Open Education: Offene Bildung und offenes Lernen – mehr als nur eine Alternative für E-Learning

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Open Education: Offene Bildung und offenes Lernen 7.22 Open Education: Offene Bildung und offenes Lernen – mehr als nur eine Alternative für E-Learning von Markus Deimann (FernUniversität in Hagen) Open Education – Open Educational Resources – Bildung – Fernstudium – Offenes Lernen – Kein Zweifel, das Internet verändert Lernen und Bildung auf radikale Weise. Wer wissen möchte, wie das neue Smartphone repariert werden kann, sucht sich einen Video-Clip auf YouTube. Wer bei »Wer wird Mil- lionär« mitraten möchte, sich aber nicht ganz sicher ist, schaut nebenher schnell bei Wikipedia nach, ob Dirk Nowitzki tatsächlich der erste Mann- schaftssportler ist, der als Sportler des Jahres gekürt wurde. Durch die sprunghafte Verbreitung frei zugänglicher Materialien in Form von sog. Open Educational Resources (OER; siehe Beitrag 7.15 von Ebner und Schön in dieser Reihe) mit Hilfe neuer Technologien eröffnen sich vielfäl- tige, innovative Möglichkeiten des Lehrens und Lernens. Hierbei geht es in vorderster Linie um die Öffnung von Zugängen zu Informationen (Open Access) und das Überwinden von Grenzen beim Lernen (Open Education). Dabei bekommen ältere Kritiken, die an dem dominanten Lehr- und Ausbildungsmodell ansetzen, neuen Wind. Eine solche wurde von Wedemeyer zu Beginn der 1980er Jahre geäußert, als er bemerkte, dass »(...) more teaching and learning go on – throughout life – outside the classroom than in; yet the myth persists«. Vor diesem Hintergrund lotet dieser Beitrag die neu geschaffenen Mög- lichkeiten aus. Anhand ausgewählter Fallstudien wie dem OpenLearn- Projekt der Open University UK wird aufgezeigt, welche Veränderungen des Lernens dabei entstehen. In einem weiteren Schritt werden dann mit den Open Online Courses emergente Praxisprojekte präsentiert und die dabei aufgeworfenen Fragen aus Sicht der Mediendidaktik und der Bil- dungstheorie diskutiert. Open Courses werden in Deutschland bisher eher spärlich eingesetzt, z. B. für den Hochschulbereich »opco12« (Uni- versität Frankfurt am Main), erfreuen sich aber erstaunlicher Popularität. Insofern erscheint eine Auseinandersetzung mit den Lern- und Bildungs- möglichkeiten dringend geboten, die jenseits von Fantasien einer eher nüchternen Bestandsaufnahme verpflichtet ist. Diese Übersicht mündet in mehreren Szenarien, die aufzeigen, wie E-Learning-Anbieter alterna- tive Lernformen, jenseits der klassischen WBT oder Learning-Manage- ment-Systeme fördern können. 1 Einleitung: Die Entgrenzung des Lernens 3 2 Lernen und Bildung als individuelle Massenware: Die Massive Open Online Courses 8 Handbuch E-Learning 42. Erg.-Lfg. Juni 2012 1 Schlagwörter Überblick Handb-E-Learning-042_x1.pdf 49 16.04.2012 12:07:11

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Open Education: Offene Bildung und offenes Lernen 7.22

Open Education: Offene Bildung undoffenes Lernen – mehr als nur eineAlternative für E-Learning

von Markus Deimann (FernUniversität in Hagen)

Open Education – Open Educational Resources – Bildung – Fernstudium –Offenes Lernen –

Kein Zweifel, das Internet verändert Lernen und Bildung auf radikaleWeise. Wer wissen möchte, wie das neue Smartphone repariert werdenkann, sucht sich einen Video-Clip auf YouTube. Wer bei »Wer wird Mil-lionär« mitraten möchte, sich aber nicht ganz sicher ist, schaut nebenherschnell bei Wikipedia nach, ob Dirk Nowitzki tatsächlich der erste Mann-schaftssportler ist, der als Sportler des Jahres gekürt wurde. Durch diesprunghafte Verbreitung frei zugänglicher Materialien in Form von sog.Open Educational Resources (OER; siehe Beitrag 7.15 von Ebner undSchön in dieser Reihe) mit Hilfe neuer Technologien eröffnen sich vielfäl-tige, innovative Möglichkeiten des Lehrens und Lernens. Hierbei geht esin vorderster Linie um die Öffnung von Zugängen zu Informationen(Open Access) und das Überwinden von Grenzen beim Lernen (OpenEducation). Dabei bekommen ältere Kritiken, die an dem dominantenLehr- und Ausbildungsmodell ansetzen, neuen Wind. Eine solche wurdevon Wedemeyer zu Beginn der 1980er Jahre geäußert, als er bemerkte,dass »(...) more teaching and learning go on – throughout life – outsidethe classroom than in; yet the myth persists«.

Vor diesem Hintergrund lotet dieser Beitrag die neu geschaffenen Mög-lichkeiten aus. Anhand ausgewählter Fallstudien wie dem OpenLearn-Projekt der Open University UK wird aufgezeigt, welche Veränderungendes Lernens dabei entstehen. In einem weiteren Schritt werden dann mitden Open Online Courses emergente Praxisprojekte präsentiert und diedabei aufgeworfenen Fragen aus Sicht der Mediendidaktik und der Bil-dungstheorie diskutiert. Open Courses werden in Deutschland bishereher spärlich eingesetzt, z. B. für den Hochschulbereich »opco12« (Uni-versität Frankfurt am Main), erfreuen sich aber erstaunlicher Popularität.Insofern erscheint eine Auseinandersetzung mit den Lern- und Bildungs-möglichkeiten dringend geboten, die jenseits von Fantasien einer ehernüchternen Bestandsaufnahme verpflichtet ist. Diese Übersicht mündetin mehreren Szenarien, die aufzeigen, wie E-Learning-Anbieter alterna-tive Lernformen, jenseits der klassischen WBT oder Learning-Manage-ment-Systeme fördern können.

1 Einleitung: Die Entgrenzung des Lernens 3

2 Lernen und Bildung als individuelle Massenware: Die

Massive Open Online Courses 8

Handbuch E-Learning 42. Erg.-Lfg. Juni 2012 1

Schlagwörter

Überblick

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3 Zur Zukunft des offenen Lernens – mögliche Szena-

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Literaturhinweise 20

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1 Einleitung: Die Entgrenzung des Lernens

»Wer eine Antwort sucht, fragt in der digitalen Zeit im Internet nach und even-

tuell erst dann einen Menschen. Das Internet ist so gut, dass man nur noch bei

wenigen Fragen Menschen ansprechen muss.«

(Gunter Dueck 2011, S. 21)

»Wir können heute nicht mehr sagen, was morgen gefragt sein wird!«, »DieZukunft ist offen«. Mit diesen Aussagen wird heute derjenige häufig kon-frontiert, der sich mit Lernen und Bildung auseinandersetzt. Zu welchenKonsequenzen führt dies dann aber? Wie sollen wir wissen, was wir lernensollen bzw. welche Kompetenzen und Fähigkeiten wir erwerben sollen, dieuns »fit« für die Zukunft machen, wenn wir diese Zukunft nicht mehrbeschreiben oder antizipieren können? Von dem berühmten Medientheo-retiker McLuhan gibt es dazu das Bild des Autofahrers, der auf der Autobahnbei rasanter Geschwindigkeit den Blick nicht vom Rückspiegel nimmt: »For-ward through the Rearview Mirror«.

Für Bildungsinstitutionen und E-Learning Anbieter ergeben sich daraus völ-lig neue Herausforderungen. In dem Ausmaß, wie neues Wissen entsteht,erhöhen sich auch die Schwierigkeiten der Auswahl von »wissenswertemWissen«. Darauf wurde von dem Philosophen Jürgen Mittelstraß schon vorvielen Jahren hingewiesen. Er begründete die Unterscheidung zwischenVerfügungswissen (Wissen über Ursachen, Wirkungen und Mittel, das vonWissenschaft und Technik produziert wird) und Orientierungswissen (Wis-sen um gerechtfertigte Zwecke und Ziele). Beide Wissensformen stehen ineinem ungleichen Wechselwirkungsverhältnis zueinander. Während aufder einen Seite in modernen Gesellschaften immer mehr Verfügungswissendurch technische Errungenschaften und wissenschaftlichen Fortschritt ent-steht, nimmt auf der anderen Seite das Orientierungswissen durch Verunsi-cherungen und Krisenerfahrungen ab. Orientierung kann über Bildung imklassischen Humboldtschen Sinne gefördert werden als Auseinanderset-zung mit sich selbst und der Umwelt. Die Person tritt dabei in ein reflexivesVerhältnis zu sich selbst und mit ihrer Umwelt. E-Learning bietet hiersowohl Chancen als auch Risiken. Dies wird in diesem Beitrag noch vertieftbehandelt. Zunächst soll jedoch auf einige Besonderheiten des Lernens undder Bildung in der heutigen Zeit eingegangen werden.

