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Anja Sattelmacher Modelle in den Schatten gestellt Erwin Papperitz und die Entwicklung einer räumlichen Bewegungsästhetik um 1910 Zusammenfassung Dieser Beitrag untersucht am Beispiel der »kinodiaphragmatischen Projektion« von Erwin Papperitz die gegenseitige Durchdringung und Beeinflussung von technischen und ästhetischen Wissenspraktiken in der Mathematik Anfang des 20. Jahrhunderts. Der Mathematiker Papperitz entwickelte einen Apparat zur Projektion zweidimensionaler Zeichnungen auf einen Projektionsschirm und ersetzte damit die haptische Arbeit mit Modellen im Mathematikunterricht zugunsten der Betrachtung »dreidimensionaler Lichtbilder«. Mit Blick auf das Thema des vorliegenden Bandes rückt Sattelmacher dieses Verfahren in einen »Bezugsrahmen von Praktiken, die sowohl im ästhetischen als auch im wissenschaftlichen Kontext fungieren«, insofern es ihr nicht allein um die epistemologische Entwicklung eines Phänomens der Mathematikdidaktik, sondern auch um die Auseinandersetzung mit einer Geschichte der Medien geht. Claudia Mareis (Hg.), Christof Windgätter (Hg.) Long Lost Friends Wechselbeziehungen zwischen Design-, Medien- und Wissenschaftsforschung 232 Seiten, Broschur ISBN 978-3-03734-192-6 Zürich 2013 Mit Beiträgen von Sabine Ammon, Kathrin Friedrich, Siegfried Gronert, Christiane Heibach, Toni Hildebrandt, Claudia Mareis, Anja Sattelmacher, Jens Schröter, Jens Weber, Reinhard Wendler, Christof Windgätter, Andreas Wolter diaphanes eTexT www.diaphanes.net

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Anja Sattelmacher

Modelle in den Schatten gestellt

Erwin Papperitz und die Entwicklung einer räumlichen Bewegungsästhetik um

1910

ZusammenfassungDieser Beitrag untersucht am Beispiel der »kinodiaphragmatischen Projektion« von

Erwin Papperitz die gegenseitige Durchdringung und Beeinflussung von technischen

und ästhetischen Wissenspraktiken in der Mathematik Anfang des 20. Jahrhunderts.

Der Mathematiker Papperitz entwickelte einen Apparat zur Projektion

zweidimensionaler Zeichnungen auf einen Projektionsschirm und ersetzte damit die

haptische Arbeit mit Modellen im Mathematikunterricht zugunsten der Betrachtung

»dreidimensionaler Lichtbilder«. Mit Blick auf das Thema des vorliegenden Bandes

rückt Sattelmacher dieses Verfahren in einen »Bezugsrahmen von Praktiken, die

sowohl im ästhetischen als auch im wissenschaftlichen Kontext fungieren«, insofern

es ihr nicht allein um die epistemologische Entwicklung eines Phänomens der

Mathematikdidaktik, sondern auch um die Auseinandersetzung mit einer Geschichte

der Medien geht.

Claudia Mareis (Hg.),

Christof Windgätter (Hg.)

Long Lost Friends

Wechselbeziehungen

zwischen Design-,

Medien- und

Wissenschaftsforschung

232 Seiten, Broschur

ISBN 978-3-03734-192-6

Zürich 2013

Mit Beiträgen vonSabine Ammon, Kathrin

Friedrich, Siegfried Gronert,

Christiane Heibach, Toni

Hildebrandt, Claudia

Mareis, Anja Sattelmacher,

Jens Schröter, Jens Weber,

Reinhard Wendler, Christof

Windgätter, Andreas Wolter

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anja Sattelmacher Modelle in den Schatten gestellt Erwin Papperitz und die Entwicklung einer räumlichen Bewegungsästhetik um 1910 1

Wenn seit einiger Zeit von einer sich manifestierenden Tendenz gesprochen wird, »Funktion und Ästhetik der Bilder in ihrer spezifischen Überschneidung von Wissenschaft, Kunst und Technologie zu verorten«,2 so bezieht sich diese Feststellung insbesondere auf den Umgang mit Bildern um 1900. Zu diesem Zeitpunkt wurden die zuvor bereits gewonnenen Kenntnisse im Bereich der Fotografie und des Films in zunehmendem Maße auch in der Wissenschaft, insbesondere der Naturwissenschaft, eingesetzt. Als Beispiel könnten hier die in diesem Gebiet wohl bekanntesten Wissenschaftler Etienne-Jules Marey oder Eadweard Muybridge genannt werden, die sich mit der Aufzeichnung und Abbildung von Bewegung im Raum befassten. Dabei kam es seit Beginn des 20. Jahrhunderts nicht nur zu einer Untersuchung von Bildern in der Wissen-schaft, auch in der Kunstavantgarde wurden nun Techniken untersucht, die der Erforschung der menschlichen Wahrnehmung und der Physis des Sehens galten.3 Bilder, sowie ästhetische Prozesse, die zu deren Erzeugung führten, wurden hier oftmals bereits in die Genese wissenschaftlicher Erkenntnis mit einbezogen. Für Marey hatte, so der bisherige Kanon in der Forschungsliteratur, die ästhetische Komponente seiner im Dienste der Wissenschaft produzierten Bilder kaum eine Rolle gespielt.4 Für andere hingegen, wie etwa den Künstler László Moholy-Nagy, war dieses Zusammenspiel von mechanischer Bildproduktion und künst-lerischer Darstellung von großer Bedeutung.5 In der Folge konnten die Begriffe »Technik« und »Ästhetik« nicht mehr vollständig separat voneinander betrachtet werden. Ein Blick auf die Begriffsgeschichte des Wortes Ästhetik zeigt, dass die Vorstellung eines eigenständigen Schöpfers ästhetischer Formen und Bilder erst langsam an Selbstverständnis gewinnt: So ordnet etwa Meyers Conversations-Lexikon von 1889 die Ästhetik noch als einen Zweig der Philosophie ein,

1. Mein Dank gilt in erster Linie Elias Wegert und Jörg Zaun von der TU Freiberg, die mich freundlicherweise mit dem wenigen Quellenmaterial über Erwin Papperitz versorgten, das überhaupt vorhanden ist. Anke te Heesen und Yvonne Schweizer sei für die kritische Lektüre und die hilfreichen Anmerkungen im Verlauf der Entstehung dieses Textes gedankt.2. Geimer, Peter (Hg.): Ordnungen der Sichtbarkeit. Fotografie in Wissenschaft, Kunst und Technologie, Frankfurt/M. 2004, S. 7.3. Hoormann, Anne: »Taktile Visualität im Bild. Medienwahrnehmung in den 20er Jahren«, in: Lange, Barbara (Hg.): Visualisierte Körperkonzepte. Strategien in der Kunst der Moderne, Berlin 2007, S. 101–109, hier S. 106.4. Vgl. u.a. Braun, Marta: Picturing time. The work of Etienne-Jules Marey (1830–1904), Chicago 1992.5. Flach, Sabine: »Reisen in den Mikroraum. Kunst und Wissenschaft der Avantgarde«, in: Gördü-ren, Petra und Luckow, Dirk: Dopplereffekt. Bilder in Kunst und Wissenschaft, Kunsthalle zu Kiel, Köln 2010 (Kat.-Ausst.), S. 48–57.

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»der im Unterschied von der Metaphysik, die es mit dem Wirklichen, und von der Logik, die es mit jenen Formen zu thun hat, durch welche unser Denken Anspruch auf Richtigkeit und Gültigkeit erwirbt, von den Formen handelt, durch welche ein beliebi-ger Vorstellungsinhalt, sei er nun das Abbild einer Wirklichkeit oder lediglich Erfindung, Anspruch auf Gefallen oder Mißfallen erlangt.«6

Ob etwas Gefallen oder Missfallen findet, hänge von dem Verhältnis ab, wel-ches die einzelnen Teile einer Form zueinander einnähmen. Vom Künstler, oder allgemein, von demjenigen, der diese Formen erzeugt, ist hier nicht die Rede. Meyers Lexikon von 1924 dagegen spricht der Persönlichkeit des Künstlers einen eigenen Stellenwert zu: Ästhetik sei nun

»die Wissenschaft von künstlerisch bedeutsamen Erscheinungen in der Natur, vom Schaffen und vom Wert des Künstlers, vom Kunstgenuß und von den Wertmaß stäben der künstlerischen Beurteilung. Die ›reine Gefühlsauffassung‹ ist für das Gebiet der Ä[stethik] das kennzeichnende seelische Verhalten. Ihre Gegenstände werden in der Natur dargeboten oder durch die Kunst erzeugt.«7

Ziel der künstlerischen Gestaltung sei in diesem Falle die »Erschließung der Gefühlswerte des Lebens in ihrer Fülle und Tiefe«. Indes wird dem Gegenstand der Darstellung »ein gewisses, durch den Abglanz der Persönlichkeit des Künst-lers ihm gegebenes Eigenleben« gewährt.8 Einen »Gefühlswert« schreibt der Künstler Amédée Ozenfant sogar einigen Maschinen zu: So könne ein mecha-nischer Gegenstand unser Gefühl berühren, weil die fabrikmäßig hergestellten Formen geometrisch seien und weil wir auf Geometrie aufgrund ihrer klaren Gesetzesmäßigkeit spontan gefühlsmäßig reagierten. Dieses Empfinden nennt er »intellektuelle[s] Wohlgefallen.«9 Manche Maschinen hätten deshalb eine »ein-drucksvolle Schönheit, weil die zur Zeit verwendeten Materialien tatsächlich relativ einfachen Gesetzen folgen und weil sie diese Gesetze in beinahe graphi-scher Weise übertragen.«10

