Ritschls Gemeindekonzeption als systematisch-theologischer Grundfaktor - Versuch einer strukturellen...

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RITSCHLS GEMEINDEKONZEPTION ALS SYSTEMATISCH-THEOLOGISCHER GRUND- FAKTOR Versuch einer strukturellen Begriffskritik .......................................................... Einleitung: ein theologisches Nadelöhr 2 ........................................................................ 1. Das System des Unterrichts 5 ................................................................................. 1.1 Vorbetrachtungen 5 ............................................................... 1.2 Der theologische Standpunkt 6 ......................................................... 1.3 Spielarten des Gemeindebegriffs 7 .................................. 2. Der Gemeindebegriff als notwendiges Erfordernis 11 ........................ 2.1 Wissenschaftlichkeit und theologische Authentizität 11 .................................. 2.2 Zur Methodik der theologischen Wissenschaft 14 ........................ 3. Strukturprobleme der Ritschlschen Gemeindekonzeption 16 ...................................................... 3.1 Das Individuum in der Gemeinde 16 .............................. 3.2 Sittliche Überhöhung und religiöse Vereinzelung 17 ............................... 4. Das Spannungsverhältnis in Glauben und Theologie 19 .............................................................................................. 5. Literaturliste 21 .................................................................................... 5.1 Primärliteratur 21 ................................................................................ 5.2 Sekundärliteratur 21 ABSTRACT. Die vorliegende Arbeit untersucht die systematisch-theologischen Konsequenzen des Ritschlschen Gemeindebegriffs für die Darstellung der materialdogmatischen Inhalte seines Unterrichts. Auf die Analyse der Begriffsbestimmung (1) folgt auf dem Hintergrund von Ritschls Verständnis der Theologie (2) die kritische Einschätzung innerhalb der sich durch diesen Terminus ergebenden Schwie- rigkeiten in der Darstellung der christlichen Lehrinhalte (3). Sie gelangt zu dem vorläufigen Ergebnis, dass durch Ritschls Gemeindebegriff eine systematisch angelegte Spannung zwischen der Bestimmung der sittlichen Berufs und der religiösen Gewissheit im Glauben des einzelnen Christen hervorgerufen werden.

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RITSCHLS GEMEINDEKONZEPTION ALS SYSTEMATISCH-THEOLOGISCHER GRUND-

FAKTOR

Versuch einer strukturellen Begriffskritik

..........................................................Einleitung: ein theologisches Nadelöhr 2

........................................................................1. Das System des Unterrichts 5

.................................................................................1.1 Vorbetrachtungen 5

...............................................................1.2 Der theologische Standpunkt 6

.........................................................1.3 Spielarten des Gemeindebegriffs 7

..................................2. Der Gemeindebegriff als notwendiges Erfordernis 11

........................2.1 Wissenschaftlichkeit und theologische Authentizität 11

..................................2.2 Zur Methodik der theologischen Wissenschaft 14

........................3. Strukturprobleme der Ritschlschen Gemeindekonzeption 16

......................................................3.1 Das Individuum in der Gemeinde 16

..............................3.2 Sittliche Überhöhung und religiöse Vereinzelung 17

...............................4. Das Spannungsverhältnis in Glauben und Theologie 19

..............................................................................................5. Literaturliste 21

....................................................................................5.1 Primärliteratur 21

................................................................................5.2 Sekundärliteratur 21

ABSTRACT. Die vorliegende Arbeit untersucht die systematisch-theologischen Konsequenzen des

Ritschlschen Gemeindebegriffs für die Darstellung der materialdogmatischen Inhalte seines Unterrichts. Auf die Analyse der Begriffsbestimmung (1) folgt auf dem Hintergrund von Ritschls Verständnis der

Theologie (2) die kritische Einschätzung innerhalb der sich durch diesen Terminus ergebenden Schwie-rigkeiten in der Darstellung der christlichen Lehrinhalte (3). Sie gelangt zu dem vorläufigen Ergebnis,

dass durch Ritschls Gemeindebegriff eine systematisch angelegte Spannung zwischen der Bestimmung der sittlichen Berufs und der religiösen Gewissheit im Glauben des einzelnen Christen hervorgerufen

werden.

EINLEITUNG: EIN THEOLOGISCHES NADELÖHR

Betrachtet man den dogmatischen Ansatzpunkt des „Unterricht[s] in der christlichen

Religion“1 von Albrecht Ritschl (1822-89), so scheint auf den ersten Blick der Schluss

nahe zu liegen, dass er diesen innerhalb des Reich Gottes, als höchstes Gut2 der Ge-

meinde, rein kollektivistisch veranlagt hat; und damit etwa zu Friedrich Schleiermacher

(1768-1834), der mit der Erhebung des „Gefühls schlechthinniger Abhängigkeit“3 zum

Ursprung der menschlichen Religiosität einen vermeintlicherweise individualistischen

Glaubensansatz verfolgt, in einem äußerst differenten Verhältnis steht. Das mag im Hin-

blick auf die enge (zeitliche) Kontinuität, in der beider Theologen zueinander stehen,

verwunderlich wirken. Beginnt man also dann, Ritschls Werk eingehender zu untersu-

chen, so ergibt sich vielmehr, dass dessen Standpunkt trotz der präsenten Stellung des

Gemeindebegriffs in seinem theologischen System4 nicht einfach dem Katholizismus

oder etwa Offenbarungspositivsmus überführt werden kann.5 Denn die versöhnenden

Aspekte der Gemeinde bilden in Ritschls Theologie keinen starren Heilsmechanismus6,

sondern stehen als der eine Brennpunkt der Ellipse, unter der religiösen Be-stimmung

als Kirche, immer in Spannung zur sittlichen Tätigkeit des einzelnen Christen im Reich

Gottes, die durch seinen Glauben motiviert wird.7 Nichtsdestotrotz stellt sich bei der

Beschäftigung mit dem Unterricht, aber auch in dem Hauptwerk von Ritschl8 der Ge-

meindebegriff signifikant als eine Art „theologisches Nadelöhr“ zur seiner Dogmatik

heraus, welches sich jedoch, um zu den dogmatischen Inhalten vorzudringen, nicht ohne

weiteres durchschreiten lässt. Erst durch das In-Beziehung-setzen jenes Begriffs zu die-

sen Inhalten wird der systematische Gehalt des Ritschlschen Ansatzpunktes in seiner

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1 Die erste Auflage wird im Folgenden mit Paragraphenverweis, die zweite bzw. dritte Auflage mit Sei-tenangabe der [UcR] zitiert.2 Vgl. UcR 13.3 Siehe GL §4 bzw. 32ff.4 Zu Ritschls Systembegriff vgl. Schäfer 174.5 Zu diesem Einwand vgl. Grewel 306.6 Vgl. dazu auch Courth 413.7 Siehe z.B. §46 c), sowie §49 a).8 „Die christliche Lehre von der Rechtfertigung und Versöhnung“ - [RuV]Im Verhältnis zu diesem Hauptwerk Ritschls ist uns mit dem Unterricht „die einzige authentische Ge-samtdarstellung seines Systems, in welchem Reich Gottes und Kirche gleichgewichtig zur Geltung kom-men“, gegeben. Er stellt die kompakte, in für die Lehre geeignete „Paragraphenknödel“ gebrachte Kurz-fassung des Ritschlschen Systems dar. - Vgl. ARB 40, Scheliha 90, TRE1 229, sowie UcR 3.

spezifischen Ausformulierung deutlich. So muss der „Standpunkt der mit Gott versöhn-

ten Gemeinde“9 nach Ritschl zwar die Ausgangsposition der Theologie sein10, gleichzei-

tig zeigt sich aber, dass er in einem wechselseitigen Abhängigkeitsverhältnis zu seinem

Material steht: Die formgebende Funktion des in den Prolegomena erhobenen Stand-

punktes geht gewissermaßen erst in den dogmatischen Inhalten auf und wird also erst in

diesen vollkommen legitimiert.11

Dem sich daraus ergebenden Anspruch, ein Verständnis für die Originalität von Ritschls

theologischem Entwurf, der „Lehre von der Gemeinde“12 und ihrer Tragweite für sein

dogmatisches System zu entwickeln, geht diese Untersuchung auf folgende Art nach:

Indem sie im 1. Abschnitt eine interne, d.i. im Rahmen des Unterrichts erfolgende Ana-

lyse des Gemeindebegriffs vornimmt, stellt sie die grundlegenden systematisch-theolo-

gischen Aspekte heraus, die sich aus dessen inhaltlichen Funktionen ergeben. Daran

schließen sich, mit der Fragestellung, aufgrund von welchem Motiv Ritschl seine Theo-

logie derart konzipiert hat, unter 2) Betrachtungen zur methodischen Funktion des Ge-

meindebegriffs und sein daran gekoppeltes Verständnis der Theologie als Wissenschaft

an. Daraufhin sollen im 3. Abschnitt die Folgen der erarbeiteten Zusammenhänge mit

der Frage: Was hat diese Grundverortung für systematische Konsequenzen in Ritschls

Darstellung seines theologischen Systems und wie verhalten sich diese zum einzelnen

Christen bei den theologischen Wirkzusammenhängen13 zueinander? beleuchtet werden.

