Mechanistische Erklärung: Reduktiv oder nicht?
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Mechanistische Erklärung: Reduktiv oder nicht?
Bettina Gutsche
Dieses Paper erscheint 2013 im GAP8-Proceedings-Band, herausgegeben von T.
Spitzley, M. Hoeltje & W. Spohn.
Zusammenfassung
Ist der Ansatz der mechanistischen Erklärung (ME) ein ausschließlich reduktiver
Ansatz? Hat er reduktive Komponenten oder muss er als völliger Gegenentwurf zum
Reduktionismus aufgefasst werden? Die Antworten hängen davon ab, wie
Reduktionismus und Reduktion verstanden werden und wie die Vertreter von (ME)
ihren Ansatz beschreiben. Während in einigen Publikationen William Bechtels und
seiner Kollegen (Bechtel 2001; Bechtel 2007; Bechtel & Hamilton 2007) der
mechanistische Erklärungsansatz durchaus als ein reduktionistischer Ansatz
verstanden wird, so ist dies bei den Arbeiten von Carl Craver und seinen Kollegen
(v.a. Machamer, Darden & Craver 2000; Craver 2005; Craver 2007) und auch bei
neueren Publikationen von William Bechtel und Kollegen (Bechtel & Abrahamsen
2008; Bechtel 2009; Bechtel 2010) nicht der Fall. Im Folgenden wird anhand der
angeführten Texte gezeigt, inwiefern (ME) als reduktiver Ansatz aufgefasst werden
kann. Danach wird beschrieben, inwieweit (ME) dem Reduktionismus
entgegengesetzt ist. Schließlich werden mit Ernest Nagel, dem Begründer der
klassischen Reduktion, die verbleibenden reduktiven Komponenten von (ME)
beleuchtet. Genauer: die „reduktive Sicht der Vereinheitlichung“, die Craver (2007)
angreift und der er für die Neurowissenschaften eine alternative Form von
Vereinheitlichung entgegensetzt, kann im Sinne von Nagel (1961) rehabilitiert
werden. Damit wird die Nagel-Reduktion in Teilen als mit (ME) kompatibel erachtet.
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1. Einleitung
In diesem Aufsatz geht es darum, ob der Ansatz der mechanistischen Erklärung, bei
dem kausale Mechanismen für bestimmte Phänomene v.a. in den
Neurowissenschaften gefunden werden, ein reduktiver bzw. reduktionistischer Ansatz
ist. Eine Hauptfrage dabei ist, ob der Ansatz reduktive Komponenten hat oder gar als
völliger Gegenentwurf zum Reduktionismus aufgefasst werden muss. Dies hängt
natürlich davon ab, wie Reduktionismus und Reduktion verstanden werden, jedoch
auch, wie die Vertreter der mechanistischen Erklärung ihren Ansatz beschreiben.
Während in einigen Publikationen William Bechtels und seiner Kollegen
(Bechtel 2001; Bechtel 2007; Bechtel & Hamilton 2007) der mechanistische
Erklärungsansatz durchaus als ein reduktionistischer Ansatz verstanden wird, so ist
dies bei den Arbeiten von Carl Craver und seinen Kollegen (v.a. Machamer, Darden
& Craver 2000; Craver 2005; Craver 2007) und auch bei neueren Publikationen von
William Bechtel und Kollegen (Bechtel & Abrahamsen 2008; Bechtel 2009; Bechtel
2010) nicht der Fall. Das heißt, hier wird der mechanistische Erklärungsansatz als
eine Alternative beschrieben, die die Vorzüge der Reduktion beibehält und die
Nachteile ausmerzt. Mehr noch, ein Vergleich mit dem „alten“ Reduktionsmodell
scheint nicht mehr angebracht, da der Ansatz der mechanistischen Erklärung
(nachfolgend auch (ME) genannt) eine eigene Betrachtungsweise bietet, die nicht mit
einem Konkurrenzmodell verglichen werden muss, um sich dagegen abzuheben.
Vielleicht markiert auch das Jahr 2007 mit dem Erscheinen von Cravers Explaining
the Brain einen Wendepunkt in der Beschreibung des mechanistischen
Erklärungsansatzes, da Craver (2007) so prägnant und scharfsinnig die Vorzüge des
mechanistischen Ansatzes erklärt, z.B. seine empirische Plausibilität (d.h. dass in den
Neurowissenschaften wirklich Forschung nach diesem Modell betrieben wird und
nicht nach dem Modell der Reduktion), sowie die Kritikpunkte am klassischen
Reduktionsmodell herausstellt.
Im Folgenden möchte ich anhand der angeführten Texte zunächst zeigen,
inwiefern (ME) als reduktionistischer Ansatz verstanden werden kann (Abschnitt 3),
danach beschreibe ich, inwieweit (ME) dem Reduktionismus entgegengesetzt ist (d.h.
die Kritik am Reduktionismus, Abschnitt 4), um am Ende jedoch mit Ernest Nagel,
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dem Begründer der klassischen Reduktion, wieder die verbleibenden reduktiven
Komponenten von (ME) zu beleuchten (Abschnitt 5). Genauer heißt das: die
„reduktive Sicht der Vereinheitlichung“, die Craver (2007) angreift und der er für die
Neurowissenschaften eine alternative Form von Vereinheitlichung
(„intralevel/interlevel integration“) entgegensetzt, kann im Sinne von Nagel (1961)
rehabilitiert werden. Im Fazit wird die Nagel-Reduktion in Teilen als mit dem
mechanistischen Ansatz kompatibel erachtet.
Zuvor soll jedoch eine kurze Charakterisierung des Ansatzes der
mechanistischen Erklärung gegeben werden und anhand des Beispiels der
Weiterleitung eines Aktionspotentials veranschaulicht werden, wie mechanistische
Erklärung funktioniert (Abschnitt 2).
