Zur Theorie gesetzlicher Vermutungen. Beweislast oder Defeasibility?

24
This is a preliminary draft of a text which was published in: RECHTSTHEORIE 45 (2014), S. 243–276 1 Zur Theorie gesetzlicher Vermutungen Beweislast oder Defeasibility? Kyriakos N. Kotsoglou (Freiburg i. Br.) I Rechtsvermutungen im Lichte der Beweislastlehre 1. Vermutungen im Recht Vermutungen im Recht sind keine Seltenheit. Ganz im Gegenteil bedient sich der Gesetzgeber sehr oft dieser Möglichkeit, sodass Rechtsvermutungen das gesamte deutsche sowie das Recht anderer Staaten durchdringen. 1 Um nur ein Paar Beispiele herauszugreifen: der Gesetzgeber stellt im § 1592 Nr. 1 BGB die Vermutung auf, dass Vater eines Kindes der Mann ist, der zum Zeitpunkt der Geburt mit der Mutter des Kindes verheiratet ist. Die (vermutete) Vaterschaft 2 entfällt, wenn u.a. rechtkräftig festgestellt ist, dass der Ehemann nicht Erzeuger des Kindes ist, § 1599 Nr. 1 BGB. Es liegt auf der Hand, dass hierbei die Rede von „vermuteter Vaterschaft“ und von „gesetzlicher Vermutung“ ist, ohne dass diese Begriffe expressis verbis im Gesetzeswortlaut enthalten sind. Dies ist z.B. der Fall im § 1362 Abs. 1 Satz 1 BGB: Zugunsten der Gläubiger des Mannes und der Gläubiger der Frau wird vermutet, dass die im Besitz eines Ehegatten oder beider Ehegatten befindlichen beweglichen Sachen dem Schuldner gehören. Rechtsvermutungen kommen in verschiedenen Formen vor, sodass es sich eine variationsreiche Typologie herauskristallisiert hat. Man unterscheidet zwischen echten, Schein-, 3 widerleglichen und unwiderleglichen Rechtsvermutungen. Der Gesetzgeber stellt nach Bedarf meistens (einfache) widerlegliche Vermutungen oder gar Vermutungen, wobei die vermuteten Tatsachen eine doppelte Widerleglichkeit aufweisen. 4 Darüber hinaus finden sich in der deutschen Rechtsordnung unwiderlegliche Vermutungen. Gem. § 1566 Abs. 1 und 2 BGB: (1) Es wird unwiderlegbar vermutet, dass die Ehe gescheitert ist, wenn die Ehegatten seit einem Jahr getrennt leben und beide Ehegatten die Scheidung beantragen oder der Antragsgegner der Scheidung zustimmt. (2) Es wird unwiderlegbar vermutet, dass die Ehe gescheitert ist, wenn die Ehegatten seit drei Jahren getrennt leben. Rechtsvermutungen sind selbstverständlich kein ureigenes Merkmal des Zivilrechts. Ein klassisches Beispiel im Bereich des Strafrechts ist die Unschuldsvermutung (Art. 6II EMRK), die in Deutschland als besondere Ausprägung des Rechtsstaatsprinzips aus Art. 20III GG gilt und somit Verfassungsrang genießt. 5 Und damit sind wir noch lange nicht am Ende. Unter dem Blickwinkel einer Vermutungsdogmatik kann man auch Vorschriften umfassen, die auf den ersten Blick keine Elemente einer gesetzlichen Vermutung umfassen. Etwa die im § 19 StGB begründete absolute Strafunmündigkeit des Kindes (danach ist schuldunfähig, wer bei Begehung der Tat noch nicht vierzehn Jahre alt ist) impliziert, dass der Gesetzgeber eine Rechtsvermutung aufstellt. Dass es sich dabei um eine unwiderlegliche Schuldunfähigkeitsvermutung handelt, 6 wird noch durch 1 Pars pro toto für den angelsächsischen Raum P. Roberts und A. Zuckerman, Criminal evidence, 2. Aufl., Oxford 2010, S. 220–290, m.w.N. 2 Nota bene: nicht die gesetzliche Vermutung selbst. 3 Siehe etwa § 484 BGB a.F. 4 Siehe etwa § 1006 BGB. 5 BVerfGE 22, 254 (265) = NJW 1967, S. 2151 (2153); BVerfGE 82, 106 (114) = NJW 1990, 2741. 6 Lackner/Kühl, Strafgesetzbuch, Kommentar, 27. Aufl. 2011, § 19 Rn. 1; vgl. Jähnke, in: Laufhütte/Rissing-van

Transcript of Zur Theorie gesetzlicher Vermutungen. Beweislast oder Defeasibility?

This is a preliminary draft of a text which was published in: RECHTSTHEORIE 45 (2014), S. 243–276

1

Zur Theorie gesetzlicher Vermutungen Beweislast oder Defeasibility?

Kyriakos N. Kotsoglou (Freiburg i. Br.)

I

Rechtsvermutungen im Lichte der Beweislastlehre

1. Vermutungen im Recht Vermutungen im Recht sind keine Seltenheit. Ganz im Gegenteil bedient sich der

Gesetzgeber sehr oft dieser Möglichkeit, sodass Rechtsvermutungen das gesamte deutsche sowie das Recht anderer Staaten durchdringen.1 Um nur ein Paar Beispiele herauszugreifen: der Gesetzgeber stellt im § 1592 Nr. 1 BGB die Vermutung auf, dass Vater eines Kindes der Mann ist, der zum Zeitpunkt der Geburt mit der Mutter des Kindes verheiratet ist. Die (vermutete) Vaterschaft2 entfällt, wenn u.a. rechtkräftig festgestellt ist, dass der Ehemann nicht Erzeuger des Kindes ist, § 1599 Nr. 1 BGB. Es liegt auf der Hand, dass hierbei die Rede von „vermuteter Vaterschaft“ und von „gesetzlicher Vermutung“ ist, ohne dass diese Begriffe expressis verbis im Gesetzeswortlaut enthalten sind. Dies ist z.B. der Fall im § 1362 Abs. 1 Satz 1 BGB: Zugunsten der Gläubiger des Mannes und der Gläubiger der Frau wird vermutet, dass die im Besitz eines Ehegatten oder beider Ehegatten befindlichen beweglichen Sachen dem Schuldner gehören.

Rechtsvermutungen kommen in verschiedenen Formen vor, sodass es sich eine variationsreiche Typologie herauskristallisiert hat. Man unterscheidet zwischen echten, Schein-,3 widerleglichen und unwiderleglichen Rechtsvermutungen. Der Gesetzgeber stellt nach Bedarf meistens (einfache) widerlegliche Vermutungen oder gar Vermutungen, wobei die vermuteten Tatsachen eine doppelte Widerleglichkeit aufweisen.4 Darüber hinaus finden sich in der deutschen Rechtsordnung unwiderlegliche Vermutungen. Gem. § 1566 Abs. 1 und 2 BGB: (1) Es wird unwiderlegbar vermutet, dass die Ehe gescheitert ist, wenn die Ehegatten seit einem Jahr getrennt leben und beide Ehegatten die Scheidung beantragen oder der Antragsgegner der Scheidung zustimmt. (2) Es wird unwiderlegbar vermutet, dass die Ehe gescheitert ist, wenn die Ehegatten seit drei Jahren getrennt leben.

Rechtsvermutungen sind selbstverständlich kein ureigenes Merkmal des Zivilrechts. Ein klassisches Beispiel im Bereich des Strafrechts ist die Unschuldsvermutung (Art. 6II EMRK), die in Deutschland als besondere Ausprägung des Rechtsstaatsprinzips aus Art. 20III GG gilt und somit Verfassungsrang genießt.5 Und damit sind wir noch lange nicht am Ende. Unter dem Blickwinkel einer Vermutungsdogmatik kann man auch Vorschriften umfassen, die auf den ersten Blick keine Elemente einer gesetzlichen Vermutung umfassen. Etwa die im § 19 StGB begründete absolute Strafunmündigkeit des Kindes (danach ist schuldunfähig, wer bei Begehung der Tat noch nicht vierzehn Jahre alt ist) impliziert, dass der Gesetzgeber eine Rechtsvermutung aufstellt. Dass es sich dabei um eine unwiderlegliche Schuldunfähigkeitsvermutung handelt,6 wird noch durch

1 Pars pro toto für den angelsächsischen Raum P. Roberts und A. Zuckerman, Criminal evidence, 2. Aufl., Oxford 2010, S. 220–290, m.w.N. 2 Nota bene: nicht die gesetzliche Vermutung selbst. 3 Siehe etwa § 484 BGB a.F. 4 Siehe etwa § 1006 BGB. 5 BVerfGE 22, 254 (265) = NJW 1967, S. 2151 (2153); BVerfGE 82, 106 (114) = NJW 1990, 2741. 6 Lackner/Kühl, Strafgesetzbuch, Kommentar, 27. Aufl. 2011, § 19 Rn. 1; vgl. Jähnke, in: Laufhütte/Rissing-van

This is a preliminary draft of a text which was published in: RECHTSTHEORIE 45 (2014), S. 243–276

2

§ 3 Satz 1 JGG untermauert, denn für jugendliche (14–17) gilt eine widerlegliche Schuldunfähigkeitsvermutung.7 Danach muss der zuständige Richter hinreichend davon überzeugt sein, dass der Jugendlicher zur Zeit der Tat nach seiner sittlichen und geistigen Entwicklung reif genug ist, das Unrecht der Tat einzusehen und nach dieser Einsicht zu handeln.

Mir geht es hier nicht um die Erweiterung des Regelungsraumes von gesetzlichen Vermutungen, sondern um die Auslegungsmöglichkeiten, die uns eröffnet werden, sobald wir uns Klarheit über die Struktur bzw. den Inhalt dieses gesetzgeberischen Instruments verschaffen. 2. Vermutungen im Dunkeln

Umgekehrt proportional zu der Wichtigkeit, ja massiver Präsenz von gesetzlichen Vermutungen nicht nur in der deutschen, sondern in – soweit ersichtlich – allen modernen Rechtsordnungen, verhält sich der bisher erreichte Grad von Klarheit über deren Inhalt und Funktion. Dazu hat Rosenberg alles Notwendige gesagt: „Nirgends herrscht eine solche Sprachverwilderung und Begriffsverwirrung wie in der Lehre von den Vermutungen. Man kann ruhig sagen, daß es bisher noch nicht gelungen ist, den Begriff der Vermutung aufzuhellen.“8 Das Gefühl von Hilfslosigkeit Rechtsvermutungen gegenüber ist dennoch kein ureigenes kontinental-europäisches Symptom. Zahlreiche Autoren aus dem angelsächsischen Raum blasen ins gleiche Horn. Morgan schrieb 1937 „every writer of sufficient intelligence to appreciate the difficulties of the subject matter has approached the topic of presumptions with a sense of hopelessness, and has left it with a feeling of despair.“9 Die Rede ist heute wie damals von „curious item in the baggage of western legal rhetoric“10 oder gar von „piece of high-flown rhetoric“.11

Das Paradebeispiel für die Verlegenheit, in welche juristische Autoren geraten, immer wenn sie sich mit dieser Materie auseinandersetzen, ist ausgerechnet das prominenteste Mitglied der Menge von Rechtsvermutungen, die Unschuldsvermutung. Die Unschuldsvermutung geht nach wohl h.M. nicht über ein „Verbot der Desavouierung des Strafverfahrens“,12 eine Art savoir-juger, hinaus. Denn die „unscharfe Fassung“13 des Art. 6II EMRK biete keine Interpretationshilfe bzw. entbehre einer vollständigen Rechtsfolgenanordnung,14 sodass „dieser Rechtssatz nicht nur an praktischer Bedeutungslosigkeit, sondern auch an konzeptioneller Schwäche leidet“.15

Interpretationshilfe bietet dabei der diesbezügliche § 292 Satz 1 ZPO auch nicht. Da wird freilich vorgeschrieben, dass im Fall einer Vermutung, „der Richter die vermutete

Saan/Tiedemann (Hrsg.), Strafgesetzbuch, Leipziger Kommentar, Bd. 1, 2 Aufl. Jahr, § Rn. 1; C. Roxin, Strafrecht, Allgemeiner Teil, Bd. 1, 4. Aufl., München 2006, § 20 Rn 50. 7 Die Rede ist meistens von „relativer Strafmündigkeit“; Altenhain/Laue, in: Joecks/Miebach (Hrsg.), Münchener Kommentar zum Strafgesetzbuch, 2. Aufl., 2011, Bd. 6, JGG § 3, Rn. 1. 8 L. Rosenberg, Die Beweislast: auf der Grundlage des Bürgerlichen Gesetzbuchs und der Zivilprozessordnung, 5. Aufl., München 1965, S. 199. 9 E. Morgan, Presumptions, Washington Law Review 12 (1937), S. 255. 10 G. P. Fletcher, Presumption of Innocence in the Soviet Union“, University of California at Los Angeles Law Review 15 (1968), S. 1203. 11 G. P. Fletcher, Two Kinds of Legal Rules: A Comparative Study of Burden-of-Persuasion Practices in Criminal Cases, Yale Law Journal 77 (1968): S. 1220. 12 So C.-F. Stuckenberg, Die normative Aussage der Unschuldsvermutung, Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft 111 (1999), S. 452; monographisch dazu ders., Untersuchungen zur Unschuldsvermutung, Berlin 1998. 13 Stuckenberg, Unschuldsvermutung (Fn. 12), S. 459. 14 Stuckenberg, Unschuldsvermutung (Fn. 12), S. 425; vgl. K. Kotsoglou, Über die Bedeutungslosigkeit des Satzes in dubio pro reo. Eine grammatisch-logische Rekonstruktion der Freispruchsdogmatik, in: Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik 2014, S. 31–46. 15 Stuckenberg, Unschuldsvermutung (Fn. 12), S. 422.