Die Arbeit mündet dabei schließlich in die skeptischen Frage, inwiefern die Glaubensre-

alität des Einzelnen innerhalb der Anerkennung des Ritschlschen Gemeindebegriffs (als

grundlegender Standpunkt der theologischen Darstellung der christlichen Dogmatik)

überhaupt adäquat dargestellt werden kann. Abschließend folgt unter 4) ein Fazit, wel-

ches versucht, die Grundproblematik des Ritschlschen Ansatzes zu benennen. Die vor-

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9 Damit das spezifisch Christliche überhaupt erst christlich wird, ist eine der „christlichen Religion eigen-tümliche“, also eine interne Perspektive auf die christlichen Lehrinhalte erforderlich. Diese Perspektive wird bestimmt als der „Standpunkt der mit Gott versöhnten Gemeinde“. - Vgl. UcR 3f., sowie §3.10 Vgl. UcR §1.11 Darauf deutet auch der allgemeine Schreibstil Ritschls hin. - Vgl. TRE1 221, Z. 39-42.12 Diese Bezeichnung ist Schäfer entnommen, mit der er das 4. Kapitel seiner Ritschl-Monografie betitelt. Vgl. Schäfer, VIIf. - Die „Lehre von der Gemeinde“ ist insofern von Ritschl neu eingeführte dogmatische Disziplin, als dass sie die christliche Ethik mit verschiedenen klassischen Teilgebieten unter dem Aspekt der Gemeinde verbindet.13 Damit sind alle im der theologischen Darstellung thematisierten religiösen Vollzüge des christlichen Glaubens gemeint; also die Beziehung zu Gott und Christus, Offenbarungswirklichkeit, Gotteserkenntnis, Sündenvergebung, Erlösung, etc.

liegende Arbeit konzentriert sich dabei auf die interne Perspektive von Ritschls theolo-

gischen System und die sich aus ihr ergebenden Schwierigkeiten.

Als hypothetischer Impuls für die weitere Bearbeitung soll vorläufig dienen: Der Ge-

meindebegriff stellt, in seiner spezifischen Konzeption, die Grundlage des Ritschlschen

Systems dar und eröffnet durch dessen eingehende Untersuchung erst den Zugang zu

einem differenzierten Verständnis seines dogmatischen Systems. Die anschließende

Anwendung des so bestimmten Gemeindebegriffs auf die einzelnen Lehrinhalte zeigt,

dass Ritschl grundlegende Momente des christlichen Glaubens nur noch bedingt inner-

halb seines Systems abbilden kann.

Die folgende Abhandlung geht somit im Kern der Frage nach, welche Qualitäten und

Konsequenzen aus der Eigenart der Theologie Ritschls zu deduzieren sind und versucht

sich einer Antwort auf die Frage anzunähern, aus welchen Gründen der dogmatische

Entwurf Ritschls genau dieses Gepräge entwickelt hat. Ihr Ziel wird es sein, dadurch 1.

eine differenzierte Begriffsbestimmung der „Gemeinde“ in der Theologie Albrecht

Ritschls anhand der Analyse des Unterrichts vorzunehmen und 2. die sich daraus erge-

benden theologische Auswirkungen in der vermittelten Gesamtdarstellung und -an-

schauung des Christentums, speziell auf dem Hintergrund des Verhältnisses von Ge-

meinde und einzelnem Christen, in Umrissen herauszustellen. Die Arbeit versucht auf

diesem Wege, den Anforderungen an eine eingehende Beschäftigung mit der Grundlage

des theologischen Systems von Ritschl gerecht zu werden. Wie sich bereits andeutete,

wird sie sich maßgeblich im Horizont des Unterrichts entfalten und nur vereinzelte As-

pekte der anderen Schriften Ritschls, vornehmlich des Hauptwerks, berücksichtigen.

Auch können andere, im Bezug auf Ritschls Person wichtige Persönlichkeiten14 , auf-

grund des Umfangs dieser Arbeit (mit Ausnahme von Schleiermacher) keinerlei Beach-

tung finden.

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14 Zu nennen sind hier etwa Baur, Hegel, Kant und Luther, aber auch Anhänger der sogenannten „Ritschl-schen Schule“.

1. DAS SYSTEM DES UNTERRICHTS

1.1 Vorbetrachtungen

Auch wenn oft das Reich Gottes als erstes Schlagwort zur Charakterisierung von

Ritschls Theologie angeführt wird,15 stellt die darin ausgedrückte sittliche Dimension

der christlichen Religion neben der religiösen Dimension nur einen der integralen Funk-

tionen von dessen inhaltlicher Bestimmung dar. Denn, wie in der Fachliteratur gemein-

hin anerkannt ist, muss der Begriff des Reich Gottes differenziert bzw. zwischen dem

Begriff des Reich Gottes und der Kirche unterschieden werden.16 Diese bilden die zwei

Brennpunkte der Ritschlschen Ellipse.17 Weiterhin werden beide Begriffe, als in ihrem

ethischen und dogmatische Aspekt differenziert, vorausgesetzt.18 Die sich daraus erge-

bende Begriffskonstellation in dem theologischen System Ritschls sei damit

angeführt:19 Das Reich Gottes (im engeren Sinne) wird bei Ritschl als unsichtbarer Zu-

sammenschluss der Gläubigen, die durch den religiös-sittlichen Grundgedanken geeint

sind, verstanden. Er bildet die Gemeinschaft der Christen innerhalb der ethisch-motivie-

renden Glaubensrealität ab. Der Begriff der Kirche wird als die sichtbare Ausprägung

der dogmatisch-religiösen Idee gefasst; sie repräsentiert die Gemeinschaft der Christen

innerhalb der religiös-wirksamen Glaubensrealität. Insofern diese beiden theologischen

loci in dem Gemeindebegriff ihren Ausdruck finden bzw. insofern er innerhalb dieser

beiden Aspekte bestimmt werden kann, stellt er (unterhalb der Vorstellung von Gott und

Christus) die Spitze der Begriffshierarchie in dem von Ritschl entwickelten System dar.

Nachfolgend soll dieser Sachverhalt in der Anwendung auf den Unterricht gegengeprüft

werden, da, wie sich zeigen wird, mit der soeben gewonnenen begrifflichen Struktur

auch sein Aufbau begründet werden kann.20

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15 Vgl. Grewel 303.16 Vgl. dazu ARL 221f., Grewel 303f., Schäfer 116, sowie auch Scheliha 92., UcR 19, Fn. 22.17 Grewel 305f.: „In der distinktiven Verbundenheit beider Elemente (Reich Gottes und Erlösung, Reich Gottes und Kirche) gründet die Einheit des Ritschlschen Systems.“18 Grob gesagt beleuchtet der ethische Aspekt die Perspektive des Menschen, der dogmatische hingegen die göttliche Perspektive auf Reich Gottes und Kirche. - Vgl. ARL 221f., Grewel 303f., Schäfer 116f, sowie TRE1 229. 19 Vgl. dazu im Folgenden auch mit dem beiliegenden Schema.20 Vgl. Grewel 305, Fn. 11.