2. Mechanistische Erklärung
Was macht den mechanistischen Erklärungsansatz (möglicherweise im Gegensatz zur
klassischen Reduktion) aus? Darin, d.h. in einer ersten kurzen Definition,
unterscheiden sich Bechtel und Craver und jeweilige Kollegen kaum. Schauen wir
uns drei entsprechende Zitate an, die auf die Frage antworten, was ein Mechanismus
ist. Ein Mechanismus ist „a set of entities and activities organized such that they
exhibit the phenomenon to be explained.“ (Craver 2007: 5) Mechanismen sind
collections of entities and activities organized in the production of regular changes
from start or setup conditions to finish or termination conditions (Craver 2002: S84,
ähnlich in Machamer, Darden & Craver 2000).
Ein Mechanismus ist
a structure performing a function in virtue of its component parts, component
operations, and their organization. The orchestrated functioning of the mechanism is
responsible for one or more phenomena (Bechtel & Hamilton 2007: 405; aus Bechtel
& Abrahamsen 2005: 423).
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Die wichtigsten Bestandteile eines Mechanismus sind also seine (relevanten) Teile
bzw. Entitäten, entsprechende Operationen/Aktivitäten und eine entsprechende
Organisation. Entitäten sind Komponenten (d.h. relevante Teile) im Mechanismus
mit bestimmten Eigenschaften: sie sind lokalisierbar, haben eine bestimmte Größe,
Struktur und können auch eine bestimmte Ausrichtung haben. Aktivitäten sind die
kausalen Bestandteile des Mechanismus (vgl. Craver 2007: 6). Aktivitäten sind
produktiv in dem Sinne, dass sie einen (kausalen) Unterschied machen (gehen also
über Korrelationen, pure zeitliche Sequenzen hinaus und können für „Manipulation
und Kontrolle“ genutzt werden). Die Entitäten und Aktivitäten sind zudem zeitlich,
räumlich, kausal und hierarchisch organisiert und mit einem Mechanismus wird ein
zu erklärendes Phänomen beschrieben.
Es geht also augenscheinlich im mechanistischen Erklärungsansatz darum, ein
Phänomen dadurch zu erklären, dass ein „zugrunde liegender“ Mechanismus
angegeben wird, bei dem auf die Teile des Phänomens sowie auf deren
Zusammenspiel rekurriert wird. Anders scheinbar als bei der klassischen Reduktion
(siehe auch Unterabschnitt 3.1) geht es nicht darum, die Beschreibung des
Phänomens aus der Beschreibung der Prozesse auf einer niedrigeren Ebene logisch
abzuleiten.
Beispiele für Mechanismen finden sich zahlreich in den Bio- und
Neurowissenschaften, z.B. die Entstehung eines Aktionspotentials (und deren
Weiterleitung, das heißt elektrische Signalweiterleitung am Axon bzw. chemische
Signalübertragung an der Synapse), DNA-Transkription und Translation, das
Phänomen der Langzeitpotenzierung (LTP = long term potentiation), das mit Lernen
und Gedächtnis in Verbindung gebracht wird, Prozesse der visuellen Wahrnehmung
etc. Als ein Beispiel soll in den folgenden drei Unterabschnitten die Weiterleitung
eines Aktionspotentials am Axon beschrieben werden (vgl. Birbaumer & Schmidt
2006: Kapitel 3; Schandry 2003: Kapitel 4).
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2.1 Weiterleitung des Aktionspotentials am Axon – das Ruhepotential
Dieser Vorgang nimmt das so genannte Ruhepotential einer Nervenzelle zum
Ausgangspunkt. Das Ruhepotential der Nervenzellen liegt durchschnittlich bei etwa
-70mV und kommt dadurch zustande, dass die Konzentration von innerhalb und
außerhalb der Zellmembran befindlichen positiv oder negativ geladenen Ionen sich
derart verteilt, dass im Inneren der Zelle eine negativere Ladung vorliegt. Positiv
geladene Ionen sind z.B. Kalium- (K+), Natrium- (Na+) und Kalzium-Ionen (Ca2+);
negativ geladene Ionen sind z.B. Chlorid-Ionen (Cl-) und Eiweiß-Anionen. Die
Zellmembran ist nicht für alle Ionen gleichermaßen durchlässig. Dies ist ein Grund,
warum es nicht zu einem Ladungsausgleich kommt und das Ruhepotential
aufrechterhalten wird (entgegen der Diffusionskraft sowie der elektrischen Anziehung
verschieden geladener Ionen). Ein weiterer Grund ist die unter Energieausnutzung
(also durch Anlagerung von ATP/Adenosintriphosphat) funktionierende Natrium-
Kalium-Pumpe, ein Ionenkanal, der Natrium-Ionen aus der Zelle hinausbefördert und
Kalium-Ionen wieder in die Zelle hineinbringt (dabei werden mehr positiv geladene
Na+ Ionen hinaus als positiv geladene K+ Ionen in die Zelle hinein befördert).