»Gedränge auf dem Wohnungsmarkt, selten ein Sitzplatz im Hörsaal unddann auch noch Geldsorgen: Der ungeahnte Studentenansturm überfordertderzeit viele Studenten – und die Bafög-Ämter, die sie betreuen. TausendeBedürftige müssen monatelang darben. Manche geraten in Existenznot«.So überschrieb die Online-Ausgabe des SPIEGEL am 05. März einen Artikelzu aktuellen Situation der Hochschulbildung in Deutschland (http://www.spiegel.de/unispiegel/studium/0,1518,816082,00.html, letzter Zugriffam 05.03.2012). Diese ausgelöst haben neben der bürokratischen Strukturder Bafög-Vergabe auch die prüfungsintensiven Bachelor- und Masterstudi-engänge. Studierende müssen in oftmals überfüllten Hörsälen und Seminar-räumen versuchen, den Ausführungen der Dozierenden zu folgen. Dieseslehrerzentrierte Modell hält sich seit den Ursprüngen im antiken Griechen-land, als Schriftgelehrte einem Kreis von Schülerinnen und Schülern Wis-sen vermittelten. Zu dieser Zeit war ein solches Vorgehen alternativlos, da

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Offene Zukunft

Verfügungs- und Ori-entierungswissen

Mythos lehrerzent-rierter Unterricht

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Offene digitale Lern-szenarien

Ursprünge von OpenEducation/Offener

Bildung

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es keine anderen Formen der Wissenskonservierung gab. Bewunderungfindet es heute durch die damit verbundene Aura: Ein Experte gibt auf enga-gierte Weise Einblick in sein Wissen, seine Zuhörenden sind dadurch hochmotiviert und stark in den Lernprozess eingebunden. Direkte Evaluationdes Fortschritts ist dadurch ebenfalls möglich. Eingeschränkt wird es jedochdurch die Tatsache, dass Lehrende und Lernende zur gleichen Zeit am glei-chen Ort sein müssen. Hieraus hat sich ein regelrechter Mythos entwickelt.Dieser liegt in der (empirisch nicht klar belegbaren) Annahme, wonach Ler-nen nur in unmittelbaren Kontakt mit einer Lehrperson initiiert werdenkann. Allerdings haben sich die Bedingungen seit der Zeit von Platon mas-siv gewandelt; Anpassungen an diese Veränderungen in Form neuer didak-tischer Modelle wurde jedoch nicht vorgenommen. Stattdessen führte dasstarre Festhalten zu oben zitierten Entwicklungen und negativen Begleiter-scheinungen der Massenbeschulung.

Lernen erscheint heute radikal anders als noch vor zehn Jahren. Nicht nurdass die E-Learning-Welle kontinuierlich über Schule, Hochschule und Aus-und Weiterbildung rollt, so kommt es nun auch zu einer verstärkten Öff-nung von Bildungsanbietern.

Den Anfang machte dabei das Massachusetts Institut of Technologie (MIT)mit dem Projekt Open CourseWare (OCW) im Jahr 2002. Auf der Suche nachneuen Möglichkeiten, Wissen zu verbreiten und Menschen weltweit zu ver-netzen, entschloss man sich, alle Kursmaterialien jedermann frei zugäng-lich zu machen. Wenige Jahre später zog die Open University UK nach undstellt auf der Plattform Open Learn ebenfalls Ressourcen in großer Anzahlfrei zur Verfügung. Diese beiden Initiativen sind mittlerweile sehr bekannt.Es gibt jedoch noch eine Reihe weiterer Angebote. Diese verfolgen denGedanken freie Bildung für alle und bieten dazu eine entsprechende Infra-struktur. Beworben werden Sie mit fulminanten Versprechungen:

»Make the world your study group (openStudy), learn almost anything forfree (Khan Academy), join the world’s first tuition-free online university(University of the People), learn anything with your peers (P2PU), learnanything, anytime, anywhere (iTunesU), your opportunity is here – take it(University of the People), free online education, open to anyone, any-where in the world (OpenLearn), free and openly licensed, accessible toanyone, anytime via the internet (OpenCourseware Consortium), a com-munity devoted to collaborative learning (Wikiversity), turning the digitaldivide into digital dividends using free content and open networks (WikiE-ducator), towards free learning for all students worldwide (OER university),ask, answer, understand (OpenStudy).«

Mit dem vorliegenden Beitrag soll nun ausgelotet werden, was sich hintersolchen Slogans verbirgt, welche Praxisbeispiele es gibt und wie sichdadurch Lernen und Bildung verändern. Dazu wird in einem kurzen theore-tischen Exkurs auf die Unterschiede zwischen Lernen und Bildung einge-gangen und aufgezeigt, welche Bedeutung sich hieraus für offene digitaleLernräume ergeben.

Die oben skizzierten offenen Lernszenarien lassen sich in eine historischeEntwicklung der Öffnung von Gesellschaft und Bildung einordnen. Dabeigeht es um mehr Transparenz, stärke Teilhabe und verbesserte Zusammen-arbeit innerhalb zentraler gesellschaftlicher Bereiche. Konzepte wie offener

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Unterricht versuchen den geänderten gesellschaftlichen Rahmenbedingun-gen gerecht zu werden, indem z. B. eine Humanisierung der Schule ange-strebt wird. Allerdings ist Offenheit in der Pädagogik eher ein Schlagwortoder »Kampfbegriff«denn ein theoretisch fundiertes Konzept. Dies wurdebesonders während der Open-Classroom-Bewegung in England währendder 1960er Jahre deutlich. Es gelang trotz bzw. wegen vieler empirischerStudien nicht, ein einheitliches Konzept von Open Education vorzulegen.

Verbunden war und ist Offenheit mit der Hoffnung auf wirtschaftlichenund gesellschaftlichen Fortschritt. Deutlich wurde dies nach den verheeren-den Ereignissen des Zweiten Weltkriegs. Neue Bildungsmöglichkeiten soll-ten geschaffen werden, auch für Menschen, denen dies bislang nicht mög-lich war. Mit der Open University UK im Jahre 1969 und derFernUniversität in Hagen 1974 entstanden zwei Hochschulen, die diesemTrend verpflichtet waren.

Mit dem Aufkommen innovativer Software wurde es dann immer leichter,Materialien zu verbreiten und Menschen miteinander zu vernetzen. DieUNESCO kreierte dazu 2002 den Begriff Open Educational Resources (offenedigitale Bildungsressourcen) für einen breiten und sozial gleichberechtigtenZugang zu Bildung. OER kann breit gefasst werden als unbeschränkteBereitstellung von Inhalten (die nicht zwingend als Lernmaterialien dekla-riert sein müssen) und der aktiven Bearbeitung neuer bzw. veränderter Res-sourcen. In diesem Sinne definieren auch Atkins/Brown/Hammond (2007)OER als:

»teaching, learning and research materials in any medium that reside inthe public domain and have been released under an open licence that per-mits access, use, repurposing, reuse and redistribution by others with no orlimited restrictions«.

OER werden demnach als ein kollektives Gut betrachtet, das für persönlicheZwecke frei nutzbar ist. Ermöglicht wird dies durch eine liberale Regelungder Nutzungsrechte mittels Creative Commons, die im Unterschied zumstrikten Copyright die Nutzung und Wiederverwendung explizit erlauben(Copyleft) und dadurch zum freien Wissensaustausch beitragen. Aktive Par-tizipation der Lernerinnen und Lerner wird weiterhin durch die Anlehnungan Prinzipien der Open Software gefördert. Nutzerinnen und Nutzer entwi-ckeln Softwareanwendungen gemeinsam anhand von bestimmten Bedürf-nissen. Jeder hat prinzipiell die Möglichkeit, neue Ideen einzubringen unddadurch zur Verbesserung des Produkts beizutragen. Ein sehr bekanntes Bei-spiel hierfür ist die Online Enzyklopädie Wikipedia. Die deutschsprachigeAusgabe wurde im März 2001 gegründet, umfasst aktuell 1.379.460 Artikelund ist damit die zweitgrößte der Welt (http://de.wikipedia.org/wiki/Wiki-pedia:%C3%9Cber_Wikipedia, letzter Zugriff am 19.03.2012).