1.2 Der theologische Standpunkt

Die Problematik der Bestimmung des Verhältnisses von Prolegomena (§1-4)21 und ma-

terialer Dogmatik (§5-90) wurde in der Einleitung dieser Arbeit schon angesprochen. In

Anbetracht der postulierten Schlüsselrolle, die die §§1-4 für das Verständnis den Ge-

meindebegriff Ritschls darstellen, sind sie ein entscheidender Bestandteil des Gegen-

standes dieser Arbeit. Der §1 ist in Prämisse („Da“), Folgerung („so“), Zweckbestim-

mung („damit“) und schließlich Konklusion im zweiten Satz des Paragraphen unterglie-

dert. Er setzt zwei fundamentale Grundkonstanten der christlichen Religion ihrem We-

sen nach als unbedingt gegeben: die Offenbarung als ihre Quelle und die Gemeinde als

Subjekt der Wertschätzung.22 Daraus wird der theologische Standpunkt der Gemeinde

als notwendige Bedingung für die richtige Darstellung der christlichen Lehrinhalte, als

die allein angemessene Perspektive des Theologen deduziert.23 Ritschl weißt somit

schon zu Beginn des Unterrichts eindeutig den kollektivistischen Charakter seines An-

satzes aus: Zunächst wird nur davon gesprochen, dass die christliche Religion in einer

Gemeinde „da“ ist; das Verhältnis des einzelnen Christen zu ihr wird vorerst offen ge-

lassen. Im §2 wird jetzt der Gemeindebegriff innerhalb eines Hierarchiemodells, der

Dreiheit des Gott-Christus-Gemeinde24, mit dem Anspruch auf die Vollständigkeit der

Gotteserkenntnis in der Einteilung der positiven Religionen (in Stufen und Arten) nach

Schleiermacher25 verknüpft. Die Gemeinde hat über Christus als Mittler Zugang zur

Gotteserkenntnis. §3 bezieht eingangs die zwei vorangegangenen Paragraphen aufei-

nander, um dann den Gemeindebegriff einer Kritik zu unterziehen: Die christliche Ge-

meinde ist nicht an sich Garant für die Wahrung der Identität der christlichen Religion,

da es im Verlauf der Geschichte zu internen (bzgl. der Gestaltung der Frömmigkeit) und

externen (bzgl. der Mitgliedschaft) Verfälschungen der christlichen Gemeinde kam; ihr

Bestand muss sich der christlichen Lehre nach an den Schriften der Bibel überprüfen.

Neben einer schematischen Verhältnisbestimmung von AT und NT wird wiederum an-

hand des Gemeindebegriffs der reformatorische Grundsatz des sola scriptura erläutert:

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21 Die Quellverweise bezüglich des Unterrichts erfolgen direkt im Text und in Klammern.22 Vgl. auch UcR 120, Fn. 309, sowie Courth 387.23 Vgl. RuV III 1-8; Scholz 133: „Theologie ist die Wissenschaft von der Frömmigkeit der christlichen Gemeinde, nichts anderes.“ 24 Siehe Grewel 294.25 Vgl. GL §7, Hauptsatz.

Die Evangelien auf der einen Seite gelten als Grundimpuls für die Bildung und Ausfor-

mung der christlichen Religion, die Briefe auf der anderen Seite stellen die authentische

Abbildung der Urgemeinde in ihrer ungetrübten Form dar.26 Im §4 wird nochmals die

Rangstellung der im §1 aufgestellten Voraussetzungen betont. Nun erst folgt erstmals

die Bezugnahme auf den einzelnen Christen: Dieser soll immer nur vermittelt über die

„gemeinschaftlichen Bedingungen“ in den jeweiligen Teilen der Lehre mit einbezogen

werden, da andernfalls nach §1 die Lehre ihrer Darstellung nach „fehlerhaft ausfallen“

(§1) müsste.

Es ergibt sich insgesamt folgende Grundlegung des theologischen Standpunktes in den

„Prolegomena“ des Unterrichts (§§1-4): Gott offenbart sich der Menschheit in Jesus

Christus. Mit der Verkündigung des Evangeliums stiftet dieser wiederum die

Urgemeinde.27 Durch die Geschichte hindurch kam es jedoch zur Verfälschung der

christlichen Lehre in der christlichen Gemeinde und damit zum Verfall ihrer Autorität

(§3).28 In den neutestamentlichen Schriften sind nun die heils- und kirchengeschichtli-

chen Geschehnisse adäquat abgebildet. Mithilfe dieser kann daher der Ursprungszustand

der christlichen Gemeinde und damit ihrer theologischen Autorität wiederhergestellt

werden. Mit den Prolegomena ist so derjenige theologische Grundsatz Ritschls gewon-

nen, welcher in der Formel des „Standpunktes der mit Gott versöhnten Gemeinde“ bzw.

in der der Dreiheit Gott-Christus-Gemeinde seinen geschlossenen Ausdruck findet.

1.3 Spielarten des Gemeindebegriffs

An dieser Stelle ist der inhaltliche Übergang von Prolegomena und der materialen Dar-

stellung zu setzen. Der Grobgliederung des Unterrichts zufolge, die Ritschl am Ende

von §4 vornimmt, „zerfällt“ dieser gemäß den „aufgestellten Bedingungen“ (§4) des

einleitenden Paragraphen in die Lehre vom Reich Gottes, d.i. die Bestimmung der

christlichen Gemeinde ihrer religiös-sittlichen Dimension nach, sowie in die Lehre von

der Kirche, d.h. ihrer dogmatisch-religiösen Dimension nach. Die vier Hauptstücke des

Unterrichts ergeben sich durch die Differenzierung dieser beiden loci hinsichtlich ihres

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26 Beide Male wird der „gemeinschaftliche“ Charakter dieser Aspekte hervorgehoben: Ritschl spricht von der „gemeinschaftlichen Religion“ und vom „gemeinschaftlichen Glauben“. - Vgl. UcR §3.27 Scholz spricht von der „Abzweckung seines [sc. Jesu, Anmerkung des Autors] Lebens auf die Stiftung der christlichen Gemeinde“. - Vgl. Scholz 94f. Diese Grundvoraussetzung Ritschls, Jesu Absicht und Werk bestehe darin, eine Gemeinde zu gründen, lässt sich durchaus problematisierten. 28 Vgl. dazu UcR §84ff.

dogmatischen und ethischen Aspekts.29 Durch die so gewonnene Verhältnisbestimmung

von Prolegomena und materialer Dogmatik soll der Fokus auf die Gemeinde konsequent

durch den gesamten Unterricht beibehalten und darüber hinaus die konstitutive Bezüg-

lichkeit von Religion und Sittlichkeit garantiert werden. Die folgende Untersuchung der

dogmatischen Lehrinhalte soll dies anhand einer übersichtlichen Analyse der in den 4

Hauptteilen dargestellten Spielarten des Gemeindebegriffs erproben.

In den §§5-2530 wird die theologischen Souveränität der christliche Gemeinde durch die

Darstellung ihrer spezifischen Relation zu Gott innerhalb des Reich Gottes beleuchtet.

Gott richtet seine „besondere Absicht“31 auf die Gemeinde (§12), deren „höchstes Gut“

das von ihr hervorgebrachte Reich Gottes ist (§5). Ihre Gründung war „vor der Schöp-

fung“ beschlossen (§14) und stellt die Absicht Christi dar (§25), welcher ihre Stiftung

erst möglich gemacht hat (§19). Indem Ritschl die Gemeinde mit diesen Attributen ver-

sieht, verdeutlicht er ihren Vorrangstatus (gegenüber dem Einzelnen), der direkte Zweck

der göttlichen Wirkungsabsicht zur Aufrichtung des Reich Gottes, sowie legitimes Sub-

jekt der Verwirklichung desselben in der berufstätigen Nachfolge von Jesus Christus zu

sein. Sie stellt damit gewissermaßen die kleinste Konzeptionseinheit vom Reich Gottes

dar.

