grafologischer Tests, Betriebspsychologie); seitens der angestellten Individuen durch Fitness-Sport und Schönheitssalonbesuche, durch Freizeitmassenkonsumpraktiken, die nicht länger Luxus, sondern kraft konkurrenzkampfförmiger "Zuchtwahl" und "Auslese" gefordert sind. "Die herrschende Wirtschaftsweise will nicht durchschaut sein, darum muss die bloße Vitalität obsiegen. Die Überhöhung der Jugend [und] die Entwertung des Alters [...] bezeugen unmittelbar, dass unter den gegenwärtigen ökonomischen und sozialen Bedingungen die Menschen das Leben nicht leben."42

Vor diesem Hintergrund erlaubt ein Kracauerscher Lebensbegriff,Kino als Erfahrungs- und Selbstempfindungszusammenhang dessen zu sehen, was Biopolitik in der Bewirtschaftung sozialer Lebendigkeit zugleich an Leben verunmöglicht, ausschließt, beschädigt. Um hier nun kurz Überlegungen der beiden diskursprägenden Kino-Denkerinnen der deutschsprachigen Kracauer-Rezeption an- und einzuspielen: Da ist zum einen Gertrud Koch43, die die Stelle mit dem "Murmeln des Seienden" inder Theorie des Films als an Heidegger erinnernde "schiefe Schwärmerei" qualifiziert und dem entgegen eine theologische Persektive starkmacht. Dieser zufolge sei der Gedanke einer Errettung der äußeren Wirklichkeit in Kracauers Filmästhetik geprägt von einem Erinnerungsgebot als Gebot zur "anamnetischenSolidarität mit den Toten" (für Koch auch ein Beispiel für das eigentümliche Implizit-Bleiben der nationalsozialistischen Judenvernichtung in Kracauers Nachkriegsschriften). Film ist demnach dem Lebensfluss insofern affin – und vielleicht nur insofern affin –, als er diesen Fluss staut, filtert und den Anteil verdinglichter und getöteter Leben an den Kultivierungensozialer Vitalität kenntlich macht oder kenntlich erhält. (Dieses Motiv hallt in Kracauers Geschichte-Buch nach: in seiner Andeutung einer theologischen Dimension solcher Arten von

42 ebd. 5243 Vgl. Gertrud Koch: Kracauer zur Einführung. Hamburg 1996, S. 134f, 138ff,150.

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Historiografie, die sich als "vollständige Ansammlung der kleinsten Fakten" verstehen und insofern letztlich "Mitleid mitden Toten" ausdrücken.44)

Und da ist zum anderen Heide Schlüpmann45, die in ihrer stark von Kracauer her formulierten Kinotheorie weniger die Erinnerung der Toten als die Subjektivierung, die Selbstempfindung, eines Bruchs im Leben fokussiert. Schlüpmann spannt über weite Strecken eine Entgegensetzung auf zwischen dem neoliberalen Ethos der Medien einerseits und der "Lebensmoralität" des Kinos anderseits. Zwischen Kino und Philosophie vollzieht sich, so gibt sie zu verstehen, eine Art Platztausch: Früher haben Philosophen, zumal in ihrer Zuwendungzum Kunst- und Autorenfilm-Kanon (exemplarisch: Deleuze), dem Kino, vielleicht auch nur dem Film, als Schmuddelkind der Kultur zeitweilige Aufnahme im Reich des begrifflichen Denkens gewährt; heute hingegen gibt das Kino einer Frage Obdach, die eine genuin philosophische, aber von der Philosophie ad acta gelegt worden ist, nämlich der Frage, wie zu leben sei. Leben stellt sich als Frage und Problem in dem Maß, in dem die gegenwärtig reelle Subsumtion beliebiger Zeit und Subjektivitätunters Wertgesetz Möglichkeiten untätigen, unproduktiven Lebenszunehmend annulliert; solche biopolitische Durchkämmung sozialer Lebendigkeiten nach immer neuen Wertschöpfungspotenzialen spricht Schlüpmann als "neoliberale Leibeigenschaft" an. Vor diesem Hintergrund unterscheidet Schlüpmann gewissermaßen zweierlei Räume des Lebens: Räume der "Medien", in denen Leben ins postfordistisch-neoliberale Pflicht-Ethos umfassender Produktivität (oder gar "Kreativität") eingespannt ist, und das Kino als unmöglichen

