Mechanistische Erklärung: Reduktiv oder nicht?

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Mechanistische Erklärung: Reduktiv oder nicht? Bettina Gutsche Dieses Paper erscheint 2013 im GAP8-Proceedings-Band, herausgegeben von T. Spitzley, M. Hoeltje & W. Spohn. Zusammenfassung Ist der Ansatz der mechanistischen Erklärung (ME) ein ausschließlich reduktiver Ansatz? Hat er reduktive Komponenten oder muss er als völliger Gegenentwurf zum Reduktionismus aufgefasst werden? Die Antworten hängen davon ab, wie Reduktionismus und Reduktion verstanden werden und wie die Vertreter von (ME) ihren Ansatz beschreiben. Während in einigen Publikationen William Bechtels und seiner Kollegen (Bechtel 2001; Bechtel 2007; Bechtel & Hamilton 2007) der mechanistische Erklärungsansatz durchaus als ein reduktionistischer Ansatz verstanden wird, so ist dies bei den Arbeiten von Carl Craver und seinen Kollegen (v.a. Machamer, Darden & Craver 2000; Craver 2005; Craver 2007) und auch bei neueren Publikationen von William Bechtel und Kollegen (Bechtel & Abrahamsen 2008; Bechtel 2009; Bechtel 2010) nicht der Fall. Im Folgenden wird anhand der angeführten Texte gezeigt, inwiefern (ME) als reduktiver Ansatz aufgefasst werden kann. Danach wird beschrieben, inwieweit (ME) dem Reduktionismus entgegengesetzt ist. Schließlich werden mit Ernest Nagel, dem Begründer der klassischen Reduktion, die verbleibenden reduktiven Komponenten von (ME) beleuchtet. Genauer: die „reduktive Sicht der Vereinheitlichung“, die Craver (2007) angreift und der er für die Neurowissenschaften eine alternative Form von Vereinheitlichung entgegensetzt, kann im Sinne von Nagel (1961) rehabilitiert werden. Damit wird die Nagel-Reduktion in Teilen als mit (ME) kompatibel erachtet.

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Mechanistische Erklärung: Reduktiv oder nicht?

Bettina Gutsche

Dieses Paper erscheint 2013 im GAP8-Proceedings-Band, herausgegeben von T.

Spitzley, M. Hoeltje & W. Spohn.

Zusammenfassung

Ist der Ansatz der mechanistischen Erklärung (ME) ein ausschließlich reduktiver

Ansatz? Hat er reduktive Komponenten oder muss er als völliger Gegenentwurf zum

Reduktionismus aufgefasst werden? Die Antworten hängen davon ab, wie

Reduktionismus und Reduktion verstanden werden und wie die Vertreter von (ME)

ihren Ansatz beschreiben. Während in einigen Publikationen William Bechtels und

seiner Kollegen (Bechtel 2001; Bechtel 2007; Bechtel & Hamilton 2007) der

mechanistische Erklärungsansatz durchaus als ein reduktionistischer Ansatz

verstanden wird, so ist dies bei den Arbeiten von Carl Craver und seinen Kollegen

(v.a. Machamer, Darden & Craver 2000; Craver 2005; Craver 2007) und auch bei

neueren Publikationen von William Bechtel und Kollegen (Bechtel & Abrahamsen

2008; Bechtel 2009; Bechtel 2010) nicht der Fall. Im Folgenden wird anhand der

angeführten Texte gezeigt, inwiefern (ME) als reduktiver Ansatz aufgefasst werden

kann. Danach wird beschrieben, inwieweit (ME) dem Reduktionismus

entgegengesetzt ist. Schließlich werden mit Ernest Nagel, dem Begründer der

klassischen Reduktion, die verbleibenden reduktiven Komponenten von (ME)

beleuchtet. Genauer: die „reduktive Sicht der Vereinheitlichung“, die Craver (2007)

angreift und der er für die Neurowissenschaften eine alternative Form von

Vereinheitlichung entgegensetzt, kann im Sinne von Nagel (1961) rehabilitiert

werden. Damit wird die Nagel-Reduktion in Teilen als mit (ME) kompatibel erachtet.

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1. Einleitung

In diesem Aufsatz geht es darum, ob der Ansatz der mechanistischen Erklärung, bei

dem kausale Mechanismen für bestimmte Phänomene v.a. in den

Neurowissenschaften gefunden werden, ein reduktiver bzw. reduktionistischer Ansatz

ist. Eine Hauptfrage dabei ist, ob der Ansatz reduktive Komponenten hat oder gar als

völliger Gegenentwurf zum Reduktionismus aufgefasst werden muss. Dies hängt

natürlich davon ab, wie Reduktionismus und Reduktion verstanden werden, jedoch

auch, wie die Vertreter der mechanistischen Erklärung ihren Ansatz beschreiben.

Während in einigen Publikationen William Bechtels und seiner Kollegen

(Bechtel 2001; Bechtel 2007; Bechtel & Hamilton 2007) der mechanistische

Erklärungsansatz durchaus als ein reduktionistischer Ansatz verstanden wird, so ist

dies bei den Arbeiten von Carl Craver und seinen Kollegen (v.a. Machamer, Darden

& Craver 2000; Craver 2005; Craver 2007) und auch bei neueren Publikationen von

William Bechtel und Kollegen (Bechtel & Abrahamsen 2008; Bechtel 2009; Bechtel

2010) nicht der Fall. Das heißt, hier wird der mechanistische Erklärungsansatz als

eine Alternative beschrieben, die die Vorzüge der Reduktion beibehält und die

Nachteile ausmerzt. Mehr noch, ein Vergleich mit dem „alten“ Reduktionsmodell

scheint nicht mehr angebracht, da der Ansatz der mechanistischen Erklärung

(nachfolgend auch (ME) genannt) eine eigene Betrachtungsweise bietet, die nicht mit

einem Konkurrenzmodell verglichen werden muss, um sich dagegen abzuheben.