Die „Lehre von der Versöhnung durch Christus“ (§§34-5432) geht nun dazu über, die

Gemeinde als theologischen Ort des religiösen Bewusstseins und damit unbedingte Be-

zugsgröße der Heilsgewissheit durch Christus zu bestimmen: Im §43 ist die Gemeinde

als Ort des Schuldbewusstsein und der gleichzeitigen Versöhnungsgewissheit darge-

stellt, da in ihr die Getrenntheit von Gott ins Bewusstsein tritt, gleichzeitig aber auch

durch Christi Opfertod als überwunden wahrgenommen werden kann.33 Die Erlösung

bezieht sich also nicht direkt „auf die Beseitigung der die Einzelnen beherrschende

Macht der Sünde“ (§44); Jesus Christus wird als Versöhner der Gemeinde vorgestellt

(§52). Die Sündenvergebung des Einzelnen wird als „Rückfall in die katholische Auf-

fassung“ abgelehnt (§47). Die Versöhnung ist eine positive Grundbedingung der christ-

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29 In der 2. und 3. Auflage wird diese Unterteilung noch deutlicher. Vgl. dazu Grewel 305, sowie beilie-gendes Schema.30 Siehe UcR 13-41.31 Vgl. UcR 23, Fn. 49.32 Siehe UcR 51-74.33 In §58 wird nochmals das Bewusstsein der Sündlosigkeit in der Gemeinde betont. Vgl. auch §80: „durch Sündenvergebung oder Versöhnung mit Gott“ verbundene Gemeinde.

lichen Gemeinde (§47f), da nur im Reich Gottes der Zustand der „Unfreiheit zum Gu-

ten“, d.i. Sünde als überwunden „sichergestellt ist“ (§39). Ihr kommt durch Jesus Chris-

tus die Gotteskindschaft dadurch zu, dass er als herausgehobenes Mitglied der Gemein-

de eingestuft wird (§54). Die Entfaltung des christlichen Heils wird als wirklich aus-

schließlich an der Gemeinde dargestellt, da allein sie der direkte Adressat der Heilsbot-

schaft ist.

Während die ersten beiden Teile der inhaltlichen Dogmatik aus der göttlichen Perspek-

tive entworfen sind, schließen die beiden folgenden Teile mit der Darstellung des Wir-

kens der christlichen Botschaft von dem menschlichen Standpunkt her an. Die §§55-

7734 entwickeln (im Bezug auf die Bestimmung des Gemeindebegriffs) die grundlegen-

den Bedingungen für die Kompetenz des einzelnen Christen, seiner christlichen Berufs-

tätigkeit in der Erfüllung der Tugenden und Pflichten befähigt zu werden. Die Gemein-

de vertritt gegenüber dem Einzelnen eine gehobene Sichtweise, da sich in ihrer Ausge-

staltung der Heilige Geist als Selbstoffenbarung Gottes manifestiert (§55). Sie ist somit

der einzig zulässige Träger der Offenbarungswirklichkeit.35 Nach der genetischen Rei-

henfolge der Christwerdung aufgefasst, entspricht die Aufnahme in der Gemeinde der

Wiedergeburt des Christen (§56), welcher unter deren „Erziehungswirkungen“ (ebenda)

zur Erfüllung seiner Tugenden und Pflichten und damit zum Erreichen der christliche

Vollkommenheit verholfen wird (§59). Ritschl erwartet daher von dem Einzelnen, dass

er sich der Gemeinde unterordnet (§73). Die sowohl sittlichen, als auch religiösen An-

forderungen werden durch die Grundsätze der „Liebespflichten“ (§72) motiviert. Eine

Erholung von ihnen wird dabei nur bedingt eingeräumt (§71). Weiterhin entspringt das

ewige Leben aus Versöhnung durch Christus (§77), die, wie oben herausgestellt wurde,

nur innerhalb der Gemeinde wirklich ist.

Der vierte Hauptteil (§§78-9036) schließlich konzipiert die Gemeinde durchgehend als

kirchliche Einheit im Gebet (§81) und bei der Vergabe der Sakramente (§83), sowie als

unmittelbar handelndes Subjekt: Gebet und Sakrament sind nach §83 „Kultushandlun-

gen“ bzw. „Akt der (ganzen) Gemeinde“ (§89f) und daher außerhalb von ihr „gar nicht

denkbar“ (§83). Die Gemeinde fasst Ritschl auch insofern als Subjekt auf, dass sie sich

für „die Fortdauer der sündenvergebenden Gnade Gottes, in deren Kraft Christus die

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34 Siehe UcR 75-104.35 Vgl. Courth 383.36 Siehe UcR 105-123.

Gemeinde gestiftet hat“ verbirgt (ebenda).37 In ihrer Tätigkeit vertritt sie dabei Jesus

Christus: Sie verbirgt die Sündenvergebung an Christi statt (§90) und regt den Sinn für

die Gemeinschaft im Einzelnen an. Im Zusammenhang der Bejahung der Kindertaufe,

wird in der Verwahrung gegen den Baptismus die „Ausbildung christlicher Persönlich-

keit“ außerhalb der Gemeinde ausgeschlossen (§89). Insgesamt wird der christlichen

Gemeinde damit die kirchliche Autorität zugestanden, da sie als legitimer Vertreter

Christi in seinem Wirken verstanden wird.

Ritschl hält in seiner inhaltlichen Darstellung den „Standpunkt der mit Gott versöhnten

Gemeinde“ konsequent durch.38 Die Grobgliederung des Unterrichts in die 4 Hauptteile

entspricht dabei den Unterbestimmungen des Gemeindebegriffs in den jeweils ethischen

und religiösen Aspekt von Reich Gottes und Kirche. Die Gemeinde ist der grundlegende

Ausgangspunkt der christlichen Dogmatik:39 Als alleiniges Subjekt der theologischen

Wirkzusammenhänge kommen ihr folgende exklusive Eigenschaften zu: Sie ist 1) sou-

veräne, von Gott legitimierte Vertreterin Christi, 2) Adressatin der Heilsbotschaft, 3)

Trägerin der Offenbarungswirklichkeit und 4) Verwalterin der Sakramente. Sie ist das

theologisch-souveräne Subjekt, das sich in der Nachfolge von Jesus Christus durch die

tätige Verwirklichung des Reich Gottes die Rechtfertigung und Versöhnung erwirbt und

diesen Status mit der Vergabe der Sakramente ausweißt. Die christliche Gemeinde ist

aus menschlicher Perspektive das alleinige Subjekt des religiös-sittlichen Handelns als

Reich Gottes und alleiniges Objekt der Rechtfertigung und Erlösung als Kirche; sie ist

so betrachtet die Ellipse selbst.

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37 Vgl. Courth 414f.38 Nach Grewel schreibt Ritschl diesen Standpunkt „der Theologie als conditio sine qua non“ vor. - Vgl. Grewel 294.39 Um diesen Ansatz hervorzuheben hat Ritschl in späteren Auflagen die Bedeutung des Gemeindebe-griffs noch verstärkt. - Vgl. z.B. UcR §12, 14, 54 der verschiedenen Auflagen.

2. DER GEMEINDEBEGRIFF ALS NOTWENDIGES ERFORDERNIS

2.1 Wissenschaftlichkeit und theologische Authentizität

Als methodischer Grundsatz hat der Gemeindebegriff Ritschls Auswirkungen auf sämt-

liche Teilgebiete der Dogmatik 40 ; dennoch wird im Unterricht kein eindeutiger Grund

für die in den Prolegomena herausgestellte Unumstößlichkeit des „Standpunktes der mit

Gott versöhnten Gemeinde“41 genannt. Im §1 stellt Ritschl zwar die Behauptung auf,

dass jede Lehrdarstellung „fehlerhaft ausfallen“ muss, die den grundlegenden Bezug zu

Offenbarung und Gemeinde verkennt. Hiermit sind aber erst einmal nur sein biblisch-

normierter Ausgangspunkt, also die Bibel als Quelle theologischer Aussagen, sowie die

veranschlagte Notwendigkeit angedeutet, aus einer speziellen, internen Perspektive he-

raus, die Darstellung der christlichen Dogmatik zu entwickeln. Diese Behauptung bleibt

durch den Unterricht hindurch in ihrem Status der festgestellten Prämisse unverändert,

da ihr Geltungsanspruch nicht thematisiert wird. So stellt sich die Frage, welches Motiv

bzw. welche Motive Ritschl veranlassten, (neben der Bibel als Offenbarung) den theo-

logischen Standpunkt innerhalb der Gemeinde mit dieser Bestimmtheit zu setzen. Zur

Beantwortung kann es auf der einen Seite hilfreich sein, andere seiner Schriften heran-

zuziehen. Auf der anderen Seite erscheint es sinnvoll, Ritschl bei dieser Frage im histo-

risch-theologischen Kontext zu betrachten, da seine klare Bestimmung des methodi-

schen Ansatzes sich in der Kritik übenden Abgrenzung von anderen theologischen Ent-

würfen bzw. als die Reaktion auf die Umstände seiner Zeit im Allgemeinen ausdrückt.