44 Kracauer: Geschichte. Vor den letzten Dingen [1969], Frankfurt/Main 1971, S. 130.45 Vgl. Heide Schlüpmann: Ungeheure Einbildungskraft. Die dunkle Moralität des Kinos.Frankfurt/Main, Basel 2007, v.a. S. 163, 174, 284, 291, 213; sowie: Drehli Robnik: "Zur Unterbrechung. Politische Aspekte von Leben im Bruch der Ethikin Heide Schlüpmanns Kinotheorie" in: Doris Kern, Sabine Nessel (Hg.): Unerhörte Erfahrung. Texte zum Kino. Festschrift für Heide Schlüpmann. Frankfurt/Main, Basel 2008, S. 71-96.

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Raum, in dem untätiges Leben kultiviert werden kann – nicht alsfreizeitlicher Ausgleich zur Arbeit oder als Idyll des Müßiggangs, sondern eher als dasjenige, was von den Ethiken undRegimes der tätigen Selbstbehauptung in die Enge getrieben, dequalifiziert und beschädigt wird: "Die 'Medien' geben uns dieIllusion, zu den Auserwählten dazuzugehören, für uns sei gesorgt. Die allgemeine Überlegung, wie zu leben sei, fällt damit aber dem aus dem Reproduktionszusammenhang Herausfallenden anheim."46 – Und: "Während der Fortschritt der Medienentwicklung in engstem Zusammenhang mit dem kapitalistisch gesteuerten Arbeitsprozess und seiner 'Moral' geschieht, und wir beim Anschauen eines digitalen Films am Computer den Arbeitsplatz nicht mehr verlassen, [...ist] das Kino ganz und gar dafür da, dass wir nicht tätig und handelnd sind, vielmehr schauen, erinnern, phantasieren, genießen, in gewissem Sinne: bloß leben."47

Wenn hier das "bloße Leben" anklingt, dann sei angemerkt, dass Schlüpmann Agambens Begriff des bloßen Lebens (und dessen kinoästhetische Korrespondenzen in Richtung "ethische Geste") zurückweist: Die Agambensche Anrufung der im Ausschluss Eingeschlossenen lasse keinen Raum für ein Moment von deren Subjektivierung – dafür, dass diese sich als etwas anderes denn als nacktes Leben empfinden.48 Und: Wenn Schlüpmann den Investments des Kapitals und der Medien ins flexibilisierbare, immer potenziell kreative Leben das Kino als Erfahrungshorizontvon Untätigkeit und Ohnmacht gegenüberstellt, dann geht es dabei weder um passivistisches Demutsethos noch um Medienempirie oder Medienkulturanalyse, sondern um eine geschichtsphilosophische Theoriefigur. Für Schlüpmann ist, mit Kracauer gedacht, das wartende Verweilen im Kino eine Frage vonLebensmoralität, deren anderer Name Geschichte ist: als Erfahrung von Geschichtlichkeit und als Wahrnehmung des Nicht-

46 Schlüpmann: Ungeheure Einbildungskraft, S. 292.47 ebd., S. 15f.48 ebd., S. 219.

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Gegenwärtigen im Zeichen "verlorener Prozesse"; "lost causes" heißen diese in der Originalformulierung in Kracauers History.49

Durch die Dinge denken

Kracauers Theorie der Geschichtlichkeit des Kinos als Empfindungsraum der Insistenz verlorener Prozesse: Ich möchte diese Schlussetappe im Dem-Unvernehmen-Nachgehen über einen letzten Umweg zu plausibilisieren versuchen und dabei auch das konfliktuöse, das im Modus von Subjektivierung im Streit politische Moment dieses Kracauer´schen Gleichklangs von Kino und Geschichte zur Geltung bringen. Der Umweg führt über Adornos Porträt des Denkens seines Jugendfreundes, eine als Würdigung getarnte Zurücksetzung, publiziert 1965. Dort heißt es in der Schlusspassage über Kracauer: "Der Stand der Unschuldwäre der der bedürftigen Dinge, der schäbigen, verachteten, ihrem Zweck entfremdeten. Sie allein verkörpern dem BewusstseinKracauers, was anders wäre als der universale Funktionszusammenhang, und ihnen ihr unkenntliches Leben zu entlocken, wäre seine Idee von Philosophie."50 Titel und Schlussbemerkung von Adornos Porträt nennen Kracauer einen "wunderlichen Realist": Wunderlich erscheint Adorno ein Realismus, der von der "res", vom Ding, ausgeht und jeglichen "Aufbegehrens wider die Verdinglichung" entbehrt.51