This is a preliminary draft of a text which was published in: RECHTSTHEORIE 45 (2014), S. 243–276

3

Tatsache bis zum Beweis des Gegenteils als bewiesen oder als wahr (gewiß) annehmen muß. Die Vermutung weist den Richter an, aus einer bestimmten Tatsache auf das Vorliegen einer anderen Tatsache zu schließen“.16 Sich aufdrängende Fragen konnten bisher nur sektoral beantwortet werden – etwa das Verhältnis zwischen Rechtsvermutungen und Fiktionen einerseits oder Beweisregeln andererseits –.17 Als unumstritten gilt jedenfalls, dass Rechtsvermutungen nichts mit den sog. tatsächlichen Vermutungen (Erfahrungssätzen) zu tun haben.18

Die Unsicherheit bezüglich der Struktur bzw. Inhalts von Rechtsvermutungen ist wohl der entscheidende Grund dafür, dass im Grunde die Zivilprozessrechtsdogmatik eine andere (indirekte) Strategie einsetzte und das Problem durch die Inanspruchnahme einer der „elementaren Begriffe des Rechtslebens in der Rechtswissenschaft“,19 nämlich der Beweislast, zu lösen versuchte.20 3. Zur Beweislastlehre

Der Beweislast kommt eine enorme praktische Bedeutung zu.21 In wenigen Worten lässt sich die dogmatische Konstruktion der Beweislast als das Risiko des Prozessverlusts bei einer Nichtbeweisbarkeit gem. § 286 ZPO kurzfassen.22 Die Beweislastlehre soll uns also darüber informieren, welche Partei den Nachteil davon hat, wenn ein rechtsrelevanter Umstand nicht bewiesen wird. Die Beweislast ist idS „die Lehre von den Folgen der Beweislosigkeit“.23 Verzichtet die beweisführungsbelastete Partei auf ihr Recht, den Beweis zu erbringen, „so nimmt sie das Risiko des Prozessverlustes freiwillig in Kauf. Die ‚Last‘ besteht für sie darin, den Prozessverlust durch eigenes Tätigwerden zu vermeiden“.24 Darüber hinaus unterscheidet man zwischen objektiver (Feststellungslast) und subjektiver Beweislast (Beweisführungslast).25 Ohne auf Details dieser Dichotomie eingehen zu können, betrifft die objektive Beweislast die Frage, „zu wessen Nachteil es geht, wenn das Vorhandensein bzw. Nichtvorhandensein eines entscheidungserheblichen Tatbestandsmerkmals ungeklärt bleibt“.26 Die subjektive Beweislast informiert uns darüber, wer durch eigens Tätigwerden den Beweis einer streitigen Tatsache zu führen hat, um den Prozessverlust zu vermeiden.27

Ausgerechnet in diesem Punkt liegt nach h.M. der Schlüsselmoment für das bessere Verständnis von Rechtsvermutungen. Insofern die Beweislast subjektive Komponenten erhalte und die (subjektiven) Interessen von Parteien als Deutungsschema des (objektiven)

16 D. Leipold, Beweislastregeln und gesetzliche Vermutungen, insbesondere bei Verweisungen zwischen verschiedenen Rechtsgebieten, Berlin 1966, S. 81 – Zitat leicht paraphrasiert. 17 Siehe nur Rosenberg, Beweislast (Fn. 8), S. 213f, 216ff. 18 Pars pro toto Rosenberg, Beweislast (Fn. 8), S. 210–216; vgl. G. Scherz, Die Bedeutung der Rechtsvermutung, Marburg 1928, S. 2 f.; aus dem angelsächsischen Bereich siehe nur Watkins v. Prudential Ins. Co., 315 Pa. 497, 173A. 644, 648 (1934). 19 H. J. Musielak, Die Grundlagen der Beweislast im Zivilprozess, Berlin (u.a.) 1975, S. V. 20 Der erste, der sich mit dogmatischen Fragen der Beweislast auseinandersetze war Julius von Glaser (Handbuch des Strafprozesses, Leipzig 1883). Mehr dazu bei Musielak, Grundlagen (Fn. 19), S. 280f. 21 Bei L. Rosenberg, Die Beweislast (1. Aufl.), Berlin 1900, S. 8, ist die Rede von „universale[r] Bedeutung“ der Beweislast. Die Rede ist sogar vom „Rückgrat des Zivilprozesses“ (Hamm Verhandlungen des 23 DJT Bd. II S. 317); kritisch dazu u.a. Baumbach § 286 Rn. 4, m.w.N.; Leipold in Stein-Jonas 286 Rn. 61 behandelt die Beweislast als „geltende Grundregel des Zivilrechts“; ausdrückliche Bestimmungen über die Beweislast sind allerdings im BGB und sonstigen Gesetzen des Privatrechts zu finden, siehe etwa § 22 AGG. 22 Fußnote Rosenberg 23 Scherz, Rechtsvermutung (Fn. 18), S. 6. 24 H. W. Laumen, H. Prütting, Handbuch der Beweislast, Bd. 1: Grundlagen, 2. Aufl., Köln, München 2009, S. 26. 25 Fußnote über die Terminologie siehe Rosenberg da wo er sagt es sei ihm egal 26 so bei Laumen/Prütting, Handbuch (Fn. 24), S. 27. 27 Siehe Laumen/Prütting, Handbuch (Fn. 24), S. 41 f. m.w.N.

This is a preliminary draft of a text which was published in: RECHTSTHEORIE 45 (2014), S. 243–276

4

Rechts instrumentalisiere, könne dieses Vorgehen auch auf die Dogmatik von Rechtsvermutungen übertragen werden. Eine Rechtsvermutung bewirke grundsätzlich im (Zivil-)Prozess die Aufbürdung der Beweislast (Beweislastverteilung) auf den Vermutungsgegner, nämlich auf die Partei die das Risiko trägt, gesetzt den Fall, dass die kraft des Rechtssatzes vermutete Tatsache nicht widerlegt und Rechtskraft entfalten wird.28 Nach Rosenberg muss erstens die von der Rechtsvermutung begünstigte Partei nur die Ausgangstatsache der Vermutung (z.B. wirksame Eheschließung, § 1591 BGB; Eintragung im Grundbuch, § 891 BGB etc.) beweisen. Zweitens habe der Richter nur die Vermutungsnorm anzuwenden, bis/es sei denn „der Gegner die Richtigkeit der Vermutung bestreitet und, soweit erforderlich, solche Behauptungen in den Prozeß einführt“.29 Unter diesem Blickwinkel kann man nach h.M. Rechtsvermutungen nur indirekt untersuchen bzw. beobachten. „Das Wesen der Rechtsvermutungen ergibt sich aus ihren Wirkungen“.30

Ähnlich wie man erst mithilfe einer Nebelkammer als Detektors hindurchfliegende Teilchen (indirekt) sichtbar machen lässt, führt die h.M. die Rechtsvermutungen auf die Beweislastlehre zurück. Und ähnlich wie erst durch Stoßionisation Ionen erzeugt werden, immer wenn ein energiereiches, geladenes Teilchen das Gas der Nebelkammer durchquert, bringen wir die Beweislastdogmatik zur Geltung, um sich in ihr die Wirkungen für die Betroffenen zeigen zu lassen bzw. indirekt Wissen über sie zu erlangen. „Das Wesen der Rechtsvermutungen ergibt sich aus ihren Wirkungen“.31

II Zur Kritik der Beweislastlehre

1. Systemexterne Kritik

Rechtsvermutungen an ihren nicht nur prozessualen, sondern vielmehr tatsächlichen bzw. psychologischen Wirkungen messen zu lassen ist per se keine schlechte (oder gute) Idee. Darauf werde ich zurückkommen. Selbst die Beschränkung der Erklärungsmächtigkeit einer so konzipierten Rechtsvermutungsdogmatik auf den relativ engen Bereich des Zivilprozessrechts, wo die Rede von Beweislast(verteilung) sinnvoll ist, vermag die Plausibilität oder gar Richtigkeit der Ausführungen nicht in Frage zu stellen.32 Ein einheitliches Verständnis für Rechtsvermutungen in jedem Bereich des Rechts wäre in jeglicher Hinsicht besser.33 Das hindert allerdings nicht etwa Strafprozessrechtsdogmatiker eine andere Vermutungslehre aufzustellen oder gar die bestehende so zu modifizieren, damit sie das Hauptmerkmal des Strafverfahrens, nämlich die Untersuchungsmaxime integrieren kann.

Ein anderes Problem scheint mir von größerer Bedeutung zu sein. Es fällt auf, dass bei der Beweislastlehre Begriffen wie „Gegner“, „Interesse“, „Prozessverlust“, „einer Partei günstige Norm“ etc. eine zentrale Funktion zukommt. Der Rechtswissenschaftler hat sich nach dieser Ansicht in die Lage der Partei hineinzuversetzen, sodass sein jeweiliges Resultat parteibezogen sein muss.34 Das Verdienst der Beweislehre, nämlich dass sie zentrale prozessuale und argumentative Aspekte des Themas Rechtsvermutung in den

28 Scherz, Rechtsvermutung (Fn. 18), S. 52. 29 Rosenberg, Beweislast (Fn. 8), S. 229 f. 30 Rosenberg, Beweislast (Fn. 8), S. 230. 31 Rosenberg, Beweislast (Fn. 8), S. 230. 32 Rosenberg (Beweislast (Fn. 8), S. 223) merkt selbst an, dass die Auffassung, der zufolge die Vermutung nur im Zivilprozess Raum zu gönnen sei, „zu eng“ ist. 33 Vgl. aber Rosenberg (Beweislast (Fn. 8), S. 34 f. 34 Das Markenzeichen aller Beweislasttheorien ist nach Musielak (Grundlagen (Fn. 19), S. 202) die Tatsache, dass „das Problem der Beweislast immer in Beziehung zu den Parteien“ gesetzt wird.

This is a preliminary draft of a text which was published in: RECHTSTHEORIE 45 (2014), S. 243–276

5

Vordergrund rückt, markiert zugleich ihre größte Schwäche.35 Sie läuft unserer Grundintuition zuwider, dass persönliche Interessen kein konstitutives Element für unser juristisches Wissen sein können. Solange die Rechtsdogmatik Aussagen über ihr Untersuchungsobjekt zu machen beansprucht, kommt ihr eine erga omnes Geltung zu. Denn das Merkmal, wodurch sich Wissen von einfacher (unverbindlicher) Meinung unterscheidet, ist ausgerechnet der besondere positive, epistemische und für alle verbindliche Status von Erkenntnis.36 Natürlich lässt sich nicht bestreiten, dass die Partei, „deren Prozeßbegehr ohne die Anwendung eines bestimmten Rechtssatzes keinen Erfolg haben kann, die Beweislast dafür trägt, daß die Merkmale des Rechtssatzes im tatsächlichen Geschehen verwirklicht sind“.37 Solche Aussagen sind allerdings insofern trivial, als es sich dabei immer um eine aus der Perspektive der jeweiligen Partei „praktische Schußfolgerung“38 handelt, die erst aus dem Prozessgeschehen abgeleitet wird. Der „Antrieb zum eigenen Handeln“39 kann indes (unter rechtsdogmatischem Blickwinkel) nicht erfasst werden. Denn die rechtsdogmatische Artikulation von Willens- und Interessenmomenten führt nach Kelsen dazu, „die juristische Betrachtung durch psychologisch-soziologische Gedankengänge zu verwirren“.40 Infolge dessen kann die Rede eher vom Recht der einen oder anderen Partei sein und nicht vom Recht als Forschungsobjekt der Rechtswissenschaft. Auf dem Spiel steht also nichts Geringeres als der Charakter unserer Disziplin, die mit der Beweislastlehre ein „bedenkliches Erbe“ einschaltet, „das sie aus der Theorie der römischen Advokatenjurisprudenz übernommen [hat und] die das Recht nur vom Standpunkte der subjektiv interessierten Partei, unter dem Gesichtspunkt: ob und inwieweit es ‚mein‘ Recht ist, betrachtet“.41 Solange wir Worte wie Prozessverlust, Risiko etc. als Fachtermini verwenden, kann nicht die Rede von einem sachbezogenen Wissen und von Erkenntnis des Rechts sein.42 Die Geltung rechtsdogmatischer Sätze wäre idS auf eine radikale Weise parteibezogen. 2. Systemimmanente Kritik

Auch die Tatsache, dass in die (Beweislast-)Dogmatik starke Elemente von Subjektivität einfließen, sodass der Rechtswissenschaftler notwendigerweise die Perspektive der an einem Prozess teilnehmenden Parteien einnimmt, vermag m.E. die (innere) Kohärenz der Argumentation nicht in Frage zu stellen. Die Kritik muss also tiefer gehen und die genetischen Bedingungen der Beweislastlehre unter die Lupe nehmen. Gelingt uns aufzuzeigen, dass die theoretische Grundlage der Beweislastlehre, auf welche die h.M. die Rechtsvermutungen zurückführt, brüchig ist, so ist das Gleis, das zu einer neuartigen Lösung führt, entsperrt.