Mit dem Entwurf einer »wissenschaftlichen Ästhetik« sollte der Begriff »Ästhetik« schließlich im Gegensatz zur philosophischen oder künstlerischen Grundlage auf ein naturwissenschaftliches Fundament gestellt werden. Dieser von Charles Henry 1885 begründete Zweig der Ästhetik vermittelt als eine »Esthétique des formes« zwischen der künstlerischen Moderne und den For-schungen über Sinnesempfindungen, wie etwa synästhetische Phänomene.11 Die

6. »Ästhetik«, in: Meyers Conversations-Lexikon. Eine Enzyclopädie des allgemeinen Wissens, Bd. 1: A–Atlantiden, Leipzig 1889, S. 963–966, hier S. 964.7. »Ästhetik«, in: Meyers Lexikon, Bd. 1: A-Bechstein, Leipzig 1924, Sp. 1006–1009, hier: Sp. 1006–1007.8. Ebd., Sp. 1007–1008.9. Ozenfant, Amédée: Leben und Gestaltung. Teil I: Bilanz des 20. Jahrhunderts; Teil II: Aufbau eines neuen Geistes, Potsdam 1931, S. 156.10. Ebd.11. Barck, Karlheinz, u.a.: »Ästhetik/ästhetisch«, in: ders. (Hg.): Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden, Bd. 1: Absenz – Darstellung, Stuttgart 2000, S. 308–399, hier S. 354.

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Produktion wissenschaftlicher Bilder sowie die Untersuchung von deren Effekt auf den Betrachter wirkten zunehmend aufeinander ein, sodass Anne Hoormann zu dem Ergebnis kommt, dass die »Erweiterung der Kunst um die technischen Medien, wie sie sich im künstlerischen ›Lichtspiel‹ ausdrückt, zeigt, dass nun das Technische in Relation zur ästhetischen Praxis gerückt wird.«12

Die zunehmende gegenseitige Durchdringung und Beeinflussung von Technik und Ästhetik – genauer von Abbildungsverfahren und deren Effekt auf die Wahr-nehmung – lässt sich am Beispiel des Mathematikers Erwin Papperitz (1857–1938) zeigen, der sich als Professor für höhere Mathematik und darstellende Geo-metrie an der Technischen Bergakademie Freiberg der Frage nach der Erzeugung und dem Umgang von dreidimensional wirkenden Bildern geometrischer Kur-ven widmete, die anhand von Licht und Schatten hergestellt wurden. Nicht als Künstler, sondern in der Rolle des Ingenieurs und Mathematikprofessors entwi-ckelte er einen Apparat, den er zur Projektion zweidimensionaler Zeichnungen auf einen dreidimensionalen Projektionsschirm im Mathematikunterricht ein-setzte, den »kinodiaphragmatischen Projektionsapparat«.13 (Abb. 1)

Papperitz’ Verfahren rückt im Zusammenhang mit dem Thema dieses Bandes in den Bezugsrahmen von Praktiken, die sowohl im ästhetischen als auch im wissenschaftlichen Kontext fungieren, insofern, als es hier nicht nur um die epistemologische Entwicklung eines gewissen Phänomens in der Mathematik-didaktik, sondern auch um die Auseinandersetzung mit einer Geschichte der Medien geht:

»Fragwürdig ist bloß, in wieweit ›Medien‹ Teil der Geschichte der Wissenschaften sind und inwieweit wissenschaftliche Erkenntnisse, Theorien und Modelle Teil der Geschichte der Medien sind. Wie es nämlich aussieht, grenzen Wissenschaftsgeschichte und Medienge-schichte nicht mit ihren Hauptportalen aneinander, sondern mit ihren Hinterhöfen«.14

12. Hoormann, Anne: Lichtspiele. Zur Medienreflexion der Avantgarde in der Weimarer Republik, Mün-chen 2003, S. 23.13. Der mechanische Teil des Apparats, der sogenannte Bewegungsapparat, galt bisher als verschol-len. Kurz nach der Fertigstellung dieses Artikels stellte sich allerdings heraus, dass sich am Deutschen Museum ein Exemplar befindet, das zwar der letztendlich patentierten Version sehr ähnelt, ihr aber nicht völlig gleicht. Mein Dank gilt an dieser Stelle Anja Thiele vom Deutschen Museum, die mir die Besichtigung des Apparates im Depot des Deutschen Museums ermöglichte.14. Siegert, Bernhard: Passage des Digitalen. Zeichenpraktiken der neuzeitlichen Wissenschaften 1500–1900, Berlin 2003, S. 11–12.

Abb. 1: Erwin Papperitz, Bewegungsapparat für zwei Lichtspaltplatten am Projektor mit Flächenmodell auf dem Schwungapparat, 1911, Technische Bergakademie Freiberg.

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Um also die epistemische Funktion des hier vorgestellten Apparats aus histo-rischer Perspektive zu ergründen, muss über die Grenze einer einzelnen Dis-ziplin (es wäre zunächst die Mathematikgeschichte) hinausgeschaut und in die »Hinterhöfe« der ihr zwar nicht direkt angrenzenden, aber – wie sich zeigen wird – auch nicht allzu weit entfernte Medien- und Ästhetikgeschichte hinein-geblickt werden. Ziel der vorliegenden Untersuchung ist somit, ein Beispiel für eine zunächst überraschend anmutende Überschneidung unterschiedlicher For-schungsgebiete zu liefern, und zu zeigen, welch enge Verwandtschaft zwischen Mathematikdidaktik und ästhetischer Bildung zu Beginn des 20. Jahrhunderts bestanden hat.15

Die Erfindung

Das Grundprinzip der von Papperitz 1909 patentierten Erfindung beruht auf dem Schatten- bzw. Lichtwurf zweidimensionaler Linien auf einen dreidimen-sionalen Projektionsschirm. »Kinodiaphragmatisch« deutet auf die Kombination von Licht, Bild und Bewegung hin, die Papperitz eingeht, indem er anhand eines mechanischen Bewegungsapparates zwei Lichtspaltplatten – also zwei mit einer oder mehreren lichtdurchlässigen Linien versehenen Dianegativplatten – in eine auf- und ab-rotierende Bewegung versetzt. Vor diese Lichtspaltplatten ist eine Lichtquelle geschaltet, und sobald sich die Linien beider Platten über-kreuzen, kann das Licht durch sie hindurchdringen. Das Diaphragma (griechisch für Gitter/Scheidewand), das bei Papperitz als Projektionsfläche dient, ist hier keine ebene Fläche, sondern ein symmetrisches, dreidimensionales geometri-sches Fadenmodell, etwa eine Kugel, ein Hyperboloid oder ein Kreisring.16 Die-ses Modell wird anhand einer Kurbel horizontal um die eigene Achse gedreht, und was dann auf der Projektionsfläche erscheint, sind zunächst einzelne Licht-punkte, die durch schnellere Rotation des Bewegungsapparats vor dem Auge des Betrachters zu Linien zusammenwachsen. Papperitz nennt sie »Durchblickkur-ven« oder auch »räumliche Lichtglanzlinien«.17 Aus diesem Verfahren ergeben sich zwei entscheidende Neuerungen für den Mathematikunterricht: Erstens werden anhand dieses Apparats Flächen und Kurven in ihrer Kontinuität sicht-bar, die auf dem Blatt Papier oder sogar auf einem plastischen Modell immer nur einseitig zu sehen sind. Zweitens werden so die »grundlegenden Operationen

15. Für eine ausführliche Diskussion und Analyse des hier vorgestellten Materials vgl. die derzeit ent-stehende Dissertation Anschauen, Anfassen, Auffassen – mathematische Modelle im Kontext wissenschaftlicher Praxis 1870–1920 (Arbeitstitel) der Autorin.16. Das Verfahren ist hier ein wenig vereinfacht dargestellt: Denn Papperitz nennt nicht nur den Projektionsschirm, sondern auch die Lichtspaltplatten zeitweilig Diaphragma. Außerdem sah er neben der Projektion zweidimensionaler Linien auf einen dreidimensionalen Schirm auch die Projektion dreidimensionaler Körper auf ein räumliches Modell vor. Hier im Text soll im Folgenden jedoch auf die Funktionskonstellation eingegangen werden, die sich zwei rotierender Lichtspaltplatten sowie eines dreidimensionalen, um die eigene Achse rotierendes Modell als Projektionsfläche bedient.17. Papperitz, Erwin: »Über das Zeichnen im Raume«, in: Jahresbericht der Deutschen Mathematiker-vereinigung, Bd. 20, 1911, S. 307–314, hier: S. 314.