Das Wunderliche des Lebens der Dinge entfaltet Kracauer als Proto-Politik des sinnlichen Dissens in einem seiner etlichen Raum-Denk-Bilder, in denen soziale Lebenswelt als Vor- und Warteraum erscheint. Gemeint ist der bereits erwähnte "Abschiedvon der Lindenpassage" und ihren marginalisierten Konsumobjekten. Als Passage allegorisiert Kracauer die deutscheGesellschaft von 1930 mit Metaphern aus der Semantik massen(bio)politischer Gewalt: vom "Marmormassengrab" ist die 49 Kracauer: History. The Last Things Before the Last. New York 1969, S. 199.50 Theodor W. Adorno: "Der wunderliche Realist. Über Siegfried Kracauer" in: ders.: Noten zur Literatur III. Frankfurt/Main 1965, S. 83-108, hierS. 107f.51 ebd.

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Rede, von "passageren Gegenständen", die "wie Zigeuner" eine "Art von Aufenthaltsrecht" im Ausnahmezustand des Ausschlusses haben, von deren "Zurücknahme von der bürgerlichen Front", deren "Exekution" und Verbannung "ins innere Sibirien der Passage", aber auch von ihrem "Zusammenscharen" zur "wirksamen Protestaktion".52 Ungezählte, in drohender Unnützlichkeit entblößte Dinge "rächten [...] sich am bürgerlichen Idealismus,der sie unterdrückte, indem sie ihre geschändete Existenz gegenseine angemaßte ausspielten." – "So übte der Durchgang durch die bürgerliche Welt an ihr eine Kritik, die jeder rechte Passant begriff. [...] Dies: dass die Lindenpassage eine Daseinsform desavouierte, der sie noch angehörte, verlieh ihr die Macht, von der Vergänglichkeit zu zeugen."53

Das vielheitlich-dingliche Leben in der Passage ist ein Zugehören im Modus der Desavouierung dieser Zugehörigkeit – einwertendes Warten. Kracauers Raum-Bild hält im unvernehmlichen –im ebenso unkenntlichen wie dissensuellen – Leben der Dinge dasErscheinen eines Anteils der Anteillosen, eine Subjektivierung der Ungezählten, der biopolitisch Ausgeschiedenen, im Sozialen fest. Dies lässt sich in Entsprechung setzen zu Rancières (Grenz-)Begriff von Politik, zu Rancières Begriff des "Unvernehmens" (auf den dieser Text ja schon mehrmals anspielt)und vor allem zu seinem Konzept "doppelter Zugehörigkeit"54: Nicht bloße Un-Zugehörigkeit von Opfern, Exilierten oder nackten Leben zu einer Gemeinschaft, sondern eben doppelte Zugehörigkeit erst ist für Rancière ein politisches Verhältnis,weil sie in einem singulären Streitfall und Erscheinen den Abstand, der zugleich Verbindung ist, zwischen dem Gemeinsam-Sein und dem Ausgeschlossen-Sein subjektiviert; Zugehörigkeit zur Aktualität einer Polizei-Ordnung der zugeteilten Anteile und Plätze und zugleich zur in ihr insistierenden Virtualität gleichheitlicher Erfahrung, welche die vorgegebene "Aufteilung des Sinnlichen" (Rancière) durcheinanderbringt.