Die Diskussion über die Beweislast beginnt nach Schwab bei der „einfachen Frage: Wie hat der Richter zu entscheiden, wenn er weder von der Existenz noch von der

35 So aus ähnlichem Anlass (epistemische Wahrheitstheorien) L. Krüger, Wahrheit als Korrespondenz: eine Idee in der Krise? Deutsche Zeitschrift für Philosophie 43 (1995), S. 920. 36 Pars pro toto M. Williams, Problems of Knowledge, Oxford 2001, S. 14. 37 Rosenberg, Beweislast (Fn. 8), S. 12. 38 F. Leonhard, Die Beweislast, 2. Aufl., Berlin 1926, S. 132. 39 Leonhard, Beweislast (Fn. 38), S. 132. 40 H. Kelsen, Hauptprobleme, 2. Aufl., Vorwort, S. VIII; deutlich in diese Richtung auch Leonhard, Beweislast (Fn. 38), S. 127; dort verweist der Autor auf das römische Recht (Ant. C 4.19.2 (a. 215)): „Possessiones, quas ad te pertinere dicis, more iudi ciorum persequere. Nec enim possessori incumbit nec essitas probandi eas ad se pertinere, cum te in probatione cessante dominium apud eum remaneat“ (Verfolge die Besitztümer, von welchen du sagst, es seien deine, nach gerichtlicher Gewohnheit. Denn nicht dem Besitzer obliegt die Notwendigkeit zu beweisen, daß sie ihm gehören, da, wenn du mit dem Beweis scheiterst, das Eigentum bei ihm bleibt). 41 Zwei Zitate: Kelsen, Hauptprobleme (Fn. 40), S. VIII. 42 Wie Musielak, Grundlagen (Fn. 19), S. 32) zutreffend ausführt, ist bereits in dem Begriff „Beweislast“ ein subjektives Element enthalten, welches „eine Verbindung zu dem dadurch Betroffenen schafft“.

This is a preliminary draft of a text which was published in: RECHTSTHEORIE 45 (2014), S. 243–276

6

Nichtexistenz der Voraussetzungen einer Norm überzeugt ist“.43 Im folgenden Abschnitt werde ich zeigen, dass die Beweislastlehre die richtige Antwort auf das falsche Problem liefert.

Rosenbergs Normentheorie, die den ersten systematischen Versuch darstellt, das Problem der Beweislastverteilung zu lösen, ist wie es auf der Hand liegt nicht eine intuitive, sozusagen natürliche Erfassung unumstrittener Argumentationstopoi, sondern eine von bestimmen Prämissen ausgehende These. Rosenberg hat mit seiner Beweislastlehre u.a. Kritik auf die Zweiteilung des Beweisergebnisses in „bewiesen“ und „nicht bewiesen“ geübt.44 Etwa Leonhard, der just von dieser Zweiteilung ausging, sah in der Beweislast „das Kehrbild der materiellen Rechtsordnung“,45 sodass bei „Unklarheit des Tatbestandes der auf Feststellung der Rechtswirkung gerichtete Antrag“46 abzuweisen sei. Für ihn knüpft die Rechtsordnung die jeweilige Rechtsfolge einer Norm an die Beweisbarkeit des Tatbestandes an – d.h.: nicht an das objektive Vorliegen von Tatsachen.47 Diese Ansicht ziehe den Teppich unter den Füßen der Beweislast weg.48 Denn das Ergebnis der Beweisaufnahme sei idS ein zweiwertiges Prädikat: „bewiesen“ und „nicht bewiesen“.49 Genau an diesem Punkt setzt Rosenberg seine Kritik an und bezweifelt, dass Rechtsfolgen mit einem Beweisergebnis und nicht mit deren tatsächlichen Voraussetzungen verknüpft werden.50 Rosenberg stellte eine Dreiteilung des jeweiligen Beweisergebnisses auf: „bewiesen“, „widerlegt“, „non liquet“.51 Es handele sich dabei nicht um die Überzeugung des Richters (der entweder hinreichend überzeugt ist oder nicht), sondern um die objektive Wirklichkeit, um den Sachverhalt an sich.52 Dieses dreiwertige Prädikat lässt sich also die Frage aufdrängen, wie mit einer non liquet Situation, wo der Sachverhalt weder bewiesen noch widerlegt werden konnte, umzugehen ist.53 Die Beweislastlehre beansprucht, uns bzw. dem Richter ein Instrumentarium in die Hand zu geben, damit er trotz eines non liquet eine Entscheidung treffen kann.54 Und auf diese Weise ordnet die Funktion der (objektiven) Beweislast nicht einfach die Überwindung des non liquet, sondern „strukturiert die Beweislast praktisch das gesagte Prozessgefüge“.55

2.1 Das verdeckte Ausblenden der Beweisproblematik

43 K. H. Schwab, Zur Abkehr moderner Beweislastlehren von der Normentheorie, in: Frisch/Schmid (Hrsg.), Festschrift für H.-J. Bruns, Köln (u.a.) 1978, S. 505; exemplarisch so bei Laumen/Prütting, Handbuch (Fn. 24), S. 29: „Eine Beweislastentscheidung setzt also ein non liquet voraus“. 44 Rosenberg, Beweislast (Fn. 8), S. 9: „Eine Anwendung der Beweislastregelung kommt […] in Frage, wenn ein für das Bestehen des streitigen Rechtsverhältnisses oder für die Verwendung des fraglichen erheblicher Tatumstand bestritten und zweifelhaft geblieben ist.“ 45 Leonhard, Beweislast (Fn. 38), S. 136 46 Leonhard, Beweislast (Fn. 38), S. 128. 47 Leonhard, Beweislast (Fn. 38), S. 127 ff. 48 Leonhard, Beweislast (Fn. 38), S. 124, 136: „Den sachlichen Inhalt der Beweislast bildet also in der Tat nur die Bestimmung, daß bei Unklarheit über den Tatbestand der Antrag abzuweisen ist“. 49 Eingehend dazu bei Laumen/Prütting, Handbuch (Fn. 24), S. 136. 50 Rosenberg, Beweislast (Fn. 8), S. 5. 51 Rosenberg, Beweislast (Fn. 8), S. 5, 9, 14. 52 In Anlehnung an diese Gedanken führt Leipold (Beweislastregeln (Fn. 16), S. 23) aus, dass nach dem Wortlaut der gesetzlichen Bestimmung die Rechtsfolgten nicht an den Beweis, sondern an die von der Beweiswürdigung unabhängige Existenz der Tatsachen geknüpft werden. Die Anknüpfung der Rechtsfolgen an den Beweis hätte sonst die unliebsame Folge einer Beschränkung der Rechtsnormen auf eine „rein prozessuale Funktion“ (Leipold, Beweislastregeln (Fn. 16), S. 24). 53 Rosenberg, Beweislast (Fn. 8), S. 8 meint, dass „nur bei Ungewißheit über die sog. Tatfrage der Richter einer Anweisung über den Inhalt des von ihm zu fällenden Urteils bedarf.“ 54 Laumen/Prütting, Handbuch (Fn. 24), S. 23 ff. 55 Laumen/Prütting, Handbuch (Fn. 24), S. 25.

This is a preliminary draft of a text which was published in: RECHTSTHEORIE 45 (2014), S. 243–276

7

Unverzichtbarer Teil des Normengefüges, welches der Rechtsdogmatiker bzw. Richter auslegt, systematisiert und konkretisiert, ist ausgerechnet die wohl zentrale Vorschrift des Zivil-, Straf- und Verwaltungsprozessrechts (§ 286 ZPO, § 261 StPO, 108 VwGO jeweils). Zu betonen sei hier die Exklusivität der richterlichen Erkenntnis bzw. das richterliche Kognitionsmonopol.56 Der Tatrichter und kein anderer wird ermächtigt, ein Urteil zu fällen. Dabei kommt es allein darauf an, ob der Tatrichter die Überzeugung von einem bestimmten Sachverhalt erlangt hat oder nicht. Der 3. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs betonte bei dem berühmten Anastasia-Fall57 – daran sowohl in der Sache als auch in der Terminologie anschließend der 2. Strafsenat58 –, dass Entscheidungsgrundlage die Überzeugung von der Wahrheit, d.h. die persönliche Gewißheit des Richters vom Vorhandensein eines rechtsrelevanten Tatbestandes, ist:

„Diese persönliche Gewißheit ist für die Entscheidung notwendig, und allein der Tatrichter hat ohne Bindung an gesetzliche Beweisregeln und nur seinem Gewissen unterworfen die Entscheidung zu treffen, ob er die an sich möglichen Zweifel überwinden und sich von einem bestimmten Sachverhalt überzeugen kann“.59 Ähnlich argumentiert der 2. Strafsenat: „Freie Beweiswürdigung bedeutet, daß es für die Beantwortung der Schuldfrage allein darauf ankommt, ob der Tatrichter die Überzeugung von einem bestimmten Sachverhalt erlangt hat oder nicht; diese persönliche Gewißheit ist für die Verurteilung notwendig, aber auch genügend“.60

Nach der oben gezeichneten berühmten Formulierung des dritten Zivilsenats des BGH setzt das Gesetz nicht eine von allen Zweifeln freie Überzeugung voraus; der Richter dürfe und müsse sich mit einem für das praktische Leben brauchbaren Grad von Gewißheit begnügen, der den Zweifeln Schweigen gebietet ohne sie völlig auszuschließen. Anders formuliert: Zweifel, die realer Anknüpfungspunkte entbehren, haben außer Acht zu bleiben.61 Jedenfalls: Kriterium des Urteils ist nicht die wahre Wirklichkeit, nämlich die tatsächlichen Voraussetzungen einer Rechtsfolge wie die h.M. meint, sondern die Überzeugung des Richters. Die ständige höchstrichterliche Rechtsprechung des BGH wird von einfachen und m.E. nicht in Frage zu stellenden erkenntnis- und begründungstheoretischen Topoi geschultert. 2.2. Über die Situation des Ignoramus

Es ist eine übliche, ja berechtigte Praxis, dass man bei der rechtsdogmatischen Ausarbeitung materiell-rechtlicher Fragen, wie z.B. bei der Einstufung des Mordtatbestandes als eigenständigen Delikts im Verhältnis zum Totschlag, (der Einfachheit halber) erkenntnistheoretische oder gar beweisrechtliche und -analytische Probleme außer Acht lässt. Es gibt gute Gründe auch dafür, dass man sich während des Studiums auf materiell-rechtliche Gesichtspunkte konzentriert. Die Probleme fangen jedoch da an, wo man diese Vorgehensweise (Ausblenden der Unsicherheitsgröße) auf die dogmatische Ausarbeitung der gesamten Rechtsordnung oder gar auf die gerichtliche

56 So Stuckenberg, Die normative Aussage der Unschuldsvermutung, in: ZStW 111 (1999), S. 426. 57 Anastasia (die Klägerin) behauptete, das einzige überlebende Kind von Zar Nikolaus II. zu sein und machte gegen die Beklagte Ansprüche auf Herausgabe der Erbschaft geltend. Sowohl das Landgericht als auch das Oberlandesgericht wiesen die Klage ab, weil die Beweise nicht zum Nachweis der Erbenstellung ausgereicht hätten. Anastasia rügte mit ihrer Revision, dass die Tatgerichte überspannte Anforderungen an den Beweis gestellt hatten. Der BGH (BGHZ 53, 245 f.) kam in diesem weichenstellenden Urteil zu dem Schluss, dass es nach dem Gesetz auf die Überzeugung des Richters von der Wahrheit ankomme und eine Wahrscheinlichkeit der behaupteten Tatsache nicht genüge. 58 BGHSt 10, 208. 59 BGHZ 53, 245. 60 BGHSt 10, 209. 61 BGH NStZ 1985, 15.

This is a preliminary draft of a text which was published in: RECHTSTHEORIE 45 (2014), S. 243–276

8

Praxis überträgt.62 Im Folgenden geht es nicht um eine Fortführung der Diskussion, ob das Prozessrecht im Schatten des materiellen Rechts steht,63 sondern um die unumstrittene These, dass erkenntnistheoretische bzw. beweisanalytische Probleme für die Rechtswissenschaften kaum interessant sind. Die Diagnose zu der hier zu behandelnden Problematik möchte ich mit den Worten Nauckes liefern: „man hat [im Recht] den Fall daher so zu nehmen, wie er geschildert ist [...] Der Strafjurist muß sich früh darin üben, unwahrscheinlich klingende tatsächliche Geschehnisse als geschehen betrachten zu können“.64 Ich glaube, dass sich diese Argumentation verallgemeinern lässt.