Daher soll jetzt der maßgebliche Grund für seinen spezifischen, theologischen Ansatz,

also warum Ritschl dem Gemeindebegriff diese zentrale Rolle zuspricht, einmal sofern

er sie in seinen anderen Schriften anführt, festgestellt und daraufhin exemplarisch an

seiner Rezeption von Schleiermacher, seiner Interpretation und davon abgeleiteten Kri-

tik, nachvollzogen werden.

In Bezug auf die Bestimmung des Gemeindebegriffs bemerkt Grewel, es sei Ritschls

Verdienst, mit dem durch den Standpunkt der Gemeinde gegebenen Aufbau seines theo-

logischen Systems einen konsequenten Mittelweg zwischen Offenbarungspositivismus

und natürlicher Theologie eingeschlagen und somit gleichermaßen der Darstellung der

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40 Dazu Grewel 293: „Die Bedingung des Standpunktes der Gemeinde gilt also nicht nur für die Lehre von der Rechtfertigung und Versöhnung, sondern für alle Glieder des christlichen Vorstellungskreises.“41 Siehe Fußnote 38.

christlichen Glaubensrealität, sowie dem wissenschaftlichen Anspruch an die Theologie

keinen Schaden angetan zu haben.42 - Doch inwiefern trifft das zu? Offensichtlich will

Ritschl mit der in den Prolegomena vorgenommenen Festlegung die Notwendigkeit ei-

ner bestimmten methodischen Prämisse für die Darstellung der christlichen Lehrinhalte

ausdrücken - nämlich die Notwendigkeit der internen, intersubjektiven Perspektive, also

der der christlichen Gemeinde, bei der Darstellung der dogmatischen Lehrinhalte. Wie

kein anderes Prinzip durchdringt der Gemeindestandpunkt des Theologen die Ritschl-

sche Dogmatik im Unterricht und der Rechtfertigung und Versöhnung.43 „Der Glaube

der Gemeinde [...] ist das unmittelbare Objekt des theologischen Erkennens.“44 Der

Gemeindebegriff, als Konsequenz des methodischen Grundsatzes, soll nun die Funktion

erfüllen, die Wissenschaftlichkeit und damit die theologische Authentizität der Lehrdar-

stellung zu garantieren: „[...] die individuelle Selbsterkenntnis, welche der Theolog an

seinem Christenthum übt, wird niemals wissenschaftlich sein, außer wenn der Theolog

in seiner Absicht, das allgemeine Christenthum zu erkennen, seine Beobachtungen an

sich selbst mit den ausgesprochenen Erfahrungen Anderer vergleicht.“45 In der Konse-

quenz folgt daraus die Kritik an der wissenschaftlichen Souveränität aller subjektiv-reli-

giösen Phänomene (z.B. in Gestalt mystischer oder pietistischer Lehrelemente). Der

aufgrund seines aspekthaften Charakters durch Unvollständigkeit gekennzeichnete, sub-

jektive Standpunkt wird also in Anbetracht der Ermangelung an Objektivität als der wis-

senschaftlichen Darstellung nicht fähiger Ansatz strikt ausgeschlossen.46 Auch was die

Heilige Schrift als Quelldokument betrifft sollte der Gemeindebegriff als „objektives

Auslegungskriterium“47 Anwendung finden. Die Theologie hat nach Ritschl in der Bibel

ihre Quelle, die Perspektive der Gemeinde ist ihre Auslegungsnorm, der einheitliche

theologische Standpunkt. Daraus erhellt, dass nach Ritschl die Wirklichkeit des christli-

chen Lebens ausschließlich an der Gemeinde dargestellt werden kann. In Hinsicht auf

die Forderung der Wissenschaftlichkeit unterscheidet Ritschl demzufolge auch konse-

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42 Vgl. Grewel 311.43 Vgl. UcR 3.44 Siehe RuV III 3.45 Siehe RuV II 8.46 Die Reaktion Ritschls auf die Entkirchlichung bzw. den Kulturkampf im 19. Jahrhundert kommt nur als sekundärer Faktor für die Ausbildung des Ritschlschen Gemeindebegriffs in Betracht. - Vgl. dazu Scheli-ha 81, sowie dagegen Grewel 309.47 Vgl. Courth 384.

quent „zwischen Theologie und Religion, Andacht und Wissenschaft“, was den „Aus-

schluss religiöser Unmittelbarkeit aus der Theologie“48 bedeutet. Die Darstellung der

christlichen Religion innerhalb eines theologischen Systems muss klar von der subjekti-

ven Beschreibung der christlichen Glaubensrealität unterschieden werden, da sie sich,

was den wissenschaftlichen Anspruch an sie betrifft, grundlegend von einander unter-

scheiden. 49 Eine solche wissenschaftliche Darstellung erhebt also gar nicht den An-

spruch die christliche Glaubensrealität vollständig abzubilden.

Für Ritschl stellte es innerhalb seiner wissenschaftstheoretischen Überlegungen damit

eine grundlegende Problematik dar, die Möglichkeit eines wissenschaftlich konsistenten

Systems der Theologie herauszustellen. Als Garant dieser Möglichkeit hat er daher den

Gemeindebegriff als methodischen Grundsatz systematisch konstruiert, 50 um diese

Funktion für das ganze dogmatische System zu erfüllen: „ Diesen Standpunkt [sc. der

Gemeinde, Anmerkung des Autors] einzunehmen ist der Theologie geboten, und nur so

kann es gelingen ein System der Theologie auszuführen, welches diesen Namen

verdient.“51 Die „Lehre von der Gemeinde“ bzw. das „Gemeindeprinzip“52 ergab sich

für Ritschl somit als notwendiger Grundbestandteil seines theologischen Systems.

Weiterhin lässt sich beobachten, dass der Gemeindebegriff auch als Kriterium für die

Interpretation und Beurteilung anderer theologischer Entwürfe Anwendung fand. Etwa

bei Ritschls Auseinandersetzung mit Schleiermacher ist auffällig, dass bei aller ver-

meintlich „differenzierten Zustimmung“53, aber auch Ablehnung54 gegenüber seiner

Theologie, Ritschl ihn genau an den Punkten, wo er einer individualistischen Perspekti-

ve den Vorzug gibt, seinen Ansatz kritisiert. Ritschl wollte, wie soeben herausgestellt,

innerhalb der Darstellung seiner Dogmatik alle vermeintlich subjektiv-religiösen Leer-

stellen, d.h. alle individuellen Glaubenserfahrungen konsequent ausschließen.55 Durch

diesen strikten Ausschluss aller, nach seinem Ermessen „unwissenschaftlichen“ Elemen-

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48 Vgl. Grewel 300, Fn. 7.49 Vgl. dazu Grewel 309. Ritschl wollte damit aber nicht die unmittelbare Gottesbeziehung des Einzelnen leugnen. - Vgl. dazu ARL 225f.50 Vgl. Grewel 311, Fn. 16.51 Siehe RuV III 4. Vgl. auch UcR 3.52 Vgl. Grewel 299.53 Vgl. Zachhuber 27.54 Weinhardt problematisiert die vermeintliche Nähe beider Theologen. - Vgl. ARB 59.55 Damit geht eine grundlegende Kritik an der christlichen Mystik und dem Pietismus einher.

te musste es aber stellenweise zu einer eigentümlichen Interpretation bis hin zu einer