2.2 Weiterleitung des Aktionspotentials am Axon – das Aktionspotential
Ein Aktionspotential kann nun derart beschrieben werden, dass die Zelle (z.B. durch
verschiedene Signale von benachbarten Zellen meist über Synapsen und über die
Dendriten der Zelle übertragen) eine Depolarisation über einen bestimmten
Schwellenwert hinaus (z.B. -40mV) erfährt und damit „feuert“. Die charakteristische
Spannungskurve eines Aktionspotentials ist gekennzeichnet durch einen steilen
Anstieg des Potentials in den positiven Bereich hinein (das Maximum liegt etwa bei
+30/+40mV) sowie danach einen etwas flacheren Abfall des Potentials
(Repolarisation) über ein Nachpotential in die negative Richtung (Hyperpolarisation)
wieder zurück zum Ruhepotential. An der Zellmembran wird das Aktionspotential
durch verschiedene Ionenkanäle und den Austausch und die Wanderung von Ionen
realisiert: wird der Schwellenwert erreicht, so öffnen sich spannungssensitive
Natrium-Kanäle und in sehr kurzer Zeit strömen viele Na+ Ionen in die Zelle hinein,
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das Membranpotential wird positiv. Nach etwa 1 ms schließen sich die Kanäle wieder
und es kommt zur Öffnung von Kalium-Kanälen, durch die K+ Ionen rasch aus der
Zelle hinauswandern, womit das Potential wieder ins Negative abfällt. Die dadurch
veränderten Konzentrationen der Natrium- und Kalium-Ionen werden durch die
Natrium-Kalium-Pumpe wieder ins Gleichgewicht gebracht.
2.3 Weiterleitung des Aktionspotentials am Axon – Ausbreitung des Potentials
Ruhe- und Aktionspotential, wie bisher beschrieben, sind nun die Grundlagen dafür
zu verstehen, wie sich ein Aktionspotential vom Axonhügel der Zelle aus entlang des
Axons weiter ausbreitet (diese Ausbreitung erfolgt in der Regel immer nur in eine
Richtung) hin zu den nachgeschalteten Nervenzellen. Die Ionenströme erfolgen nicht
nur zwischen Zellinnerem und dem extrazellulären Raum, sondern die Ionen können
auch innerhalb der Zelle entlang des Axons wandern. Durch die
spannungsgesteuerten Natrium-Kanäle wird an einer Stelle des Axons ein
Aktionspotential generiert, welches wiederum benachbarte Natrium-Kanäle in
Ausbreitungsrichtung stimuliert und damit aktiviert. So kann sich das
Aktionspotential entlang des Axons ausbreiten (in etwa vergleichbar mit dem
„Abbrennen“ einer Zündschnur).
In dieser mechanistischen Erklärungsskizze wurden z.B. folgende Entitäten
benannt: die Zelle, ihre Teile wie Dendriten, Axonhügel und Axon; Natrium- und
Kalium-Ionen; verschiedene Arten von Ionenkanälen wie spannungsgesteuerte
Natrium- und Kalium-Kanäle, die Natrium-Kalium-Pumpe, etc. Die Aktivitäten im
beschriebenen Mechanismus sind z.B. Depolarisieren, Öffnen, Schließen,
Einströmen, Ausströmen, etc. Die zeitliche und räumliche Organisation wurde
ebenso angedeutet: z.B. das Schließen der Natrium-Kanäle nach einer kurzen Zeit
von 1 ms, die Signalweiterleitung in eine Richtung vom Zellkörper und Axonhügel
weg zum Ende des Axons hin.
Die Auseinandersetzung mit dem mechanistischen Erklärungsansatz wirft einige
Fragen auf, die ich hier kurz andeuten, denen ich jedoch im Folgenden nicht weiter
nachgehen möchte (einen interessanten Beitrag dazu leistet m.E. Fazekas & Kertész
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2011). Eine der Fragen ist diejenige nach dem Zusammenhang zwischen dem
Mechanismus und dem zu erklärenden Phänomen. Der Mechanismus erklärt das
Phänomen, also scheint er nicht damit identisch sein zu können. Weiterhin scheint der
Mechanismus als Ganzer (mitsamt seiner Organisation) auf einer höheren Ebene
ansässig zu sein als die entsprechenden Teile des Phänomens bzw. Teile im
Mechanismus (man spricht auch davon, dass die organisierten Teile den
Mechanismus konstituieren). Man fragt sich hier beispielsweise, auf welcher Ebene
sich die „organisierten“ Teile eines Mechanismus befinden: auf der Ebene der Teile,
auf der (höheren) Ebene des Mechanismus oder auf der (ebenfalls höheren) Ebene des
Phänomens? Diese Fragen zu beantworten scheint relevant für die Bewertung des
mechanistischen Ansatzes als ein reduktiver oder nicht-reduktiver Ansatz zu sein
(siehe Fazekas & Kertész 2011). Hier möchte ich jedoch einen anderen Weg
einschlagen und explizit eine Kritik von Craver (2007) zurückweisen (siehe
Abschnitte 4 und 5).
Nach dieser ausführlichen Illustration, wie eine mechanistische Erklärung
aussieht, komme ich zum nächsten Abschnitt.
3. Mechanistische Erklärung als ein reduktiver Ansatz
3.1 Modelle der Reduktion
Zuerst soll ein kurzer Überblick über die klassische Reduktion und ihre Ableger
gegeben werden. Bei klassischen Reduktionsmodellen handelt es sich um Varianten
der Theorienreduktion, d.h. es werden verschiedene Theorien aufeinander reduziert.
Die beiden wichtigsten formalen Prinzipien der Nagel-Reduktion (Nagel 1961:
Kapitel 11) sind Verknüpfbarkeit (connectability) und Ableitbarkeit (derivability),
d.h. wenn es der Fall ist, dass einige von den Begriffen der zu reduzierenden Theorie
nicht in der reduzierenden Theorie enthalten sein sollten (heterogene Reduktion), so
kann über begriffliche Verbindungen (die viel zitierten Brückengesetze) das fehlende
Vokabular in die reduzierende Theorie eingeführt werden (Verknüpfbarkeit).