Der Richter befindet sich nicht in der Situation des Wissenden, wo wir die Unsicherheitsgröße ausblenden.65 Ganz im Gegenteil nimmt er die Position des Ignoramus ein und trifft eine Entscheidung unter Unsicherheit. Beweisanalytische und beweisrechtliche Probleme werden selbstverständlich nicht ausgeklammert; letztere sind sogar die Hauptaufgabe der Richter.66 Das heißt, die Frage nach den materiell-rechtlichen Voraussetzungen einer Rechtsfolge, die Rosenberg stellt, ist sinnlos, sobald wir uns im Erkenntnisverfahren befinden. Rosenbergs dreiwertiges Prädikat führt unausweichlich zu dem Ergebnis, dass die „bloße Existenz“ der Tatsachen eine Rechtsfolge auslösen kann. Diese Fragestellung ist wegen ihres metaphysischen Charakters diskreditiert worden. Koussoulis merkt an, dass das Beweiskriterium (Beweismaß) zum Tatbestand der Rechtsnorm gehört, „so daß die Anwendung des ‚materiellen Rechts‘ eng mit den jeweils geltenden Beweismaßanforderungen verbunden ist“.67 Aus demselben Grund ist es von zentraler Bedeutung, auf die Unverzichtbarkeit der epistemischen Züge unserer forensischen Praxis aufmerksam zu machen. Wie Goldman ausführt: „It is important to distinguish between metaphysically cases and epistemologically easy cases. If all the material facts of a case are ‘given’, metaphysically speaking, it may be straightforward how it ought to be classified. But this does not mean that it is epistemologically easy to determine what those facts are“.68

Oben wurde wird auf eine folgenschwere Unterscheidung aufmerksam gemacht: zwischen der Situation des Wissenden, in welcher wir die Größe der Unsicherheit aus dem einen oder anderen Grund ausblenden, und der Situation des Ignoramus, in welcher wir unter Unsicherheit argumentieren.69 Rosenberg und mit ihm die h.M. nimmt die Position des Wissenden ein, wenn sie sich mit der Frage beschäftigen, ob „der Tatbestand einer Norm tatsächlich erfüllt wurde“.70 Denn Kriterium des Urteils ist nicht die (nur aus der Situation des Wissenden sinngemäß zu erfassende) Wirklichkeit, sondern die (aus der Situation des Ignoramus betrachtete) Überzeugung des Tatrichters (I.2.1.).71

62 Wie Laumen/Prütting, Handbuch (Fn. 24), S. 5 betonen: „Im Zivilprozess wird vor allem um die Wahrheit oder Unwahrheit behaupteter Tatsachen getsritten“. 63 Pars pro toto M. Huber, Das Beweismaß im Zivilprozeß, Köln (u.a.) 1983, S. 1. 64 Naucke, Strafrecht, 10. Aufl., Neuwied; Kriftel 2002, S. 1, S. 12; sehr kritisch dazu auch Koch/Rußmann, Juristische Begründungslehre, München 1982, S. 271); siehe auch Laudan, Truth, Error, and Criminal Law, 2006; Anderson/Twining, Analysis of evidence, 1991, S. XX, 56ff.; ähnlich Bender/Nack/Treuer, Tatsachenfeststellung vor Gericht, 3. Ausgabe, S. 135. 65 Für diese folgenschwere Unterscheidung siehe G. Ernst, Two Varieties of Knowledge, in: Stefan Tolksdorf (Hrsg.), Conceptions of Knowledge, Berlin 2012, S. 307–327. 66 Laumen/Prütting, Handbuch (Fn. 24), S. 5 m.w.N. 67 Koussoulis, Beweismaßprobleme im Zivilprozess, in: Gottwald (Hrsg.), Festschrift für Karl Heinz Schwab, S. 279); zum Prinzip der Einheit der Rechtsordnung siehe nur BGHSt 11, 241. 68 A. Goldman, Knowledge in a Social World, Oxford 1999, S. 278. 69 Siehe G. Ernst, Two Varieties of Knowledge, in: Tolksdorf (Hrsg.), Conceptions of Knowledge, S. 307 ff. 70 Pars pro toto Musielak, Grundlagen (Fn. 19), S. 19. 71 Kelsen (Reine Rechtslehre, 2. Aufl., 1960, S. 246) betont: „Denn der Rechtssatz lautet nicht: Wenn ein bestimmter Mensch einen Mord begangen hat, soll eine bestimmte Strafe über ihn verhängt werden, sondern: Wenn das zuständige Gericht in einem durch die Rechtsordnung bestimmten Verfahren rechtskräftig festgstellt hat, daß ein bestimmter Mensch einen Mord begangen hat, soll das Gericht über diesen Menschen eine

This is a preliminary draft of a text which was published in: RECHTSTHEORIE 45 (2014), S. 243–276

9

In dem Moment, wo man sich Klarheit darüber verschafft, dass (auch nach höchstrichterlicher Rechtsprechung) der Tatrichter sich nicht zwingend für die eine oder andere Möglichkeit zu entscheiden hat (vgl. den Wortlaut des § 286 ZPO), sondern eine Entscheidung unter Unsicherheit trifft, kommt man zu dem Ergebnis, dass die einzig relevante Frage diejenige des Beweiskriteriums (Beweismaßes) ist. Und das Beweiskriterium schafft ein asymmetrisches (d.h.: zweiwertiges) Entscheidungsmuster. Sind die Voraussetzungen des Beweiskriteriums (volle Überzeugung des Richters) erfüllt, so wird etwa die Klage angenommen / der Angeklagte verurteilt. Sind dieselben Voraussetzungen nicht erfüllt, so wird die Klage abgewiesen / der Angeklagte freigesprochen. Jedenfalls reden wir von nur zwei Möglichkeiten bzw. von zwei möglichen Ausgängen des Erkenntnisverfahrens. Tertium non datur.

Die oben durchgeführte Begriffsexplikation lässt für Beweislastnormen keinen Raum zu. Die Beweislastlehre kann also die Rechtsvermutungen und deren dogmatische Herausarbeitung nicht schultern. Dabei handelt es sich um eine brüchige, von naiven erkenntnistheoretischen Prämissen ausgehende und mit der Beweisrechtsdogmatik des BGH nicht im Einklang zu bringende Konstruktion. Die Beweislastlehre ist die richtige Antwort auf das falsche Problem. Die Tatsache, dass die Beweislastlehre Begriffe wie „subjektiv“ und „objektiv“ einsetzt – nämlich Begriffe, die durch „widerspruchsvollen Gebrauch und durch unentschiedene, oft uferlose Diskussionen stark belastet“ sind,72 bzw. als „falsche und irreführende Etiketten“73 angesehen werden können – ist ein weiteres Symptom der nicht tragfähigen Grundlage dieser Lehre. Man sieht sich verpflichtet, das Problem des „non liquet“ zu lösen, das allerdings Probleme schafft, die ohne es nicht existieren würden. Wie Laumen und Prütting anmerken: „Eine Beweislastentscheidung setzt also ein non liquet voraus“.74 Entfällt die Problematik des non liquet, so kommt der Beweislast keine Funktion mehr zu. Die h.M. verkennt, dass wir uns spätestens in dem Erkenntnisverfahren, von welchem er ausgeht, inmitten der Beweisproblematik befinden. Im Hintergrund aller materiell-rechtlichen Überlegungen kann nichts anderes als ihre Anwendung mittels eines prozessrechtsgemäß entstandenen Urteils stehen. Der Gedanke, die Größe der Unsicherheit zu eliminieren – dazu führt die Dreiteilung des jeweiligen Beweisergebnisses –, hält der Kritik nicht stand.

Diese Einsicht verweist auf die Erforderlichkeit einer anderweitigen Erklärung von Rechtsvermutungen. Eine Alternative ist eine logische, strukturelle Analyse der Rechtsvermutungen.75 Die Behandlung dieser Problematik ist Aufgabe der nachfolgenden Darstellung.

II Logik

1. Logik und Jurisprudenz

Ausgangspunkt der vorliegenden Abhandlung ist einerseits die Begriffsverwirrung in der Lehre der Rechtsvermutungen und andererseits das Erfordernis einer erga omnes Geltung von „Erkenntnis“. Um die „Sprachverwilderung“76 zu beseitigen, werde ich den Begriff „Rechtsvermutung“ unter die Lupe nehmen, sodass wir am Ende nicht nur die

bestimmte Strafe verhängen.“ 72 K. R. Popper, Logik der Forschung, 10. Aufl., Tübingen 1994, S. 18. 73 B. Rüthers, Wozu auch noch Methodenlehre? In: JuS 2011, S. 865f. 74 Laumen/Prütting, Handbuch (Fn. 24), S. 29. 75 Siehe nur Kelsen, RR-2 (Fn. 71), S. 195. 76 Rosenberg, Beweislast (Fn. 8), S. 199.

This is a preliminary draft of a text which was published in: RECHTSTHEORIE 45 (2014), S. 243–276

10

„Wirkungen von Vermutungen“ nachspüren – wie die ganz h.M. es bisher gemacht hat –, sondern eine möglichst genaue Beschreibung der Darstellungsform des Begriffs „Rechtsvermutung“, nämlich deren Struktur und Funktion liefern können.77 Denn die Domäne der Rechtsdogmatik ist nicht der Bereich der Empirie – dazu gehören die von der Beweislastlehre zu untersuchenden „Wirkungen“ –, sondern der von Normativität bzw. von der Struktur von Normen.78 Damit meine ich selbstverständlich keine vorgegebene Entität oder gar ein unwandelbares Objekt, das angeblich auf seine Entdeckung wartete, sondern die Grammatik, die den positiv-rechtlichen Normen und insbesondere den Rechtsvermutungen zugrunde liegt. Mir geht es also um eine Strukturanalyse nicht einfach der hic et nunc geltenden Rechtsvermutungen, sondern aller Rechtsvermutungen als Instrument, das vom Gesetzgeber in fast allen modernen Rechtsordnungen eingesetzt wird. Im Folgenden werde ich schrittweise die logische Struktur von Rechtsvermutungen beleuchten, um sie handhabbar zu machen.

Bei dem Problembereich der Logik handelt es sich um eines der umstrittensten Themen in der Rechtswissenschaft.79 Die Frage etwa, ob es in der Jurisprudenz auf deduktive Ableitungsbeziehungen aufgebaute Theorien, die sich in der Form notwendigen Konklusionen darstellen,80 geben kann, polarisiert seit jeher die Debatte.81 Und obwohl die teilweise heftigen Schlachten der Vergangenheit nicht mehr gefochten werden,82 sind m.E. zentrale Frage bezüglich der Leistungsfähigkeit bzw. Anwendbarkeit der Logik offen geblieben. Bevor ich eine sachadäquate Beschreibung der logischen Struktur von Rechtsvermutungen, die den besonderen Merkmalen einer Rechtsordnung gerecht wird, präsentieren kann, muss mit einigen Missverständnissen ausgeräumt werden. 2. Das Projekt einer Kunstsprache

Neumann hat bereits darauf hingewiesen, dass der Begriff „Logik“ mehrdeutig ist.83 Die Rede ist etwa von Logik im weiteren Sinne, wo wir im tagtäglichen Gebrauch Logik eher im Sinne von „Methode“ oder „Kohärenz“ verstehen. Im engeren Sinne bezieht sich „Logik“ auf einen formalen Kalkül, der eine zwingende Folgerung zwischen Prämissen und Konklusion zulässt. Ein (formal) logisches Argument ist also eine Menge von Sätzen, in welcher sich die Konklusion sich aus den anderen Sätzen (Prämissen) mit Notwendigkeit ergibt.84 Hier kann also bereits mit dem ersten Missverständnis ausgeräumt werden, welches besagt, Logik (i.e.S.) gehe bis auf Aristoteles zurück.85 Diese Ansicht beruht indes auf dem typischen Bild der Logik (i.w.S.) des 19. Jahrhunderts. Letztere ließ sich als eine Vermischung von aristotelischer Syllogistik und psychologistischer Erkenntnistheorie beschreiben.86 Die moderne und mithilfe der mathematischen Sprache

77 Eingehend zu diesem analytischen Ansatz P. M. S. Hacker und M. R. Bennett, Philosophical Foundations of Neuroscience, Malden 2003, S. 399 f.; Zu „Grammatik siehe nur P. M. S. Hacker, Wittgenstein on Grammar, Theses and Dogmatism, in: Philosophical Investigations 35 (2012), S. 1–17. 78 Vgl. Hacker/Bennett, Philosophical Foundations (Fn. 77), S. 399. 79 Aus der jüngsten Literatur siehe K. Gräfin v. Schlieffen, Wie Juristen begründen, JZ 2011, S. 109 ff.; vgl. die kritische Reaktion von D. Simon, Alle Quixe sind Quaxe – Aristoteles und die juristische Argumentation, JZ 2011, S. 697 ff. 80 A. Bühler, Einführung in die Logik: Argumentation und Folgerung, Freiburg i.Br. (u.a.) 1997, S. 81 Eingehend dazu H. L. A. Hart, The concept of law, Oxford 1961, Kap. 7: „Formalism and Rule-Scepticism“. 82 Siehe nur Koch/Rüßman, Begründungslehre (Fn. 64), S. 59–63; U. Neumann, Juristische Argumentationslehre, Darmstadt 1986, S. 16–37. 83 U. Neumann, Juristische Logik, in: Kaufmann/Hassemer/Neumann (Hrsg.), Einführung in Rechtsphilosophie und Rechtstheorie der Gegenwart, 7. Aufl., Heidelberg 2004, S. 298–319 (298 et passim); ausf. dazu U. Klug, Juristische Logik, Berlin (u.a.) 1951, S. 1. 84 Eingehend Bühler, Logik (Fn. 80), S. 15. 85 Exemplarisch so bei O. Weinberger, Rechtslogik, 2. Aufl., Berlin 1989, S. 34. 86 So V. Mayer, Gottlob Frege, München 1996, S. 35; nach der berühmten Formulierung I. Kants (KrV, BVIII,

This is a preliminary draft of a text which was published in: RECHTSTHEORIE 45 (2014), S. 243–276

11

George Booles formalisierte Logik entsprang „ganz unvermittelt, ohne daß es möglich war, eine historische Erklärung anzugeben […] in einer beinahe höchsten Vollkommenheit dem genialen Kopfe Gottlob Freges“,87 der als Gründervater der analytischen Philosophie gilt.88 Frege selbst beschrieb seinen formalen Kalkül als ein möglichst mächtiges „Mikroskop“,89 welches er explizit von der „Sprache des Lebens so wie der aristotelischen Syllogistik scharf trennte“.90 Freges Kalkül bestand in dem Versuch, das Instrumentarium der Mathematik zur Darstellung der Logik zu verwenden.91 Der Kalkül diente dazu, „die Bündigkeit einer Schlußkette auf die sicherste Weise zu prüfen“.92 Freges Absicht war nach Mayer nicht „die natürliche Sprache zu formalisieren oder gar eine formale Semantik der natürlichen Sprache zu liefern. Im Gegenteil soll die Begriffsschrift die Sprache des Lebens von ihren Ungenauigkeiten reinigen, die einen negativen Einfluß auf das logische Denken ausüben“.93 Ich kann hier nicht darauf eingehen, wie der Logizismus Freges durch die berühmt gewordene Russelllsche Antinomie eingebrochen ist.94 Erwähnenswert ist nur, dass ausgerechnet im Lichte des Fregeschen Konzepts Wittgenstein den tautologischen Charakter der formalen Logik sowie die Wahrheitswerttafel einführte.95

Daraus lässt sich schließen, dass der Streit um die Logik i.w.S. uns als eine von niemandem bestrittene Banalität nicht weiter beschäftigen sollte. Folgende Gedanken widmen sich der Problematik der Logik i.e.S.