Vielleicht markiert auch das Jahr 2007 mit dem Erscheinen von Cravers Explaining

the Brain einen Wendepunkt in der Beschreibung des mechanistischen

Erklärungsansatzes, da Craver (2007) so prägnant und scharfsinnig die Vorzüge des

mechanistischen Ansatzes erklärt, z.B. seine empirische Plausibilität (d.h. dass in den

Neurowissenschaften wirklich Forschung nach diesem Modell betrieben wird und

nicht nach dem Modell der Reduktion), sowie die Kritikpunkte am klassischen

Reduktionsmodell herausstellt.

Im Folgenden möchte ich anhand der angeführten Texte zunächst zeigen,

inwiefern (ME) als reduktionistischer Ansatz verstanden werden kann (Abschnitt 3),

danach beschreibe ich, inwieweit (ME) dem Reduktionismus entgegengesetzt ist (d.h.

die Kritik am Reduktionismus, Abschnitt 4), um am Ende jedoch mit Ernest Nagel,

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dem Begründer der klassischen Reduktion, wieder die verbleibenden reduktiven

Komponenten von (ME) zu beleuchten (Abschnitt 5). Genauer heißt das: die

„reduktive Sicht der Vereinheitlichung“, die Craver (2007) angreift und der er für die

Neurowissenschaften eine alternative Form von Vereinheitlichung

(„intralevel/interlevel integration“) entgegensetzt, kann im Sinne von Nagel (1961)

rehabilitiert werden. Im Fazit wird die Nagel-Reduktion in Teilen als mit dem

mechanistischen Ansatz kompatibel erachtet.

Zuvor soll jedoch eine kurze Charakterisierung des Ansatzes der

mechanistischen Erklärung gegeben werden und anhand des Beispiels der

Weiterleitung eines Aktionspotentials veranschaulicht werden, wie mechanistische

Erklärung funktioniert (Abschnitt 2).

2. Mechanistische Erklärung

Was macht den mechanistischen Erklärungsansatz (möglicherweise im Gegensatz zur

klassischen Reduktion) aus? Darin, d.h. in einer ersten kurzen Definition,

unterscheiden sich Bechtel und Craver und jeweilige Kollegen kaum. Schauen wir

uns drei entsprechende Zitate an, die auf die Frage antworten, was ein Mechanismus

ist. Ein Mechanismus ist „a set of entities and activities organized such that they

exhibit the phenomenon to be explained.“ (Craver 2007: 5) Mechanismen sind

collections of entities and activities organized in the production of regular changes

from start or setup conditions to finish or termination conditions (Craver 2002: S84,

ähnlich in Machamer, Darden & Craver 2000).

Ein Mechanismus ist

a structure performing a function in virtue of its component parts, component

operations, and their organization. The orchestrated functioning of the mechanism is

responsible for one or more phenomena (Bechtel & Hamilton 2007: 405; aus Bechtel

& Abrahamsen 2005: 423).

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Die wichtigsten Bestandteile eines Mechanismus sind also seine (relevanten) Teile

bzw. Entitäten, entsprechende Operationen/Aktivitäten und eine entsprechende

Organisation. Entitäten sind Komponenten (d.h. relevante Teile) im Mechanismus

mit bestimmten Eigenschaften: sie sind lokalisierbar, haben eine bestimmte Größe,

Struktur und können auch eine bestimmte Ausrichtung haben. Aktivitäten sind die

kausalen Bestandteile des Mechanismus (vgl. Craver 2007: 6). Aktivitäten sind

produktiv in dem Sinne, dass sie einen (kausalen) Unterschied machen (gehen also

über Korrelationen, pure zeitliche Sequenzen hinaus und können für „Manipulation

und Kontrolle“ genutzt werden). Die Entitäten und Aktivitäten sind zudem zeitlich,

räumlich, kausal und hierarchisch organisiert und mit einem Mechanismus wird ein

zu erklärendes Phänomen beschrieben.

Es geht also augenscheinlich im mechanistischen Erklärungsansatz darum, ein

Phänomen dadurch zu erklären, dass ein „zugrunde liegender“ Mechanismus

angegeben wird, bei dem auf die Teile des Phänomens sowie auf deren

Zusammenspiel rekurriert wird. Anders scheinbar als bei der klassischen Reduktion

(siehe auch Unterabschnitt 3.1) geht es nicht darum, die Beschreibung des

Phänomens aus der Beschreibung der Prozesse auf einer niedrigeren Ebene logisch

abzuleiten.

Beispiele für Mechanismen finden sich zahlreich in den Bio- und

Neurowissenschaften, z.B. die Entstehung eines Aktionspotentials (und deren

Weiterleitung, das heißt elektrische Signalweiterleitung am Axon bzw. chemische

Signalübertragung an der Synapse), DNA-Transkription und Translation, das

Phänomen der Langzeitpotenzierung (LTP = long term potentiation), das mit Lernen

und Gedächtnis in Verbindung gebracht wird, Prozesse der visuellen Wahrnehmung

etc. Als ein Beispiel soll in den folgenden drei Unterabschnitten die Weiterleitung

eines Aktionspotentials am Axon beschrieben werden (vgl. Birbaumer & Schmidt

2006: Kapitel 3; Schandry 2003: Kapitel 4).