52 Kracauer: "Abschied von der Lindenpassage", S. 326f, 331.53 ebd., S. 331f.54 Rancière: Das Unvernehmen, S. 146f.

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Diese Logik doppelter Zugehörigkeit als eines desavouierenden Angehörens prägt Kracauers Begriff von Erfahrung – dies sowohl in Hinblick auf Film, auf die Unauflösbarkeit der Antinomie zwischen Formbildung und Formauflösung, zwischen dem Erzählprozess und dem Abschweifen von ihm (so heißt es etwa in der Theorie des Films: "Die Lieder und Tänze in [Hollywood-Musicals] bilden einen Teil der Story, verherrlichen aber gleichzeitig mit ihrem Geglitzer deren Zerstörung."55), als auchin Hinblick auf Geschichte. In seinem posthum und unvollendet publizierten Geschichte-Buch mit dem Originaltitel History – The Last Things Before the Last macht Kracauer seine Filmtheorie zur Perspektive auf die Geschichtsphilosophie und setzt Geschichte,verstanden als Historiografie, aber auch als (Selbst-)Erfahrungsmodus in und von Geschichtlichkeit, der filmischen Wahrnehmung analog. Das tut er mit der Konsequenz, dass er, mit und ohne Zitierverweis, immer wieder Beispiele, Argumente und ganze Absätze aus der Theorie des Films wiederholt. So heißt es in Geschichte zum Beispiel: "Ich habe in der Theorie desFilms ausgeführt, dass die photographischen Medien uns helfen, [...] durch die Dinge zu denken, anstatt über ihnen. Anders gesagt, die photographischen Medien erleichtern es uns, die vergänglichen Phänomene der äußeren Welt einzuverleiben und siederart der Vergessenheit zu entreißen. Etwas ähnliches wäre auch über Geschichte zu sagen."56

Durch die Dinge denken, "think through things"57: Das ließe sich zunächst als Durchdenken der Dinge verstehen; insofern es jedoch ohne Über- und Unterordnung auskommt, ist es ein Denken in medias res, der Medialität der Dinge gegenüber kontingent, anheimgegeben ohne gesicherte Außenposition. Und insofern bedeutet dieses Denken im Medium der Dinge, nicht instrumentell, sondern mitten unter ihnen, dass ganz unerwartetdenkende Lebendigkeit in einer für tot gehaltenen Dinglichkeit

55 Kracauer: Theorie des Films,S. 284.56 Kracauer: Geschichte, S. 180.57 Kracauer: History, S. 192.

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auftauchen kann, bedeutet es eben, wie Adorno formuliert, den verachteten Dingen ihr unkenntliches Leben zu entlocken, also Leben in bislang unbeachteten Ausformungen wahrzunehmen und Subjektivierungspotenziale dort auszuloten, wo die Biopolitik der Produktivmachung und die Polizei der sozialen Sinnlichkeit keinen Subjektstatus vorsehen. Und es bedeutet, dass eben auch Kracauers am Kino orientierter Geschichtsbegriff eine Erfahrungdoppelter Zugehörigkeit anvisiert.

Side-by-side im Vorraum

Kracauer wendet sich gegen Geschichte als "Erfolgsgeschichte" und "geschlossene[s] System, das [...] die verlorenen Prozesse,die nicht verwirklichten Möglichkeiten aussperrt".58 Und anstelle des "Glauben[s], dass Leute im Grunde ihrem Zeitraum 'angehören'", votiert er dafür, in Kategorien "chronologischer Exterritorialität" zu denken: In dieser Perspektive erscheinen "große Historiker" als "biologische Monstren", denn "sie zeugendie Zeit, die sie zeugte. Vielleicht trifft das Gleiche auf Massenbewegungen, Revolutionen zu."59 Wenn Kracauer von Historikern, zumal großen, schreibt, dann nennt er alle möglichen Namen, zumal große, aus dem Feld Historiografie (etwaJacob Burckhardt); vor allem aber steht der Historiker – das biologische Monstrum – hier als Begriffsfigur für ein zu bildendes Subjekt von Geschichtlichkeit als historischer Erfahrung. Es geht dabei um Immer-auch-Zugehörigkeit zur Vergangenheit bzw. zu deren Virtualität, zu dem, was in der Vergangenheit mehr denn bloß zurückliegende Gegenwart ist. Für den Historiker, das Subjekt von Geschichtlichkeit, das, so Kracauer, "Kind von mindestens zwei Zeiten" und eben nicht Kindseiner Zeit – seines Zeit-Raums als geschlossener Bestimmungszusammenhang – ist, gilt demnach: "In gewisser Hinsicht ist sein Interesse an der Gegenwart identisch mit einem leidenschaftlichen Bedürfnis, verlorene Prozesse in der Geschichte aufzudecken. Er sieht die Vergangenheit nicht nur im58 ebd., S. 185.59 ebd., S. 71.