2.1 Die Norm als Konditionalsatz?

Anhand des wohl klassischen Schnittpunktes zwischen Jurisprudenz und Logik, nämlich des Justizsyllogismus, möchte ich jetzt die sinnvollen Grenzen des Einsatzes formaler Logik aufzeigen. Fassen wir also im Anschluss an die h.M. den Tatbestand des Mordes als einen Konditionalsatz.96 Der im § 211 StGB enthaltenen Norm:

„Der Mörder wird mit lebenslanger Freiheitsstrafe bestraft“ (S1) kann nach Vorschlag Larenz’ folgende logische Form gegeben werden (1) T1→ R (d.h. für jeden Fall von T gilt R) (2) S = T (S ist ein Fall von T) (3) S → R (für S gilt R) (1,2) Dies nennt Larenz „das logische Schema der Gesetzesanwendung“.97 Betrachten wir nun in der Abbildung 1.1 die Wahrheitswerte98 dieser – so formalisierten – Norm:

AA XIX, 20) hat die Logik seit Aristoteles „keinen Schritt vorwärts tun können, und also allem Ansehen nach geschlossen und vollendet zu sein scheint“. 87 J. Lukasiewicz, Zur Geschichte der Aussagenlogik, in: Erkenntnis 5 (1936), S. 111–131 (124). 88 Ähnlich Klug, Logik (Fn. 83), S. 12f. 89 G. Frege, Begriffsschrift: eine der arithmetischen nachgebildete Formelsprache des reinen Denkens, Halle a.S. 1879, S. V. 90 Ausführlich dazu bei Mayer, Frege (Fn. 86) S. 46 ff. 91 Mayer, Frege (Fn. 86) S. 46. 92 Frege, Begriffsschrift (Fn. 89), S. X. 93 Mayer, Frege (Fn. 86) S. 49. 94 Siehe G. Frege, Grundlagen der Arithmetik, Bd. II, Jena 1903, Anhang S. 253–261. 95 L. Wittgenstein, Tractatus logico-philosophicus, Werkausgabe, Bd. 1, 1984, Sz. 6.1: „Die Sätze der Logik sind Tautologien“. 96 Siehe nur K. Engisch, Logische Studien zur Gesetzesanwendung, Heidelberg 1943, S. 8 ff. 97 Ähnlich geht R. Alexy, Theorie der juristischen Argumentation, Frankfurt 1978, S. 273f., 276 f., 288, an die Sache heran. Der Autor ist der Meinung, dass jeder Norm folgende Form gegeben werden kann: (1) (x) (Tx → ORx) (R) (2) (x) (Mx→ Tx) (W) (3) Ma (4) ORa (1–3)

This is a preliminary draft of a text which was published in: RECHTSTHEORIE 45 (2014), S. 243–276

12

Abbildung 1.1 Greifen wir nun aus dieser Wahrheitswerttafel99 zwei Relationen aus. Die erste Zeile (T=w, R=w) besagt, dass, wenn jemand, der des Mordes überführt worden ist (T=w), verurteilt wird (R=w), es sich dabei um eine gültige Relation (T→R = W) handelt. Das stimmt mit der Norm überein, der zufolge Mörder bestraft werden sollen. Soweit so gut. Die dritte Relation besagt allerdings: Wenn jemand, der des Mordes nicht überführt wurde (T=f), bestraft wird (R=w), dann handelt es sich ebenso um eine in diesem System beweisbare (d.i. gültige) Relation (Tf→Rw = W). Das ist allerdings nicht nur paradox,100 sondern auch aus semantischen Gründen inakzeptabel. Die deduktive Maschinerie des Konditionalsatzes stellt Konklusionen her, die die Autoren selbst ausdrücklich nicht akzeptieren.101 Sobald wir also die logische Relation in die natürliche Semantik rückübersetzen, stellen wir fest, dass wir uns vor folgendes Dilemma stellen. Entweder täuschen wir uns über die Bedeutung des Satzes S1 und insb. über die Bedeutung von „nur“ (Art. 103II GG, § 261 StPO, Art. 6II EMRK), oder wir lassen eine Interpretation bzw. Auslegung der Normen zu, die unser Verständnis dafür, was ein Rechtsstaat ist, sprengt.102 Es braucht hier nicht näher erläutert zu werden, dass Letzteres der Fall ist. Es ist ja undenkbar, unsere Intuitionen über unser sprachliches Verständnis für die Konjunktion „nur“ auszurotten. Ließe ein Normensystem zu, dass ein des Mordes nicht überführter Täter verurteilt werden darf, so erleiden wir einen Kommunikationszusammenbruch, denn gewisse Vorannahmen, auf welchen diese Debatte sowie unser Sprachverständnis beruht, bezweifelt werden. 2.2 Die Norm als Bikonditionalsatz?

Da der Versuch, Normen bzw. Rechtsgebiete als konditionale Verhältnisse zu formalisieren, von vornherein zum Scheitern verurteilt ist, könnte ein zweiter Ansatz uns weiterführen. Normen „müssen“, so Koch/Rüßmann, als Bikonditional103 gefasst werden.

98 Auf die Problematik der Wahrheitsfähigkeit von Normen werde ich später eingehen. 99 Siehe nur Wittgenstein, Tractatus (Fn. 95), Sz. 5.101. 100 Neumann, Juristische Logik (Fn. 83), S. 305f.) spricht dieses Problem an: „sie [die Verwendung des Implikators zur Darstellung der konditionalen Struktur der Rechtsnorm] führt zu inakzeptablen Folgerungen“. 101 Siehe etwa die von Alexy, Theorie (Fn. 97), S. 9) verwendete Notation. Daraus ergibt, dass der Unterschied zwischen einem bi- und einem konditionalen Verhältnis dem Autor alles andere als fremd war; siehe auch K. Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Aufl., Berlin 1991. Interessanterweise verwendet Larenz den einfachen Pfeil, obwohl er auf Seite 271 schreibt: „Wir haben früher gesehen, daß ein vollständiger Rechtssatz seinem logischen Sinne nach besagt: Immer wenn der Tatbestand T in einem konkreten Sachverhalt S verwirklicht ist, gilt für S die Rechtsfolge R“ – Hervorhebungen von mir. Das ist m.E. ein klarer Verweis auf ein bikonditionales Verhältnis. Aus der neuesten Literatur siehe C. Bäcker, Der Syllogismus als Grundstruktur des juristischen Begründens? In: Rechtstheorie 40, S. 406 ff.). 102 Kritisch dazu auch Koch/Rüßmann, Begründungslehre (Fn. 64), S. 55 f. 103 Koch/Rüßmann, Begründungslehre (Fn. 1), S. 55f.). Es ist allerdings nicht zu verkennen, dass die Autoren sich auch deontischer Operatoren bedienen. Darauf werde ich später eingehen. Konditional und Bikonditional sind die am meisten verwendeten Junktoren in der Aussagenlogik; eingehend dazu C.-F. Stuckenberg, Untersuchungen zur Unschuldsvermutung, Berlin 1998, S. 470 ff.

T R T→R w w W w f F f w W f f W

This is a preliminary draft of a text which was published in: RECHTSTHEORIE 45 (2014), S. 243–276

13

Bikonditional104 bezeichnet in der Formalen Logik die Verbindung zweier elementarer Aussagen p und q, die dann und nur dann wahr ist, wenn beide Aussagen denselben Wahrheitswert haben. Erkennungsmerkmal des Bikonditionals ist der Doppelpfeil–Junktor (↔), der als Abkürzung von „((A→B) & (B→A))“ behandelt werden kann.105 Für die zweiwertige wahrheitsfunktionale formale Logik können wir dies anhand folgender Wahrheitswerttafel veranschaulichen:106

Abbildung 1.2 Greifen wir nun die erste und vierte Relation heraus. Damit diese Relation der elementaren Aussagen wahr sein kann, müssen beide denselben Wahrheitswert haben. D.h.

für T=w, R=w: Des Mordes überführte Angeklagten werden bestraft (erste Zeile) für T=f, R=f: Des Mordes nicht überführte Angeklagten werden nicht bestraft (vierte Zeile)

Die Übereinstimmung mit unserer natürlichen Semantik springt besonders ins Auge. Das bikonditionale Verhältnis der Aussagenlogik scheint ein guter Kandidat zu sein, um das Wort „nur“ zu formalisieren. Es wird jedenfalls unserer Grundintuition gerecht, dass etwa Strafe und Schuldnachweis als die beiden Teile einer Aussage logisch äquivalent sind. Der eine kann nicht ohne den anderen wahr bzw. falsch sein. Besser formuliert: „Nur bei einem Bikonditional folgt aus der Verneinung des Antecedens die Verneinung der Konsequens“.107 3. Was taugt die formale Logik?

Über die Leistungsfähigkeit der formalen Logik für die Rechtswissenschaften ist jahrzehntelang kontrovers und teilweise heftig diskutiert worden (II.1.). Mir geht es hier nicht darum, diese Debatte kurzzufassen oder kritisch zu betrachten. Einen Punkt, an welchem der juristische Diskurs vorbei gegangen ist, möchte ich allerdings erwähnen. Es geht hierbei um die Hauptbedingung, die erfüllt werden soll, damit wir über formale logische Sprachen reden dürfen. Unter einer formalen Sprache versteht man eine solche, in welcher jeder Ausdruck explizit und eindeutig zu definieren ist: „Der Satz, das Wort, von dem die Logik handelt, soll etwas Reines und Scharfgeschnittenes sein“.108 Zentrale Bedeutung wird also hier einem Prinzip beigemessen, das Logiker als Kontextinvarianzprinzip bezeichnen und dem zufolge „die Ausdrücke, die in Sätzen vorkommen, insbesondere die Eigenschaftswörter und Eigennamen, sich überall, wo sie vorkommen, auf dasselbe beziehen; d.h., das, worauf sie sich beziehen, nicht mit dem Kontext variiert, in dem die Ausdrücke verwendet werden“.109 Hauptzweck dieses Prinzips

104 Lat.: bis = „zweimal“, conditio = „Bedingung“. 105 Bühler, Logik (Fn. 80), S. 131. 106 Siehe nur Wittgenstein, Tractatus (Fn. 95), Sz. 5.101. 107 Stuckenberg, Untersuchungen (Fn. 103), S. 470. 108 L. Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, Werkausgabe, Bd. 1, 1984, S. 225–618, § 105. 109 Das Kontextinvarianzprinzip ist eines der drei Prinzipien logischer Analyse, anhand deren man eine natürliche Sprache soweit betrachten kann, als in ihr diese Prinzipien nicht verletzt werden. Ausführlich dazu Bühler (1997, S. 41 f) – Zitat leicht modifiziert.

T R T↔R w w W w f F f w F f f W

This is a preliminary draft of a text which was published in: RECHTSTHEORIE 45 (2014), S. 243–276

14

ist der Ausschluss der mehrdeutigen Verwendung von Ausdrücken, mit denen wir logisch operieren, und zwar um jeden Preis.110 Das Prinzip bezieht sich ferner auf die Annahme, dass für die Untersuchung logischer Folgerung garantiert sein sollte, dass Sätze eine gewisse Stabilität in ihren Wahrheitswerten besitzen: „The truth values need not be known, but they must be stable“.111 Die Determiniertheit der verwendeten Begriffe verleiht also formalen Sprachen wie der (formalen) Logik und der Mathematik die erforderliche Konsistenz.112 Denn die formale Logik hat wie oben bereits erwähnt einen nicht zu verkennenden tautologischen Charakter: „Darum kann es in der Logik auch nie Überraschungen geben“.113

Die Antwort auf die Frage, ob die juristische Sprache im logischen Sinne als eindeutig und präzise und daher als formale Sprache angesehen werden kann, ist ein klares und – soweit ersichtlich – unumstrittenes Nein. Selbst Autoren, die für den Einsatz formaler Sprachen im Recht plädieren,114 üben zugleich Kritik hinsichtlich der Schwächen einer determinierten Herangehensweise bei der Verwendung nummerisch-formaler Methoden, etwa bei der Strafzumessung. Dadurch wird jedenfalls das Hauptmerkmal einer natürlichen Sprache, nämlich die Unausdrückbarkeit bzw. Indeterminiertheit der Semantik – die Rede ist in der Rechtstheorie von „open texture“115 – nicht in Frage gestellt.116 Anders als im angelsächsischen gibt es im deutschsprachigen Raum einen weitgehenden Konsens gegen eine void-for-vagueness Doktrin – eine Idee die wir übrigens von Frege kennen. Nach Frege soll die Definition eines Begriffes vollständig sein: „sie muss für jeden Gegenstand unzweideutig bestimmen, ob er unter den Begriff falle [...] oder nicht. Es darf also keinen Gegenstand geben, für welchen es nach der Definition zweifelhaft bliebe, ob er unter den Begriff fiele“.117 Eine solche These leidet allerdings an extremen Idealisierungen. Der Grund, dass man Begriffe nicht reduktiv definieren kann, ist nicht, dass wir deren angeblich „wahre“ Bedeutung nicht finden können, sondern dass es so eine Bedeutung als vorgegebene Entität schlichtweg nicht gibt.118 Wittgenstein hält den Versuch, unsere Sprache von ihrer Indeterminiertheit (als Begriffscluster, das aus drei Komponenten besteht: a) Vagheit [vagueness] b) Mehrdeutigkeit [ambiguity] und c) Offenheit/Bestreitbarkeit [contestability])119 zu entkleiden, als eine sehr einseitige Betrachtung unserer Sprache. Natürliche Sprachen und die mit ihnen verflochtenen