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2.1 Weiterleitung des Aktionspotentials am Axon – das Ruhepotential

Dieser Vorgang nimmt das so genannte Ruhepotential einer Nervenzelle zum

Ausgangspunkt. Das Ruhepotential der Nervenzellen liegt durchschnittlich bei etwa

-70mV und kommt dadurch zustande, dass die Konzentration von innerhalb und

außerhalb der Zellmembran befindlichen positiv oder negativ geladenen Ionen sich

derart verteilt, dass im Inneren der Zelle eine negativere Ladung vorliegt. Positiv

geladene Ionen sind z.B. Kalium- (K+), Natrium- (Na+) und Kalzium-Ionen (Ca2+);

negativ geladene Ionen sind z.B. Chlorid-Ionen (Cl-) und Eiweiß-Anionen. Die

Zellmembran ist nicht für alle Ionen gleichermaßen durchlässig. Dies ist ein Grund,

warum es nicht zu einem Ladungsausgleich kommt und das Ruhepotential

aufrechterhalten wird (entgegen der Diffusionskraft sowie der elektrischen Anziehung

verschieden geladener Ionen). Ein weiterer Grund ist die unter Energieausnutzung

(also durch Anlagerung von ATP/Adenosintriphosphat) funktionierende Natrium-

Kalium-Pumpe, ein Ionenkanal, der Natrium-Ionen aus der Zelle hinausbefördert und

Kalium-Ionen wieder in die Zelle hineinbringt (dabei werden mehr positiv geladene

Na+ Ionen hinaus als positiv geladene K+ Ionen in die Zelle hinein befördert).

2.2 Weiterleitung des Aktionspotentials am Axon – das Aktionspotential

Ein Aktionspotential kann nun derart beschrieben werden, dass die Zelle (z.B. durch

verschiedene Signale von benachbarten Zellen meist über Synapsen und über die

Dendriten der Zelle übertragen) eine Depolarisation über einen bestimmten

Schwellenwert hinaus (z.B. -40mV) erfährt und damit „feuert“. Die charakteristische

Spannungskurve eines Aktionspotentials ist gekennzeichnet durch einen steilen

Anstieg des Potentials in den positiven Bereich hinein (das Maximum liegt etwa bei

+30/+40mV) sowie danach einen etwas flacheren Abfall des Potentials

(Repolarisation) über ein Nachpotential in die negative Richtung (Hyperpolarisation)

wieder zurück zum Ruhepotential. An der Zellmembran wird das Aktionspotential

durch verschiedene Ionenkanäle und den Austausch und die Wanderung von Ionen

realisiert: wird der Schwellenwert erreicht, so öffnen sich spannungssensitive

Natrium-Kanäle und in sehr kurzer Zeit strömen viele Na+ Ionen in die Zelle hinein,

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das Membranpotential wird positiv. Nach etwa 1 ms schließen sich die Kanäle wieder

und es kommt zur Öffnung von Kalium-Kanälen, durch die K+ Ionen rasch aus der

Zelle hinauswandern, womit das Potential wieder ins Negative abfällt. Die dadurch

veränderten Konzentrationen der Natrium- und Kalium-Ionen werden durch die

Natrium-Kalium-Pumpe wieder ins Gleichgewicht gebracht.

2.3 Weiterleitung des Aktionspotentials am Axon – Ausbreitung des Potentials

Ruhe- und Aktionspotential, wie bisher beschrieben, sind nun die Grundlagen dafür

zu verstehen, wie sich ein Aktionspotential vom Axonhügel der Zelle aus entlang des

Axons weiter ausbreitet (diese Ausbreitung erfolgt in der Regel immer nur in eine

Richtung) hin zu den nachgeschalteten Nervenzellen. Die Ionenströme erfolgen nicht

nur zwischen Zellinnerem und dem extrazellulären Raum, sondern die Ionen können

auch innerhalb der Zelle entlang des Axons wandern. Durch die

spannungsgesteuerten Natrium-Kanäle wird an einer Stelle des Axons ein

Aktionspotential generiert, welches wiederum benachbarte Natrium-Kanäle in

Ausbreitungsrichtung stimuliert und damit aktiviert. So kann sich das

Aktionspotential entlang des Axons ausbreiten (in etwa vergleichbar mit dem

„Abbrennen“ einer Zündschnur).

In dieser mechanistischen Erklärungsskizze wurden z.B. folgende Entitäten

benannt: die Zelle, ihre Teile wie Dendriten, Axonhügel und Axon; Natrium- und

Kalium-Ionen; verschiedene Arten von Ionenkanälen wie spannungsgesteuerte

Natrium- und Kalium-Kanäle, die Natrium-Kalium-Pumpe, etc. Die Aktivitäten im

beschriebenen Mechanismus sind z.B. Depolarisieren, Öffnen, Schließen,

Einströmen, Ausströmen, etc. Die zeitliche und räumliche Organisation wurde

ebenso angedeutet: z.B. das Schließen der Natrium-Kanäle nach einer kurzen Zeit

von 1 ms, die Signalweiterleitung in eine Richtung vom Zellkörper und Axonhügel

weg zum Ende des Axons hin.

Die Auseinandersetzung mit dem mechanistischen Erklärungsansatz wirft einige

Fragen auf, die ich hier kurz andeuten, denen ich jedoch im Folgenden nicht weiter

nachgehen möchte (einen interessanten Beitrag dazu leistet m.E. Fazekas & Kertész

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2011). Eine der Fragen ist diejenige nach dem Zusammenhang zwischen dem

Mechanismus und dem zu erklärenden Phänomen. Der Mechanismus erklärt das

Phänomen, also scheint er nicht damit identisch sein zu können. Weiterhin scheint der

Mechanismus als Ganzer (mitsamt seiner Organisation) auf einer höheren Ebene

ansässig zu sein als die entsprechenden Teile des Phänomens bzw. Teile im

Mechanismus (man spricht auch davon, dass die organisierten Teile den

Mechanismus konstituieren). Man fragt sich hier beispielsweise, auf welcher Ebene

sich die „organisierten“ Teile eines Mechanismus befinden: auf der Ebene der Teile,

auf der (höheren) Ebene des Mechanismus oder auf der (ebenfalls höheren) Ebene des

Phänomens? Diese Fragen zu beantworten scheint relevant für die Bewertung des

mechanistischen Ansatzes als ein reduktiver oder nicht-reduktiver Ansatz zu sein

(siehe Fazekas & Kertész 2011). Hier möchte ich jedoch einen anderen Weg

einschlagen und explizit eine Kritik von Craver (2007) zurückweisen (siehe

Abschnitte 4 und 5).