Abwertung der theologischen Aussagen Schleiermachers kommen. 56 Dies lässt sich

beispielhaft am Hauptsatz des §28 der Glaubenslehre57 zeigen: Ritschl bezeichnet die

Aussage Schleiermachers schlicht als falsch,58 wodurch angezeigt ist, dass er jedes indi-

viduelle Verhältnis zu Christus nur vermittelt über die Kirche als möglich erachtet, den-

noch aber nicht dem Katholizismus zugerechnet werden will. 59 Die Abgrenzung vom

Katholizismus meint Ritschl dadurch zu erreichen, dass er seinen Gemeindebegriff nicht

als Rechtsgemeinschaft, sondern als Reich Gottes als eine ausschließlich religiös-sittli-

che Gemeinschaft konzipiert. Doch damit hat er sich lediglich von dem katholischen

Kirchenbegriff abgegrenzt, nicht aber von den gemeinschaftlicher Erlösungsvorstellun-

gen, die der katholischen Lehrvorstellung eigen sind. Die sich aus dem Gemeindebegriff

ergebenden kollektivistischen Tendenzen und damit solcher, die eine vermeintliche Nä-

he zum Katholizismus herstellen, lassen sich also innerhalb von Ritschls Standortbe-

stimmung nicht ausschließen. Daher rührt der gegen Ritschl oft geführte Katholizismus-

Vorwurf:60 Wenn Ritschl der Gemeinde die einzige Erlösungswirklichkeit zuspricht,

steht das in direktem Widerspruch zu der protestantischen Vorstellung der Möglichkeit

der individuellen Heilsgewissheit durch den Glauben.

2.2 Zur Methodik der theologischen Wissenschaft

An dieser Stelle scheint es einige kritische Überlegungen wert zu sein, inwiefern der

von Ritschl entwickelte Gemeindebegriff seine Funktion als Garant wissenschaftlicher

Objektivität überhaupt erfüllen kann. Ritschl geht es um allgemeine und objektive Er-

kenntnis, die sich letztendlich in einer „Theorie des Christentums“61 ausdrücken lässt.

Zwei Aspekte gilt es hier zu beleuchten: 1) die Notwendigkeit der internen Perspektive

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56 Ritschl beansprucht gegenüber den ausgewiesenen Anhängern von Schleiermacher eine authentischere, nicht so wie bei ihnen entstellte Interpretation von Schleiermachers Aussagen zu besitzen.Vgl. Zachhuber 23.57 GL 541 (Leitsatz des §28 der 1. Auflage): „Vorläufig möge man den Gegensatz so fassen, daß der Pro-testantismus das Verhältniß des Einzelnen zur Kirche abhängig macht von seinem Verhältniß zu Christo, der Katholizismus aber umgekehrt das Verhältniß des Einzelnen zu Christo abhängig macht von seinem Verhältnis zur Kirche.“58 Vgl. Scheliha 77.59 Vgl. UcR § 84.60 Dieser versucht Ritschls theologischem Entwurf katholisierende Tendenzen zuzuschreiben und ist u.a. zu finden bei: Weiß (397) und Courth (470).61 Vgl. Zachhuber 36.

bei der Aussage von christlichen Lehrinhalten,62 sowie 2) die Intersubjektivität, in der

das dogmatische Material innerhalb der Gemeinde erhoben wird.

1) Dass ein wissenschaftlicher Gegenstand der Theologie nur aus der internen Perspek-

tive dieser Wissenschaft richtig erkannt werden kann, ist allgemein anerkannt. Nur als

Christ können theologische Aussagen getroffen werden, andernfalls bewegen sie sich

automatisch in dem Bereich der Religionswissenschaft.

2) Der Theologe gelangt nach Ritschl aber erst dann zu der geforderten „allgemeingilti-

gen Erkenntnis des Christenthums“63, wenn er durch alleinige Berufung auf die Bibel64

einen einheitlichen Standpunkt gewinnt, indem er sich innerhalb der Gemeinde mit an-

deren Theologen über deren religiöse Erfahrungen ausspricht.65 D.h. durch die Samm-

lung individuell aufgenommener Glaubenserfahrungen soll ein einheitlicher Standpunkt

gewonnen werden. Ritschl scheint damit einer empiristischen Wissenschaftskonzeption

zu verfallen, deren maßgebliche Schwäche die Annahme der notwendigen Schlüssigkeit

des Induktionsprinzips ist: Es wäre mit unüberbrückbaren Schwierigkeiten verbunden,

aus der Systematisierung von Einzelbeobachtungen in einen einheitlichen Standpunkt

auf das Wesen des Christentums zu schließen. Es sind z.B. zwei verschiedene Gemein-

den vorstellbar, die einen unterschiedlichen Auffassung vertreten, was die Bestimmung

dieses Wesens oder der Auslegungsmöglichkeiten der Bibel betrifft. Auch gelangt er mit

der Gemeinde als Vertreter eines einheitlichen Standpunktes zu keinem Ausschluss irra-

tionaler Momente, was etwa an mancher spiritistischen Gemeinden gezeigt werden

könnte. Daraus folgt offenbar, dass die Theologie, wenn sie mit dem Anspruch der Ob-

jektivität auftreten will, keine rein empirische Wissenschaft sein kann. Der wissen-

schaftliche Ort der Theologie liegt vielmehr zwischen spekulativem Geisteswissen-

schaften und empirischen Naturwissenschaften.66 Der reale Unterschied zwischen sys-

tematisch-wissenschaftlicher Darstellung theologischer Aussagen und deren religiös-

motiviertem Erzählen liegt nicht in deren vorhandener bzw. nicht vorhandener Intersub-

jektivität, sondern in der Verbindung von induktiver und spekulativer Methode, in der

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62 Vgl. dazu S. 3.63 Vgl. RuV II 9.64 Zuvorderst ist zu bemerken, dass die Setzung des Gemeindebegriffs als methodische Prämisse schon die erste wissenschaftliche Handlung ist. Deren Objektivität will Ritschl nun in der These, Jesus wollte eine Gemeinde gründen, biblisch legitimieren. - Vgl. dazu RuV II 9ff.65 Vgl. S.13, Fn. 54.66 Vgl. TRE2 201.

das religiöse Erfahrungsmaterial zur wissenschaftlichen Erkenntnis erhoben wird.

Ritschl gelangt daher mit seiner Konzeption des Gemeindebegriffs nicht über die Ga-

rantiefähigkeit einer konsensfähigen, intersubjektiven Erkenntnis hinaus.

3. STRUKTURPROBLEME DER RITSCHLSCHEN GEMEINDEKON-

ZEPTION

3.1 Das Individuum in der Gemeinde

Der mit dem Wissenschaftlichkeitsanspruch an die Theologie begründete Ausschluss

aller individuell-religiöser Leerstellen aus dem dogmatischen System Ritschls wirkt sich

auch maßgeblich auf die Verhältnisbestimmung von Gemeinde und Individuum aus.

Demgemäß lässt sich aus dem Unterricht auch eine entsprechend unterschiedene Positi-

on des Einzelnen in Beziehung zu der Gemeinde extrahieren: Das Vorhandensein des

Reich Gottes ist, insofern es als „übernatürlich“ und „überweltlich“ vorgestellt wird

(§8), „Gegenstand des religiösen Glaubens“ (§9). Gemäß diesem Glauben erfüllt der

Einzelne durch die Aneignung des „Endzwecks Gottes“ (§46) seine sittliche Aufgabe

durch die Ausübung seines Berufs „zum gemeinen Nutzen“ (§28). Nur in dieser Tätig-

keit nimmt er sein „Handeln aus Liebe gegen den Nächsten“ als „letzter Beweggrund

des Handelns“ (§27) an, wodurch erst eine „vollständige gegenseitige Verbindung der

Einzelnen durch das Handeln aus Liebe“ (§13) stattfindet. Mit diesen Ausführungen

macht Ritschl die Voraussetzung, dass der Einzelne nur durch die Einrechnung in die