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Lichte der Gegenwart, sondern wendet sich der Gegenwart nach anfänglicher Versenkung in die Vergangenheit zu."60

Schlussbemerkung zur Frage des Lebens und seiner Räume: Ich habe zwei zeitgenössische Denker bzw. Denkweisen erwähnt, die zum Teil an Kracauer bzw. an Aspekte der frühen Kritischen Theorie anknüpfen und deren mehr oder minder messianische Theorien von Politik sprechen, ohne dass es on ihnen Politik als eine irreduzible Aktivität oder Dimension des Gemeinschaftlichen gibt. Bei Agamben ist das bloße Leben kategorial ohnmächtig und die Politisierung des beliebigen Daseins immer im Kommen. Was sein Messianismus als Gründung vonPolitik auf die dem bloßen Leben untrennbar adäquate Formung anvisiert, ist die Utopie vollständiger Befriedung, Zusammenfallen des Singulären mit dem Universellen, Erlöschen jeglicher politischer Unverhältnisse in vollendeter Verhältnismäßigkeit. Der Raum des Lebens in der Geschichte ist,mit Kosellecks Begriffen von Zeiterfahrung als Geschichtserfahrung formuliert61, ganz zu einem "Erwartungshorizont" hin ausgespannt, an dem ein ontologischer Totalbruch vielsagend dämmert. Und mitunter erscheinen Filmbilder – zumal ein als massenornamental erinnerter Strumpfhosenwerbefilm62 – als ethische Gesten, die verheißungsvoll dorthin weisen. Bei Virno hingegen, als einem Vertreter einer postoperaistischen Reduktion von Politik auf kulturalisierte Ökonomie, scheint der Messias schon gekommen zusein und der postfordistische Kapitalismus der Politik als Streit gar nicht mehr zu bedürfen: Politik steckt schon ganz im"Leben als Tabernakel der Potenz", in einer Arbeitskraft, derenFähigkeit, öffentlich und kontingenzbezogen zu handeln, deren "Virtuosität", wie Virno das nennt, politischen Akten gleichgesetzt ist. Leben ist hier gedacht als kommunikativ tätig und insofern kategorial mächtig in der Fülle flexibler, 60 ebd., S. 93, 194f.61 Reinhart Koselleck: "'Erfahrungsraum' und 'Erwartungshorizont' – zwei historische Kategorien" [1976] in: ders.: Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten. Frankfurt/Main 1979, S. 349-375.62 Agamben: Die kommende Gemeinschaft, S. 46f.

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affektiver Wissensarbeit; der Raum des Lebens in der Geschichteist hier, um abermals Koselleck zu paraphrasieren, ganz "Erfahrungsraum" – im Sinn des Voraussetzbaren, des Wissensbestands, in diesem Fall: der Sättigung eines multitudinalen Lebens-Ethos mit affektiver Intelligenz. Als Medium der Wissensbildung solch virtuoser Intelligenz fungiert bei Virno nicht zuletzt die einst seitens der Kritischen Theorie als Verblendungszusammenhang gefasste Kulturindustrie, mithin auch das Kino.