Nach dieser ausführlichen Illustration, wie eine mechanistische Erklärung

aussieht, komme ich zum nächsten Abschnitt.

3. Mechanistische Erklärung als ein reduktiver Ansatz

3.1 Modelle der Reduktion

Zuerst soll ein kurzer Überblick über die klassische Reduktion und ihre Ableger

gegeben werden. Bei klassischen Reduktionsmodellen handelt es sich um Varianten

der Theorienreduktion, d.h. es werden verschiedene Theorien aufeinander reduziert.

Die beiden wichtigsten formalen Prinzipien der Nagel-Reduktion (Nagel 1961:

Kapitel 11) sind Verknüpfbarkeit (connectability) und Ableitbarkeit (derivability),

d.h. wenn es der Fall ist, dass einige von den Begriffen der zu reduzierenden Theorie

nicht in der reduzierenden Theorie enthalten sein sollten (heterogene Reduktion), so

kann über begriffliche Verbindungen (die viel zitierten Brückengesetze) das fehlende

Vokabular in die reduzierende Theorie eingeführt werden (Verknüpfbarkeit).

Verfügen beide Theorien dann über die gleichen Begriffe (bzw. die Basistheorie muss

über die (wahren) Begriffe der zu reduzierenden Theorie verfügen, Nagel spricht von

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homogener Reduktion), so können auch idealerweise die Gesetze der zu

reduzierenden Theorie aus den Gesetzen der reduzierenden Theorie abgeleitet werden

(Ableitbarkeit). Aus der Ableitbarkeit folgt die Verknüpfbarkeit, aber nicht

umgekehrt.

Eine eher metaphysische Abwandlung dieses Ansatzes ist in dem Manifest (wie

es Craver (2007) nennt) von Oppenheim und Putnam (1958) zu finden – in ihrem

Programm der Mikroreduktion. Hier werden reduktive Ebenen vorausgesetzt und

Reduktion wird als Mittel begriffen, eine Vereinheitlichung in den Wissenschaften

herzustellen, d.h. es werden nur reduktive Beziehungen zwischen den Ebenen als

vereinheitlichend gewertet.

Diese beiden Modelle (das von Nagel und das der Mikroreduktion) werden oft

zusammen unter das Etikett „klassische Reduktion“ subsumiert (vgl. z.B. Fodor 1974;

McCauley 1986: 180; obwohl sich die Modelle durchaus unterscheiden) und als

starke Ansätze der Reduktion aufgefasst. Hier sollte m.E. jedoch – wie sich im

Folgenden auch in diesem Aufsatz zeigen wird – eine schärfere Trennlinie gezogen

werden.

Neuere Reduktionsmodelle gestehen auch zu, dass Teile der reduzierten Theorie

verworfen werden können, solange sich die wahren Teile nichtsdestotrotz annähernd

aus der Basistheorie ableiten lassen (einige dieser Ansätze findet man in der Literatur

unter dem Stichwort „New Wave Reduktionismus“, z.B. Hooker 1981; Bickle 1996;

Bickle 1998). Modelle der approximativen Reduktion (z.B. auch Schaffner 1967)

„allow the fit between reduced and reducing theory to be less than exact“ (Craver

2007: 229).

Als letzte abgeschwächte Variante der Reduktion wird in der Debatte vielfach

behauptet, dass Theorienreduktion in den Neurowissenschaften (und als ein

Anwendungsfall der mind sciences für das Körper-Geist-Problem) nicht erreicht

werden kann. Stattdessen könne man jedoch Phänomene höherer Ebenen immer noch

reduktiv erklären. Schwache Varianten der Reduktion haben das Prinzip der

Ableitbarkeit komplett aufgegeben und Reduktion besteht nur noch darin, dass

Phänomene höherer Ebenen durch fundamentale Mechanismen oder Gesetze erklärt

werden sollen/können: „All that remains of reduction in these cases is a commitment

to the primacy of downward and fundamental explanation.“ (Craver 2007: 230) Wir

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haben im letzten Fall also noch eine Art „Perspektive-nach-unten“ (downward

looking perspective), der ein Vorrang eingeräumt wird.

Die Reduktionsmodelle können in abnehmender Stärke (in Anlehnung an Craver

2007: 229) wie folgt aufgelistet werden:

(1) Klassische Reduktion (Nagel-Reduktion und Mikroreduktion),

(2) Approximative Reduktion, z.B. New Wave Reduktion,

(3) Reduktive Erklärung.

3.2 Mechanistische Erklärung ist reduktiv

Inwiefern kann nun der mechanistische Erklärungsansatz als ein reduktionistischer

Ansatz verstanden werden? Am ehesten sicher als Reduktionismus in seiner

schwächsten Variante. Dies wird z.B. an dem Titel eines Papers von Bechtel deutlich:

„Reducing Psychology while Maintaining its Autonomy via Mechanistic

Explanations“ (Bechtel 2007). Wir können einerseits die Psychologie (bzw. ihre

Theorien) reduzieren, aber dennoch ihre Autonomie aufrecht erhalten (ein oftmals

vorgebrachter Vorwurf gegen die klassische Reduktion, d.h. das Problem, dass die

Nagel-Reduktion kontraintuitive Konsequenzen für alle nicht-fundamentalen

(„speziellen“) Wissenschaften und deren Gegenstände habe, vgl. Fodor 1974), und

zwar mithilfe von mechanistischen Erklärungen. Laut Bechtel (2007) sind

mechanistische Erklärungen sowohl reduktionistisch in diesem schwächeren Sinn als

auch kompatibel mit der Vorstellung der Autonomie höherer Ebenen.

Es fragt sich dennoch, was reduzieren in diesem Kontext noch bedeuten kann.