Im Unterschied zur anglo-amerikanischen Entwicklung konnte sich OERin Deutschland bislang noch nicht richtig durchsetzen. Um die dahinterliegenden Gründe zu erkunden führten Deimann/Bastiaens (2010) eineDelphi-Studie durch. Bei diesem Verfahren werden Expertinnen und Exper-ten zu zukünftigen Entwicklungstrends befragt, um so Vorhersagen ablei-ten zu können. Besonders in Gebieten mit wenig gesichertem Wissen istdie Delphi-Methode gut geeignet. Das ist im deutschsprachigen Raum derFall: Es gibt sehr wenige empirische Studien, die sich mit den Gründen für

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Open EducationalResources

Liberale Nutzungs-rechte

Aktuelle Situationvon Open Educatio-nal Resources inDeutschland

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Geringe Bekanntheitvon OER

Kompliziertes deut-sches Urheberrecht

Technische Aspekte

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Akzeptanz oder Ablehnung von OER auseinandersetzen. Deimann/Bastia-ens (2010) untersuchten in ihrer Studie Hochschullehrerinnen und Hoch-schullehrer und baten sie um eine persönliche Einschätzung des Phäno-mens offene digitale Bildungsressourcen. Im Hinblick auf die zentraleUntersuchungsfrage, Hürden des Einsatzes von OER, zeigten sich nacheiner zweistufigen Befragung mit elf Expertinnen und Experten folgendeBefunde: Als einflussreichster Faktor wurde die akademische Kulturbenannt, die nicht auf das Teilen und die freie Wiedergabe von Inhaltenausgerichtet sei. Zudem gibt es eine starke Fokussierung auf Forschung,wodurch für die Lehre weniger Zeit vorhanden ist. Das wäre eigentlich eineideale Voraussetzung für die Verwendung von OER. Denn es gab in derweitenWelt des WWW bestimmt schon jemanden, der sich mit einer ähnli-chen Aufgabe konfrontiert sah und Material dazu produzierte. Dieseskönnte dann durch liberale Lizenzierung (z. B. über Creative Commons)wieder verwendet bzw. für das eigene Vorhaben angepasst werden. Einenicht unerhebliche Zeitersparnis kann sich dadurch ergeben.

Die zweit wichtigste Hürde liegt in der geringen Bekanntheit und Verbrei-tung von OER begründet. Zwar dürfte mittlerweile der großen Mehrheit derBevölkerung Wikipedia bekannt sein, die dahinter liegende Philosophie desfreien Teilens jedoch nicht so sehr. Die nahezu unbegrenzte Verfügbarkeitvon Inhalten aus dem WWW scheint eine einseitige Konsummentalität zubefördern, die unter »frei« eher »Freibier« versteht und nicht die eigentlicheBedeutung als »Freie Rede«. Deutlich wurde dies beispielsweise, als sichkürzlich ein Sturm der Entrüstung gegenüber dem sog. Anti PiraterieAbkommen ACTA (Anti-Counterfeiting Trade Agreement) entlud. Insbe-sondere jüngere Nutzerinnen und Nutzer fühlen sich durch die angekün-digte Überwachung von Netzaktivitäten pauschal kriminalisiert und forder-ten ein Recht auf freien Download ein. Dem steht allerdings auf deranderen Seite eine immer restriktivere Verfolgung von Verletzungen desUrheberrechts gegenüber. Schon kleine Vergehen, wie das Bild einer ComicFigur auf dem eigenen Blog, werden drastisch geahndet. Eine Zusammen-fassung dieser aktuellen Debatte gibt es in der ZEIT Online (s. dazu denBeitrag in der ZEIT Online »Lernt zu teilen! Bevor es zu spät ist« http://www.zeit.de/2012/12/Urheberrechtsdebatte/komplettansicht). Sie leitetüber zur dritten Hürde, der als unklar aufgefassten rechtlichen Lage.

Das deutsche Urheberrecht wird als kompliziert wahrgenommen und sorgtfür Unsicherheit, welche Inhalte für eigene Zwecke verwendet werden dür-fen. Auch der umgekehrte Fall, wie kann ich meine Materialien anderenfrei zur Verfügung stellen, scheint nicht ausreichend bekannt zu sein. »Wer-den mir meine Ideen dann geklaut?«, solche und ähnliche Fragen tauchendabei auf. Dem versucht die Creative Commons Non-Profit-Organisationmit vorgefertigten Lizenzverträgen zu begegnen. Dadurch können Autorin-nen und Autoren von digitalen und analogen Werken auf einfache WeiseDritten bestimmte Nutzungsrechte einräumen und zudem noch regeln, aufwelche Weise dies geschehen soll (z. B. unter gleichen Bedingungen).Dadurch soll eine möglichst ungehinderte Verbreitung von Wissen geför-dert werden. Auf der Webseite http://de.creativecommons.org/was-ist-cc/gibt es dazu umfangreiche Informationen.

Schließlich wurden technische Aspekte benannt, z. B. dass keine OER-spezi-fischen Suchmaschinen für den deutschsprachigen Raum verfügbar sind.

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Auch virtuelle Datenspeicher (sog. Repositorien) sind noch nicht weit ver-breitet. Eine Anlaufstelle wäre z. B. Slideshare. Hier gibt es ca. 16 Millionenregistrierte Nutzerinnen und Nutzer (http://en.wikipedia.org/wiki/SlideS-hare) und eine nahezu unbegrenzten Auswahl an Themen, die zum Teil zurfreien Verfügung stehen.

Seit der Veröffentlichung dieser Studie 2010 hat sich einiges getan. Der Bei-trag wird auf diese Entwicklungen eingehen und exemplarisch den Trendder Massive Open Online Courses (MOOC) vorstellen, die mittlerweile auchin Deutschland, als Open Courses, angeboten werden.

Da Lernen und Bildung durch diese offenen digitalen Settings immer kom-plexer wird, erscheint es wichtig, eine kurze begriffliche Klärung einzuschie-ben. Der folgende Abschnitt geht aus theoretischer Sicht auf den Unter-schied zwischen Lernen und Bildung ein und versucht dadurch ein besseresVerständnis zur Beurteilung der aktuellen Entwicklungen zu schaffen.

In der Alltagssprache wird häufig von Bildung im Sinne eines Besitzes überWissen gesprochen. Wer Goethe gelesen hat ist gebildet. Dementsprechendorientiert sich auch die Schule an Lehrplänen zur Vermittlung von kulturel-len Gütern, um dadurch Bildung zu gewährleisten. Dies entspricht demklassischen Ideal eines Bildungsbürgers aus dem 19. Jahrhundert, der sichin elitären Kreisen über klassische Literatur oder Musik mit Gleichgesinn-ten, also Ärzten, Richtern oder Beamten unterhielt. Ohne Zweifel hat sichdie Gesellschaft seit jener Zeit stark gewandelt und ist nicht nur politisch,sondern auch in Erziehung und Bildung demokratischer geworden. Inso-fern erscheint ein materielles Bildungsverständnis (Bildung als Besitz überals wertvoll erachtetes Wissen) als überholt. Die heutige (post)moderneGesellschaft ist nicht mehr so klar geordnet im Hinblick auf Berufsbiogra-fien und Bildungsmöglichkeiten, sondern durch eine Reihe von Orientie-rungskrisen gekennzeichnet. Bildung wird dadurch wesentlich komplexerund unbestimmter. Um dies zu verdeutlichen, soll kurz auf den Unter-schied von Bildung und Lernen eingegangen werden, wie er in der moder-nen Bildungstheorie von Marotzki (1990) in Anlehnung an den grundla-genwissenschaftlichen Ansatz von Gregory Bateson beschrieben wird.Lernen wird dabei in der einfachsten Form als Kopplung eines Reizes aufeine Reaktion verstanden. So als wenn der Schüler/die Schülerin »lernt«,dass auf einen bestimmen Klingelton die große Pause beginnt. AndereAlternativen als das Hinausgehen auf den Pausenhof kommen dabei nichtvor, die Handlung ist eindeutig bestimmt. Auf der nächsten Stufe wird eskomplizierter. Der Kontext, der auf einen Reiz folgt, wird nun mitberück-sichtigt. So würde ein solches Lernen dann vorkommen, wenn der Schüler/die Schülerin bei einem versehentlichen Klingeln kurz nach Schulbeginnmerkt, dass jetzt noch keine große Pause sein kann. Es kommt zu eineralternativen Reaktion auf den gleichen Reiz. Diese Reaktion ist jedoch auseinem Rahmen ableitbar, der aus den bisher gemachten Erfahrungen derPerson gebildet wird. Solche Rahmen sind klassischerweise Schule, Familie,Freunde oder Arbeit. Wenn nun diese Rahmen durch Orientierungskrisenbrüchig werden, lassen sich auch Erfahrungen nicht mehr nach bekanntenSchemata einordnen. Die Konstruktion neuer Ordnungen ist dann als Bil-dungsprozess zu verstehen. Allerdings sind solche Bildungsprozesse eherschwer zu initiieren. Denn die Muster zur Einordnung und Bearbeitung vonErfahrungen ist selbstbestätigend und das solange bis Krisen eine Neuorien-