Verfügen beide Theorien dann über die gleichen Begriffe (bzw. die Basistheorie muss
über die (wahren) Begriffe der zu reduzierenden Theorie verfügen, Nagel spricht von
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homogener Reduktion), so können auch idealerweise die Gesetze der zu
reduzierenden Theorie aus den Gesetzen der reduzierenden Theorie abgeleitet werden
(Ableitbarkeit). Aus der Ableitbarkeit folgt die Verknüpfbarkeit, aber nicht
umgekehrt.
Eine eher metaphysische Abwandlung dieses Ansatzes ist in dem Manifest (wie
es Craver (2007) nennt) von Oppenheim und Putnam (1958) zu finden – in ihrem
Programm der Mikroreduktion. Hier werden reduktive Ebenen vorausgesetzt und
Reduktion wird als Mittel begriffen, eine Vereinheitlichung in den Wissenschaften
herzustellen, d.h. es werden nur reduktive Beziehungen zwischen den Ebenen als
vereinheitlichend gewertet.
Diese beiden Modelle (das von Nagel und das der Mikroreduktion) werden oft
zusammen unter das Etikett „klassische Reduktion“ subsumiert (vgl. z.B. Fodor 1974;
McCauley 1986: 180; obwohl sich die Modelle durchaus unterscheiden) und als
starke Ansätze der Reduktion aufgefasst. Hier sollte m.E. jedoch – wie sich im
Folgenden auch in diesem Aufsatz zeigen wird – eine schärfere Trennlinie gezogen
werden.
Neuere Reduktionsmodelle gestehen auch zu, dass Teile der reduzierten Theorie
verworfen werden können, solange sich die wahren Teile nichtsdestotrotz annähernd
aus der Basistheorie ableiten lassen (einige dieser Ansätze findet man in der Literatur
unter dem Stichwort „New Wave Reduktionismus“, z.B. Hooker 1981; Bickle 1996;
Bickle 1998). Modelle der approximativen Reduktion (z.B. auch Schaffner 1967)
„allow the fit between reduced and reducing theory to be less than exact“ (Craver
2007: 229).
Als letzte abgeschwächte Variante der Reduktion wird in der Debatte vielfach
behauptet, dass Theorienreduktion in den Neurowissenschaften (und als ein
Anwendungsfall der mind sciences für das Körper-Geist-Problem) nicht erreicht
werden kann. Stattdessen könne man jedoch Phänomene höherer Ebenen immer noch
reduktiv erklären. Schwache Varianten der Reduktion haben das Prinzip der
Ableitbarkeit komplett aufgegeben und Reduktion besteht nur noch darin, dass
Phänomene höherer Ebenen durch fundamentale Mechanismen oder Gesetze erklärt
werden sollen/können: „All that remains of reduction in these cases is a commitment
to the primacy of downward and fundamental explanation.“ (Craver 2007: 230) Wir
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haben im letzten Fall also noch eine Art „Perspektive-nach-unten“ (downward
looking perspective), der ein Vorrang eingeräumt wird.
Die Reduktionsmodelle können in abnehmender Stärke (in Anlehnung an Craver
2007: 229) wie folgt aufgelistet werden:
(1) Klassische Reduktion (Nagel-Reduktion und Mikroreduktion),
(2) Approximative Reduktion, z.B. New Wave Reduktion,
(3) Reduktive Erklärung.
3.2 Mechanistische Erklärung ist reduktiv
Inwiefern kann nun der mechanistische Erklärungsansatz als ein reduktionistischer
Ansatz verstanden werden? Am ehesten sicher als Reduktionismus in seiner
schwächsten Variante. Dies wird z.B. an dem Titel eines Papers von Bechtel deutlich:
„Reducing Psychology while Maintaining its Autonomy via Mechanistic
Explanations“ (Bechtel 2007). Wir können einerseits die Psychologie (bzw. ihre
Theorien) reduzieren, aber dennoch ihre Autonomie aufrecht erhalten (ein oftmals
vorgebrachter Vorwurf gegen die klassische Reduktion, d.h. das Problem, dass die
Nagel-Reduktion kontraintuitive Konsequenzen für alle nicht-fundamentalen
(„speziellen“) Wissenschaften und deren Gegenstände habe, vgl. Fodor 1974), und
zwar mithilfe von mechanistischen Erklärungen. Laut Bechtel (2007) sind
mechanistische Erklärungen sowohl reduktionistisch in diesem schwächeren Sinn als
auch kompatibel mit der Vorstellung der Autonomie höherer Ebenen.
Es fragt sich dennoch, was reduzieren in diesem Kontext noch bedeuten kann.
Denn Bechtel (2007) bezieht sich auch auf Ebenen von Mechanismen (ähnlich wie
Craver 2007: Kapitel 5). Diese seien lokal definiert (bzw. unter Rückgriff auf
Mechanismen), so dass ein umfassender „Blick nach unten“ damit gar nicht
gewährleistet werden könne, da Entitäten nur innerhalb eines Mechanismus bezüglich
ihrer Ebenen verglichen werden können. Was bei (ME) an Reduktion zu bleiben
scheint, ist allein die „Perspektive nach unten“, die jedoch keine Priorität zu haben
scheint. Somit haben wir es hier mit einem noch schwächeren Begriff von
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Reduktionismus zu tun. Laut Bechtel sei der reduktive Aspekt (den Prinzipien der
Dekomposition und Lokalisierung folgend) allein nicht hinreichend, um das Verhalten
des Mechanismus zu erklären. Wichtig seien nicht nur die Teile und ihre Operationen,
sondern auch ihre Organisation.