Denn Bechtel (2007) bezieht sich auch auf Ebenen von Mechanismen (ähnlich wie

Craver 2007: Kapitel 5). Diese seien lokal definiert (bzw. unter Rückgriff auf

Mechanismen), so dass ein umfassender „Blick nach unten“ damit gar nicht

gewährleistet werden könne, da Entitäten nur innerhalb eines Mechanismus bezüglich

ihrer Ebenen verglichen werden können. Was bei (ME) an Reduktion zu bleiben

scheint, ist allein die „Perspektive nach unten“, die jedoch keine Priorität zu haben

scheint. Somit haben wir es hier mit einem noch schwächeren Begriff von

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Reduktionismus zu tun. Laut Bechtel sei der reduktive Aspekt (den Prinzipien der

Dekomposition und Lokalisierung folgend) allein nicht hinreichend, um das Verhalten

des Mechanismus zu erklären. Wichtig seien nicht nur die Teile und ihre Operationen,

sondern auch ihre Organisation.

In Bechtel und Hamilton (2007) findet sich z.B. folgendes Zitat:

A central feature of mechanistic explanations, and the one that makes them reductive,

is that they involve decomposing the system responsible for a phenomenon into

component parts and component operations. (Bechtel & Hamilton 2007: 405)

Durch den Rekurs auf zugrunde liegende Komponenten und Operationen bleibe der

reduktionistische Anspruch gewahrt. Jedoch wird nicht davon ausgegangen, dass die

Teile allein die entsprechenden Phänomene hervorbringen, sondern der Mechanismus

als Ganzer.

Ähnliche Argumentationsstränge finden sich auch in Craver und Bechtel (2007).

Die Autoren nehmen an, dass es Ursachen höherer Ebene gibt, die jedoch durch

konstitutive Mechanismen (niedrigerer Ebene) vollständig erklärt werden können. In

Craver und Bechtel (2007) wird die mysteriöse Rede von Verursachung zwischen den

Ebenen (between-level causation) analysiert. Der Mechanismus könne zwar kausale

Eigenschaften haben, die seine Teile nicht haben, aber „[w]e do not assume that the

mechanism has causal powers over and above the organized collection of their parts.”

(Craver & Bechtel 2007: 548, Fußnote 2)

Schauen wir uns noch einmal die Auflistung mit den reduktionistischen

Positionen in 3.1 an. Es scheint, als müssten wir eine vierte Position hinzufügen, die

aber so schwach zu sein scheint, dass sie womöglich in eine anti-reduktionistische

Perspektive „umkippt“ (vgl. Abschnitt 4):

(1) Klassische Reduktion (Nagel-Reduktion und Mikroreduktion),

(2) Approximative Reduktion, z.B. New Wave Reduktion,

(3) Reduktive Erklärung,

(4) (ME) ist reduktiv in dem Sinne, dass es einen reduktiven Aspekt gibt, eine

downward-looking-Perspektive.

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Diese „Perspektive-nach-unten“ scheint aber verglichen mit derjenigen im Modell der

reduktiven Erklärung keine Priorität zu haben. Ebenso wichtig scheint die upward-

looking-Perspektive zu sein (vgl. dazu auch den eindrücklichen Titel von Bechtel

(2009): „Looking Down, Around, and Up: Mechanistic Explanation in Psychology“).

Dieses vorläufige Ergebnis bedarf einer weiteren Kommentierung. Bliebe es bei

dieser Diagnose, dass der Ansatz der mechanistischen Erklärung nur reduktiv im

Sinne von (4) sei, so hieße dies, dass sich in (ME) reduktive und nicht-reduktive

Komponenten mischen und man nicht letztgültig sagen könnte, ob (ME) nun reduktiv

sei oder nicht. Die Antwort wäre ein Kompromiss, d.h. mechanistische Erklärung

scheint beides zu sein, sowohl reduktiv als auch nicht-reduktiv.

Fraglich bleibt dabei jedoch, was mit der „Perspektive-nach-unten“ bzw.

„Perspektive-nach-oben“ genau gemeint ist. Sicherlich gilt auch für die klassische

Reduktion, dass es Phänomene höherer Ebene gibt, dass damit auch verschiedene

Perspektiven einhergehen können. Im Standard-Beispiel für die Nagel-Reduktion, der

Reduktion der Thermodynamik auf die statistische Mechanik, wird die Theorie der

Thermodynamik unter Zusatzannahmen auf die Theorie der Mechanik reduziert bzw.

aus ihr abgeleitet. Eine der Zusatzannahmen bezeichnet dabei die Verknüpfung des

Begriffs „Temperatur (eines Gases)“ aus der Theorie der Thermodynamik mit dem

Begriff „mittleren kinetischen Energie (der Moleküle des Gases)“ aus der Theorie der

Mechanik. Das heißt, ein Phänomen höherer Ebene wird mithilfe von Prozessen

niedrigerer Ebene erklärt. Dennoch bleibt das Phänomen höherer Ebene bestehen.

Auch wird die Theorie der Thermodynamik durch die Reduktion gerechtfertigt und

damit weiterentwickelt. Es ließe sich also sagen, dass auch in der klassischen

Reduktion verschiedene Perspektiven – nach oben, nach unten, zur Seite –

eingenommen werden (vgl. auch Abschnitt 5).

Dennoch scheint gerade die klassische Reduktion deshalb reduktiv zu sein, weil

das Phänomen höherer Ebene durch Prozesse niedrigerer Ebene erklärt wird. Die

niedrigeren Ebenen haben also eine Erklärungspriorität, und es lässt sich dafür

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argumentieren, dass diese Erklärungspriorität auch im mechanistischen Ansatz

besteht, dass (ME) also reduktiv im Sinne von (3) ist.1

Nachdem ich nun angedeutet habe, worin das Reduktionistische am Ansatz der

mechanistischen Erklärung liegt, komme ich zum nächsten Abschnitt.

4. Mechanistische Erklärung als ein nicht-reduktiver Ansatz

4.1 Mechanistische Erklärung ist nicht-reduktiv auf vielfältige Weise

Warum ist der Ansatz der mechanistischen Erklärung kein reduktiver Ansatz? Dazu

findet man bei Craver (2007) in nahezu jedem Kapitel relevante Aussagen. Es lassen

sich vier Hauptkritikpunkte am klassischen Reduktionsmodell ausmachen, welche

(ME) versucht zu umgehen.