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Trend der MOOCs

Kleiner theoretischerExkurs: Lernen undBildung

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»Wissensarbeiter«und »Lebenslanges

Lernen«

Weltweit gemeinsamlernen

Prinzipien derMOOCs

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tierung und ein Umdenken erfordern. Dies ist gerade bei den aktuellengesellschaftlichen Transformationen nicht selten der Fall.

Somit spielt auch wissenschaftliches Wissen eine viel größere Rolle als nochvor einigen Dekaden. Diesen Gedanken weiterzuführen bedeutet dann, dassVermittlung und Erwerb von Wissen bedeutsamer werden, um den Einzel-nen zur aktiven und selbstbestimmten Teilhabe in der Gesellschaft zu befä-higen. Dabei rückt Lernen über formale Phasen der Schul- oder Hochschul-bildung hinaus und begleitet den »Wissensarbeiter« über die gesamteLebensspanne, was mit dem Schlagwort »Lebenslanges Lernen« ausge-drückt wird. Dass sich dabei für das Bildungssystem neue Aufgaben stellen,wie z. B. lebenslange Lernerinnen und Lerner unterstützt werden können,wird übereinstimmend gefordert – insbesondere hinsichtlich des Umgangsmit den digital vermittelten Informationen, die häufig zu einem Overloadführen und dadurch Lernen einschränken können. Wie kann also Orientie-rung in einer komplexer werdenden Welt erreicht werden? Mit dem geradeeingeführten Bildungsbegriff eröffnen sich hierfür viel versprechende Mög-lichkeiten, die noch weiter ausgeführt werden.

2 Lernen und Bildung als individuelle Massenware:Die Massive Open Online Courses

Ein neuer Trend versetzt die E-Learning-Szene seit kurzem in Aufregung.Massive Open Online Courses (MOOC), entstanden als eine Antwort aufdie aktuellen Herausforderungen der Informationsüberflutung, bieten dieMöglichkeit, mit mehreren hundert Lernenden zusammen verteilt über dieganze Welt an Themen zu arbeiten und das auf völlig neue Weise. Dennnicht wie in traditionellen E-Learning-Kursen gibt es keine Lektüreliste bzw.Literaturempfehlungen, sondern es ist den Teilnehmenden völlig freigestellt, welche digitale Ressource sie zur Bearbeitung der Themen nutzenmöchten. Es gibt auch keine Prüfungen, um das Gelernte nachzuweisenoder zu zeigen, welche Art von Kompetenzen sich entwickelt haben. Eswird vielmehr davon ausgegangen, dass:

»You are NOT expected to read and watch everything. Even we, the facilita-tors, cannot do that. Instead, what you should do is PICK AND CHOOSEcontent that looks interesting to you and is appropriate for you. If it lookstoo complicated, don't read it. If it looks boring, move on to the next item«(http://change.mooc.ca/how.htm, letzter Zugriff am 09.03.2012).

Die Kursleiter (hier als Facilitators bezeichnet) überlassen es also den Ler-nenden selbst zu entscheiden, was für sie von Interesse ist. Es ist dabei eineRollenverschiebung zu erkennen, indem klar gemacht wird, dass im Kurskeine Experten auf einer Bühne stehen und auf alle Fragen eine passendeAntwort haben. Stattdessen hat man es hier mit Menschen auf »gleicherAugenhöhe« zu tun, die eher unterstützend als Coachs zu Verfügung ste-hen. Diese werden als »Guide on the Side« bezeichnet in Abgrenzung zum»Sage on the Stage« (Bullen/Janes 2007). Die Arbeit im MOOC soll sichidealerweise an folgenden Prinzipien orientieren. Zunächst sollen Informa-tionen auf möglichst vielen digitalen Wegen zusammengetragen werden(aggregate), z. B. über Blogposts oder Nachrichten auf Twitter. Diese vielfälti-gen Informationen sollen dann vom Lernenden »irgendwie« geordnet bzw.

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aufbereitet werden (remix). Dazu wird empfohlen, sich beispielsweise einBlog anzulegen, um damit die Informationsflug zu ordnen mittels Katego-rien. Weitere netzbasierte Anwendungen und Dienste wie Facebook, Flickr,YouTube können auch genutzt werden. Nichts scheint hier unmöglich zusein. Der dritte Schritt im MOOC-Lernprozess dreht sich dann darum, ausden gefundenen Informationen einen eigenen Beitrag zu erstellen (repur-pose). Es soll dabei nicht nur wiedergegeben werden, was andere bereitsgesagt haben, sondern eigene Ideen entstehen. Wann eine eigene Idee ent-standen ist, bleibt jedoch unklar. Die Lernenden werden ermuntert, nichtimmer von vorne anfangen zu müssen – ein bekanntes Prinzip des wissen-schaftlichen Arbeitens: Auf den Schultern von Riesen stehen. Damit dasNeue auch von anderen gefunden werden kann, sollte es im vierten undletzten Schritt weiter gegeben werden (feed forward). Dass Teilen eigenerErgebnisse, die vielleicht noch nicht ganz ausgereift sind, nicht für alle Ler-nenden eine einfache Aufgabe ist, wird von den Kursleitern explizit hervor-gehoben. Es sei schlussendlich immer eine individuelle Entscheidung, wasund mit wem man teilt. Anderseits ist ein Fortschritt ohne die Bereitschaftzu teilen schwierig und wird daher auch wertgeschätzt. Die konkreteUmsetzung des Teilens ist dann relativ unkompliziert über Tools wie Twit-ter oder die RSS-Technologie.

MOOCs waren zu Beginn noch über eine Lernplattform (Moodle) organi-siert, haben sich nun aber noch weiter geöffnet und bieten lediglich eineKurswebseite als zentrale Plattform zur Orientierung (siehe z. B. http://change.mooc.ca/). Um diese herum soll sich dann ein Netz von Ressourcenund Aktivitäten entspinnen (Abbildung 1).

Abb. 1: Schematische Darstellung eines MOOC (Screenshot des Videos »What is a

MOOC?«, Quelle: http://www.youtube.com/watch?v=eW3gMGqcZQc)

Der Einfluss von MOOCs auf E-Learning-Praktiken ist noch nicht erkenn-bar. Daher soll im folgenden die gegenwärtige Diskussion nachgezeichnetwerden, um daraus Schlussfolgerungen ableiten zu können, wie Lernendeund Anbieter von E-Learning von den offenen Online-Kursen profitierenkönnen.

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Fernlehrkurse als Vor-läufer von MOOCs

Externe Erfolgskrite-rien

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Angesichts der Neuartigkeit von MOOCs ist eine verbindliche Einschätzungder Potenziale noch nicht zu erwarten. Stephen Downes, einer der MOOCFacilitators, schreibt dazu dann auch:

»I’m generally pretty reluctant to compare MOOCs with what went before,and I’m generally pretty reluctant to suggest how MOOCs improve on theprevious model, because what we’re trying to do with MOOCs is reallysomething very different from what was attempted before. The best practi-ces that previously existed, insofar as they were best practices at all, werebest practices for doing something else.

MOOCs don’t change the nature of the game; they’re playing a differentgame entirely« (http://halfanhour.blogspot.com/2012/03/what-mooc-does-change11.html).