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der reinen Geometrie: das Projizieren, Schneiden und Durchdringen« von Flä-chen photomechanisch verwirklicht.18

Was Papperitz sowohl in seiner Patentschrift als auch in weiteren Artikeln in Fachzeitschriften als einfach zu imitierendes Verfahren schildert, ist in Wirk-lichkeit recht kompliziert. Allein die zwei unterschiedlichen Bewegungsme-chanismen: Das Auf und Ab der beiden Lichtspaltplatten einerseits und die gleichmäßige Rotation des als Projektionsfläche dienenden Modells andererseits erforderten ein hohes Maß an Präzision und aufwendiger Fertigung.19 Papperitz hatte den Einsatz des Geräts sowohl an Schule als auch Universität vorgesehen. Die Firma Heinrich Ernemann in Dresden, welche auch andere kinematogra-phische Geräte zur pädagogischen Verwendung im Unterricht herstellte, stand für die Fabrikation dieser Apparatur unter Vertrag, während die Lehrmittelhand-lung K.F. Koehler aus Leipzig den Vertrieb übernehmen sollte.20 Hierzu sollte es aber nicht kommen, denn der Apparat ging – wohl wegen mangelnden Absatzes oder aufgrund des bald darauf eintretenden Krieges – nicht in die Produktion. Das Ausbleiben eines Verkaufserfolgs soll dennoch nicht darüber hinwegtäu-schen, wie sehr diese Erfindung die kursierenden Experimente von Mathemati-kern, Künstlern und Pädagogen aufgriff, welche eine ganz bestimmte Schulung des Auges heranwachsender Schüler und Studenten anstrebten.

Sprachliche und optische Ästhetisierung

Der Zweck, den Papperitz mit seinem Apparat verfolgte, war in erster Linie ein pädagogischer. In der zum Apparat gehörenden Verkaufsschrift verweist er auf die Schwäche von Schülern und Studierenden in räumlichem Anschauungs-vermögen, die im geometrischen Unterricht, vor allem in der Lehre stereo-metrischer Grundlagen zum Tragen komme – also dort, wo das Erfassen und Analysieren dreidimensionaler Körper im Raum notwendig ist:

»Nicht etwa aus Verständnis für die logische Einfachheit, die anschauliche Klarheit und die universelle Anwendbarkeit der Mathematik, sondern aus einer zumeist angelernten, vielleicht durch die Scheu vor ihrer angeblich enormen Schwierigkeit noch gesteigerten Hochschätzung gesteht man dieser Wissenschaft [der Mathematik d. Verf.] zwar einen großen Bildungswert zu, spricht ihr aber zugleich die Möglichkeit ab, jemals populär zu werden.«21

18. Ebd., S. 310.19. Dies mag einer der Gründe sein, warum sich der Apparat am Ende nicht verkaufte. Er war schlichtweg kaum für Laien praktikabel.20. Aus der Verkaufsschrift von 1912 geht hervor, dass drei Ausführungen von Projektoren mit zugehörigem Platten- und Modellrepertoire angedacht waren: eine recht einfache Ausführung für Mittelschulen zum Preis von 250 DM, eine für höhere technische Lehranstalten, zum Preis von 600 DM sowie eine für Hochschulen und Universitäten, zum Preis von 1000 DM. Die Preise würden heute ungefähr dem Fünffachen entsprechen.21. Papperitz, Erwin: Kinodiaphragmatische Projektionsapparate zur Darstellung geometrischer Figuren in der Ebene und im Raume, Freiberg 1912, S. 2.

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Geometrisches Wissen und mathematische Raumanschauung jedoch wurden im Zuge einer größer werdenden Nachfrage an Ingenieuren mehr und mehr gebraucht, und damit verstärkten sich auch die Stimmen für einen Mathematik-unterricht, der eine Grundlage für die technische Bildung schuf. Ein wirksames Mittel, um nun diesem bisher bestehenden Defizit in der mathematischen Bil-dung beizukommen, sah Papperitz darin, »durch direkte Anschauung das logi-sche Verständnis zu erwecken und zu stützen«, um nicht nur mathematische Probleme klarer zu durchdringen, sondern gar um den Schülern »die Augen zu öffnen und zu schärfen, damit sie Natur- und Kunstgegenstände denkend sehen und das Beobachtete mit geometrischen Begriffen bewußt und klar beschreiben lernen.«22 Auf diese Weise geht der Zweck des Apparates über die rein for-mal-logische Bildung im Mathematikunterricht hinaus. Papperitz’ Ziel war, die Wahrnehmung auf eine bisher nicht bekannte Art und Weise zu schulen, ja gar, dem Betrachter, wie er selbst schreibt, die Augen zu öffnen. Dafür griff er nicht nur auf visuelle Mittel zurück, sondern auch auf verbale. Denn der weiter oben bereits zitierte Bericht, den Papperitz zum Anlass zweier »Experimentalvorträge« auf den Versammlungen Deutscher Naturforscher und Ärzte einmal in Salzburg 1909 und dann in Königsberg 1911 verfasste, ist von einer Sprache geprägt, die sich einer Art visuellen Lautmalerei bedient: Begriffe wie »Durchblick-kurven«, »räumliche Lichtglanzlinien« oder »Scheinflächen«, sowie der Titel des Textes über das Zeichnen im Raume entstammen nicht dem typischen Vokabular eines Technikers oder Mathematikers, sondern sind Stilfiguren, die die im Text beschriebenen Vorgänge bereits sprachlich vorwegnehmen und ästhetisieren. Mittels synästhetischer Metaphern werden beim Leser Bilder erzeugt, die im Zuge des Vortrags durch projizierte Bilder (bzw. deren Abbildungen im Text) untermalt werden. Aus Berichten über optische Projektionsverfahren, die aus dieser Zeit überliefert sind, wissen wir allerdings, dass die projizierten Bilder nicht so reibungslos und frei von Unterbrechung erschienen, wie erhofft.23 So mag die hier gewählte Sprache ein Mittel sein, um die nicht immer einwandfreie Präsentation anhand sprachlich erzeugter Bilder zu untermauern, bzw. deren nicht vollständig zum Ausdruck gebrachten Effekt zu kompensieren.

Das Resultat der photographisch festgehaltenen Aufnahmen dieser Figuren geht dabei über das Erlebnis eines mathematischen Projektionsvortrags (oder, wie Papperitz es nennt: Experimentalvortrags) hinaus: Denn auf den fixierten Ergebnissen ist das Objekt sowohl von jeglichem störenden Hintergrund frei-gestellt als auch in einer Einstellungsgröße abgebildet, die sich dem Betrachter im Hörsaal nicht bieten würde. Auf dem Papier können sie beliebig lange aus der Nähe betrachtet werden, was nicht dem ephemeren Charakter eines pro-jizierten Lichtbildes vor größerem Publikum entspricht. Gleichzeitig lässt sich in der gedruckten Aufnahme die erwirkte Dreidimensionalität nicht mehr glei-chermaßen einstellen wie im Verlauf des Vortrags. Das räumliche Erleben dieser

22. Ebd.23. Vgl. Haussner, Robert: »Das mathematische Institut der Universität Jena«, in: Jahresbericht, a.a.O., S. 47–56, hier S. 51–52.

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Bilder geht dem Betrachter der fixierten Aufnahmen verloren. (Abb. 2) Dass auch die anhand des Apparats im Zuschauerraum projizierten Bilder optisch stilisiert sind, ist Papperitz bewusst: So soll der Apparat eine »Vervollkommnung der geometrischen Darstellungsmittel« sein, und diese könne nicht mehr »vom gewöhnlichen Zeichnen, auch nicht vom Modellieren, sondern nur von den Fortschritten der Projektionstechnik in Verbindung mit der Kinematik und der Photographie erwartet werden.«24 Der neue Apparat soll die Möglichkeiten der optisch bis dahin bekannten Techniken nicht nur nutzen, sondern sie ebenso sichtbar machen. Denn, dies scheint Papperitz’ Erkenntnis zu sein nach langjäh-riger Erfahrung mit der Praxis des Zeichnens sowie dem Umgang mit Modellen im Unterricht:

»Das Zeichnen im gewöhnlichen Sinne, insbesondere das geometrische Linearzeichnen, setzt eine materielle Zeichenfläche voraus, auf welcher man Linien graphisch darstellen kann. Die zumeist ebene Zeichenfläche gestattet unmittelbar nur ebene Kurven darzu-stellen. Die Raumkurven dagegen müssen mittelbar durch ihre Projektionen charakte-risiert werden. Die krummen Flächen kann man nur durch ihre Umrisse andeuten, aber nicht bestimmen. Im Raume selbst kann man nicht zeichnen.«25

Papperitz ergänzt zwar, dass sich plastische Modelle sehr wohl dazu eignen, Raumkurven zu beschreiben: »Leider ist nur das geeignete Modell nicht so schnell zur Hand wie das stets bereite Blatt Papier oder im Vortrag die schwarze Wandtafel.«26 Zudem mache es die opake Oberfläche eines plastischen Modells unmöglich, die Kurven auf dessen Vorder- und Rückseite gleichzeitig zu betrachten. Dieses Problem löst nun der Apparat, indem er anhand des Projek-tionsverfahrens das (als Projektionsfläche dienende) Modell durchsichtig werden

24. Papperitz: »Über das Zeichnen im Raume«, in: Jahresbericht, a.a.O., S. 308.25. Ebd., S. 307.26. Ebd.

Abb. 2: Erwin Papperitz, Kreisbüschel auf einer Kugel, 1911, Technische Bergakademie Freiberg.