Gemeinde seiner sittlichen Aufgabe gerecht werden kann. Diese Position verstärkt

Ritschl anhand einer Reihe von Forderungen innerhalb der Bestimmung eines strengen

christlichen Ethos, der sich in dem aufgestellten Katalog der Tugenden und Pflichten in

den §§60-62 und 65-68 zeigt. Die einen sind Ausdruck für die aktiv-unentwegten (das

sind z.B. die Tugend der Entschlossenheit und der Beharrlichkeit), die anderen dagegen

für die passiv-erwartenden (religiöse Tugenden: Demut, Glaube, Geduld; sittliche Tu-

genden: Selbstbeherrschung, Besonnenheit, Dankbarkeit) Aspekte der Berufstätigkeit

des Einzelnen.67 Hierin drückt sich aus, dass der Einzelne nicht nur der Möglichkeit

nach der sittlichen Aufgabe gerecht werden kann, wenn er sich unter die Gemeinde sub-

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67 Vgl. auch Courth 474f.

sumiert; er soll dies als seine Pflicht tun, da die Unterordnung auch der Zweck eines

Großteils seiner religiösen und sittlichen Tugenden ist. Damit ergibt sich eine zirkuläre

Bestimmung der sittlichen Aufgabe des Einzelnen: Die Einordnung des Individuums in

die Gemeinde ist zugleich Mittel und Zweck. Ritschl unterstreicht so noch einmal, dass

der einzelne Christ fortwährend in einem einseitigen Abhängigkeitsverhältnis gegenüber

der Gemeinde steht. Darüber hinaus ist er innerhalb dieser Wirkzusammenhänge eben-

falls einer Reihe von Anfechtungen seines Glaubens ausgesetzt: Einerseits soll er an die

Verwirklichung des Reich Gottes glauben, da diese nicht unmittelbar wahrgenommen

werden kann (§9f.).68 Auf der anderen Seite wird er in seinem Gewissen durch das

Schuldgefühl (§40) mit seiner „Unfreiheit zum Guten“ konfrontiert (§39). Denn die Er-

lösung bezieht sich nicht direkt „auf die Beseitigung der die einzelnen Beherrschende

Macht der Sünde“ (§45). So ist er dazu angehalten, die in der Gemeinde zugestandene

„Gnadenwirkung zugleich als Antrieb“ für die berufsgemäße Ausübung seiner sittlichen

Tätigkeit aufzunehmen (§55).

Es lässt sich zusammenfassend festhalten: In der Ausübung des Berufs, d.i. der Bereich

der christlichen Ethik, soll sich das Individuum der Gemeinschaft unterordnen (§73),

was sich in den „Liebespflichten“ des Einzelnen gegen sie ausdrückt. Diese „Liebes-

pflichten“, welche das Bestehen und die Anerkennung der Gemeinde als Träger der Ver-

söhnungs- und Offenbarungswirklichkeit zur Abzweckung haben, werden nun zum

christlichen Tugendideal aufgebaut. Es zeigt sich, dass Ritschl die Glaubensrealität des

Einzelnen immer nur in dem Maße thematisiert, wie es für die Eingliederung in die

Gemeinde der Bestimmung seines sittlichen Berufs nach erforderlich ist - also immer

nur indirekt: „Der gegenwärtige Glaube des einzelnen ist nicht einmal Medium theolo-

gischer Erkenntnis, geschweige denn relativ selbstständiger Gegenstand der Theolo-

gie.“69

3.2 Sittliche Überhöhung und religiöse Vereinzelung

Das eben zum Ausdruck gekommene, deutlich einseitige Verhältnis von Gemeinde und

einzelnem Christen lässt sich zur Veranschaulichung vorläufig in folgendem Bild be-

schreiben: Während sich Gott (vermittelt durch Christus) im Heiligen Geist für Ge-

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68 Vgl. S. 16.69 Siehe Schäfer 137. Vgl. dazu auch Schäfer 180f.

meinde offenbart (deus revelatus), ist er demgegenüber für das Individuum stets verbor-

gen (deus absconditus). „Einerseits verkehrt Gott nicht direkt mit dem Christen, sondern

nur durch die Vermittlung des in Christus gesetzten Bundes. Andererseits muß der

Christ ohne Rücksicht auf die Genossen des Bundes seinen Glauben und Vertrauen auf

Gott richten, also ohne den Umweg über die Gemeinde zu nehmen.“70 Die Möglichkeit

der unmittelbaren Teilnahme des einzelnen Christen an den theologischen Wirkzusam-

menhängen wird damit, wie etwa bezüglich der Erlösung, ausgeschlossen: „Ohne Ein-

ordnung in die nach Gottes Willen ausgezeichnete Gemeinde wäre der Gedanke der

Sündenvergebung reine Illusion.“71 Hier deuten sich nun zwei entscheidende Konse-

quenzen an: 1) die Unterbestimmung des individuellen Glaubens,72 und 2) die von der

Gemeinde abhängige Heilsgewissheit.73

Wenn Ritschl also aus dem von ihm entworfenen christlichen Ethos eine so umfassende

Bestimmung der Tugenden und Pflichten des Einzelnen aufgrund seiner Beziehung zur

Gemeinde festlegen will, muss er einen Ausgleich hinsichtlich seiner religiösen Ge-

wissheiten, die aus seinem Glauben entstehen, finden. Denn andernfalls bliebe der ein-

zelne Christ, im fortwährenden Streben, diesen Ansprüchen gerecht zu werden, im „sitt-

lichen Hamsterrad“ des Reich Gottes gefangen. Er wäre nämlich immer auf die Ge-

meinde angewiesen, ihm die Gewissheit, die er selbst nicht erlangen kann, zu vermit-

teln, ob er den sittlichen Ansprüchen an ihn innerhalb Ritschls Berufsbestimmung ge-

recht geworden ist.74 Das diesbezüglich Zwischenfazit von Weiß lautet: „Es ist also die

Aufgabe, das Wesen des Christenstandes so zu fassen, daß einerseits die Selbstständig-

keit im sittlichen Handeln auch noch an dem Gepräge der religiösen Abhängigkeit von

Gott teilnehme, anderseits aber die persönliche Selbstständigkeit des Gläubigen auch in

der grundlegenden specifisch-religiösen Funktion sichergestellt werde.“75 D.h. die mit

der Gewissheit der beruflichen Zweckerfüllung einhergehende Rechtfertigung muss

dem Individuum unvermittelt zugestanden werden. Der aus der dogmatischen Darstel-

lung auf die Wirklichkeit des christlichen Heils übertragene Gemeindebegriff führt so

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70 Siehe Schäfer 143.71 Siehe Courth 414f.72 Vgl. Schäfer 180f.73 Ferner wirft Weiß Ritschl ein Gottesbild, das sich dem Deismus nähert, vor. Vgl. dazu Weiß 395f.74 Vgl. Courth 416f., vor allem aber 418.75 Siehe Weiß 390.

zu einer vehementen Spannung in der Glaubensrealität des einzelnen Christen bzw. in

dem Verhältnis von sittlicher und dogmatischer Bestimmung. Der Ritschlsche Gemein-

debegriff führt zur sittlichen Überhöhung des christlichen Ethos und zur religiösen Ver-

einzelung des Individuums in seiner Heilsungewissheit. Der Katholizismus-Vorwurf

gegen Ritschl wird, wenn er diesen Missstand gelten machen will, erst jetzt wirksam, da

sich nur durch diese Argumentation das gefährliche Potenzial zum religiösen Kollekti-

vismus im Ungleichgewicht von Gemeinde und Individuum offenbart.