110 Bühler, Logik Fn. 80), S. 41); siehe auch Neumann, Logik (Fn. 83), S. 302): „ Der Kalkül ist also einerseits genauer andererseits aber „ärmer“ als die Umgangssprache. Das erklärt sich aus der extensionalen Konzeption der Aussagenlogik. Die Aussagenlogik hat es nur mit der Extension (dem Wahrheitswert), nicht mit der Intension (dem Sinn) von Aussagen zu tun“; vgl. Klug, Logik (Fn. 83), S. 16f. Der Autor räumt ein, dass der Jurist wegen der „erhebliche[n] Schwierigkeiten“ bei der Benutzung der natürlichen Sprachen nur „quasi-axiomatisch“ verfahren kann. 111 W.v.O. Quine, Pursuit of truth, Cambridge Mass. 1992, S. 78. 112 O. Weinberger (siehe etwa Logische Analyse in der Jurisprudenz, Berlin 1979, S. 118f.) verkennt dieses Problem nicht. Und obwohl er (Weinberger, Rechtslogik, Fn. 85), S. 65), von der Indeterminiert formaler Logik ausgeht, bleibt er bezüglich der Möglichkeit einer Anwendung auf die Rechtssprache optimistisch. 113 Wittgenstein, Tractatus (Fn. 95), Sz. 6.1251); siehe auch Sz. 6.1, 6.1261, 6.1262. 114 Siehe etwa E. Hofmann, Formale Sprachen im Recht. In: Lerch (Hrsg.), Die Sprache des Rechts, Bd. III, . Berlin 2005, S. 289–320 (289f.). 115 Siehe nur H. L. A. Hart, The Concept of Law, Oxford 1961, S. 124–136. 116 Siehe nur J. Waldron, Vagueness in Law and Language. Some Philosophical Issues. In: California Law Review 82 (1994), S. 509–541 (509f.). 117 G. Frege, Grundgesetze der Arithmetik. Jena 1903, § 56. 118 L. Wittgenstein, Preliminary Studies for the “Philosophical Investigations (generally known as the Blue and Brown Books), Oxford 1958, S. 25: „We are unable clearly to circumscribe the concepts we use; not because we don´t know their real definition, but because there is no real ‘definition’ to them.“ 119 Dazu Waldron, Vagueness (Fn. 116), S. 512f.

This is a preliminary draft of a text which was published in: RECHTSTHEORIE 45 (2014), S. 243–276

15

Tätigkeiten bzw. Kulturen sind, so Kober, flexibel,120 da unsere Sprachspiele sich mit der Zeit ändern und mit ihnen auch die Bedeutung unserer Wörter.121

Es kann also davon ausgegangen werden, dass ein System von Begriffen, deren Inhalt von vornherein bestimmt wäre, nicht funktionsfähig wäre, weil es angesichts immer neuer gesellschaftlicher Gegenstände und Datenkonstellationen nicht anpassungsfähig wäre.122 Während in der Logik nichts zufällig ist und die Möglichkeit jedes Sachverhaltes bereits präjudiziert sein muss,123 ermöglicht semantische Elastizität dem Recht, mit dem Entwicklungsstand der wichtigen gesellschaftlichen Regelungsbereiche Schritt zu halten bzw. nicht wesentlich dahinter zurückzufallen. Um mit Hassemer zu sprechen: „der Traum von Regelstrenge und Ableitung ist endgültig ausgeträumt“.124 Wendet man ein, die juristische Sprache solle bestimmt sein, dann ist darauf hinzuweisen, dass eine nicht offene bzw. entwicklungsfähige Sprache gleichsam zum Aussterben verurteilt wäre.125 Das Gebot der Bestimmtheit des Gesetzes darf daher – darin stimmen Literatur und Rechtsprechung überein – nicht übersteigert werden, da sonst die Gesetze zu starr und kasuistisch würden und der Vielgestaltigkeit des Lebens, dem Wandel der Verhältnisse oder der Besonderheit des Einzelfalles nicht mehr gerecht werden könnten.126 Die Bedingungen einer formalisierten Sprache, denen zufolge jeder Ausdruck explizit und eindeutig definiert ist, werden nicht erfüllt. Einer in formal-logischer Hinsicht konsistenten Rechtssprache würde die im Wittgenstein’schen Sinne „Reibung“ fehlen, die unseren „Bedarf an Vagheit“127 zu befriedigen vermag.

„Wir sind aufs Glatteis geraten, wo die Reibung fehlt, also die Bedingungen in gewissem Sinne ideal sind, aber wir eben deshalb auch nicht gehen können.

Wir wollen gehen; dann brauchen wir die Reibung. Zurück auf den rauhen Boden!“128

4 Sind Normen wahrheitsfähig? Von den für den Bereich des Rechts unerfüllbaren Bedingungen abgesehen, ist der

Versuch, Normen mithilfe formaler Logik zu formalisieren129, aus einem weiteren Grund heftigen Zweifeln ausgesetzt. Es darf als unumstritten gelten, dass Normen ein Wahrheitswert nicht zugeschrieben werden kann.130 Gebote, Verbote und Erlaubnisse können weder wahr noch falsch sein. Es ist nicht einfach falsch, Normen als Wahrheitswertträger zu betrachten, sondern vielmehr unsinnig. Konkret: es macht genauso wenig Sinn von einer wahren (oder falschen) Norm zu reden wie von einem humorvollen Tisch. Solange wir alethischer und deontischer Modi131 separatim bedienen, kann die Rede nicht von einer wahren Norm oder von einer geltenden Möglichkeit sein. Sein und Sollen sind verschiedene Erkenntnisformen, die weder auseinander ableitbar noch aufeinander

120 M. Kober, Gewißheit als Norm, Berlin 1993, S. 39. 121 L. Wittgenstein, Über Gewißheit, in: Werkausgabe, Bd. 8, 11. Aufl., Frankfurt 2008, Rn. 65, 256. 122 D. Karamagiolis, Die Struktur eines folgenorientierten Schuldprinzips, Baden-Baden 2002, S. 37; W. Hassemer, Einführung in die Grundlagen des Strafrechts, 2. Aufl., München 1990, S. 182. 123 Wittgenstein, Tractatus (Fn. 95), Sz. 2.012. 124 W. Hassemer, Juristische Methodenlehre und richterliche Pragmatik, in: Heinz Müller-Dietz (Hrsg.), Festschrift für Heike Jung: zum 65. Geburtstag, Baden-Baden 2007, S. 231 ff. (244). 125 S. Stübinger, Das ‘idealisierte’ Strafrecht, Frankfurt 2008, S. 445. 126 Pars pro toto H. Otto, Grundkurs Strafrecht, Bd. 1, 7. Aufl., Berlin 2004, S. 45. 127 So Hassemer, Einführung (Fn. 122) S. 110. 128 Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen (Fn. 108), § 107. 129 Es soll hier explizit betont werden, dass „formalisieren“ nicht gleich „axiomatisieren“ heißt. 130 Koch/Rüßmann, Begründungslehre (Fn. 64), S. 44f.); Neumann, Logik (Fn. 83), S. 307; vgl. Klug, Logik (Fn. 83), S. 5. 131 G. H. v. Wright, Handlung, Norm und Intention: Untersuchungen zur deontischen Logik, Berlin 1977, S. 1 et passim.

This is a preliminary draft of a text which was published in: RECHTSTHEORIE 45 (2014), S. 243–276

16

zurückführbar sind.132 Dabei geht es um verschiedene „Werkzeuge“, die zu verschiedenen Zwecken eingesetzt werden.133

IV Deontische Logik und Jurisprudenz

1. Deontische Logik

Bevor die Suche nach geeigneten Ansätzen aufgegeben wird, die uns die Axiomatisierung normativer Systeme ermöglichen würde, soll eine letzte und m.E. vielversprechende Möglichkeit in Erwägung gezogen werden. Im Folgenden werde ich die sog. deontische Logik134 unter die Lupe nehmen, um die grammatisch-logische Struktur gesetzlicher Vermutungen zu Tage zu fördern und eine Rechtsvermutungsdogmatik aufstellen zu können.

Unter deontischer Logik, alias Logik der Normen,135 versteht man die formale Untersuchung normativer Konzepte.136 Und Juristen haben es mit einer unübersichtlichen Anzahl von miteinander zusammenhängenden, auseinander ableitbaren und aufeinander verweisenden Normen zu tun – in diesem Sinne: mit Normensystemen. Es besteht Einigkeit zumindest darüber, dass Untersuchungsobjekt der Rechtswissenschaft die positiv-rechtlichen Normen sind. In dieser Hinsicht, und vor allem wegen der Komplexität des positivierten Normengeflechts einer Rechtsordnung, darf die Rechtswissenschaft als der „reiche Vetter“ der Moralphilosophie betrachtet werden.137 Dies lässt Rechtswissenschaftler übrigens als „natural clients“138 deontischer Systeme schlechthin erscheinen. Von der Prämisse also eines Theoriebedürfnisses der Rechtswissenschaft ausgehend, werden hier Nachfrage und vorhandenes Angebot gegenübergestellt. Ich werde zeigen, dass default-deontische Sprachen ein geeigneter Kandidat für die Systematisierung eines Normengefüges sind. Zunächst ist eine Erklärung über den Inhalt deontischer und default Sprachen nötig.

Generell: Neben den jeweils drei alethischen {Notwendigkeit, Möglichkeit, Kontingenz} und epistemischen {Verifiziert, Falsifiziert, Unentschieden} Modi lassen sich diejenigen des Sollens unterscheiden.139 Georg von Wright lenkte im Jahre 1951 die Aufmerksamkeit der philosophischen und juristischen Community mit seinem einflussreichen Paper „Deontic Logic“ auf dieses zum damaligen Zeitpunkt kaum erforschte Gebiet der Logik.140 Die entfachte und bis dato nicht zur Ruhe gekommene Debatte über die Axiome einer deontischen Logik könnte hier weder kurz gefasst noch

132 H. Kelsen, Allgemeine Theorie der Normen, Wien 1979, S. 44 f. 133 Vgl. G. H. v. Wright, Deontic Logic, Mind, New Series 60 (1951), S. 1–15 (1). 134 Das sollte jedoch nicht zu der Annahme verleiten, dass es so etwas gibt wie die deontische Logik, als ein dominierendes Modell für die Formalisierung und Systematisierung normativer Strukturen. 135 Die deontische Logik war ursprünglich ein Zweig der Modallogik; eingehend dazu G. H. v. Wright, An Essay in Deontic Logic and the General Theory of Action, Amsterdam 1968, S. 3. 136 v. Wright, Essay (Fn. 135), S. 1. 137 J. L. Mackie, Ethics: inventing right and wrong, Harmondsworth 1983, S. 164. 138 D. Nute und X. Yu, Introduction, in: Donald Nute (Hrsg.) Defeasible Deontic Logic, Dordrecht (u.a.) 1997, S. 1. 139 Dieser Begriff ist nicht mit einer à la Kant deontologischen Moraltheorie zu verwechseln. 140 v. Wright, Deontic Logic (Fn. 133), S. 1 f.

This is a preliminary draft of a text which was published in: RECHTSTHEORIE 45 (2014), S. 243–276

17

hinreichend problematisiert werden.141 Fest steht jedoch, dass die Elementarsätze der sog. Standard Deontic Logic (SDL)142 folgende Gestalt haben:143 a) Es ist geboten, dass x [O(x)]144 b) es ist verboten, dass x [F(x)]145 und c) es ist erlaubt, dass x [P(x)]146. Diese drei deontischen Operatoren symbolisierenden Formeln bezeichnet man als deontische Operatoren. 2.1. Monadische Deontische Logik (MDL)

Der eine oder andere Jurist mag sich fragen, wo man das Wort „sollen“ im Gesetzestext finden könnte. Die Verwunderung ist ja insofern berechtigt, als (jedenfalls) den strafrechtlichen Normen meist nur eine generische Form „Wer x tut, wird mit Freiheitsstrafe bis zu y Jahren bestraft“ zu entnehmen ist. Geht man allerdings über die grammatikalische und wohl naive Leseart der gesetzlichen Vorschriften hinaus, kann man mit Montenbruck festhalten, dass die Strafvorschriften – diese Aussage lässt sich verallgemeinern – als Bestimmungsnormen doch vom Rechtsadressaten ein bestimmtes Verhalten fordern und dass Normen sich in primäre (Verhaltens-) und sekundäre (Sanktions-) Normen auflösen lassen.147 Konkreter bedeutet dies, dass primäre Normen etwa aus Strafrechtsvorschriften als die Form eines Imperativs habende Pflichtnormen abgeleitet werden. Beispielsweise lauten sie: „Du sollst nicht töten (§ 212 StGB)“. Sekundäre Normen können also als Anweisungen an die Richter, Verletzungen der Verhaltensnormen prozessordnungsgemäß zu bestrafen, verstanden werden.