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und so die Lichtkurven durch den Körper hindurchscheinen lässt. Seine Bestre-bungen, eine Vervollständigung der darstellerischen Mittel anhand einer Projek-tionstechnik zu erlangen, die eine Verbindung zur Photographie und zum Film herstellt und die versucht, das zeichnerische Problem dreidimensionaler Körper anhand durchsichtiger Flächen zu lösen, ist nicht nur originell, sie ist vor allem paradigmatisch für die Entwicklung medienreflexiver Anschauungsobjekte in der Pädagogik, die sich zwischen Staunen und objektiver Beobachtung bewegen und die nicht mehr zwischen exakter Wissenschaft und Ästhetisierung trennen, sondern beide gar zu vereinen suchen.27 Dem Bestreben, Kurven zeichnerisch, aber gleichzeitig auch räumlich abzubilden kommt Papperitz nach, indem er sich eines Mittels bedient, das einerseits auf einer didaktisch-wissenschaftlichen, und andererseits auf einer Ebene agiert, die mit der Schulung von ästhetischem Empfinden und Geschmack in Verbindung steht. Seine Apparatur beinhaltete neben der didaktischen nämlich auch eine gestaltende Komponente, denn das Gerät war nicht nur für den Unterricht in Mathematik, sondern auch für den kunstgewerblichen Zeichenunterricht vorgesehen.28

Bildliche Plastizität

Um dieses Verfahren im Unterricht an der Technischen Bergakademie Freiberg durchzuführen, war es nötig, auf eine Vielzahl von Modellen und Zeichnungen zurückgreifen zu können. Papperitz’ Sammlung mathematischer Modelle, die er seit Antritt seiner Professur 1892 begonnen hatte anzulegen, bestand über-wiegend aus symmetrischen Rotationskörpern, deren Stäbe weiß bemalt waren, was ihre Wirkung als Projektionswand verstärken sollte. Zusätzlich gab es eine Sammlung von Dias und Lichtspaltplatten mit geometrischen Zeichnungen. Der Großteil der über 200 Objekte wurde von ihm selbst angefertigt, einige Modelle wurden angekauft, unter anderem bei seinem Kollegen Hermann Wie-ner, einem Karlsruher Mathematiker und Förderer der Verwendung mathemati-scher Modelle im Unterricht. Ähnlich wie Papperitz stand Wiener einer Gruppe von Mathematikern nahe, die das Herstellen, Sammeln und Austauschen von Modellen als wissenschaftliche Praxis ausübten. In der Mathematikdidaktik ist diese Entwicklung vor dem Hintergrund zu verstehen, dass es um 1870 in Deutschland zu einem Anliegen von Mathematikprofessoren und -lehrern kam, die Herstellung sowie die Verwendung geometrischer Flächen in den Mathe-matikunterricht mit aufzunehmen. Dabei stand zunächst einmal das Anfertigen sowie das Zeichnen von Modellen im Vordergrund. So forderte etwa Felix Klein bereits seit Antritt seiner ersten Professur in Erlangen 1872, das Modellie-ren neben dem Zeichnen aktiv in den Mathematikunterricht mit einzubinden,

27. Vgl. Ruchatz, Jens: Licht und Wahrheit. Eine Mediumgeschichte der fotografischen Projektion, Mün-chen 2003.28. Papperitz Erwin: Verfahren zur Darstellung geometrischer Figuren durch Projektion beweglicher Lichtspalt-modelle, Kaiserliches Patentamt 1911.

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da auf diese Weise »eine lebendige deutliche Anschauung« erwirkt werden kön-ne.29 Nicht selten wurden zu diesem Zweck die Modelle für die Studentenschaft gut sichtbar in Institutsräumen ausgestellt, um so jederzeit betrachtet werden zu können. Zumeist befand sich die Modellsammlung eines mathematischen Insti-tuts direkt neben dem Seminarraum oder sogar im selbigen. So war es möglich, Modelle im Unterricht vorzuführen und sie den Studenten für die zeichnerische Praxis verfügbar zu machen. An ihnen wurden verschiedene Techniken des geometrischen Zeichnens geübt, allerdings stand hier das einzelne Modell so im Raum, dass es nur von einer relativ kleinen Zuhörerschaft gleichzeitig gesehen werden konnte. Bis etwa 1910 war diese Art von direktem Umgang mit Model-len im Mathematikunterricht an Universitäten und höheren Schulen üblich.

Im Zuge größerer Hörerschaften wurde jedoch die Hörsaalprojektion in eini-gen Institutionen zu einem handlichen Mittel, um möglichst viele Formen im Unterricht zum Einsatz zu bringen.30 Das plastische Modell, welches zuvor noch in der Vitrine ausgestellt war, im Hörsaal auf dem Pult stand oder durch die Reihen ging, konnte nun an die Wand projiziert werden und war so für alle Teilnehmer gleichzeitig und von jeder Position im Raum aus sichtbar. Folglich wurden nicht mehrere Modelle benötigt, um unterschiedliche Kurventypen zu demonstrieren, sondern es genügte eines, dessen Erscheinungsform sich durch Drehung und Projektion im Licht variieren ließ. Diese Art von experimenteller Unterrichtspraxis wagte den Versuch, mathematische Anschauung und optisches Experiment miteinander zu vereinen. Sie brachte neue Anschauungsformen der Mathematik hervor und führte gleichzeitig dem Betrachter eine bildliche Plas-tizität vor Augen. Was vorher noch von Hand gefühlt wurde, konnte nun als projiziertes dreidimensionales Objekt mit bloßem Auge gesehen werden. So schreibt etwa Hermann Wiener 1907 über seine Methode, Drahtmodelle mittels einer Lichtquelle an die Wand zu projizieren:

»[…] der Einwurf, daß das geschaute Modell körperlich, das projizierte flächenhaft erscheine, ist nicht stichhaltig; denn die dem Schirme näher gelegenen Stäbe oder Fäden des Modells erscheinen schärfer als die ferner gelegenen, und dadurch wird das ganze Bild körperlich. Somit löst diese Methode auch die Aufgabe, es soll die Projektion so eingerichtet werden, daß sie stereoskopisches Schauen gestattet.«31

Zeitgleiche Untersuchungen auf dem Gebiet der Psychologie wie etwa die von Hugo Münsterberg 1916 verfasste Studie »Das Lichtspiel« kommen zu ähn-lichen Ergebnissen wie Wiener:

29. Klein, Felix: Vorlesungen über die Entwicklung der Mathematik im 19. Jahrhundert. Ausgabe in einem Band, Berlin 1979 [1926/1927], S. 78.30. Nicht alle Universitäten und Hochschulen, sondern vornehmlich die Technischen Hochschulen griffen auf dieses Verfahren zurück, vgl. Lorey, Wilhelm: Das Studium der Mathematik an den deutschen Universitäten seit Anfang des 19. Jahrhunderts, Leipzig, Berlin 1916, S. 327–328.31. Wiener, Hermann (Hg.): Abhandlungen zur Sammlung mathematischer Modelle, Darmstadt 1907, S. 6.

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»Das Lichtspiel besteht, im Gegensatz zu den plastischen Gegenständen der uns umge-benden realen Welt, aus einer Folge flacher Bilder. Hier können wir nun aber sofort stehenbleiben: Was bedeutet es, zu sagen, daß die Umgebung dem Bewußtsein plastisch erscheint und die Filmbilder flach? Die Psychologie dieses Unterschiedes kann leicht mißverstanden werden. Selbstverständlich wissen wir, wenn wir im Filmpalast sitzen, daß wir eine flache Leinwand sehen, und daß der Gegenstand, den wir sehen, nur zwei Dimensionen hat, rechts-links und oben-unten, aber nicht die dritte Dimension der Tiefe, der Entfernung zu uns oder von uns weg. Er ist flächig wie auf einem Bild und niemals plastisch wie ein Werk der Bildhauerei oder Architektur oder wie die Bühne. Doch das ist Wissen und kein unmittelbarer Eindruck. Keinesfalls haben wir das Recht zu behaupten, daß die Szenen, die wir auf der Leinwand sehen, uns als flache Bilder erscheinen.«32

Ähnlich wie Wiener und Münsterberg argumentiert auch Papperitz: Denn bei den anhand seines Apparats erzeugten Bildern handle es sich, so Papperitz, nicht mehr um mittels graphischer Methoden hergestellte plastische Objekte, sondern um

»optische Erscheinungen. […] Eine solche im Raume schwebende Scheinfläche läßt sich benützen, um auf ihr wie auf einem Blatt Papier allerhand Kurven zu zeichnen, nicht mit dem Stifte oder der Feder, sondern mit Lichtstrahlen, die regelmäßig geführt werden und den Bildträger durchdringen.«33 (Abb. 3)

Was hier in der Geschichte des mathematischen Anschauungsunterrichts geschieht, ist eine Entwicklung von der objektbezogenen Nutzung des Modells – nämlich dessen manuelle Herstellung und sein Herumreichen im Hörsaal – hin zu einer virtuellen Nutzung, nämlich dessen Umwandlung in eine optische Scheinfläche, die zwar sichtbar, jedoch nicht mehr berührbar ist. Schon der Begriff »Scheinfläche« deutet darauf hin, dass der Verzicht auf das haptische Modell akzeptiert wird. War es Felix Klein zu Anfang seiner Beschäftigung mit mathematischen Modellen, also zwischen 1870 und 1890, noch wichtig gewesen, das Modell gemeinsam mit Studenten selbst anzufertigen und anhand von manueller Fertigung das Anschauungsvermögen zu fördern, ging es seinen Schülern Hermann Wiener und Erwin Papperitz vielmehr darum, das Modell in seiner Dreidimensionalität nicht mehr anhand der handwerklichen Modellier-Tätigkeit, sondern vielmehr geistig-visuell zu erfassen. Tritt hierbei das befühl-bare Objekt selbst in den Hintergrund, wird das Auge des Betrachters vor neue Herausforderungen gestellt. Denn, dies stellt auch Münsterberg fest, obwohl man eigentlich wisse, dass selbst ein Bild von einem dreidimensionalen Modell flach

32. Münsterberg, Hugo: »Das Lichtspiel. Eine psychologische Studie«, in: ders.: Das Lichtspiel. Eine psychologische Studie (1916) und andere Schriften zum Kino, herausgegeben von Jörg Schweinitz, Wien 1996, S. 29–103, hier S. 41–42.33. Papperitz: »Über das Zeichnen im Raume«, in: Jahresbericht, a.a.O., S. 309.