MOOCs werden damit als eine einzigartige Gattung definiert (sui generis),die ohne historische Vorläufer in der pädagogischen Geschichte daherkommen. Eine solche Sicht ist problematisch, da es durchaus verwandteEntwicklungen gab, nämlich in der Tradition des Fernstudiums. So gab esbeispielsweise im Rahmen der »Correspondance Education« ein demMOOC sehr ähnliches didaktisches Design. Entstanden durch die Industria-lisierung in England ab der Mitte des 19. Jahrhunderts, konnten nun auchsog »Learners at the back door« (Wedemeyer 1981) ein geleitetes (Fern-)Stu-dium beginnen. Neben der ökonomischen Perspektive stand auch dashumanistisches Ziel im Zentrum, Menschen aus allen sozialen SchichtenZugang zu Bildung zu ermöglichen. Ermöglicht wurde dies durch den Ein-satz (damals) moderner Technologien zur Unterstützung und Anleitungindividueller Lernprozesse. Die University of London wurde 1858 so zurersten Hochschule, die Studienabschlüsse für Fernlehrkurse anbot. Zwar gabes ein klar vorgeschriebenes Curriculum, jedoch ermöglichte die Kursgestal-tung den Lernenden ein hohes Maß an Freiheit, das weit über alles damalsbekannte hinausging.

Im weiteren Diskussionsverlauf wurde betont, dass das Ziel von MOOCs imExperimentieren von digital unterstützten Lernmöglichkeiten und wenigerim Vermitteln von Inhalten liegt.

»MOOC provides an environment upon which learning with complex lear-ning ecology is experimented and explored, so as to inform learners, tech-nologists, educators and administrators (k-12, HE) and managers, engineersand learners from various businesses on the pros and cons of learning usingvarious platforms or spaces in a complex digital landscape« (http://suifai-johnmak.wordpress.com/2012/03/05/change11-cck12-value-of-mooc/).

MOOCs sollen Kooperationen und Kollaborationen fördern, können dafürjedoch keine Garantie abgeben. Es hängt somit von »externen« Kriterienwie individuelle Motivation, Gruppendynamik etc. ab, wie erfolgreichMOOC für den Einzelnen wie für die Gruppe sein können. Die radikaleOffenheit und die Abkehr von traditionellen akademischen Traditionenwerden als Herausforderungen heutiger Weiterbildung aufgefasst.

»MOOCs (...) are more a threat to current university continuing educationdepartments than they are to the traditional credit programs. In recentyears, most university continuing education departments have been forcedto move away from providing a free (or very low cost) public service to

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adult learners. Instead their mandate is to to provide profit to support themore formal side of the university. MOOCs are a direct challenge to thispart of conventional universities« (http://www.tonybates.ca/2012/03/03/more-reflections-on-moocs-and-mitx/).

Auch in Deutschland sind MOOCs angekommen. Im Jahr 2011 fand der

Open Course Workplace Learning 2011 (ocwl11) statt. Er bietet ähnlich demGrundgedanken des MOOC einen Einstieg zu jeder Zeit, egal wie weit derKurs schon vorangeschritten ist. Der ocwl11 ist an eine Lehrveranstaltungder Universität Tübingen gekoppelt und öffnet diesen für alle an E-Lear-ning-Interessierten. Es gibt zu jeder Kurseinheit (die jeweils zwei Wochendauert) Basisliteratur zum freien Download auf der Kurswebseite. DieZusammenarbeit zwischen eingeschriebenen Studierenden und externenTeilnehmenden ist klar geregelt. Die Studierenden setzen sich im Seminarmit dem vorgegebenen Thema auseinander und stellen die Ausarbeitungenals sog. Reports den externen Teilnehmenden auf der Webseite zur Verfü-gung und sollen damit einen weiteren Austausch anregen. Dazu gibt es eineweitere Besonderheit dieses Open Course, die so nicht im ursprünglichenMOOC vorgesehen war, die Kurspaten. Damit gemeint ist:

»>PatInnen< …, die jeweils die Patenschaft für ein Thema übernehmen.Die PatInnen machen es sich zur Aufgabe, auf die Berichterstattung derReporterInnen [bzw. Offline-Studenten] zu antworten mit weiterführendenIdeen, Anregungen und Feedback (z. B. im eigenen Blog) um so den Dialogzwischen Innen und Außen anzustoßen und weiterzuführen. Sie überneh-men damit eine Fürsorgepflicht für die Inhalte, die in den Offline-Phasenerarbeitet werden, durchaus auch im Sinne einer »Kontrolle« von allzu pra-xisfernen und theoretischen Überlegungen« (http://www.jaegerwm.de/2011/11/ocwl11-einheit-1-knowledge-building-und-offenes-lernen/).

Die Universität Frankfurt/Main veranstaltet ab April 2012 den Open Course

2012 (opco12) zusammen mit verschiedenen Partner aus dem E-Learning-Bereich (z. B. e-teaching.org). Ähnlich dem Vorbild aus den USA gibt esbeim opco12 nur eine Webseite als zentrale Anlaufstelle (http://opco12.de).Dort wird folgendes Ziel ausgegeben:

»Ziel des Kurses ist, heute ermittelte technologische Trends in ihrer Wir-kung für den Bildungsbereich auf den Prüfstand zu stellen. Die bildungs-technologischen Entwicklungen der letzten 40 Jahre haben gezeigt, dassviele propagierte Konzepte, Technologien und Werkzeuge schnell wiederaus der Diskussion verschwunden sind. Daher sollen auf Basis des HorizonReports in den 14 Wochen durch Diskussionen, Beiträge und Reflexionenim Netz die Fragen erörtert werden: Was kann konkret erwartet werden?Woran kann angeknüpft werden? Wie nachhaltig können die Entwicklun-gen eingeschätzt werden? Diese und weitere Fragen werden theoretisch undpraktisch, konzeptionell und methodisch mit Hilfe des Horizon Report imRahmen des OpenCourse 2012 diskutiert, wobei die thematisierten Ansätzeund Beispiele alle Bildungsbereiche berühren können.«

Das Thema ist somit klar auf ein technikaffines Publikum zugeschnitten.Auch ist die Auseinandersetzung weniger offen als bei den klassischenMOOCs, da ein Report diskutiert werden soll. Die Kursleiter betonen dannzwar, dass es keine vorgegebenen Lernziele und keine Abschlüsse gibt. Aller-dings ist die Vorgabe eines Lerngegenstands eher untypisch. Es kann als

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MOOC in Deutsch-land

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7.22 Open Education: Offene Bildung und offenes Lernen

Erfahrungen und»Lessons Learned«

»Lurking«

Open Courses als Bil-dungsprozess

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Reaktion auf den im Jahr davor durchgeführten Open Course betrachtetwerden, der keine Inhalte vorgab.

Aus den im Netz zugänglichen Berichten, z. B. in Blogs der Teilnehmenden,können Erfahrungen nachgezeichnet werden. Eine kurze und bündige Ein-schätzung zum Open Course 2011 gibt dieser Teilnehmer:

»Erfreulich: Mir gefällt, dass ich bei dem Kurs viele neue Bildungsbloggerkennen gelernt und bei mir bekannten weitere Vorzüge entdeckt habe, diesie mir voraus haben. Mir gefällt, dass ich diese Art von Kurs erleben durfteund das Gefühl habe, etwas gelernt zu haben, wenn ich auch nicht genauweiß was.

Weniger erfreulich: Mir missfällt, dass ich wieder mehr am Computer geses-sen habe als geplant. Mir missfällt, dass ich zu den vielen anderen Blogsjetzt auch noch diesen aufgemacht habe und dadurch dazu angeregt werde,mehr über opco11 zu schreiben, als ich es sonst wohl getan hätte. (Immer-hin ist nicht alles Microcontent, sondern vieles nur Nano-. Das kostet weni-ger Zeit, aber immer noch zuviel.)« (http://fontanefanopco11.blogspot.de/2011/07/anfang-einer-auswertung-zu-opencourse.html)

Fast schon unvermeidlich für eine kollaborative Sozialform, wird auch imOpen Course das Phänomen des Trittbrettfahrers, auf englisch lurkinggenannt, thematisiert:

»Warum tun sie es aber (noch) nicht? Gründe dafür sind so vielfältig, wieMenschen unterschiedlich. Bei mir selbst kann ich folgende Gründe für»lurken« feststellen:

■ da jeder meinen Beitrag lesen könnte, möchte ich ihn korrekt formulie-ren und denke solange darüber nach, bis irgendwie die richtige Zeit vor-bei ist

■ ich habe das Gefühl, ich bin noch nicht so im Stoffgebiet vertieft, dassich schon etwas für andere wesentliches dazu sagen könnte, was nichtschon gesagt wurde

■ und dann ist es manchmal schlicht und ergreifend die Zeit, die fehlt«(http://bildungscafe.wordpress.com/2011/12/21/lurker-in-moocs-ocwl11/).