Konzipiert man die Sollvorschriften, scil. die primären oder sekundären Normen wie früher gezeichnet, dann ist die SDL ein durchaus überzeugender Kandidat zur Axiomatisierung der Gesamtheit der grundsätzlich aus Pflichtvorschriften bestehenden Rechtsordnung. Konkreter: Bedient man sich a) eines aus Satzvariablen {p,q,r, …} und einem unteren Index {p1,q1,r1, …}, Junktoren {¬, «, →, Ú, Ù,}, Normoperatoren {O, F, P} und Hilfszeichen {,} bestehenden Vokabulars, b) und der oben (IV.1.) skizzierten informalen Semantik, dann lässt sich ein axiomatisches System SDL bilden, das alle weiteren Einsetzungsinstanzen der Sprache in folgende Axiomenschemata enthält: OA « ¬P¬A O(A→B) → (OA→OB) OA → PA

Entsprechend kann man die primären Normen axiomatisieren: Aus der Vorschrift § 212 StGB leitet sich folgende primäre Norm ab: Du sollst nicht töten, die sich wiederum so formalisieren lässt: O(A)«¬P(¬A).

141 Anders als im Rahmen der Aussagen- oder Prädikatenlogik kann man heute noch nicht über die Deontische Logik sprechen, deren Axiome und Prinzipien unumstritten sind. Nach L. Åqvist, Introduction to Deontic Logic and the Theory of Normative Systems, Napoli 1987, S. 8: “it is a field with the property that there is virtually no single issue in it upon which a settled consensus has been reached.” 142 Die SDL weicht teilweise von der von Wright’schen Classic Deontic Logic (CDL) ab. 143 F. v. Kutschera, Einführung in die Logik der Normen. Werte und Entscheidungen, Freiburg i. Br. [u.a.] 1973, S. 15. 144 [O]bligatory. 145 [F]orbidden. 146 [P]ermitted. 147 A. Montenbruck, In dubio pro reo aus normtheoretischer, straf- und strafverfahrensrechtlicher Sicht, Berlin 1985, S. 43ff.; stellvertretend für die h.M. R. Zippelius, Juristische Methodenlehre, 11. Aufl., München 2012, S. 2 ff.

This is a preliminary draft of a text which was published in: RECHTSTHEORIE 45 (2014), S. 243–276

18

Die Konstruktion mit primären Normen als Sollvorschriften ist allerdings nicht nur zweifelhaft, sondern bringt uns genauso weit wie der Vorschlag, mithilfe eines Sollvorschriftenkatalogs das Recht als „Gefüge von Geboten“ zu erfassen.148 Tatsache bleibt, dass Normen aus einem Tatbestand und einer Rechtsfolge bestehen, die geradezu durch die Feststellung der Tatbestandsmerkmale erzeugt wird. D.h.: Normen haben eine bedingte Struktur, wonach Richter unter bestimmten Bedingungen ermächtigt sind, die durch die Normvorschrift gekennzeichnete Handlung auszuführen.149 Die SDL sowie jede monadische deontische Logik (d.i. jede logische Sprache mit nur einem Operator) vermag diese Gretchenfrage der Normlogik nur unbefriedigend zu beantworten. Bedingte Normen, aus welchen jede moderne Rechtsordnung besteht, können (anders als allgemeine Verpflichtungen wie z.B. die Zehn Gebote Moses) von der SDL nicht angemessen erfasst und anschließend modelliert werden. 2.2. Dyadische Deontische Logik (DDL)

Oben wurde gezeigt, dass in den meisten Rechts- und Moralkodizes die Normsätze eine komplexe Struktur aufweisen, sodass die Frage sich aufdrängt, wie diese bedingten Normsätze (conditional obligations) logisch zu axiomatisieren sind – eine Frage, die Logiker von Anfang an beschäftigte. Von dieser Diskrepanz zwischen Nachfrage (Struktur der Gesetzestexte) und Angebot (Struktur der monadischen deontischen Logik) abgesehen, haben vor allem unüberwindliche Probleme wie z.B. die Chisholms Paradoxie150 Anlass dazu gegeben, Normsätze nicht mehr mithilfe einer monadischen deontischen Logik formal darzustellen, sondern als eine Logik dyadischer (zweistelliger) Operatoren aufzubauen, um u.a. das Problem des „factual detachments“ zu vermeiden.151 Denn Logikern war relativ schnell klar geworden, dass (bedingte) Normen folgende Form aufweisen:

O(ψ/φ) Diese Formel besagt: Es ist obligatorisch, dass ψ, gegeben φ. Die Handlung ψ soll ausgeführt werden, wenn φ gegeben ist. Bedingte Normsätze werden durch die den Gebotsoperator symbolisierende Formel O(–/–) axiomatisiert. Generell repräsentiert ψ einen Handlungstyp und φ einen bestimmten Sachverhalt und kann je nach Situation entweder als deontischer oder epistemischer Operator konzipiert werden.152 Die

148 Vgl. Zippelius, Methodenlehre (Fn. 147), S. 2 ff. 149 H. Lenk, Zur logischen Symbolisierung bedingter Normsätze, in: Lenk (Hrsg.) Grundprobleme der deontischen Logik, München 1974, S. 112–136 (112). 150 R. M. Chisholms Aufsatz (Contrary-to-Duty Imperatives and Deontic Logic, in: Analysis 24 (1963), S. 33–36) sorgte für Wellen, als er in einem sehr kurzen Paper sich mit den sog. „contrary-to-duty-Normen“ auseinandergesetzte. Darunter versteht man Normen, die unser Verhalten im Fall einer Normverletzung vorschreiben. Sein Ziel war, den Schluss nahezulegen, dass die Analyse von bedingten Normen Paradoxien zulässt, nämlich mögliche Auslegungen, die wir keineswegs zu akzeptieren bereit wären. Führen wir ein Beispiel an: 1. Es ist geboten, dass A keinen Mord begeht. 2. Gesetzt den Fall, dass A Mord begeht, dann ist geboten, dass er wegen Mordes angeklagt wird. 3. Gesetzt den Fall, dass A keinen Mord begeht, dann ist geboten, dass er nicht wegen Mordes angeklagt wird. 4 A begeht einen Mord. Diese Satzmenge, obwohl sie in der natürlichen Semantik widerspruchsfrei zu sein erscheint, ist im Rahmen der SDL entweder redundant oder widersprüchlich. 151 Lenk, Normsätze (Fn. 149), S. 113; es ist erwähnenswert, dass der erste Logiker, der darin einen Ausweg sehen konnte, von Wright, nämlich der Begründer der monadischen deontischen Logik bzw. der deontischen Logik schlechthin war. Siehe von Wright (1968); Einführend über die DDL siehe L. Åqvist, Introduction to Deontic Logic and the Theory of Normative Systems, Napoli 1987, S. 137ff. 152 Dass dies konsistent ist, zeigen N. Asher und D. Bonevac, Common Sense Obligation, in: Donald Nute

This is a preliminary draft of a text which was published in: RECHTSTHEORIE 45 (2014), S. 243–276

19

Möglichkeit mithilfe einer dyadischen deontischen Logik Rechtsnormen zu systematisieren, liegt auf der Hand. Etwa für φ = Schuldnachweis (SN) und ψ = Rechtsfolge (RF) haben wir das Gebot O(ψRF/φSN), dem zufolge ein Richter einem Angeklagten die (vorgeschriebene) Rechtsfolge verhängen soll, genau dann, wenn der Schuldnachweis erbracht wird. Hier wird behauptet, dass diese bedingte Struktur einen großen Teil der positiv-rechtlichen Normen axiomatisieren kann. Darauf hat schon im Jahre 1974 Weinberger verwiesen: „Der Sanktionsbegriff ist offensichtlich ein Begriff, in dessen Konstitution deskriptive und normative Elemente einbezogen werden.“153

Wir sind der Analyse der Struktur von Rechtsvermutungen einen Schritt näher gekommen. Bis dahin fehlt uns noch die Beleuchtung ihrer anfechtbaren (default-)Struktur.

3. Über default-Strukturen

Wir haben früher gesehen, dass Rechtsnormen eine bedingte Struktur aufweisen, denn sie bestehen aus einem Tatbestand und einer Rechtsfolge. Richter sind unter bestimmten Bedingungen ermächtigt, die durch die Normvorschrift gekennzeichnete Handlung auszuführen.154 Das ist allerdings nicht die einzige strukturelle Eigenschaft der Rechtsnormen. Das Hinzufügen von gewissen Prämissen führt dazu, dass die jeweilige Rechtsfolge nicht angehängt werden kann. Zum Beispiel der im § 212 StGB enthaltende präskriptive Satz, der das Töten anderer Menschen mit Freiheitsstrafe sanktioniert, tritt immer dann zurück, wenn der Täter sich in Notwehr befindet bzw. wenn ein Rechtfertigungsgrund vorliegt. Wäre die in einer Strafnorm enthaltende Rechtfolge das letzte Wort des Gesetzgebers, dann wären kontra-intuitive Ergebnisse wie die (gesollte) Aufopferung eines Menschenlebens etwa wegen eines Lügenverbots unvermeidbar.155

Darüber hinaus können wir dieselben Normen nicht statisch betrachten, uns nämlich mit einzelnen Normen befassen. Denn jeder einzelne Rechtssatz bringt die Gesamtheit der Rechtsordnung zur Geltung, genauso wie jeder mathematische Satz die Gesamtheit der Mathematik zur Geltung bringt.156 Eine Rechtsordnung, die aus einzelnen Vorschriften (Normen) bestünde, wäre freilich „ein Sammelsurium, aber keine Ordnung“.157 Eine positive Einzelnorm ist, so Kelsen, erst dann als Rechtsnorm anzusehen, wenn sie in eine Rechtsordnung eingebettet wird.158 Die vermeintliche Anwendung einer (gemeint wird: nur einer) Norm, die die Verknüpfung zwischen einer Rechtsfolge und den tatsächlichen Voraussetzungen ermöglichte, beruht „auf einem verengten, um nicht zu sagen naiven Normanwendungsverständnis“.159 Dieses Phänomen hat Wittgenstein zum Ausdruck gebracht:

„Einen Satz verstehen, heißt eine Sprache verstehen. Eine Sprache verstehen, heißt eine Technik beherrschen“.160

Ähnlich: Eine Norm verstehen, heißt eine Rechtsordnung verstehen. Eine Rechtsordnung verstehen, heißt eine Rechtsdogmatik beherrschen. Diese Einsicht sollte uns allerdings nicht zu einer holistischen Sicht des Rechts verleiten. Erforderlich ist

(Hrsg.) Defeasible Deontic Logic, Dordrecht (u.a.) 1997, S. 187. 153 O. Weinberger, Der Begriff der Sanktion und seine Rolle in der Normenlogik und Rechtstheorie, in: Lenk (Hrsg.), Normenlogik (Fn. 149), S. 89–111 (91). 154 Lenk, Normsätze (Fn. 149), S. 112. 155 U. Neumann, Die Moral des Rechts. Deontologische und konsequentialistische Positionen in Recht und Moral, in: Jahrbuch für Recht und Ethik 2 (1994), S. 81–94 (85). 156 In diese Richtung Kelsen, RR-2 (Fn. 158), S. 76: „Die von der Rechtswissenschaft formulierten Rechtssätze sind daher keine einfache Wiederholung der durch die Rechtsautorität gesetzten Rechtsnormen“. 157 Günther Jakobs, System der strafrechtlichen Zurechnung (2012), S. 14. 158 H. Kelsen, Reine Rechtslehre, 2. Aufl. (1960), S. 48. 159 M. Jestaedt, Maßstäbe des Verwaltungshandelns, in: Erichsen/Ehlers (Hrsg.), Allgemeines Verwaltungsrecht, 14. Aufl. (2010), §11 Rn 36. 160 Ludwig Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, in: Werkausgabe Bd. 1 (1984), S. 225–618.

This is a preliminary draft of a text which was published in: RECHTSTHEORIE 45 (2014), S. 243–276

20

hingegen eine Strukturanalyse des Normengefüges, welches die „Eigentümlichkeit“ hat, „seine eigene Erzeugung und Anwendung“ bzw. die Vermutungsentstehung und –widerlegung zu regeln.161 Das, nämlich eine strukturelle Betrachtung sich aufeinander beziehender, einander widerlegender Normen, ermöglicht uns die default Logik.

Rechtsnormen weisen also noch eine nichtmonotone, widerlegliche Struktur auf. In

diesem Sinne besitzen Rechtsvermutungen, denen zufolge ein Richter ermächtigt wird, das Vorhandensein einer (vermuteten) Tatsache anzunehmen, solange der Beweis des Gegenteils nicht erbracht wird,162 eine ähnlich anfechtbare Struktur. Dieses von mehreren Rechtsordnungen geteilte strukturelle Element ist der Aufmerksamkeit der Logiker nicht entgangen. Ullman-Margalit schreibt im Jahre 1983: „It will be rewarding, therefore, to devote some space to unravelling the nature of legal presumptions, in spite of the fact that theoretical discussions about their status are not free from controversy”.163 Um dieses Defizit zu überwinden, brauchen wir also dem Bereich der default-Logik nachzugehen und anschließend deren Hauptelement, die anfechtbaren Strukturen, auf die Rechtsvermutungen anzuwenden. Am Ende werden wir in der Lage sein, nicht nur die Phänomenologie von Rechtsvermutungen zu beschreiben, sondern vielmehr einen analytischen Blick in deren Widerlegungsmechanismus zu gewähren.