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sein müsse, nehme man es dennoch räumlich wahr.34 Das Begriffspaar »plastisch« und »graphisch«, welches Papperitz in seinen Beschreibungen einführt, scheint Münsterbergs Überlegungen auf diesem Gebiet vorwegzunehmen. Indem das neu erfundene Verfahren nun qua Lichtstrahlen virtuelle Figuren erzeuge, sei es, so Papperitz, nicht mehr plastisch, sondern graphisch. Es bediene sich ähnlicher Hilfsmittel wie der Zeichner oder Maler, der auf einer Bildfläche unterschied-liche Figuren hervorbringe. »Zu betonen ist aber, daß wir es hier nicht mehr mit Abbildungen auf ebener Fläche, sondern mit dreidimensionalen Lichtbildern zu tun haben, die man von allen Seiten betrachten kann.«35 Die dreidimensio-nale Wirkung des Objekts gehe trotz einer – durch den Prozess der Projektion stattfindenden – Verflachung nicht verloren, und zwar hauptsächlich deswegen nicht, weil das Auge es eben gewöhnt sei, Dinge dreidimensional zu erfahren.

Zu vergleichbaren Untersuchungen kommt es auch in der Kunstpädago-gik der 20er Jahre des 20. Jahrhunderts, etwa durch den Kunsthistoriker Max Hauttmann (1888–1926), der – ähnlich wie Papperitz – auf eine Kombination von Zeichnung und Projektion im Kunstunterricht zurückgreift. Hauttmann projiziert beispielsweise das Bild einer mittelalterlichen Plastik nicht an eine weiße Wand, sondern auf eine Schultafel, um dort die Konturen des Bildes anhand von Kreide nachzeichnen zu können:

»Ohne besondere Mühe kann zu Vergleichendes auf den gleichen Maßstab gebracht, unmittelbar nebeneinander oder in Zeichnung und Lichtbild direkt aufeinander gelegt,

34. Münsterberg: »Das Lichtspiel«, in: Das Lichtspiel, a.a.O., S. 41ff.35. Papperitz: »Über das Zeichnen im Raume«, in: Jahresbericht, a.a.O., S. 309.

Abb. 3: Erwin Papperitz, Parabel auf einem Kegel, 1911, Technische Bergakademie Freiberg.

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Faltenpartien, Proportionen usw. miteinander verglichen werden. Man kann das Licht-bild über vorgezeichnete Konstruktions- oder Kompositionsschemata werfen […]: Aus dem Demonstrationsverfahren kann in geeigneten Fällen eine Untersuchungsmethode werden.«36

Für Hauttmann ist vor allem wesentlich, dass dem Kunsthistoriker die Mög-lichkeit erhalten bleibt, mit dem Kunstwerk selbst zu arbeiten. Anhand des sogenannten »Durchzeichenverfahrens« werde dieser Umgang mit dem Original zwar verändert, jedoch bleibe die Beschäftigung mit dem Objekt durch eine Weiterleitung der, so Hauttmann, »Erkenntnis des Auges in Hand und Gefühl« dennoch erhalten.37

Papperitz’ Apparat unterscheidet sich von der Methode Hauttmanns insofern, als bei ihm nicht auf der Tafel nachgezeichnet wird, sondern auf einem drei-dimensionalen Körper anhand zweier Lichtspaltplatten, die sich vor einer Licht-quelle auf und ab bewegen. Ähnlich wie bei Hauttmann aber wird das Zeichnen als mathematische Praxis bei Papperitz zu einer Möglichkeit, »die Erzeugung von Kurven und Flächen durch geregelte Bewegung von Punkten oder Linien in das sinnlich Wahrnehmbare [zu] übersetzen.«38 Beiden gemein ist die Betonung der sinnlichen Erfahrung, welche anhand des Durchzeichenverfahrens bzw. der dreidimensionalen Projektion von Flächen beim Betrachter hervorgerufen wer-den könne. Diese Übersetzungsleistung, von der Papperitz hier spricht, hat sich dem Umgang mit dem realen Objekt zwar bereits entzogen, schließt aber den Tastsinn immer noch in die Wahrnehmung mit ein.39

»In gewissem Sinne kann man das immer noch ein Zeichnen nennen: denn es handelt sich auch hier darum, geometrische Gebilde durch Zeichen oder Charaktere darzustel-len, die man zwar sehen, aber nicht befühlen kann und deren Erscheinungsformen sich zugleich der abstrakten Vorstellung von Linien ohne Breite in ähnlicher Weise nähern wie die auf einem Zeichenblatte erzeugten Striche.«40

Diese »scheinbare Greifbarkeit«, wie Anne Hoormann sie nennt, war bereits durch Verfahren wie die stereoskopische Projektion bekannt geworden und wurde bei Papperitz um den Aspekt der Bewegung ergänzt.

36. Hauttmann, Max: »Bemerkungen. Ein Beitrag zur Kunstpädagogik. (Verwendungsmöglichkei-ten des Projektionsapparates in seminaristischen Übungen)«, in: Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft, Bd.16, Nr. 4, 1922, S. 501–505, hier S. 505.37. Ebd.38. Papperitz: »Über das Zeichnen im Raume«, in: Jahresbericht, a.a.O., S. 311.39. Vgl. dazu Hoormann: »Taktile Visualität im Bild«, in: Lange, Barbara: Visualisierte Körperkonzepte, a.a.O., S. 101–109, die sich mit dem Begriff der »taktilen Visualität« hauptsächlich auf Alois Riegl bezieht, sowie Fend, Mechthild: »Sehen und Tasten. Zur Raumwahrnehmung bei Alois Riegl in der Sinnesphysiologie des 19. Jahrhunderts«, in: Lange, Barbara: Visualisierte Körperkonzepte, a.a.O., S. 15–38.40. Papperitz: »Über das Zeichnen im Raume«, in: Jahresbericht, a.a.O., S. 308. Hervorhebung im Original.

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Das Prinzip der Bewegung

Die einzelnen Verfahren, aus denen sich die kinodiaphragmatische Projektion zusammensetzt, waren zum Zeitpunkt seiner Patentierung 1911 keine Neuheit mehr. Bereits seit Mitte des 19. Jahrhunderts verbreitete sich die Stereoskopie, die zwar hauptsächlich als Vergnügungsmittel, aber auch zu wissenschaftlichen Zwecken im Unterricht benützt wurde.41 Die Diaprojektion als Methode zur Betrachtung von Werken im kunsthistorischen Unterricht war unter Bruno Meyer in Karlsruhe und Hermann Grimm in Berlin in den 1880er Jahren aufge-kommen und hatte sich mit der Zeit durchgesetzt. Und auch der Versuch, Bilder (oder zunächst nur Licht) auf einen sich rotierenden Körper zu projizieren, war bereits in den 80er Jahren des 19. Jahrhunderts angestellt worden.42 Auch im mathematischen Unterricht hatten Mathematiker wie Hermann Wiener oder Friedrich Schilling bereits mit Medien wie der epidiaskopischen Projektion, dem Skioptikon oder der stereoskopischen Projektion gearbeitet, um plastische Modelle oder zweidimensionale Zeichnungen vor großer Zuhörerschaft mög-lichst dreidimensional zu projizieren. Allerdings waren die bisherigen Verfahren kaum mit der Verwendung beweglicher Mechanismen vertraut. Papperitz nun kombiniert die bisher bekannten Techniken zur optischen Projektion und treibt das Bestreben einer »räumlichen Anschauung«, eines 3D-Sehens von Linien und Flächen also, auf die Spitze: Er erfindet einen Apparat, der die Methoden der darstellenden Geometrie, d. i. des Grund- und Aufrisszeichnens mathematischer Körper, sowie deren dreidimensionale Umsetzung miteinander vereint. Sein Verfahren unterscheidet sich von den bisherigen Projektionsmethoden dahin-gehend, dass

»von den drei für die Ausführung einer Projektion notwendigen Hauptvorrichtungen: 1. Regulierbare Lichtquelle, 2. Originalbild, 3. Bildschirm […] die erste Vorrichtung beibehalten [wird], während die zweite oder dritte oder diese beiden zugleich durch neue, anders geartete Apparate ersetzt werden, die das vorher nicht vorhandene Bild erst erzeugen (Bilderzeuger).«43

Mit anderen Worten: Ein Bild, welches zuvor zwar durchaus dreidimensional (wie im Falle der stereoskopischen Projektion), zugleich aber feststehend auf eine unbewegliche Fläche projiziert wurde, wurde nun anhand beweglicher Mechanismen erzeugt. Als Originalbild konnten entweder zwei o.g. auf und ab

41. Vgl. Crary, Jonathan: Techniken des Betrachters: Sehen und Moderne im 19. Jahrhundert, Dresden 1996, S. 122ff.42. »Damit es auch in der Projektion an wunderbaren Erfindungen nicht mangele, schlug man in England vor, das Bild statt auf einem weissen Schirm auf einer sich sehr schnell drehenden, langen, weissen Latte aufzufangen. Infolge der Andauer des Gesichtseindruckes macht die kreisende Latte den Eindruck einer runden weissen Fläche. Vielleicht weiss man die hohen Vorzüge einer solchen Pro-jektionswand in England besser zu würdigen, als bei uns.» Neuhauss, Richard: Lehrbuch der Projektion, Halle 1901, S. 78.43. Papperitz: Verfahren zur Darstellung geometrischer Figuren, a.a.O.