Eine tendenzielle Überforderung durch chronischen Zeitmangel klingt hier-bei an. Traditionelle Erfahrungsmuster scheinen nicht weiterzuhelfen, zuneuartig sind die Strukturen des Open Course. Es handelt sich damit,gemäß der zuvor gemachten Unterscheidung zwischen Lernen und Bil-dung, um einen Bildungsprozess, d. h. einem Prozess zur Herstellung vonOrientierung in offenen komplexen Umgebungen.

Aufgegriffen wurde die Problematik des offenen Raums in dieser Diskus-sion:

»Jedenfalls wurde darüber debattiert einen geschlossenen Bereich für dieje-nigen, die sich nicht trauen, einzurichten. Aber untergräbt so ein Bereichnicht die Philosophie und Absicht, die hinter einem offenen Kurs steht?Na ja, vielleicht nicht, wenn man offen auch im Sinne von offen für diePräferenzen aller, die an einem solchen Kurs teilnehmen möchten, defi-niert. Dazu gehören dann sicherlich auch diejenigen, die sich zunächst ein-mal nicht öffentlich äußern möchten. Der geschlossene Bereich sollte dabei

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natürlich in erster Linie als Transitionsmedium zur Öffnung betrachtet wer-den« (http://www.jaegerwm.de/2011/11/ocwl11-kick-off-des-open-course-workplace-learning-2011/).

Dem Wunsch wurde im Open Course ocwl11 entsprochen und eingeschlossenes Forum eingerichtet (http://ocwl11.wissensdialoge.de/forum/). Ein solcher Schritt reflektiert auch die Besonderheit der deutschen Kulturdes Datenschutzes und der hohen Bedeutung des Rechts auf informatio-nelle Selbstbestimmung. Bislang ist ein solcher Schritt die Ausnahme undwäre für die nordamerikanischen MOOCs nahezu undenkbar. Auf der ande-ren Seite wird durch solche Reibungspunkte deutlich, wie offene Kurse alseigenständiges Format sich selbst regulieren und ihre Überlebensfähigkeitsichern können.

Bei einem neuartigen Format wie dem Open Course taucht rasch die Fragenach der Beteiligung auf. Wie auf untenstehender Abbildung zu erkennenist, nahm die Partizipation an verschiedenen Aktivitäten (z. B. Teilnahmean Video-Übertragungen) im Open Course 2011 kontinuierlich ab.

Abb. 2: Beteiligungsverlauf des Open Course 2011 (Quelle: http://blog.studiumdigi-

tale.uni-frankfurt.de/opco11/files/2011/09/Folien_OPCO_GMW2011.pdf)

Auch aus anderen offenen Kursen sind ähnliche Zahlen bekannt. Einanfänglicher Neuigkeitseffekt verblasst im Laufe der Zeit. Die verbleibendenTeilnehmerinnen und Teilnehmer sind oftmals durch persönliche Netz-werke gut in den Kurs eingebunden und werden damit stärker zum Mitma-chen angetrieben als Personen, die eher unverbunden sind.

Noch ist offen wie solche Statistiken zu interpretieren sind. Denn es istja ein erklärtes Ziel des Open Course, eine Plattform für individuelle undunverbindliche Lern- und Bildungsprozesse zu schaffen. Es gibt somit auchkeine gewünschte oder zu erreichende Beteiligungsquote, z. B. dass proWoche 100 Blog Beiträge geschrieben und mit dem jeweiligen Kursnamen

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Deutsche Kultur desDatenschutzes

Herausforderung derBeteilung

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7.22 Open Education: Offene Bildung und offenes Lernen

WeiterführendeFragen

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getaggt werden müssen. Vergleichbare Maßstäbe (Benchmarking) zu findendürfte dann eine wichtige Herausforderung für zukünftige MOOCs sein.

Aus den eben dargestellten Erfahrungen ergeben sich weiterführende Fra-gen, die von den Kursleitern aufgeworfen wurden (http://www.slides-hare.net/jrobes/ist-die-zukunft-des-lernens-offens/download). Dabei gehtes u. a.. um die Art von Zielgruppen und Themen. Sind also MOOCs, sowie ursprünglich proklamiert, wirklich für alle offen und geeignet? Oderbedarf es dafür spezieller Kompetenzen? Welche könnten dies sein? Danngeht es um die Rolle der Kursleitung und wie diese die Teilnehmendenunterstützen können. Welche Art von Unterstützung ist überhaupt »sinn-voll« gemäß der MOOC-Logik?

Auch tauchen Fragen nach Orientierung und Struktur eines offenen Kursesauf. Gibt es vielleicht so etwas wie eine ideale Infrastruktur? Damit hängtsicherlich auch die Frage nach der Motivation und Rekrutierung von Teil-nehmenden zusammen. Welche Strategien gibt es dafür?

Eine ebenso bedeutsame Frage ist schließlich die nach dem Platz von OpenCourses in der heutigen Bildungslandschaft. Zwar gibt es bereits Anbieteraus der Hochschulbildung (z. B. Universität Tübingen), doch wie sieht esmit der betrieblichen Weiterbildung aus? Für welche Formen der Weiterbil-dung könnte ein MOOC praktikabel sein? Wie können Leistungen, die imMOOC erworben wurden, sichtbar gemacht werden? Mit dem Projekt OpenBadges (https://wiki.mozilla.org/Badges) versucht Mozilla genau da anzu-setzen und eine spezielle Infrastruktur zu entwickeln. Informelle Lernpro-zesse sollen damit leichter dokumentierbar werden. Ähnlich dem Backpa-cker, der von seinen verschiedenen Stationen Aufnäher auf seinemRucksack zur Schau stellt, sollen mit Badges erworbene Fähigkeiten aus»Lernreisen« nachgewiesen werden (Abbildung 3).

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Open Education: Offene Bildung und offenes Lernen 7.22

Abb. 3: Mozilla Open-Badges-Infastruktur (Quelle: https://wiki.mozilla.org/

File:Badge-diagramm-2.2.pdf)

Mit dem Angebot auf freie Bildung reagieren die Hochschulen auf denDruck des Spannungsfelds zwischen pädagogischen und ökonomischenAnsprüchen. Dies klingt zunächst paradox, da sich mit Open Courses ja»kein Geld verdienen lässt«. Das wäre jedoch zu kurz gedacht. Offene undkostenfreie Lernarrangements werden nämlich außerhalb des eigentlichenCurriculums angesiedelt und sind somit Experimentierraum für interes-sierte Nutzerinnen und Nutzer. Nicht selten wechseln Lernerinnen und Ler-nern dann in den kostenpflichtigen Raum, um eine vollwertige Ausbildungin Anspruch zu nehmen. Vor dem Hintergrund von umfangreichen empiri-schen Studien konnte die Open University UK die folgenden Stufen einerLernreise nachzeichnen (Lane/Law 2011):

1. Bewusstsein (Awareness) – die Universität und ihre Programme werdendurch offene digitale Bildungsressourcen bewusst wahrgenommen,

2. Interesse – bestimmte offene Angebote werden konsumiert,

3. Engagement – die Universität wird für weiterführende Informationen zuStudienmöglichkeiten kontaktiert,

4. Commitment – das Angebot für ein formales Studium wird ange-nommen.

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Schlussfolgerungenfür das E-Learning

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7.22 Open Education: Offene Bildung und offenes Lernen

OER als USP

Voraussetzungen fürdas Lernen im offe-

nen komplexenRaum?

Spannungsfeld zwi-schen Standardisie-

rung und Individuali-sierung

Bedeutung des sozia-len Raums

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Offene Bildungsangebote können somit als wirkungsvolles Instrument zurRekrutierung von Studierenden sowie als Möglichkeiten für informelles Ler-nen eingesetzt werden. Die strategische Ausrichtung einer Bildungseinrich-tung kann dadurch geschärft werden, da OER (noch) so etwas wie einenUSP darstellen. Beispielhaft ist das am MIT in Boston zu sehen, die sich mitdem MIT Open Course Ware (OCW) ein mittlerweile weltweit anerkanntesPortal geschaffen hat.

Weiterhin bieten offene digitale Kurse den Vorteil der Skalierbarkeit, d. h.sie können auf die jeweiligen Bedingungen optimal zugeschnitten werden.Vorstellbar sind so auch MOOCs mit 20 oder mit 2000 Teilnehmerinnenund Teilnehmen, was in den nordamerikanischen MOOCs auch der Fallist.