Erstens muss daran erinnert werden, dass die Nagel-Reduktion eine

Verallgemeinerung des deduktiv-nomologischen Modells der Erklärung (D-N-

Modell) ist, weshalb die zahlreichen Kritikpunkte gegen das D-N-Modell auch gegen

die Nagel-Reduktion angeführt werden können. Logische Ableitung aus

gesetzesartigen Verallgemeinerungen ist weder notwendig noch hinreichend dafür,

dass das entsprechende Explanandum erklärt wird. Das D-N-Modell ist nicht

notwendig (d.h. es ist zu restriktiv bzw. lässt manche Schlüsse, die Erklärungen sind,

nicht als solche gelten), weil es z.B. in den Neurowissenschaften keiner (strikten)

Gesetze bedarf, um erfolgreiche Erklärungen abzugeben. Stattdessen sind die

Generalisierungen in den Neurowissenschaften eher ceteris paribus Gesetze bzw.

„fragile Generalisierungen“ – ein Begriff von Craver (2007). Das D-N-Modell ist

auch nicht hinreichend (d.h. es ist zu liberal, es lässt Erklärungen als Erklärungen

durchgehen, die keine sind), da eine Ableitung, die dem Schema genügt, noch Fragen

offen lassen kann. So kann mithilfe zufälliger Generalisierungen etwas als Erklärung

1 Im Folgenden werde ich dieser Argumentationslinie jedoch nicht nachgehen. Nur zwei Hinweise dazu: Erstens, als ein Indiz für die Zentralität der reduktiven Erklärungen innerhalb des mechanistischen Ansatzes kann die Tatsache gelten, dass die so genannten „konstitutiven Erklärungen“ (d.h. im Wesentlichen reduktive Erklärungen) auch bei Craver (2007) einen enormen Stellenwert und Raum einnehmen. Diese scheinen das Kernstück des mechanistischen Ansatzes zu bilden. Zweitens scheint kein Reduktionist bestreiten zu wollen, dass auch die Organisation der Teile für die Erklärung eine Rolle spielt.

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angeführt werden, das jedoch nicht relevant für das Explanandum ist, da z.B. keine

genuinen Ursachen benannt werden. Das D-N-Modell kann generell nicht zwischen

relevanten und irrelevanten Erklärungen bzw. zwischen möglichen und

anzunehmenden Erklärungen unterscheiden (vgl. für eine umfassende Kritik und

einen Alternativ-Ansatz für ätiologische Erklärungen, Craver 2007: Kapitel 2 und 3,

für konstitutive Erklärungen, Craver 2007: Kapitel 4).

Ein zweiter grundlegender Kritikpunkt kann für das Ebenenmodell von

Oppenheim und Putnam (1958) formuliert werden (vgl. Craver 2007: Kapitel 5).

Craver zeigt, dass die Ebenen der Natur nicht mit den Ebenen der

Theorien/Wissenschaften (wie es Oppenheim und Putnam behaupten)

korrespondieren. In Wirklichkeit gebe es keine monolithischen Ebenen der Welt, so

Craver (2007: 191).

Ein dritter damit zusammenhängender Kritikpunkt bezieht sich auf die

fundamentale Sichtweise, „nur“ mithilfe der niedrigeren Ebenen (also nur mithilfe

konstitutiver Mechanismen) bzw. mit der schrittweisen Reduktion auf eine

Basistheorie/Basiswissenschaft hin können wir „echte“ Vereinheitlichung in den

Wissenschaften erreichen (Craver 2007: Kapitel 7).

The reduction model is focused exclusively on explanations that appeal to lower-level

mechanisms, and so does not accommodate [important, B.G.] aspects of the

explanatory unity of neuroscience. (Craver 2007: 231)

Diese Art des Fundamentalismus könnte man „vereinheitlichenden“

Fundamentalismus nennen.

Eine metaphysische Ausprägung dieses Fundamentalismus (den man

„metaphysischen“ oder „kausalen Fundamentalismus“ nennen könnte) und damit ein

vierter Kritikpunkt ist in den aktuellen Debatten innerhalb der Philosophie des

Geistes anzutreffen. Hier wird behauptet (z.B. Kim 2005), dass es echte kausale Kraft

nur auf der niedrigsten Ebene geben könne, weshalb höhere Ebenen keine eigene

Kausalkraft besäßen (und damit weniger real seien). Mithilfe solcher Überlegungen

wird oft für einen reduktiven Physikalismus argumentiert (Kim 2005). Craver (2007:

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Kapitel 6) versucht zu zeigen, dass diese Art des Fundamentalismus nicht

angenommen werden muss. Er schreibt:

I defend the view that higher mechanistic levels are explanatorily relevant. I also show

that realized phenomena (that is, phenomena at higher levels of realization) are often

causally, and so explanatorily, relevant for many of the explanantia of interest to

neuroscientists. (Craver 2007: 195)

Nach diesem Überblick über die wichtigsten Kritikpunkte am Reduktionismus will

ich auf den dritten Kritikpunkt („vereinheitlichenden Fundamentalismus“) näher

eingehen (vgl. Craver 2005; Craver 2007: Kapitel 7).

4.2 Die Einheit der Neurowissenschaft folge nicht aus der „reduktiven

Vereinheitlichung“

Craver beschreibt die alternative Art der Vereinheitlichung von (ME) (d.h. alternativ

zum „vereinheitlichenden Fundamentalismus“ des Reduktionismus) als „intralevel“

und „interlevel integration“ zwischen verschiedenen Feldern. Die

Neurowissenschaften erhalten Input u.a. aus folgenden Feldern: Anatomie,

Biochemie, Informatik, Molekularbiologie, Elektrophysiologie, experimentelle

Psychologie, Pharmakologie, Psychiatrie, etc. (vgl. Craver 2007: 228) Die

verschiedenen Felder, die an der Integration beteiligt seien, sind gemäß Craver

autonom, haben ihre eigenen wichtigen Probleme und operieren mit unterschiedlichen

Techniken und Hintergrundannahmen. Damit könne ein möglicher Mechanismus

unabhängige Evidenz aus den verschiedenen Feldern erhalten.