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rotierende »Lichtspaltplatten« dienen, oder selbst ein dreidimensionales Modell. Als Bildschirm diente ein symmetrisches rotierendes Fadenmodell. Bei dieser neuen Art der Erzeugung dreidimensionaler sich bewegender Figuren ging es vor allem darum, eine Form des Sehens einzuüben, die die Genese einer Figur aus einer anderen heraus erkennen ließ. Entscheidend war, dass der Betrachter nicht nur »die Gebilde […] in ihrer wahren Gestalt und als ein Ganzes sehen, sondern auch ihre Entstehung und die stetige Verwandlung ihrer Formen beob-achten kann.«44

Hier wird deutlich, warum Papperitz nicht einfach auf die bereits gängigen Verfahren der stereoskopischen Projektion zurückgriff, um ein 3D-Sehen zu evozieren: Für den Nutzen der virtuellen Darstellung geometrischer Körper war nicht allein die Erfahrung von Dreidimensionalität erforderlich, sondern die Kombination von Körperlichkeit und Bewegung, welche eine Fläche im Raum mit Hilfe von Licht vor dem Auge des Betrachters graphisch erzeugte. Nur so war es dem Betrachter möglich, am Entstehungsprozess der Figuren Anteil zu nehmen, anstatt lediglich auf ein fertiges Produkt geometrischer Visualisierung blicken zu können. Erst indem die Lichtkurve langsam auf dem sich drehenden Modell entstand, konnte sie vom Rezipienten vollends nachvollzogen werden. Schulung der Anschauung hieß, unterschiedliche Projektionen (also diverse anhand von Licht gezeichnete Linien) in ihrer Genese auf dem Modell nachver-folgen und nachvollziehen zu können.

»Die bekannten Darstellungsarten erleichtern also dem Lernenden die Bildung klarer Vorstellungen von räumlichen Gestalten noch immer nicht in dem Maße der Vollkom-menheit, das wünschenswert und, wie ich zeigen will, tatsächlich erreichbar ist. Vor allem aber haftet den Zeichnungen und den meisten Modellen noch ein anderer sehr fühlbarer Mangel an: sie können dem Prinzip der Kontinuität, das man in die Methoden und die Erzeugnisse der darstellenden Geometrie hineindenken muß, um ihnen Fluß und Leben zu verleihen, nicht Rechnung tragen. […] Denn alle Zeichnungen und die meisten Modelle sind starr; sie stellen eine unveränderliche Einzelform dar und charakteri-sieren den allgemeinen Typus eines Raumgebildes nur durch ein bestimmtes besonderes Beispiel.«45

Grundlegendes Prinzip der kinodiaphragmatischen Projektion wurde somit die Beweglichkeit der projizierten Linien als auch der Projektionsfläche selbst: Nur wenn sich zwei Lichtspaltplatten alternierend auf und ab bewegten, konnte aus einzelnen Punkten eine Lichtkurve entstehen, die sich dann ihrerseits auf einem sich rotierenden Körper abbildete. Und nur, wenn mehrere Figuren neben- oder besser nacheinander sichtbar wurden, war der Ertrag für die wissen-schaftliche Erkenntnis von Bedeutung.46

44. Papperitz: »Über das Zeichnen im Raume«, in: Jahresbericht, a.a.O., S. 311.45. Ebd., S. 307. 46. Diese Behauptung belegen Lorraine Daston und Peter Galison am Beispiel eines britischen Anatoms der Aufklärungszeit, William Hunter, der der Betrachtung eines einzelnen Gegenstandes nur

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Dieses Interesse für bewegliche, ineinander übergehende Formen wurde damals von vielen Mathematikern geteilt und ist nicht zuletzt auf die Reformbestrebun-gen im Mathematikunterricht seit Ende des 19. Jahrhunderts zurückführen. Die bis dahin betriebene euklidische Geometrie wurde als »zu starr« empfunden, sie gab zu wenig Aufschluss über den tatsächlichen Zusammenhang unterschied-licher Gebilde zueinander. Gleichzeitig erlangte man immer weitere Kenntnisse im Bereich der Funktionentheorie und damit über den Verlauf einer Kurve auf der Ebene und im Raum. Ein Kollege und Zeitgenosse Erwin Papperitz’, Peter Treutlein, stellte in seinem Lehrbuch für den geometrischen Anschauungsunterricht an höheren Schulen 1911 die Notwendigkeit fest, dass Figuren in der neuzeitlichen Geometrie als beweglich und fließend, »in stetem Übergang von einer Gestaltung zur anderen begriffen [werden].« Wenn Schüler den neuesten Stand der mathe-matischen Forschung begreifen sollten, müssten sie »beizeiten daran gewöhnt werden, die Figuren als [sic!] jeden Augenblick veränderlich zu denken […]. Der Auffassung der Figuren als starrer Gebilde kann und muß in verschiedener Weise entgegen gearbeitet werden.«47 Bewegen bedeutet für Treutlein dabei nicht bloß, das Verschieben einzelner Figurenteile gegeneinander, »sondern das Bewegen der ganzen Figur, sei’s in der Ebene, sei’s im Raum. Schon die ersten Unterrichtsstunden der sog. wissenschaftlichen Geometrie haben an zahlreichen und deutlich, d.i. möglichst sinnfällig […] vorzuführenden Beispielen die mög-liche Entstehung der Linie aus der Bewegung des Punktes, die der Fläche aus der Bewegung der Linie abzuleiten, um so der wissenschaftlichen Auffassung gerecht zu werden und zugleich die Raumvorstellung der Schüler möglichst zu üben.«48 Zur Lehre der beweglichen Formen gehöre dabei auch das Drehen, »im besonderen die Umdrehung in der Ebene, [und] das Drehen um eine Gerade im Raum«.49 Papperitz scheint mit seinem Apparat direkt der Aufforderung Treutleins nach Bewegung und Drehung im Raum nachzukommen. Dass diese Forderungen für den Mathematikunterricht hier eine Entwicklung aufgriff, die dem allgemeinen Bestreben nach der Analyse und Darstellung von Bewegung nachkam, spiegelt sich auch in der von Felix Klein und anderen Mathematikern forcierten Meraner Reform, wider, die sich sowohl der angewandten Mathematik im Allgemeinen als auch »der Pflege des funktionalen Denkens« im Raumlehr-unterricht verschrieb und sich auf das »Prinzip der Bewegung« berief.50 Im Zuge der Umsetzung dessen, was unter dem Stichwort »neuere Geometrie« verstan-den wurde, kam es zum Einsatz unterschiedlichster Lehrmittel im Unterricht,

wenig Glaubwürdigkeit, der Folge mehrerer Objekte jedoch eine »bessere Anordnung, Abstraktion und Präzision« bescheinigt. Zit. n. Daston, Lorraine und Galison, Peter: »Das Bild der Objektivität«, in: Geimer: Die Ordnungen der Sichtbarkeit, a.a.O., S. 29–99, hier S. 48.47. Treutlein, Peter: Der geometrische Anschauungsunterricht als Unterstufe eines zweistufigen geometrischen Unterrichts an höheren Schulen, Paderborn 1985 [1911], S. 202.48. Ebd., S. 203.49. Ebd.50. Die detailreiche und aufschlussreiche Studie von Katja Krüger stellt die Zusammenhänge von funktionalem Denken und dem zunehmenden Bedürfnis nach beweglichen Figuren in der Mathema-tik in einen gesellschaftshistorischen Kontext, vgl. Krüger, Katja: Erziehung zum funktionalen Denken: zur Begriffsgeschichte eines didaktischen Prinzips, Berlin 2000.