Bereits bei der Darstellung der Lernerfahrungen aus MOOCs ist angeklun-gen, dass die Arbeit in solch einem offenen Raum nicht voraussetzungslosist. Auch durch die Vorgaben der Kursleiterinnen und Kursleiter ergebensich bestimmte Anforderungen. Von zentraler Bedeutung dabei ist dieBereitschaft, sich auf Neues und Unbekanntes einzulassen. Dazu notwendigist Orientierungswissen, das weiter oben als Teil eines Bildungsprozessesbeschrieben wurde. Dabei geht es um eine möglichst umfassende Auseinan-dersetzung des Menschen mit sich selbst und seiner Umwelt. Eine einseitigeVerkürzung, z. B. auf ökonomische Verwertbarkeit, ist zwar allgegenwärtig(beispielsweise bei der Bologna-Reform), führt jedoch am eigentlichen Zielvon Bildung vorbei. MOOCs können hier einen Raum zum Experimentie-ren schaffen, wobei die dabei gemachten Bildungserfahrungen dann auchnutzbringend für formale Lernprozesse sein können. In dem Maß wiejedoch Anbieter versuchen, einen MOOC als ökonomisches Kapitel zu ver-werten, untergraben sie das Bildungspotenzial.

3 Zur Zukunft des offenen Lernens – möglicheSzenarien

Gegenwärtig sind viele akademische Traditionen und Gepflogenheiten imUmbruch. Die stark wachsende Bedeutung von E-Learning, insbesonderevon Social Software befördert ein Umdenken bzw. Neudenken von liebge-wonnenen Gewohnheiten. So könnte beispielsweise auch die sog. »Vier-Schritte-Pädagogik« (durchgenommen – auswendig gelernt – abgefragt –vergessen), die heute vielfach die Situation an Hochschulen und im E-Lear-ning bestimmt, ein wohlverdientes Ende finden. Auf der anderen Seitescheint das radikal offene Format MOOC noch nicht ausreichend erprobtund empirisch geprüft, um als eine sinnvolle Erweiterung bzw. Ergänzungzu fungieren. Damit entsteht ein Spannungsfeld zwischen Standardisierungund Individualisierung, dem mit folgenden exemplarischen Szenarienbegegnet werden könnte.

Lernen und Bildung finden seit jeher in sozialen Kontexten wie Klassenzim-mer oder Seminarraum statt. Die Bedeutung des Sozialen wurde bislangjedoch nicht so hoch eingeschätzt, sondern kognitive Aspekte des Wissens-erwerbs standen im Vordergrund. Mit der Öffnung von Anbietern und demÜberschreiten von Grenzen bekommt das Soziale wieder mehr Bedeutung.Durch die quasi permanente Verfügbarkeit von Interaktions- und Kommu-

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Open Education: Offene Bildung und offenes Lernen 7.22

nikationsmöglichkeiten auf sozialen Netzwerken wie Facebook und vonKooperations- und Kollaborationsmöglichkeiten auf offenen Plattformenwie P2P-University oder Open Study Group ist Lernerfolg somit auch stärkerabhängig von sozialen Komponenten. Für E-Learning-Anbieter ergeben sichdadurch zugleich Chancen und Risiken für die Konzeption von zukünftigenLehrveranstaltungen. Sorgt bei einem Lerntyp das soziale Lernen für eineBereicherung, kann es für einen anderen eine mögliche Bedrohung darstel-len, z. B. wenn die Aufforderung zum Austausch mit bislang unbekanntenLernern auf einem sozialen Netzwerk erfolgt. Wie durch die eher geringeaktive Beteiligung an Formen sozialer Wissensproduktion (z. B. Wikipedia)angezeigt wird, scheint ein produktives Engagement mit sozialem Lernennoch nicht die Regel, sondern eher die Ausnahme zu sein.

Soziales Lernen wird, wie institutionalisiertes Lernen auch, offener undkomplexer und erfordert neue Formen der Orientierung. In diesem Zusam-menhang führt Sting (2005) den Begriff der sozialen Bildung ein als »(...)Entwicklungs- und Qualifizierungsprozess, der der informellen sozialen Pra-xis entspring« und die »(...) gesamte Person in ihren sozialräumlichen Bezü-gen betrachtet« (S. 223). Von herausragender Bedeutung für die Initiierungderartiger Bildungsprozesse ist der soziale Raum als »(...) sozial konstituierteInteraktionsräume, die Zugänge eröffnen und verschließen« (S. 224). Essind damit im Unterschied zu formalisierten Kontexten wie der Schule eherlose zusammenhängende Gebilde mit einer hohen Eigendynamik. Weiter-hin kann eine soziale Bildung keinen universellen Anspruch wie in denallgemeinen Bildungstheorien (z. B. bei Humboldt) erheben, sondern iststets gebunden an die jeweils vorherrschenden sozialen Voraussetzungen.Diese wirken sich auf die bestimmenden Dynamiken des sozialen Raumsaus und sorgen für einen Bewältigungsdruck, der sich als Umgehen mitsozialen Strukturen und Voraussetzungen zeigt. Daraus ergeben sich unter-schiedliche Bildungsoptionen und Perspektiven, je nachdem wie die Bear-beitung des Drucks verläuft. Unterstützend wirkt sich dabei Muße, im Sinnevon freier Zeit zur Selbstreflexion und einer Befreiung aus Notwendigkeitenund Abhängigkeiten des sozialen Raums, aus. Sting (2005) betont an dieserStelle, dass Offenheit eine heute wichtige Voraussetzung für soziale Bildungist, da sich dadurch die Differenzen innerhalb der Individuen einer sozialenGruppe und zwischen Individuen und der Gruppe besser auffangen lassen.

Massive Open Online Course sind stark technikbezogen, nicht nur was dieVerwendung von innovativen Social Software Tools betrifft, sondern auchdie diskutierten Themen. Es geht oftmals um das enger werdende Zusam-menspiel von Technik und Pädagogik und wie damit umgegangen werdenkann. Diese Art von Debatten sind wohl eher für sogenannte Early Adopters

interessant. Es verzerrt damit jedoch die Diskussion, wenn immer nur tech-nikbegeisterte Personen sich beteiligen, die dann die Richtung bestimmenkönnen, bevor es einer breiteren Masse überhaupt bekannt wird. Weiterhinist offen, inwieweit MOOCs für technikfremde Themen, etwa Kunstge-schichte oder klassische Literatur geeignet sind. Dabei könnten sich neuespannende Wechselwirkungen zwischen Inhalt und Technik ergeben. Auchkönnte die Erweiterung des MOOC-Spektrums ein Indikator für die gene-relle Eignung als ernst zunehmende Form der digitalen Erwachsenenbil-dung sein.

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Offene Kurse fürtechnikfremdeThemen?

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7.22 Open Education: Offene Bildung und offenes Lernen

Sichtbarmachen vonLernprozess und

Lernergebnis

Anleitung von Bil-dungsprozessen

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Als eine der zentralsten Erfahrungen aus der Teilnahme an offenen Kursengilt, dass zwar »etwas« gelernt wird, es jedoch nicht genau lokalisiert bzw.gemessen werden kann. So schreibt beispielsweise eine Teilnehmerin desOpen Course 2011:

»Mein Fazit zu diesem Kurs: ja, ich habe was gelernt. Wirklich! Aber meinLernen fand nicht während des Kurses statt« (http://www.designeon.com/2011/06/der-wundersame-lerneffekt-von-chaoskursen/).

Eine dringende Frage ist somit, wie Lernfortschritt und Lernergebnissesichtbar und reflektierbar gemacht werden können. Neben den weit verbrei-teten Blogs bieten sich spezielle E-Portfolio Plattformen, wie z. B. Mahara,an. Damit kann ein persönliches Lerntagebuch erstellt und administriertwerden. Es können damit dann die Erfahrungen aus einem Open Coursenach bestimmten Kategorien eingeteilt und später nachbearbeitet werden.E-Portfolios sind ein wichtiges Instrument für die Kompetenzentwicklungund werden seit einiger Zeit auch in Studiengängen wie dem Master »eEdu-cation: Bildung und Medien« an der FernUniversität in Hagen eingesetzt.