Dem gegenüber habe ich versucht, den Lebensbegriff in KracauersTheorie von Kino und Geschichte, von Kino als Geschichte, mit Schlüpmann und Rancière zu lesen und insofern eben nicht nur dem Einmünden ins Einvernehmen, sondern dem Unvernehmen nachzugehen, bzw. der Art, wie Kracauer auf die Erfahrungsfähigkeit und Subjektbildungsmöglichkeiten von unvernehmlichem Leben abzielt. Dies im mehrwertigen Sinn des Rancièreschen Unvernehmens: die "mésentente" als Unstimmigkeit und Streit; als fehlerhafte, notwendig kontingente Konfiguration (Nicht-Aufgehen einer Zählung des Sozialen); als Missverständnis und Wahrnehmungsstörung (Dissensus im Register des Sinnlichen). Leben wäre in diesem Sinn vielleicht zu verstehen gerade nicht als Vorausgesetzt-Grundlegendes, sondernals verzeitlichter Raum des Massenhaften, in dem Akte politischer Subjektivierung, unvorhergesehene Fälle des Auftauchens von Macht in der Ohnmacht, Einschreibungen der Universalität von Gleichheit in der Singularität eines Unrechtsin ihrer Vorläufigkeit, Lokalität und Seltenheit jederzeit möglich ist. "Seine Ohnmacht ist Dynamit", schreibt Kracauer über Chaplin63, in dessen Slapstick-Filmbildern beides ausgestellt ist: Zugehörigkeit zu einer sozialen Ordnung, die Macht und Ohnmacht zuweist und lokalisiert, und Momente der Anmaßung von Sprengkraft als Bruch mit dieser zugewiesenen Verortung.

63 Kracauer: "Chaplin", S. 270.

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Utopik wäre in diesem Sinn nicht die Topik eines radikal Anderen, jenseits eines ontologischen Totalbruchs; sie wäre vielmehr die Art, wie jene Kracauerschen Durchgangs- und Warteräume, jene Hotelhallen, Wärmehallen, Arbeitsnachweise, Unterführungen, Straßen und Kinoerfahrungen, die sich dem "zögernden Geöffnetsein", der Haltung der "Wartenden"64, zum Aufenthalt anbieten, schließlich zum Namen einer Denkweise werden: Die Chiffre "Vorraum-Denken", im Original "Anteroom Thinking",65 situiert Geschichte als abwartende Form von Theorieund Erfahrung, die aufs Vorletzte zielt, gegenüber einer als Systemschließung im selbstgewissen Vorgriff auf die letzten Dinge verstandenen Philosophie. (Als solche gilt Kracauer auch "Adornos entfesselte Dialektik" mit ihrem, wie er meint, "rein formalen" Utopiebegriff, deren Systematizität er noch anzuhalten, zu unterbrechen und durchkreuzen vorschlägt durch ein Festhalten an "einigen ontologischen Fixierungen", vielleicht gerade um des bloßen Durchkreuzens willen.66) Dass die geschichtliche Zeit Fluss und zugleich punktuell gestaut und voller Lücken ist, dass das Zeitlose und das Zeitliche ebenso wie das Allgemeine und das Besondere "nebeneinander existieren und untereinander in einem Bezug stehen, den ich fürtheoretisch undefinierbar halte", dass das "historische Universum von nicht-homogener Struktur ist" und die Mikro- und Makro-Dimensionen von Geschichte nicht auseinander hervor-, sondern nicht ineinander aufgehen – diese Formen der "Antinomieim Inneren der Zeit", die Geschichte ausmacht, prägen sich im Denk-Zeit-Bild des Vorraums in bildlichen Topiken der Zeit als "Katarakt" aus, des unvermittelten "side-by-side" als bloße Parataxe anstelle von Subordination, schließlich einer Beziehung zwischen Groß- und Totalaufnahme, an der Kracauer gerade nicht die im Filmhandwerkswissen des continuity editing kultivierte Reibungslosigkeit hervorhebt, sondern die Insistenzeines Paradox, einer "Verkehrsstörung" und einer

64 Kracauer: "Die Wartenden", S. 116.65 Kracauer: Geschichte, S. 180, 196; ders.: History, S. 211. 66 Kracauer: Geschichte, S. 187f.

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Irreduzibilität von Mikro und Makro.67 Kracauer ist "Holist" im Sinn von The Whole is the Hole: Ist Chaplin als Subjekt ohne Machtanteil wesentlich Loch, so ist Geschichte als Vorraum eines Denkens des Unvernehmlichen wesentlich Öffnung ins Außen,riskante Stiftung unerwarteter Verbindungen ohne vorausgesetzen Grund: "Es gibt immer Löcher in der Wand, durch die wir entweichen können und das Unwahrscheinliche sich einschleichen kann."68

67 Kracauer: Geschichte, S. 121ff, 186f, 192; ders.: History, S. 201.68 Kracauer: Geschichte, S. 20.

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