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wie etwa mathematischer Unterrichtsfilme und »Kinohefte«, die dem Prinzip des Daumenkinos ähnelten, mathematischer Experimentiermappen sowie beweg-licher Modelle mit Gelenkmechanismen.51 Von Bedeutung für diesen Entwick-lungsgang der Mathematik waren aber auch die im Bereich der Physiologie entwickelten Apparate zur Aufzeichnung und Fixierung zeitlicher Abläufe im Raum. Insbesondere der Physiologe und Mediziner Emil Du Bois-Reymond erkannte die Bedeutung des Mathematikunterrichts für die Naturwissenschaft. Er wies darauf hin, dass sich das Studium der Mathematik in seiner bildenden Kraft erst ganz mit dem Übergang von den elementaren Lehren zur analytischen Geometrie entfalte. Bereits einfachste Geometrie und Algebra schulten den Geist und das quantitative Denken. Die Darstellung von Funktionen in Form eines Kurvendiagramms aber eröffne eine neue Welt von Vorstellungen und lehre den Gebrauch einer Methode, durch welche der menschliche Geist seine eigene Leistungsfähigkeit erhöhen könne. Jede erdenkliche Beziehung zweier Größen, die in einem Abhängigkeitsverhältnis zueinander stünden, sei in Kurven darstell-bar, ganz gleich, um welches Thema es sich hierbei handle. Auch die Medizin könne auf diese Form der Darstellung nicht verzichten:

»Heute giebt es, namentlich durch Mareys Bemühungen, kaum ein Gebiet der Expe-rimentalphysiologie und -pathologie, wo nicht die autographische Methode wichtige Aufschlüsse lieferte. Da aber die Mediziner das Gymnasium verlassen haben können, ohne von einem Koordinatensysteme zu hören, muß ich alljährlich, am Anfang meiner Vorlesungen über Physiologie, den Zuhörern erst noch die Grundbegriffe der analyti-schen Geometrie beibringen.«52

Marey wiederum hatte sich bei der Entwicklung seiner ersten Versuche zu Bewegungsabläufen in Gasen und Flüssigkeit, die er um 1890 mittels »expe-rimenteller Photographie«, wie er seine Methode selbst nannte, durchführte, von den ersten mathematischen Modellen, die im Verlauf des 19. Jahrhunderts unter der Führung von Gaspard Monge entstanden waren, inspirieren lassen. Am Conservatoire National des Arts et Metiers in Paris fand er eine Sammlung geometrischer Fadenmodelle vor, die den Professoren dort wie später denen in Deutschland gedient hatte, die mathematische Anschauung zu schulen.53 Marey interessierte daran, den exakten Verlauf einer Linie auf einem dreidimensionalen Körper zu untersuchen, um daraus Rückschlüsse darauf zu ziehen, wie deren Flugbahn im Raum aussähe. Folglich ließ er einen beleuchteten Faden horizontal um einen vertikal gestellten Stab rotieren und zeichnete dessen Bewegung mittels Chronophotographie vor einem dunklen Hintergrund auf. Je nach Position des Fadens im Raum ergaben sich durch diese Art der Aufnahme unterschiedliche

51. Ebd., S. 193ff.52. Du Bois-Reymond, Emil: Culturgeschichte und Naturwissenschaft. Vortrag gehalten am 24. März 1877 im Verein für wissenschaftliche Vorlesungen zu Köln, Leipzig 1878, S. 51.53. Felix Klein und seine Kollegen hatten ebenfalls die Inspiration für den Bau und die Verwendung mathematischer Modelle im Unterricht durch Monge bekommen.

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geometrische Figuren. Lag der Faden asymptotisch zur mittleren Achse, ent-stand ein Zylinder, verlief er parallel, war auf den Abbildungen ein Hyperboloid zu sehen. Berührte der Faden den Stab, erschien auf der Chronophotographie ein Kegel. Schließlich, mittels Stereoskopie und Mehrfachbelichtung, gelang es Marey auch, eine rotierende, dreidimensional erscheinende Kugel zu erzeu-gen.54 Wenngleich in der Methode verschieden, ähnelt dieses Formenrepertoire Mareys dem Papperitz’ in seiner Darstellung, zumindest was die Erzeugung von Dreidimensionalität anbelangt.55 (Abb. 4 und 5) Beide hier vorliegenden Dar-stellungen zeigen ein kugelförmiges Objekt, welches durchsichtig erscheint, da es aus Faden, bzw. Draht besteht. Dieser Effekt wird durch die Rotation um die eigene noch Achse verstärkt, denn so werden die Stäbe bzw. Fäden beinahe unsichtbar, und nur die Kugelform ist zu sehen. Während Papperitz die Kugel als Projektionsfläche verwendete, um auf ihr Kurven zu erzeugen und damit die räumliche Wahrnehmung zu schulen, ging es Marey mehr um das Messen und Erkennen von Bewegung; ein Experiment, welches er später auch an Lebewesen durchführte.

54. Mannoni, Laurent: »Marey Aéronaute. De la méthode graphique à la soufflerie aérodynamique«, in: Didi-Huberman, Georges und Mannoni, Laurent: Mouvements de l’air. Étienne-Jules Marey, photo-graphe des fluides, Paris 2004, S. 5–86, hier S. 16. 55. Leider bleibt unklar, ob Papperitz die Arbeiten, insbesondere diese speziellen Studien zur Geo-metrie Mareys gekannt hat. Zu vermuten ist, dass er, ähnlich wie Marcel Duchamp dessen Versuche an einer heute undokumentierten Stelle entdeckt und rezipiert hat. (Duchamps erste Studien zum Akt, eine Treppe herunter steigend, die in der Literatur immer wieder mit Mareys Bewegungsstudien in Verbindung gebracht werden, entstanden bereits um 1912).

Abb. 4: Erwin Papperitz, Lichtglanzlinie auf einer Kugel, 1911, Technische Bergakademie Freiberg.

Abb. 5: Etienne-Jules Marey, Kugel, erzeugt mittels stereoskopischer Projektion rotierender Fäden, ca. 1892.

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geschmacksbildung

Diese Art von Sehübungen wurden nicht nur im mathematischen Anschauungs-unterricht an höheren Schulen und Universitäten durchgeführt, sondern auch im Zusammenhang mit empirischen Untersuchungen in der Pädagogik. So führte etwa der Psychologe Ernst Meumann um 1914 Versuche durch, die die Förde-rung des Anschauungsvermögens bei Kindern sowohl beobachteten und doku-mentierten als auch einübten.56 Meumanns Methode, die »allgemeine Anleitung zur planmäßigen Beobachtung«, verfolgte das Ziel, »die variablen Bedingungen der Anschauung und Auffassung« zu verbessern, um letztendlich die schon von Fröbel und Pestalozzi gewünschte Selbsttätigkeit des Kindes zu fördern.57 Ins-besondere dem Zeichenunterricht komme dabei eine besondere Rolle zu, denn bei

»allem, was der Schüler einmal gezeichnet hat, ist er unter dem Zwange gewesen, es genau zu beobachten, sich konstruktiv klar zu machen, ungenaue Anschauungen durch genaue zu verdrängen, sich die Stoffe nicht nur verbal, sondern auch visuell und konstruierend und sie aktiv gestaltend einzuprägen.«58

Vor allem werde durch das Zeichnen beim Schüler ein Interesse an bildender Kunst sowie an ästhetischem Fühlen und Urteilen geweckt.59 Um seine Unter-suchungen im Gebiet der experimentellen Psychologie, oder, wie Meumann es nannte, der »experimentellen Pädagogik« durchführen zu können, bediente er sich aufwendiger Apparate, die unter anderem der exakten Zeitmessung und der Durchführung von Reaktionsversuchen dienten.60 In seinem Labor befanden sich Geräte aus der experimentellen Wahrnehmungspsychologie wie etwa das Tachistoskop, das der Erforschung der Sinne diente, aber auch Apparate wie der Kymograph, die Pulskurven oder Kardiogramme aufzeichneten. Anders als noch bei den früheren Physiologen wurden solche Apparate nun für die Analyse der menschlichen (und hier: kindlichen) Psychologie und Wahrnehmung ein-gesetzt.61 Meumann übertrug gewissermaßen Mareys graphische Methode auf die Pädagogik des frühen 20. Jahrhunderts und ergänzte sie um die Schulung des Auges zum geschmacksbildenden Sehen. Denn das Kind sollte nicht nur in

56. Meumann war, wie auch Papperitz und Münsterberg, ein Schüler Wilhelm Wundts in Leipzig. Es ist anzunehmen, dass alle drei in Wundts Leipziger Laboratorium am Institut für experimentelle Psychologie mitwirkten.57. Meumann, Ernst: Vorlesungen zur Einführung in die experimentelle Pädagogik und ihre psychologischen Grundlagen, Bd. 3, Leipzig 1922 [1914], S. 385 und 693.58. Ebd., S. 693f.59. Ebd., S. 695.60. Hopf, Caroline: Die experimentelle Pädagogik. Empirische Erziehungswissenschaft in Deutschland am Anfang des 20. Jahrhunderts, Bad Heilbrunn, Obb. 2004, S. 186ff.61. Ebd., S. 189.