In Bechtel und Hamilton (2007) findet sich z.B. folgendes Zitat:
A central feature of mechanistic explanations, and the one that makes them reductive,
is that they involve decomposing the system responsible for a phenomenon into
component parts and component operations. (Bechtel & Hamilton 2007: 405)
Durch den Rekurs auf zugrunde liegende Komponenten und Operationen bleibe der
reduktionistische Anspruch gewahrt. Jedoch wird nicht davon ausgegangen, dass die
Teile allein die entsprechenden Phänomene hervorbringen, sondern der Mechanismus
als Ganzer.
Ähnliche Argumentationsstränge finden sich auch in Craver und Bechtel (2007).
Die Autoren nehmen an, dass es Ursachen höherer Ebene gibt, die jedoch durch
konstitutive Mechanismen (niedrigerer Ebene) vollständig erklärt werden können. In
Craver und Bechtel (2007) wird die mysteriöse Rede von Verursachung zwischen den
Ebenen (between-level causation) analysiert. Der Mechanismus könne zwar kausale
Eigenschaften haben, die seine Teile nicht haben, aber „[w]e do not assume that the
mechanism has causal powers over and above the organized collection of their parts.”
(Craver & Bechtel 2007: 548, Fußnote 2)
Schauen wir uns noch einmal die Auflistung mit den reduktionistischen
Positionen in 3.1 an. Es scheint, als müssten wir eine vierte Position hinzufügen, die
aber so schwach zu sein scheint, dass sie womöglich in eine anti-reduktionistische
Perspektive „umkippt“ (vgl. Abschnitt 4):
(1) Klassische Reduktion (Nagel-Reduktion und Mikroreduktion),
(2) Approximative Reduktion, z.B. New Wave Reduktion,
(3) Reduktive Erklärung,
(4) (ME) ist reduktiv in dem Sinne, dass es einen reduktiven Aspekt gibt, eine
downward-looking-Perspektive.
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Diese „Perspektive-nach-unten“ scheint aber verglichen mit derjenigen im Modell der
reduktiven Erklärung keine Priorität zu haben. Ebenso wichtig scheint die upward-
looking-Perspektive zu sein (vgl. dazu auch den eindrücklichen Titel von Bechtel
(2009): „Looking Down, Around, and Up: Mechanistic Explanation in Psychology“).
Dieses vorläufige Ergebnis bedarf einer weiteren Kommentierung. Bliebe es bei
dieser Diagnose, dass der Ansatz der mechanistischen Erklärung nur reduktiv im
Sinne von (4) sei, so hieße dies, dass sich in (ME) reduktive und nicht-reduktive
Komponenten mischen und man nicht letztgültig sagen könnte, ob (ME) nun reduktiv
sei oder nicht. Die Antwort wäre ein Kompromiss, d.h. mechanistische Erklärung
scheint beides zu sein, sowohl reduktiv als auch nicht-reduktiv.
Fraglich bleibt dabei jedoch, was mit der „Perspektive-nach-unten“ bzw.
„Perspektive-nach-oben“ genau gemeint ist. Sicherlich gilt auch für die klassische
Reduktion, dass es Phänomene höherer Ebene gibt, dass damit auch verschiedene
Perspektiven einhergehen können. Im Standard-Beispiel für die Nagel-Reduktion, der
Reduktion der Thermodynamik auf die statistische Mechanik, wird die Theorie der
Thermodynamik unter Zusatzannahmen auf die Theorie der Mechanik reduziert bzw.
aus ihr abgeleitet. Eine der Zusatzannahmen bezeichnet dabei die Verknüpfung des
Begriffs „Temperatur (eines Gases)“ aus der Theorie der Thermodynamik mit dem
Begriff „mittleren kinetischen Energie (der Moleküle des Gases)“ aus der Theorie der
Mechanik. Das heißt, ein Phänomen höherer Ebene wird mithilfe von Prozessen
niedrigerer Ebene erklärt. Dennoch bleibt das Phänomen höherer Ebene bestehen.
Auch wird die Theorie der Thermodynamik durch die Reduktion gerechtfertigt und
damit weiterentwickelt. Es ließe sich also sagen, dass auch in der klassischen
Reduktion verschiedene Perspektiven – nach oben, nach unten, zur Seite –
eingenommen werden (vgl. auch Abschnitt 5).
Dennoch scheint gerade die klassische Reduktion deshalb reduktiv zu sein, weil
das Phänomen höherer Ebene durch Prozesse niedrigerer Ebene erklärt wird. Die
niedrigeren Ebenen haben also eine Erklärungspriorität, und es lässt sich dafür
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argumentieren, dass diese Erklärungspriorität auch im mechanistischen Ansatz
besteht, dass (ME) also reduktiv im Sinne von (3) ist.1
Nachdem ich nun angedeutet habe, worin das Reduktionistische am Ansatz der
mechanistischen Erklärung liegt, komme ich zum nächsten Abschnitt.
4. Mechanistische Erklärung als ein nicht-reduktiver Ansatz
4.1 Mechanistische Erklärung ist nicht-reduktiv auf vielfältige Weise
Warum ist der Ansatz der mechanistischen Erklärung kein reduktiver Ansatz? Dazu
findet man bei Craver (2007) in nahezu jedem Kapitel relevante Aussagen. Es lassen
sich vier Hauptkritikpunkte am klassischen Reduktionsmodell ausmachen, welche
(ME) versucht zu umgehen.
Erstens muss daran erinnert werden, dass die Nagel-Reduktion eine
Verallgemeinerung des deduktiv-nomologischen Modells der Erklärung (D-N-
Modell) ist, weshalb die zahlreichen Kritikpunkte gegen das D-N-Modell auch gegen
die Nagel-Reduktion angeführt werden können. Logische Ableitung aus
gesetzesartigen Verallgemeinerungen ist weder notwendig noch hinreichend dafür,
dass das entsprechende Explanandum erklärt wird. Das D-N-Modell ist nicht
notwendig (d.h. es ist zu restriktiv bzw. lässt manche Schlüsse, die Erklärungen sind,
nicht als solche gelten), weil es z.B. in den Neurowissenschaften keiner (strikten)
Gesetze bedarf, um erfolgreiche Erklärungen abzugeben. Stattdessen sind die
Generalisierungen in den Neurowissenschaften eher ceteris paribus Gesetze bzw.