Es gibt laut Craver drei Eigenschaften der Reduktion, die nicht zur Mosaik-

artigen Einheit der Neurowissenschaften passen, weshalb der reduktive Ansatz keine

adäquate Beschreibung liefere.

Erstens, Reduktion könne nicht mit „aufwärts-schauenden“ Aspekten umgehen,

denen in den Neurowissenschaften eine wichtige Rolle zukomme (Craver 2007: 232).

Craver zeigt, wie Erklärungen in den Neurowissenschaften verschiedene Perspektiven

einnehmen (multilevel explanations): top-down, bottom-up (vgl. auch die Aufsatz-

15

Titel von Bechtel & Abrahamsen 2008; Bechtel 2009; Bechtel 2010). Die

Perspektiven zwischen den Ebenen sind auch in kontrollierten Experimenten

anzutreffen (z.B. gibt es Interferenz-Experimente: diese sind bottom-up hemmend,

z.B. Läsionsstudien; Stimulationsexperimente: diese sind bottom-up stimulierend,

z.B. Transkranielle Magnetstimulation (TMS); Aktivierungsexperimente: diese sind

top-down aktivierend, z.B. fMRI-Studien). Da die Mikroreduktion nur eine

fundamentalistische Perspektive nach unten einnehme, fehle hier die nach oben

gerichtete Sichtweise:

Oppenheim and Putnam recommended reduction as a working hypothesis for building

the unity of science. To support this thesis, they appeal to historical evidence of

reductive trends in science. But their argument is flawed because they overlook

evidence of upward-looking trends. (Craver 2007: 246)

Zweitens, Formen der Vereinheitlichung auf einer Ebene (intralevel) würden

ignoriert. Da die Mikroreduktion nur auf Reduktion zwischen den Ebenen als

vereinheitlichend fokussiert, kann sie die ebenfalls stattfindende „intralevel

integration“ nicht erklären. Ein Beispiel von Craver:

hippocampal synaptic plasticity was not discovered in a top-down, reductive search for

the neural correlate of memory; rather, it was noticed during an intralevel research

project in which anatomical and electrophysiological perspectives were integrated.

(Craver 2007: 240)

Drittens, im Beispiel zur Erforschung des Phänomens der Langzeitpotenzierung

(LTP), welches mit Prozessen des Lernens und des Gedächtnisses in Zusammenhang

gebracht wird, wurde Reduktion laut Craver als Ziel aufgegeben (entgegen der

empirischen These, dass die Wissenschaft nach dem reduktiven Ansatz verfahre, vgl.

Craver 2007: 237, 245). Mit der darauf folgenden Suche nach Mechanismen gelangte

man zu fruchtbareren Thesen und Erkenntnissen. LTP wurde im Verlauf der

Forschung nicht mehr als identisch mit Lernen und Gedächtnis angesehen, sondern

eher als Komponente des Mechanismus für Lernen und Gedächtnis. Insgesamt lässt

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sich mit Craver auch sagen, dass Reduktionen in der Neurowissenschaft selten zu

finden sind.

Die drei Kritikpunkte von Craver gegen die „reduktive Sicht der

Vereinheitlichung“ seien nochmals zusammengefasst:

(a) Reduktion könne nicht mit „aufwärts-schauenden“ Aspekten umgehen.

(b) Formen der Vereinheitlichung auf einer Ebene (intralevel) würden ignoriert.

(c) Anhand des Beispiels der Langzeitpotenzierung lasse sich zeigen, dass

Reduktion als Ziel aufgegeben wurde.

Als abschließende Bemerkung zum „vereinheitlichenden Fundamentalismus“ – bevor

ich zum nächsten Abschnitt komme – noch folgendes Zitat:

What seems right about this view of the unity of science is that higher-level (and

higher-order) phenomena can often be explained in terms of lower-order phenomena.

But this is not an argument for the thesis that the unity of science is achieved by

reduction to a common lowest level. (Craver 2007: 268, Hervorhebung B.G.)

5. Klassische Reduktion ist mit vielen Ideen der mechanistischen

Erklärung kompatibel

Im letzten Teil dieses Aufsatzes möchte ich einige Ideen von Nagel (1961)

einbringen, dem locus classicus der Theorienreduktion. Dabei möchte ich gegen die

obigen zwei Kritikpunkte (a) und (b) aus 4.2 argumentieren.

Zuerst zu (b), der Kritik, dass „intralevel“ Formen der Vereinheitlichung

ignoriert würden: Zwar sagen Oppenheim und Putnam (1958), dass nur reduktive

Beziehungen zwischen den Ebenen der Vereinheitlichung dienen. Sieht man sich

jedoch entsprechende Textstellen in Nagel (1961) an, so muss man feststellen, dass es

keine Beschränkung des Modells diesbezüglich gibt, d.h. Reduktion ist unspezifisch

und zunächst nicht auf Ebenen bezogen. Es muss erwähnt werden, dass Nagel keine

metaphysischen Aussagen machen wollte und kein so generell vereinheitlichendes

Modell wie Oppenheim und Putnam aufgestellt hat. Jedoch kann man aus seinen

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Texten verschiedene Vorstellungen, wie intralevel integration funktioniert,

generieren.