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seiner Wahrnehmung beobachtet, sondern auch in seiner Erlangung eines ästhe-tischen Urteilsvermögens unterstützt und geschult werden.62

Auch Papperitz hatte die Absicht, mit seiner Methode die Sinne des Betrach-ters, insbesondere des Schülers, zu schärfen. Mit seiner Untersuchungsmethode, die sich der Zeichnung, der Projektion sowie der Beobachtung bedient, hat er ein wissenschaftliches Werkzeug zum Einüben räumlichen Sehens sich bewe-gender Figuren geschaffen. Er griff dabei aber auch unwillkürlich das Bedürfnis einer Zeit auf, die vor Veränderungen einer sich neu formierenden Wahrneh-mungskultur stand, indem er sich der Frage widmete, ob die Wahrnehmung von Räumlichkeit und von Bewegung miteinander zu vereinen seien, und falls ja, welche Konsequenzen dies für die Entwicklung einer räumlichen Wahrneh-mung sowie eines ästhetischen Empfindens habe. So nimmt es nicht Wunder, dass zeitgleich mit seiner Erfindung zahlreiche Unterrichtspraktiken an Schu-len und Universitäten entstanden, die ein geschmacksbildendes Sehen einübten und sich dabei auch durchaus optischer, bilderzeugender Apparate bedienten. Insbesondere die Arbeitsschulpädagogik, einer von Georg Kerschensteiner und John Dewey begründeten Erziehungsbewegung, der auch Meumann angehörte, widmete sich der »Pflege des Geschmacks«.63 Dabei ging es vor allem darum, im Zuge des Werkstattunterrichts die Regeln des guten Geschmacks zu beher-zigen und an den Schüler weiterzugeben. So sprach sich etwa der Autor eines Artikels in der Zeitschrift Die Arbeitsschule 1912 dafür aus, dass man sich für das Gelingen dieser Geschmackspflege im Unterricht ruhig »physikalischer Appa-rate« (gemeint sind hier Projektionsapparate) bedienen solle, die Vorteile gegen-über der »rasch hingeworfenen Wandtafelzeichnung« lieferten, und die »keines-wegs sog. ›Augenblicksaufgaben‹ seien sondern das Ergebnis eifriger, mühevoller Arbeit vorstellen. Sie müssen und können den Forderungen des guten Geschma-ckes Rechnung tragen.«64 Um das Unterscheidungsvermögen zwischen gutem und schlechtem Geschmack ging es auch Gustav Pazaurek, dem Gründer des Stuttgarter Gewerbemuseums: Für ihn war unter anderem das Vertauschen von Zwei- und Dreidimensionalität ein Anzeichen für schlechten Geschmack: So sei zunächst die Unterscheidung zwischen zweidimensionaler Fläche und drei-dimensionalem Körper für das Kunstgewerbe von großer Bedeutung. Sobald aber anhand von Panoramen und Dioramen ein Täuschungsprinzip der Dimen-sionen eingeleitet würde, sodass Körperliches und Flächenhaftes miteinander

62. Meumann, Ernst: Vorlesungen zur Einführung in die experimentelle Pädagogik und ihre psychologischen Grundlagen, Bd. 1, Leipzig 1922 [1911], 590ff. Meumann geht sogar soweit, von einem »ästhetischen Experiment« zu sprechen, vgl. S. 601.63. Hildebrand, F.P: »Die Pflege des Geschmacks in der Schülerwerkstatt«, in: Die Arbeitsschule: Zeit-schrift für Arbeitserziehung und Werkunterricht, Bd. 26, Nr. 8, 1912, S. 268–273, hier S. 268. Zahlreiche Artikel, die in der hier genannten Zeitschrift zwischen 1912 und 1924 erscheinen, tragen Titel wie »geschmacksbildende Werkstattübungen« (1912), »über geschmacksbildende Papparbeiten« (1912), »Das Projektionsbild in der Schule« (1912), oder »Das Leuchtbild und sein Stil« (1924).64. Hildebrand: »Die Pflege des Geschmacks in der Schülerwerkstatt«, in: Die Arbeitsschule, a.a.O., S. 271.

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ver wechselt werden können, schwinde der künstlerische Wert einer Darstellung. »Was seiner Natur nach flächenhaft ist, sollte nie körperlich behandelt werden.«65 Umgekehrt solle auch das, was seiner Natur nach körperlich ist, nie flächenhaft abgebildet werden. In dieser Hinsicht ist die kinodiaphragmatische Projektion geometrischer Kurven als ein Verfahren zu betrachten, welches die Trennung zwischen Flächigkeit und Körperlichkeit aufgrund der Kombination von zwei-dimensionaler Lichtspaltplatte, dreidimensionalem Projektionsschirm sowie dem Moment der Bewegung aufrecht erhält. Papperitz konstruiert nicht ein Verfah-ren, welches die Illusion des Vertauschens beider Dimensionen bewirkt, sondern er zeigt eine Möglichkeit auf, das Unterscheidungsvermögen zwischen beiden anhand seines Apparates durchaus zu verstärken und damit einer geschmacks-bildenden Erziehung entgegenzukommen.

Schlussbetrachtung

Vor dem Hintergrund dieser unterschiedlichen, parallel zueinander verlaufen-den Entwicklungen in Mathematik, Medizin, Kunstgeschichte und Pädagogik ist die Erfindung Papperitz’ nicht als ein Verfahren einzuordnen, welches allein der geometrischen Anschauung dient, sondern ist vielmehr als eine wissenschaft-liche Praxis zu sehen, welche anhand eines spezifischen Mediums Ästhetisie-rung und Didaktik, Messung und Darstellung miteinander vereint. Der Ein-satz des kinodiaphragmatischen Apparates lässt den Hörsaal zum Labor nicht allein für geometrische Studien an Objekten werden, sondern vor allem für die Untersuchung einer Seherfahrung, die von zeitgleichen Entwicklungen in der Kunst- und Arbeitserziehung sowie in der naturwissenschaftlichen Lehre mitgetragen, wenn nicht sogar vorbereitet wurde. Dabei sind zwei Themen besonders hervorzuheben, die sich aus dem Papperitz’schen Verfahren heraus-kristallisieren: Einerseits wird deutlich, dass die Wahrnehmung von Räumlich-keit und Bewegung sowie das Unterscheidungsvermögen zwischen Zwei- und Dreidimensionalität um 1900 immer mehr an Bedeutung gewinnt. Andererseits nimmt diese Projektionsmethode eine zunehmende Annäherung von Kunst und Technik vorweg, die zu einem späteren Zeitpunkt in der Kunstavantgarde wie-der aufgegriffen wird. Nur wenige Jahre nach Papperitz’ Erfindung, Anfang der 1920er Jahre, kommt es zu einem vermehrten Einsatz von Licht in der Kunst, vor allem am Weimarer und Dessauer Bauhaus. So setzte etwa der expressio-nistische Film das Licht als dramaturgisches Mittel ein, ebenso wie das Foto-gramm oder auch die »Lichtplastik« Joost Schmidts, die, ähnlich wie Papperitz’ projizierte Formen, die plastische Figur in den Hintergrund treten lässt und nur die körperlich in Erscheinung tretende Lichtspur eines aus Fäden gespannten rotierenden Zylinders, Hyperboloids, oder einer Kugel aufzeichnet. (Abb. 6) In Schmidts plastischer Werkstatt war die Schulung des räumlichen Sehens das

65. Pazaurek, Gustav Edmund: Guter und schlechter Geschmack im Kunstgewerbe, Stuttgart, Berlin 1912, S. 144.

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erklärte Lehrziel: »erwecken, entwickeln, intensivieren des räumlichen Vor-stellungsvermögens, des bewussten Erlebens räumlicher Sinneswahrnehmungen und realisieren räumlicher Vorstellungen – wozu die Übungsaufgaben führen sollen.«66 László Moholy-Nagy, der sich selbst als Lichtmaler bezeichnete und der in den 1920er Jahren seinen Licht-Raum-Modulator entwickelte, anhand dessen er Räumlichkeit mittels Licht und Bewegung produzierte, forderte, zunehmend wissenschaftliche Kenntnisse des Ingenieurs mit der Intuition des Künstlers zu verknüpfen.67 Mit ihm sollte sich in den folgenden Jahren der Begriff des Künstler-Ingenieurs etablieren, ein Ausdruck, der betont, von welch großer Bedeutung das Zusammenwirken von Kunst und Technik geworden war. Wenngleich dem kinodiaphragmatischen Projektionsapparat keine beson-ders große Aufmerksamkeit zuteilwurde, stellt er doch eine wichtige Etappe in einer Entwicklung dar, die sich nicht nur in Versuchen über die Wahrnehmung von Räumlichkeit in Kombination mit Bewegung im Dienst eines räumlichen Anschauungsvermögens manifestierte, sondern sich auch in einer neuen Experi-mentalkultur niederschlug, welche künstlerische und wissenschaftliche Praxis in steten Einklang miteinander zu bringen versuchte.

Im Rückgriff auf das eingangs erwähnte Aufeinandertreffen von Medien- und Wissenschaftsgeschichte in deren jeweiligen Hinterhöfen kann durchaus behauptet werden, dass eine quer zu den üblichen innerdisziplinären Grenzen

66. Loew, Heinz: »Plastische Werkstatt Dessau 1927–1932«, in: Schmidt, Joost und Loew, Heinz: Joost Schmidt. Lehre und Arbeit am Bauhaus 1919–32, Düsseldorf 1984, S. 44–76, hier S. 44.67. Hoormann: Lichtspiele, a.a.O., S. 27.

Abb. 6: Joost Schmidt, Lichtvolumen, ca. 1930, Dessau, Plastische Werkstatt.

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verlaufende Analyse einer auf den ersten Blick kurios erscheinenden Erfindung wie der Papperitz’ eine Vielzahl an Anschlussmöglichkeiten für weitere Unter-suchungen auf dem Gebiet der Design,- Medien- und Wissenschaftsforschung bietet. Anlass zu dieser Behauptung geben Studien, die sich mit dem komplexen Wechselspiel zwischen zwei- und dreidimensionalen Bildern und deren Ein-fluss auf sowohl Wissenschaft als auch ästhetische Praxis befassen, wie etwa die Arbeiten Jonathan Crarys oder Jens Schröters.68

68. Vgl. Crary: Techniken des Betrachters, a.a.O., sowie Schröter, Jens: 3D. Zur Geschichte, Theorie und Medienästhetik des technisch-transplanen Bildes, München 2009.

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