Einen Schritt weiter geht dann die Frage, wie offene Kurse Bildungsprozesseinitiieren und steuern können. Wie in dem kleinen theoretischen Exkursgezeigt wurde, besteht ein signifikanter Unterschied zwischen Lernen undBildung, insbesondere wenn es sich um offene komplexe Räume handelt.Lernen setzt immer ein bekanntes Strategieinventar voraus, das den Prozesssteuert und Wissenserwerb sichert. Wenn nun aber keine oder nur wenigStruktur vorhanden ist, muss der Lernende zwangsläufig sein Repertoireerweitern, um erfolgreich arbeiten zu können. Dies betrifft z. B. sich selbstLernziele zu setzen oder sich überhaupt ein Lernprojekt zu schaffen. Dafürgibt es jedoch wenig Vorwissen, da Schule und Hochschule einem über-kommenen Modell folgen (siehe Mythos lehrerzentrierter Unterricht). Esmuss folglich ein Bildungsprozess eingeleitet werden, der neue Orientie-rung schaffen kann. Dazu tritt der Lernende in ein reflexives Verhältnis zusich selbst. Dieser Prozess ist prinzipiell nicht vorhersagbar und ergebnisof-fen. Wichtige Voraussetzung ist, dass Raum geschaffen wird, Neues auszu-probieren ohne Druck, bestimmte Ergebnisse zu produzieren. Offene Kursegehen in diese Richtung und bieten reichhaltige Bildungspotenziale. Diesesind jedoch noch genauer auszuloten mit Hilfe bildungstheoretischer Kon-zepte (Deimann, in Druck).

Erforderlich ist auch eine gewisse Überzeugungsarbeit, damit der Bildungs-begriff in seiner gesamten Fülle in die aktuelle Diskussion Eingang findet.Denn noch ist eine eher eingeschränkte Sicht auf Bildung gegeben:

»Die Diskussion um das Lernen und die Bildung ist eine vor allem materia-listische Diskussion (geworden), da der Bildungsbegriff seine Bedeutungmehr und mehr in Richtung ökonomischer Nützlichkeit verschobenbekommen hat. Lernprozessoptimierung bedeutet auch, dass die Funkti-onsfähigkeit von Menschen in ökonomischen Prozessen erhöht werdensoll.

Idealistische Bildungsbegriffe werden auf absehbare Zeit weiterhin alszunehmend exotische »Träumereien« gesehen und solange akzeptiert wer-den, wie sie gesellschaftliche Reproduktionsprozesse nicht relevant kritisch

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Open Education: Offene Bildung und offenes Lernen 7.22

zu hinterfragen und zu gestalten beginnen« (http://herrlarbig.de/2011/05/03/thesen-zur-zukunft-des-lernens-opco11/).

4 Zusammenfassung

Der vorliegende Beitrag greift aktuelle Entwicklungen der Open-Education-Bewegung auf und entwickelt daraus Potenziale für das E-Learning. DieBesonderheiten dieser Maßnahmen sind nur dann angemessen zu verste-hen, wenn man sich die traditionellen und von Bildungsinstitutionengepflegten Annahmen des Lernens und Lehrens vor Augen führt. Einedavon betrifft den Mythos lehrerzentrierten Unterrichts, der sich auch imZeitalter des E-Learning hoher Beliebtheit erfreut. Die damit verbundenenLehr- und Lernpraktiken sind jedoch seit ca. zehn Jahren radikalen Verän-derungen ausgesetzt. Das MIT öffnete sich 2002 und machte alle Kursmate-rialien auch für nicht eingeschriebene Studierende frei zugänglich. Gleichestat dann 2006 die Open University UK. Durch diese und weitere Aktivitä-ten, wie z. B. der UNESCO, wurde der Ausdruck offene digitale Bildungsres-sourcen (Open Educational Resources, OER) geprägt.

Da jedoch der bloße unbeschränkte Zugang zu Lehr-/Lernmaterialien keineausreichende Bedingungen für einen erfolgreichen Lernprozess darstellt,wurde in jüngerer Zeit ein weiterer öffnender Schritt vollzogen. Universitä-ten und E-Learning-Institute bieten nun offene Online-Kurse an, mit zumTeil über 1000 Teilnehmenden (sog. Massive Open Online Courses,MOOC). Dieses werden als radikale Umkehr des angeleiteten Lernensbetrieben. Es gibt weder vorgeschriebene Lernziele noch zu absolvierendePrüfungen.

OER und MOOC werden oftmals als völlige Neuerungen, d. h. ohne histori-sche Vorläufer propagiert. Dies ist jedoch keineswegs der Fall, sondern esfinden sich in der Tradition des Fernstudiums durchaus verwandte Modelle,auf die in diesem Beitrag kurz eingegangen wurde. Im nächsten Schrittwurde dann argumentiert, dass sich mit der zunehmende Öffnung vonLernräumen auch die Art des Lernens stark verändert. Insofern sind klassi-sche Lerntheorien auch zu kurz gegriffen, um diese Veränderungen ange-messen zu erklären. Dazu wurde in einem kleinen theoretischen Exkursgezeigt, dass mit dem Bildungsbegriff ein sehr viel geeigneteres Konzeptvorliegt.

Die spannende Frage, wie sich Bildung durch offene digitale Kurse verän-dert, wurde durch ein Review der aktuellen Diskussion angegangen. Abseitsder vielfach zu spürenden Euphorie wurden noch zu meisternde Herausfor-derungen aufgearbeitet. Diese betrafen beispielsweise die Frage, für welcheZielgruppen und Themen MOOCs besonders bzw. weniger geeignet sind.Auch wurden die besonderen Anforderungen an die Lernenden dargestelltund gezeigt, welche Rolle soziale Bildungsprozesse dabei spielen können.

Abschließend wurden thesenartig einige mögliche Szenarien des offenenLernens präsentiert. Hier wird angenommen, dass soziale Bildung eine sehrviel stärkere Bedeutung als bisher bekommen wird. Inwieweit sich der ein-zelne Lernende diese Ressource zu Nutze macht, ist jedoch noch ungeklärt.Für die Zukunft der Bildung ergeben sich durch Offenheit und Teilen sehr

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Entwicklungen derOpen-Education-Bewe-gung

Offene Online-Kurse – radikaleUmkehr des angelei-teten Lernens

Klassische Lerntheo-rien – zu kurzgegriffen

Aktuelle Herausfor-derungen

Szenarien des offe-nen Lernens

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7.22 Open Education: Offene Bildung und offenes Lernen

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vielversprechende Möglichkeiten. Und ganz generell handelt es sich dabeium eine der fundamentalsten Voraussetzungen:

»If a teacher is not sharing what he or she knows, there is no educationhappening« (http://www.educause.edu/EDUCAUSE+Review/EDUCAUSE-ReviewMagazineVolume45/OpennessasCatalystforanEducati/209246).

Literaturhinweise

Atkins, D./Brown, J./Hammond, A.: A review of the open educationalresources (OER) movement achievements, challenges, and new oppor-tunities, William and Flora Hewlett Foundation: 2007.

Bullen, M./Janes, D.: Making the transition to E-learning strategies andissues, Hershey, PA: 2007.

Deimann, M.: Lernen und Bildung der Zukunft: Radikal offen und kom-plex?! Anmerkungen aus Sicht der Bildungstheorie, in: Blaschitz, E./Brandhofer, G./Nosko, C/Schwed, G. (Hrsg.), Die Zukunft des Lernens –Wie digitale Medien Schule, Aus- und Weiterbildung verändern, Boi-zenburg: in Druck.

Deimann, M./Bastiaens, T.: Potenziale und Hemmnisse freier digitaler Bil-dungsressourcen – eine Delphi Studie, Zeitschrift für E-Learning, 5/2010, S. 7-18.

Dueck, G.: Professionelle Intelligenz worauf es morgen ankommt, Frankfurtam Main: 2011.

Lane, A./Law, A.: Sharing and reusing rich media: lessons from The OpenUniversity. Presented at the OCWC Global Conference, Boston, Mass:2011.

Marotzki, W.: Entwurf einer strukturalen Bildungstheorie: biographietheo-retische Auslegung von Bildungsprozessen in hochkomplexen Gesell-schaften,Weinheim: 1990, online unter: http://www.worldcat.org/isbn/9783892712213

Sting, S.: Geselligkeitsformen, soziale Bildung und sozialer Raum. Grenzendes Sozialraums. Kritik eines Konzepts; Perspektiven für Soziale Arbeit,Wiesbaden: 2005, S. 223-233.

Wedemeyer, C.: Learning at the back door: Reflections on non-traditionallearning in the lifespan, London: 1981.

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