Oft wird in der Diskussionsliteratur zu Nagel zwischen synchroner und

diachroner Reduktion unterschieden. Bei der synchronen Reduktion werden Theorien

verschiedener Ebene zur gleichen Zeit verglichen (ein Beispiel wäre die viel

diskutierte Reduktion der Thermodynamik auf die statistische Mechanik). Bei der

diachronen Reduktion werden zeitlich aufeinander folgende Theorien eines

Gegenstandsbereichs (also einer Ebene) verglichen (ein Beispiel wäre die Reduktion

der geometrischen Optik auf die Maxwellsche Theorie des Elektromagnetismus oder

die Reduktion der klassischen Mechanik auf die spezielle Relativitätstheorie). Eine

Vereinheitlichung auf einer Ebene kann so aussehen, dass Theorien für ähnliche,

benachbarte Phänomene entwickelt wurden (und zwar zunächst unabhängig

voneinander), die dann in ein einheitliches Modell integriert werden.

Nagels Beispiel für eine homogene Reduktion (bei der die wesentlichen Begriffe

sich zwischen den Theorien nicht unterscheiden; vgl. Nagel 1961: 338) ist die

Theorie der Mechanik, die zuerst nur für die Bewegungen von Punktmassen

formuliert worden war. Letztlich wurde sie dann auch auf Bewegungen von starren

sowie verformbaren Körpern ausgedehnt. Es kann dadurch eine Vereinheitlichung

erreicht werden, dass mehrere Phänomene (anfangs als zu verschiedenen Arten

gehörend gedacht) später mit einem einheitlichen Modell beschrieben werden können

(und somit unter die gleiche Art Phänomen subsumiert werden). Dazu Nagel:

A theory may be formulated initially for a type of phenomenon exhibited by a

somewhat restricted class of bodies, though subsequently the theory may be extended

to cover that phenomenon even when manifested by a more inclusive class of things.

(Nagel 1961: 338)

Das heißt, die klassische Reduktion schließt so etwas wie intralevel integration nicht

aus.

Nun zu (a), der Kritik dass Reduktion nicht mit upward-looking Aspekten

umgehen könne. Dazu lässt sich Folgendes erwidern: Nagel betont bei der

Besprechung seines Reduktionsmodells, dass nicht nur die beiden formalen

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Bedingungen der Verknüpfbarkeit und der Ableitbarkeit erfüllt sein müssen, sondern

ebenso verschiedene informelle Bedingungen. Beispielsweise müssen die

Brückengesetze durch empirische Evidenz möglichst aus mehreren unabhängigen

Quellen gut gestützt sein. Weiterhin muss durch die Reduktion der einen Theorie auf

die umfassendere Theorie eine fruchtbare Weiterentwicklung der Theorien in

Aussicht stehen, damit also auch der reduzierten Theorie. Dies klingt nun nicht so, als

würde hier die upward-looking Perspektive hin zur reduzierten Theorie höherer

Ebene vernachlässigt, denn durch die Integration in die reduzierende Theorie wird die

reduzierte erweitert und auf eine fruchtbarere Grundlage gestellt. Durch die

Reduktion der Thermodynamik auf die statistische Mechanik beispielsweise wurden

eine Menge bis dahin als unabhängig geglaubter Gesetze der Thermodynamik und

anderer Teile der Physik in ein einheitliches System integriert. Dazu zwei Zitate von

Nagel:

The reduction of thermodynamics to mechanics […] paved the way for a reformulation

of gas laws so as to bring them into accord with the behaviors of gases satisfying less

restrictive conditions; it provided leads to the discovery of new laws; and it supplied a

basis for exhibiting relations of systematic dependence among gas laws themselves, as

well as between gas laws and laws about bodies in other states of aggregation. (Nagel

1961: 359)

In consequence, the reduction of thermodynamics to kinetic theory not only supplies a

unified explanation for the laws of the former discipline; it also integrates these laws so

that directly relevant evidence for any one of them can serve as indirect evidence for

the others, and so that the available evidence for any of the laws cumulatively supports

various theoretical postulates of the primary science. (Nagel 1961: 361)

Es lässt sich also festhalten, dass die Nagel-Reduktion sehr wohl mit der upward-

looking Perspektive umgehen kann und sie mit berücksichtigt. Eine

Weiterentwicklung dieser (beibehaltenen) Züge der klassischen Reduktion finden wir

im New Wave Reduktionismus, einer Position, die explizit die Ko-Evolution von

Theorien verschiedener Ebene betont (also in der synchronen Reduktion die Ko-

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Evolution von reduzierter Theorie höherer Ebene und reduzierender Theorie

niedrigerer Ebene; vgl. Hooker 1981; Churchland 1986; Bickle 1996; Bickle 1998).

Insgesamt kann Nagels Bedingung der Verknüpfbarkeit für das Ziel von

Vereinheitlichung verteidigt werden und ist mit der intralevel/interlevel integration

des mechanistischen Erklärungsansatzes vereinbar.

6. Resümee

Im vorliegenden Aufsatz wurde Folgendes gezeigt: In einigen Texten, in denen der

mechanistische Erklärungsansatz beschrieben wird, wird dieser so dargestellt, dass er

ein reduktiver bzw. reduktionistischer Ansatz ist. In anderen Aufsätzen wird (ME) als

Gegenentwurf zum Reduktionismus bestimmt. In diesem Text habe ich zu zeigen

versucht, dass einerseits die Ideen der intralevel und interlevel integration in den

Neurowissenschaften, welche mit (ME) zusammengehen, und andererseits einige

Ausführungen von Nagel als klassischer Referenz zur Reduktion gar nicht so weit

auseinander liegen. Die Nagel-Reduktion scheint in manchen Punkten ein viel

liberalerer Ansatz zu sein als weithin behauptet (und kann durchaus vom Programm

der Mikroreduktion abgegrenzt werden). Diese Passung der Nagel-Reduktion mit

dem mechanistischen Erklärungsansatz kann nun als ein Indiz dafür gelesen werden,

dass es sich beim mechanistischen Ansatz um einen reduktiven Ansatz handelt, auch

wenn die Titelfrage des Aufsatzes nicht letztgültig beantwortet werden kann. Dazu

sind noch weitere Argumentationsschritte nötig.

Bettina Gutsche

Universität Mainz

[email protected]

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