4. DAS SPANNUNGSVERHÄLTNIS IN GLAUBEN UND THEOLOGIE

Ritschls Programm in seinem theologischen Entwurf ist es, jeglichen Subjektivismus in

der Darstellung seines dogmatischen Systems auszumerzen, um subjektive Störfaktoren

in der Theologie ausschließen zu können. Doch die Objektivität der christlichen Lehre

ist mit der Einführung des Gemeindebegriffs nicht garantiert, sondern führt der Tendenz

nach zur dogmatischen Bestimmung von Kernbegriffen der christlichen Lehre. Vor al-

lem im Ritschlschen Verständnis der Heilsgewissheit des Einzelnen durch die Gemein-

de, welche immer an die sittliche Berufstätigkeit zur Verwirklichung des Reich Gottes

gekoppelt bleibt, kann dieser die Gewissheit der Versöhnung immer nur relativ auf sich

beziehen und hat so notwendigerweise nie die Möglichkeit, aus dem sich ergebenden

Spannungsverhältnis auszutreten. Dass ein theologisches System nur Elemente der

christlichen Lehre enthalten darf, die innerhalb des wissenschaftlichen Anspruchs dar-

stellbar sind, ist die eine Seite; auf der anderen Seite ist ein solches System, welches in

der Konsequenz seiner Setzung die individuelle Glaubensrealität nur typisiert auftreten

lassen kann, als dogmatisch zu bezeichnen. Gerade durch Ritschls Anliegen mit dem

Unterricht ein Lehrwerk für Gymnasiasten zu veröffentlichen, ist es offensichtlich, dass

dieser seiner Intention nach auf den Glauben des Einzelnen einwirkt und ihn gestaltet.

Wenn er dann eine solch strenge Ethik und die alleinige Gültigkeit der kollektivistischen

Perspektive proklamiert, ohne zu beleuchten aus welchem Grund, dann ergeben sich

dadurch dogmatische Tendenzen in Richtung Biblizismus, vor allem aber Katholizismus

in dem Bewusstsein der Christen.

Darüber hinaus muss - bei aller vermeintlichen, theologischen Konsequenz, die Ritschl

in der Konzeption seines Gemeindebegriffs anwendet - die starke Abhängigkeit des ein-

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zelnen Christen von der Gemeinde dem heutigen Christen auf dem geschichtlichen Hin-

tergrund der Gefahren des Totalitarismus und der damit verbundenen Aufgabe der Ei-

genbestimmtheit als abständig erscheinen. Denn polemisch ausgedrückt ist das grundle-

gende Ritschlsche Diktum die Einordnung des einzelnen Gläubigen in der Gemeinde, in

dessen Konsequenz sich alle weitere Entwicklung des Christenstandes mit der Rechtfer-

tigung in der Gemeinde usw. quasi in notwendiger Abfolge zu ergeben scheint; immer

unter der Bedingung, dass sich der einzelne Christ wohlgesonnen in die Gemeinde ein-

gliedert und seinen Pflichten nachkommt. Damit eine dogmatische Lesart des Gemein-

debegriffs von Ritschl, die zu einer Annäherung der Ritschlschen Gemeinde und der

katholischen Kirche führen würde, ausgeschlossen werden kann, muss die Heilsgewiss-

heit des Einzelnen in der Gemeinde unter der Bedingung stehen, dass dieser den sittli-

chen Erfordernissen bei der Ausübung der christlichen Berufstätigkeit gerecht werden

kann. Denn wenn die Gemeinde als objektives Kriterium für die Versöhnung mit Gott,

etc. behauptet werden soll, ergibt sich in der Folge das Problem, dass wiederum kein

objektives Kriterium für die Anerkennung des Erfolges des Einzelnen bei der Verwirkli-

chung des Reich Gottes vorhanden ist, sondern maßgeblich von der subjektiven Zu-

schreibung dieses Erfolges durch andere oder auch den Einzelnen selbst abhängt. Damit

geriete der einzelne Christ in das weiter oben angebrachte „sittliche Hamsterrad“ des

Reich Gottes. Es muss also ein Element der individuellen Gewissheit der unmittelbaren

Beziehung zu Gott im Menschen zugestanden werden. Andernfalls verkehrt sich die in

der christlichen Religion angestrebten Erlösung in ihr genaues Gegenteil: innere Gespal-

tenheit und Entfremdung.

Es zeigt sich, dass die Schwierigkeit von Ritschls Ansatz darin besteht, einen Ausgleich

zwischen sittlichen Forderungen und religiöser Eigenständigkeit, die sich in einer Form

der individuellen Heilsgewissheit zeigt, zu finden, um dogmatisch-totalitäre Perversio-

nen ausschließen zu können. Dieses Element der individuellen Gewissheit steht freilich

immer in Spannung mit der Ausartung der Heilsgewissheit in willkürlichen Subjekt-

ivismus. Doch es scheint so, als wäre dieses Spannungsverhältnis zwischen religiösem

Zweifel und Gewissheit innerhalb der Glaubensrealität des einzelnen Christen nicht auf-

zulösen. Und eben darin liegt vielleicht auch die Authentizität von Schleiermachers

Darstellung des christlichen Glaubens in seiner Glaubenslehre - dass sie diese Spannung

im Glauben in den theologischen Entwurf integriert und damit auszuhalten vermag.

- 20 -

5. LITERATURLISTE

Die in den Fußnoten verwendeten Abkürzungen bzw. Siglen finden sich in den eckigen Klammer zu Beginn der jeweiligen Literaturangabe.

5.1 Primärliteratur

[RuV I-III] Ritschl, Albrecht: Die christliche Lehre von der Rechtfertigung und Versöh-nung. - Bd. 1: Die Geschichte der Lehre, Bonn, 18893; - Bd. 2: Der biblische Stoff der Lehre, Bonn, 18893; - Bd. 3: Die positive Entwicklung der Lehre, Bonn, 18883.

[UcR] Axt-Piscalar, Christine (Hrsg.): Ritschl, Albrecht: Unterricht in der christlichen Religion. Studienausgabe nach der 1. Auflage von 1875 nebst den Abweichungen der 2. und 3. Auflage, Tübingen, 2002.

[GL] Schäfer, Rolf (Hrsg.): Schleiermacher, Friedrich Daniel Ernst: Der christliche Glaube. nach den Grundsätzen der evangelischen Kirche im Zusammenhange darge-stellt. Zweite Auflage (1830/31), Berlin, 2008.

5.2 Sekundärliteratur

[ARB] Weinhardt, Joachim: Albrecht Ritschls Briefwechsel mit Adolf Harnack 1875-1889, Tübingen, 2010.

[ARL] Ritschl, Otto: Albrecht Ritschls Leben, Bd. 2: 1864 - 1889, S. 221-236.

[Courth] Courth, Franz: Das Wesen des Christentums in der Liberalen Theologie darge-stellt am Werk Fr. Schleiermachers, Ferd. Chr. Baur und A. Ritschls, Frankfurt (Main), 1977, S. 383-89, 413-18, 470-75.

[Grewel] Grewel, H.: Kirche und Gemeinde in der Theologie Albrecht Ritschls, in: NZSTh 11 (1969), 292-311.

[Schäfer] Schäfer, Rolf: Ritschl. Grundlinien eines fast verschollenen dogmatischen Systems, Tübingen, 1968.

[Scholz] Scholz, H.: Kirche und Gemeinde in Schleiermachers und Ritschls Erlösungs-lehre; in: Theologische Studien und Kritiken (ThSK), Gotha, 1908, 1. Heft, S.84-138.

[Scheliha] Scheliha, A. v.: Protestantismus und Kirche. Albrecht Ritschls ekklesiologi-sche Interpretation von Schleiermachers Wesensformel, in: ders./ Schröder, M. (Hgg.): Das protestantische Prinzip. Historische und systematische Studien zum Protestantis-musbegriff, Stuttgart, 1998, S. 77-101.

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[TRE1] Art.: Schäfer, Rolf: Ritschl, Albrecht; in: Theologische Real Enzyklopädie (TRE), Bd. XXIX, Berlin, 1998, S. 220-238.

[TRE2] Art.: Maurer, Ernstpeter: Wissenschaft/ Wissenschaftsgeschichte/ Wissen-schaftstheorie. II. Systematisch-theologisch; in: Theologische Real Enzyklopädie (TRE), Bd. XXXVI, Berlin, 2004, S. 200-209.

[Weiß] Weiß, Herrmann: Über das Wesen des persönlichen Christenstandes; in: Theolo-gische Studien und Kritiken (ThSK), 1881, S. 377-417.

[Zachhuber] Zachhuber, Johannes: Friedrich Schleiermacher und Albrecht Ritschl. Kon-tinuitäten und Diskontinuitäten in der Theologie des 19. Jahrhunderts, in: Zeitschrift für Neuere Theologiegeschichte, 12. Bd., S. 16-46.

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