„fragile Generalisierungen“ – ein Begriff von Craver (2007). Das D-N-Modell ist
auch nicht hinreichend (d.h. es ist zu liberal, es lässt Erklärungen als Erklärungen
durchgehen, die keine sind), da eine Ableitung, die dem Schema genügt, noch Fragen
offen lassen kann. So kann mithilfe zufälliger Generalisierungen etwas als Erklärung
1 Im Folgenden werde ich dieser Argumentationslinie jedoch nicht nachgehen. Nur zwei Hinweise dazu: Erstens, als ein Indiz für die Zentralität der reduktiven Erklärungen innerhalb des mechanistischen Ansatzes kann die Tatsache gelten, dass die so genannten „konstitutiven Erklärungen“ (d.h. im Wesentlichen reduktive Erklärungen) auch bei Craver (2007) einen enormen Stellenwert und Raum einnehmen. Diese scheinen das Kernstück des mechanistischen Ansatzes zu bilden. Zweitens scheint kein Reduktionist bestreiten zu wollen, dass auch die Organisation der Teile für die Erklärung eine Rolle spielt.
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angeführt werden, das jedoch nicht relevant für das Explanandum ist, da z.B. keine
genuinen Ursachen benannt werden. Das D-N-Modell kann generell nicht zwischen
relevanten und irrelevanten Erklärungen bzw. zwischen möglichen und
anzunehmenden Erklärungen unterscheiden (vgl. für eine umfassende Kritik und
einen Alternativ-Ansatz für ätiologische Erklärungen, Craver 2007: Kapitel 2 und 3,
für konstitutive Erklärungen, Craver 2007: Kapitel 4).
Ein zweiter grundlegender Kritikpunkt kann für das Ebenenmodell von
Oppenheim und Putnam (1958) formuliert werden (vgl. Craver 2007: Kapitel 5).
Craver zeigt, dass die Ebenen der Natur nicht mit den Ebenen der
Theorien/Wissenschaften (wie es Oppenheim und Putnam behaupten)
korrespondieren. In Wirklichkeit gebe es keine monolithischen Ebenen der Welt, so
Craver (2007: 191).
Ein dritter damit zusammenhängender Kritikpunkt bezieht sich auf die
fundamentale Sichtweise, „nur“ mithilfe der niedrigeren Ebenen (also nur mithilfe
konstitutiver Mechanismen) bzw. mit der schrittweisen Reduktion auf eine
Basistheorie/Basiswissenschaft hin können wir „echte“ Vereinheitlichung in den
Wissenschaften erreichen (Craver 2007: Kapitel 7).
The reduction model is focused exclusively on explanations that appeal to lower-level
mechanisms, and so does not accommodate [important, B.G.] aspects of the
explanatory unity of neuroscience. (Craver 2007: 231)
Diese Art des Fundamentalismus könnte man „vereinheitlichenden“
Fundamentalismus nennen.
Eine metaphysische Ausprägung dieses Fundamentalismus (den man
„metaphysischen“ oder „kausalen Fundamentalismus“ nennen könnte) und damit ein
vierter Kritikpunkt ist in den aktuellen Debatten innerhalb der Philosophie des
Geistes anzutreffen. Hier wird behauptet (z.B. Kim 2005), dass es echte kausale Kraft
nur auf der niedrigsten Ebene geben könne, weshalb höhere Ebenen keine eigene
Kausalkraft besäßen (und damit weniger real seien). Mithilfe solcher Überlegungen
wird oft für einen reduktiven Physikalismus argumentiert (Kim 2005). Craver (2007:
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Kapitel 6) versucht zu zeigen, dass diese Art des Fundamentalismus nicht
angenommen werden muss. Er schreibt:
I defend the view that higher mechanistic levels are explanatorily relevant. I also show
that realized phenomena (that is, phenomena at higher levels of realization) are often
causally, and so explanatorily, relevant for many of the explanantia of interest to
neuroscientists. (Craver 2007: 195)
Nach diesem Überblick über die wichtigsten Kritikpunkte am Reduktionismus will
ich auf den dritten Kritikpunkt („vereinheitlichenden Fundamentalismus“) näher
eingehen (vgl. Craver 2005; Craver 2007: Kapitel 7).
4.2 Die Einheit der Neurowissenschaft folge nicht aus der „reduktiven
Vereinheitlichung“
Craver beschreibt die alternative Art der Vereinheitlichung von (ME) (d.h. alternativ
zum „vereinheitlichenden Fundamentalismus“ des Reduktionismus) als „intralevel“
und „interlevel integration“ zwischen verschiedenen Feldern. Die
Neurowissenschaften erhalten Input u.a. aus folgenden Feldern: Anatomie,
Biochemie, Informatik, Molekularbiologie, Elektrophysiologie, experimentelle
Psychologie, Pharmakologie, Psychiatrie, etc. (vgl. Craver 2007: 228) Die
verschiedenen Felder, die an der Integration beteiligt seien, sind gemäß Craver
autonom, haben ihre eigenen wichtigen Probleme und operieren mit unterschiedlichen
Techniken und Hintergrundannahmen. Damit könne ein möglicher Mechanismus
unabhängige Evidenz aus den verschiedenen Feldern erhalten.
Es gibt laut Craver drei Eigenschaften der Reduktion, die nicht zur Mosaik-
artigen Einheit der Neurowissenschaften passen, weshalb der reduktive Ansatz keine
adäquate Beschreibung liefere.
Erstens, Reduktion könne nicht mit „aufwärts-schauenden“ Aspekten umgehen,
denen in den Neurowissenschaften eine wichtige Rolle zukomme (Craver 2007: 232).
Craver zeigt, wie Erklärungen in den Neurowissenschaften verschiedene Perspektiven
einnehmen (multilevel explanations): top-down, bottom-up (vgl. auch die Aufsatz-
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Titel von Bechtel & Abrahamsen 2008; Bechtel 2009; Bechtel 2010). Die
Perspektiven zwischen den Ebenen sind auch in kontrollierten Experimenten
anzutreffen (z.B. gibt es Interferenz-Experimente: diese sind bottom-up hemmend,
z.B. Läsionsstudien; Stimulationsexperimente: diese sind bottom-up stimulierend,
z.B. Transkranielle Magnetstimulation (TMS); Aktivierungsexperimente: diese sind
top-down aktivierend, z.B. fMRI-Studien). Da die Mikroreduktion nur eine
fundamentalistische Perspektive nach unten einnehme, fehle hier die nach oben
gerichtete Sichtweise:
Oppenheim and Putnam recommended reduction as a working hypothesis for building
the unity of science. To support this thesis, they appeal to historical evidence of
reductive trends in science. But their argument is flawed because they overlook
evidence of upward-looking trends. (Craver 2007: 246)
Zweitens, Formen der Vereinheitlichung auf einer Ebene (intralevel) würden
ignoriert. Da die Mikroreduktion nur auf Reduktion zwischen den Ebenen als
vereinheitlichend fokussiert, kann sie die ebenfalls stattfindende „intralevel
integration“ nicht erklären. Ein Beispiel von Craver:
hippocampal synaptic plasticity was not discovered in a top-down, reductive search for
the neural correlate of memory; rather, it was noticed during an intralevel research
project in which anatomical and electrophysiological perspectives were integrated.
(Craver 2007: 240)
Drittens, im Beispiel zur Erforschung des Phänomens der Langzeitpotenzierung
(LTP), welches mit Prozessen des Lernens und des Gedächtnisses in Zusammenhang
gebracht wird, wurde Reduktion laut Craver als Ziel aufgegeben (entgegen der
empirischen These, dass die Wissenschaft nach dem reduktiven Ansatz verfahre, vgl.
Craver 2007: 237, 245). Mit der darauf folgenden Suche nach Mechanismen gelangte
man zu fruchtbareren Thesen und Erkenntnissen. LTP wurde im Verlauf der
Forschung nicht mehr als identisch mit Lernen und Gedächtnis angesehen, sondern
eher als Komponente des Mechanismus für Lernen und Gedächtnis. Insgesamt lässt
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sich mit Craver auch sagen, dass Reduktionen in der Neurowissenschaft selten zu
finden sind.
Die drei Kritikpunkte von Craver gegen die „reduktive Sicht der
Vereinheitlichung“ seien nochmals zusammengefasst:
(a) Reduktion könne nicht mit „aufwärts-schauenden“ Aspekten umgehen.
(b) Formen der Vereinheitlichung auf einer Ebene (intralevel) würden ignoriert.
(c) Anhand des Beispiels der Langzeitpotenzierung lasse sich zeigen, dass
Reduktion als Ziel aufgegeben wurde.
Als abschließende Bemerkung zum „vereinheitlichenden Fundamentalismus“ – bevor
ich zum nächsten Abschnitt komme – noch folgendes Zitat:
What seems right about this view of the unity of science is that higher-level (and
higher-order) phenomena can often be explained in terms of lower-order phenomena.
But this is not an argument for the thesis that the unity of science is achieved by
reduction to a common lowest level. (Craver 2007: 268, Hervorhebung B.G.)
5. Klassische Reduktion ist mit vielen Ideen der mechanistischen
Erklärung kompatibel
Im letzten Teil dieses Aufsatzes möchte ich einige Ideen von Nagel (1961)
einbringen, dem locus classicus der Theorienreduktion. Dabei möchte ich gegen die
obigen zwei Kritikpunkte (a) und (b) aus 4.2 argumentieren.
Zuerst zu (b), der Kritik, dass „intralevel“ Formen der Vereinheitlichung
ignoriert würden: Zwar sagen Oppenheim und Putnam (1958), dass nur reduktive
Beziehungen zwischen den Ebenen der Vereinheitlichung dienen. Sieht man sich
jedoch entsprechende Textstellen in Nagel (1961) an, so muss man feststellen, dass es
keine Beschränkung des Modells diesbezüglich gibt, d.h. Reduktion ist unspezifisch
und zunächst nicht auf Ebenen bezogen. Es muss erwähnt werden, dass Nagel keine
metaphysischen Aussagen machen wollte und kein so generell vereinheitlichendes
Modell wie Oppenheim und Putnam aufgestellt hat. Jedoch kann man aus seinen
17
Texten verschiedene Vorstellungen, wie intralevel integration funktioniert,
generieren.
Oft wird in der Diskussionsliteratur zu Nagel zwischen synchroner und
diachroner Reduktion unterschieden. Bei der synchronen Reduktion werden Theorien
verschiedener Ebene zur gleichen Zeit verglichen (ein Beispiel wäre die viel
diskutierte Reduktion der Thermodynamik auf die statistische Mechanik). Bei der
diachronen Reduktion werden zeitlich aufeinander folgende Theorien eines
Gegenstandsbereichs (also einer Ebene) verglichen (ein Beispiel wäre die Reduktion
der geometrischen Optik auf die Maxwellsche Theorie des Elektromagnetismus oder
die Reduktion der klassischen Mechanik auf die spezielle Relativitätstheorie). Eine
Vereinheitlichung auf einer Ebene kann so aussehen, dass Theorien für ähnliche,
benachbarte Phänomene entwickelt wurden (und zwar zunächst unabhängig
voneinander), die dann in ein einheitliches Modell integriert werden.
Nagels Beispiel für eine homogene Reduktion (bei der die wesentlichen Begriffe
sich zwischen den Theorien nicht unterscheiden; vgl. Nagel 1961: 338) ist die
Theorie der Mechanik, die zuerst nur für die Bewegungen von Punktmassen
formuliert worden war. Letztlich wurde sie dann auch auf Bewegungen von starren
sowie verformbaren Körpern ausgedehnt. Es kann dadurch eine Vereinheitlichung
erreicht werden, dass mehrere Phänomene (anfangs als zu verschiedenen Arten
gehörend gedacht) später mit einem einheitlichen Modell beschrieben werden können
(und somit unter die gleiche Art Phänomen subsumiert werden). Dazu Nagel:
A theory may be formulated initially for a type of phenomenon exhibited by a
somewhat restricted class of bodies, though subsequently the theory may be extended
to cover that phenomenon even when manifested by a more inclusive class of things.
(Nagel 1961: 338)
Das heißt, die klassische Reduktion schließt so etwas wie intralevel integration nicht
aus.
Nun zu (a), der Kritik dass Reduktion nicht mit upward-looking Aspekten
umgehen könne. Dazu lässt sich Folgendes erwidern: Nagel betont bei der
Besprechung seines Reduktionsmodells, dass nicht nur die beiden formalen
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Bedingungen der Verknüpfbarkeit und der Ableitbarkeit erfüllt sein müssen, sondern
ebenso verschiedene informelle Bedingungen. Beispielsweise müssen die
Brückengesetze durch empirische Evidenz möglichst aus mehreren unabhängigen
Quellen gut gestützt sein. Weiterhin muss durch die Reduktion der einen Theorie auf
die umfassendere Theorie eine fruchtbare Weiterentwicklung der Theorien in
Aussicht stehen, damit also auch der reduzierten Theorie. Dies klingt nun nicht so, als
würde hier die upward-looking Perspektive hin zur reduzierten Theorie höherer
Ebene vernachlässigt, denn durch die Integration in die reduzierende Theorie wird die
reduzierte erweitert und auf eine fruchtbarere Grundlage gestellt. Durch die
Reduktion der Thermodynamik auf die statistische Mechanik beispielsweise wurden
eine Menge bis dahin als unabhängig geglaubter Gesetze der Thermodynamik und
anderer Teile der Physik in ein einheitliches System integriert. Dazu zwei Zitate von
Nagel:
The reduction of thermodynamics to mechanics […] paved the way for a reformulation
of gas laws so as to bring them into accord with the behaviors of gases satisfying less
restrictive conditions; it provided leads to the discovery of new laws; and it supplied a
basis for exhibiting relations of systematic dependence among gas laws themselves, as
well as between gas laws and laws about bodies in other states of aggregation. (Nagel
1961: 359)
In consequence, the reduction of thermodynamics to kinetic theory not only supplies a
unified explanation for the laws of the former discipline; it also integrates these laws so
that directly relevant evidence for any one of them can serve as indirect evidence for
the others, and so that the available evidence for any of the laws cumulatively supports
various theoretical postulates of the primary science. (Nagel 1961: 361)
Es lässt sich also festhalten, dass die Nagel-Reduktion sehr wohl mit der upward-
looking Perspektive umgehen kann und sie mit berücksichtigt. Eine
Weiterentwicklung dieser (beibehaltenen) Züge der klassischen Reduktion finden wir
im New Wave Reduktionismus, einer Position, die explizit die Ko-Evolution von
Theorien verschiedener Ebene betont (also in der synchronen Reduktion die Ko-
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Evolution von reduzierter Theorie höherer Ebene und reduzierender Theorie
niedrigerer Ebene; vgl. Hooker 1981; Churchland 1986; Bickle 1996; Bickle 1998).
Insgesamt kann Nagels Bedingung der Verknüpfbarkeit für das Ziel von
Vereinheitlichung verteidigt werden und ist mit der intralevel/interlevel integration
des mechanistischen Erklärungsansatzes vereinbar.
6. Resümee
Im vorliegenden Aufsatz wurde Folgendes gezeigt: In einigen Texten, in denen der
mechanistische Erklärungsansatz beschrieben wird, wird dieser so dargestellt, dass er
ein reduktiver bzw. reduktionistischer Ansatz ist. In anderen Aufsätzen wird (ME) als
Gegenentwurf zum Reduktionismus bestimmt. In diesem Text habe ich zu zeigen
versucht, dass einerseits die Ideen der intralevel und interlevel integration in den
Neurowissenschaften, welche mit (ME) zusammengehen, und andererseits einige
Ausführungen von Nagel als klassischer Referenz zur Reduktion gar nicht so weit
auseinander liegen. Die Nagel-Reduktion scheint in manchen Punkten ein viel
liberalerer Ansatz zu sein als weithin behauptet (und kann durchaus vom Programm
der Mikroreduktion abgegrenzt werden). Diese Passung der Nagel-Reduktion mit
dem mechanistischen Erklärungsansatz kann nun als ein Indiz dafür gelesen werden,
dass es sich beim mechanistischen Ansatz um einen reduktiven Ansatz handelt, auch
wenn die Titelfrage des Aufsatzes nicht letztgültig beantwortet werden kann. Dazu
sind noch weitere Argumentationsschritte nötig.
Bettina Gutsche
Universität Mainz
20
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