3.1. Rechtstheorie als Wiege der default-Logik

Es ist erwähnenswert, dass als Gründervater der default-Logik H.L.A Hart gilt, der 1949 mit seinem weichenstellenden Paper „The Ascription of Responsibility and Rights“ die Aufmerksamkeit der juristischen und – wie es sich erwiesen hat – der philosophischen und wissenschaftlichen Community auf die Funktion der Konjunktion „unless“ gelenkt hat – ein Terminus, der übrigens in fast jeder natürlichen Sprache zu finden ist.164 Hart wies auf ein besonderes Merkmal juristischer Konzepte hin: die Funktion der „defeaters“, die die anfechtbare Struktur einer Aussage/Norm in Gang zu setzen vermögen.165 Für Hart gibt es zwei Wege das Anhängen einer Rechtsfolge zu verhindern: Erstens durch Beweis des Gegenteils oder durch Bestreiten der Richtigkeit eines Sachverhalts und zweitens durch etwas ganz verschiedenes. Man kann nämlich zwar eingestehen, dass die entscheidungserheblichen Tatbestandsmerkmale vorliegen, aber zugleich auf das Vorhandensein anderer Umstände („defeaters“) hinweisen, die die Wirkung der ersteren widerlegen.166

3.2. Können (alle) Vögel fliegen?

Die geniale Einsicht H.L.A Harts, dass nämlich unsere Sprache Konjunktionen enthält, die anfechtbare (widerlegliche) Strukturen darstellen, hat der Logik und vor allem der Künstlichen Intelligenz wichtige Impulse gegeben, neue Wege für die Repräsentation menschlichen Wissens zu finden. Aus der einschlägigen Literatur lässt sich das Paper Raymond Reiters, „A Logic for Default Reasoning“ nicht mehr wegdenken.167 Reiter hat der Gedanke beunruhigt, dass unsere Welt auf eine radikale Weise komplexer ist als die

161 Kelsen, RR-2 (Fn. 71), S. 73. 162 Eingehend dazu C.-C. Liu, Fiktionen und Vermutungen im Recht der allgemeinen Geschäftsbedingungen, Hamburg 2002, S. 1ff. 163 E. Ullman–Margalit, On Presumption, in: Journal of Philosophy 80 (1983), S. 143–163 (144). 164 H. L. A. Hart, The Ascription of Responsibility and Rights, Proceedings of the Aristotelian Society 49 (1948), S. 171–94, S. 171 f. 165 Die Rede ist generell von „Widerlegung einer Norm“. Dies scheint mir allerdings aus mehreren Gründen fehlerhaft zu sein. 166 Hart, Ascription (Fn. 164), S. 174. 167 R. Reiter, A Logic for Default Reasoning, Artificial Intelligence 13 (1980), S. 81ff.

This is a preliminary draft of a text which was published in: RECHTSTHEORIE 45 (2014), S. 243–276

21

Welt, in welcher wir befriedigend deduktiv-logisch operieren könnten. Denn unser alltägliches und wissenschaftliches Wissen geht weit über die in den Prämissen und der Konklusion einer deduktiv-logischen Maschinerie bereits enthaltenen Informationen hinaus. Im Gegensatz zu konklusiven Gründen, die wahrheitserhaltend sind, argumentieren wir sehr oft mithilfe nicht-konklusiver oder nicht-monotoner Gründe.

Den Grundstein der default-Logik legte Reiters Bemerkung, dass eine große Anzahl unserer Aussagen die generische Struktur „fast alle P‘s sind Q’s“ aufweisen.168 Und obwohl es trivial wäre zu betonen, dass „fast alle Q’s“ nicht „alle Q’s“ bedeutet, taucht das Problem auf, auf welcher Grundlage wir inferentielle Schlüsse auf den Einzelfall Q1 ziehen können, wenn wir über Informationen nur über die Referenzklasse (Q’s) verfügen. Denn ein (induktiver) Schluss auf den Einzelfall wäre nicht erlaubt, solange unser Beweismaterial nicht individualisiert ist.169 Angenommen, dass 99% der Einwohner einer Stadt katholisch sind, sind wir nicht berechtigt dem „X“ Einwohner das Prädikat „katholisch“ zuzuschreiben.

Reiter macht einen bahnbrechenden Vorschlag. Er meint, dass wir unter gewissen Umständen berechtigt sind von dem Regelfall auszugehen, ohne zugleich bejahen zu können, dass die Alternative nicht der Fall ist.170 Default-Logik axiomatisiert also das Ziehen von Schlüssen ohne Belege, wenn Gegenbelege nicht vorhanden sind. Unter bestimmten Bedingungen, d.i. wenn minimale Kriterien erfüllt werden, kann also der Regelfall bejaht werden, es sei denn bestimmte Bedingungen liegen vor, die die Zurechnung anfechten. Wenn wir beispielsweise wissen, dass Tweety ein Vogel ist, dann dürfen wir daraus schließen, dass Tweety fliegen kann. Alles was wir brauchen ist „somehow to allow tweety to fly by default”.171 Man beachte, dass wir nicht darum wissen, ob Tweety tatsächlich fliegen kann. Wissen verfügen wir nur über die default-Bedingung, dass Tweety ein Vogel ist, und dass dies mit der Information kompatibel ist, dass Vögel generell fliegen können. Wir lassen also zu, dass Tweety auf eine widerlegliche Weise fliegen darf. Formal dargestellt:

Vogel(T):Mfliegen(T)Fliegen(T)

Diese Formel besagt: Wenn Tweety (T) ein Vogel ist und es konsistent ist zu glauben (M), dass Vögel fliegen können, dann sind wir in der Annahme epistemisch berechtigt, dass Tweety fliegen kann. Man beachte, dass hier das (einzige) minimale Kriterium, das erfüllt werden muss, die Eigenschaft eines Vogels ist. Diese Vermutungsbedingung befeuert wiederum die default-Annahme, dass Vögel fliegen können.

Die privilegierte Behandlung einer (vermuteten) Tatsache, heißt aber nicht, dass letztere unwiderlegbar ist. Nehmen wir hier eine Ausnahmemenge mit begrenzter Kardinalität, in welcher die einzig zulässigen Ausnahmen (defeaters) folgende sind: Σdefeaters: {Strauß, Pinguin} (x). Pinguin (T) É ¬Fliegen(T) (x). Strauß (T) É ¬Fliegen(T)

168 Reiter, Default Reasoning (Fn. 167), S. 82. 169 D. Lucy, Introduction to Statistics for Forensic Scientists, New York 2005, S. 5.; mehr dazu bei K. Kotsoglou, ʿShonubiʾ revisited. Begründet die Zugehörigkeit zu einer Referenzklasse einen Schadensersatzanspruch?“, ARSP 2013, S. 241–251. 170 Reiter FN. 171 Reiter, Default Reasoning (Fn. 167), S. 82.

This is a preliminary draft of a text which was published in: RECHTSTHEORIE 45 (2014), S. 243–276

22

Diese zwei formalen Aussagen besagen, dass unsere default-Annahme immer dann widerlegt wird, wenn wir Wissen um das Vorhandensein eines von beiden Widerlegungsgründen (defeaters) verfügen. 3.3. Sind wir Juristen oder Ornithologen?

Das oben angeführte Beispiel mag den einen oder anderen traditionell denkenden Juristen verwundern. „Haben es die Juristen mit Normen oder mit Vögeln zu tun?“ könnte man sich fragen. Und doch handelt es sich bei den oben angeführten Beispielen weder um Vögel noch um Normen. Denn Beispiele dienen einfach dazu, die zugrunde liegende logische Struktur unserer Sprache, die Strukturen hinter der Semantik in den Vordergrund rücken zu lassen. Reiters Modell gewährt uns einen analytischen Blick in die Grammatik unserer Rechtssprache, indem er sich mit deren strukturellen Elementen statt mit deren Phänomenologie befasst. Im Rahmen dieses Modells können wir also zwischen Rechtsvermutungen (z.B. § 1592 Nr. 1 BGB), vermuteten Tatsachen (Vaterschaft), Vermutungsbedingungen (wirksame Eheschließung) und Widerlegungsgründen/defeaters (§ 1599 Abs. 1 und 2 BGB) unterscheiden. Aus diesen vier Begriffen wird der Begriffsapparat der hier aufzustellenden Vermutungsdogmatik bestehen.

V Default-deontische Logik

1 M3D

Es wurde gezeigt, dass ein sachadäquates Modell zwei Hauptmerkmale (Bedingtheit der Normen und Anfechtbarkeit der Rechtsfolgen) zu integrieren hat. Beide Merkmale integrieren Belzer und Loewer in ihrer default-deontischen Sprache.172 Die Hauptmotivation hinter ihrem Modell (M3D) ist dem dyadischen deontischen Operator O(–/–) eine widerlegliche Struktur zu verleihen, sodass sowohl B (die vermutete Tatsache) als auch ¬B als Rechtsfolgen von der die jeweilige Rechtsvermutung repräsentierende Struktur losgelöst werden können.

Den Ausgangspunkt der Autoren bildet folgender Gedanke: „A normative rule (for example, „one ought to do A given B“) is defeasible in a normative system S iff S contains another rule to the effect that one ought not do A given B&C. In these cases the latter rules defeat the first one“.173 Ihre Behauptung, dass moderne Rechtsordnungen, die der gesellschaftlichen Komplexität gerecht werden wollen, Vorschriften solcher Art enthalten müssen,174 ist zutreffend. Denn Rechtsvermutungen operieren nach dem oben gezeichneten Prinzip.

Um meine Ausführungen überschaubar zu halten, werde ich mich auf eine Skizze von M3D beschränken bzw. auf technische Details des logischen Gerüstes verzichten. Von zentraler Bedeutung für dieses Modell ist, dass Anfechtbarkeit (defeasibility) bedeutet, dass O(A/B) logisch kompatibel mit ¬O(A/B&C) und O(¬A/B&C) ist, so dass, wenn a) O(A/B) gilt, b) das Vorhandensein von B zum Zeitpunkt t1 angenommen wird und c) O(A/B) nicht von C widerlegt wird (für C gilt ¬O(A/B&C oder O(¬A/B&C)), OtA geltend ist.175 2. M3D in action

Aufgrund des oben skizzierten default-logischen Gerüstes können wir jetzt eine Strukturanalyse zunächst eines Teilbereichs moderner Rechtsordnungen, der

172 M. Belzer und B. Loewer, Deontic Logics of Defeasibility, in: Nute (Hrsg.) Defeasible Deontic Logic, Dordrecht (u.a.) 1997, S. 45–57. 173 Belzer/Loewer, Defeasibility (Fn. 172), S. 45. 174 Belzer/Loewer, Defeasibility (Fn. 172), S. 45. 175 Belzer/Loewer, Defeasibility (Fn. 172), S. 46.

This is a preliminary draft of a text which was published in: RECHTSTHEORIE 45 (2014), S. 243–276

23

Rechtsvermutungen liefern. Mithilfe der M3D können wir uns Klarheit über den Mechanismus (Struktur) einer Rechtsvermutung verschaffen und folgende (generische) Handlungsanweisung für den Richter geben bzw. eine Rechtsvermutungsdogmatik aufstellen:

Gesetzt den Fall, dass A (Vorhandensein der Vermutungsbedingung), tue B (Annahme der vermuteten Tatsache), es sei denn, du bist berechtigt vom

Vorhandensein eines Widerlegungsgrundes (defeater) auszugehen Oben wurde das Beispiel des § 1592 Nr. 1 BGB erwähnt. In der Terminologie der default-

Logik können wir festhalten, a) dass die wirksame Eheschließung (§ 1310 ff. BGB) das minimale Kriterium, das erfüllt werden muss, ist b) dass es nach § 1592 Nr. 1 BGB kompatibel ist zu glauben (M), dass der Mann A, der zum Zeitpunkt der Geburt mit der Mutter des Kindes (K) verheiratet ist, dessen Vater ist und c) dass § 1599 die zulässigen defeaters enthält (Σdefeaters: §1599 Abs. 1 und Abs. 2 BGB). Formal repräsentiert

Verheiratet(A):MVaterschaft(A)Vaterschaft(A)

(A). § 1599 Abs. 1 BGB (A) É ¬Vaterschaft (A)

(A). § 1599 Abs. 2 BGB (A) É ¬Vaterschaft (A) Darüber hinaus ist eine logisch triviale aber rechtlich betrachtet aussagekräftige Folge dieser Axiomatisierung, dass die Unwiderleglichkeit bei unwiderleglichen Vermutungen (etwa § 19 StGB) darin besteht, dass die Menge der Widerlegungsgründe (Σdefeaters) leer ist. Gesamtfazit

Rechtsvermutungen sind mächtige Instrumente, die den aufwendigen Beweis komplizierter Sachverhalte (typisches Beispiel ist die Verschollenheit, siehe § 3 VerschG) nicht nur erheblich vereinfachen, sondern technisch gesprochen: ersetzen. Wie Roberts und Zuckerman betonen: „The legal presumption operates to resolve quickly and conclusively an issue frequently contested in litigation […] where prolonged uncertainty would be unacceptably disruptive for legal entitlements and duties“.176 Und während man die Wichtigkeit der Rechtsvermutungen kaum überschätzen kann, war uns bisher eine befriedigende Antwort über deren innere Struktur bzw. deren Beweismechanismus ausgeblieben.

Auf der anderen Seite wurde klar, dass pauschalen Aussagen über das Verhältnis von Rechtswissenschaft und Logik (als solcher) eine sehr geringe Erklärungsmächtigkeit beizumessen ist. Aus diesem Grund habe ich versucht, verschiedene Bereiche der Logik177 auf deren Grundprinzipien und Voraussetzungen hin zu prüfen, um sie anschließend für juristische Zwecke ablehnen oder instrumentalisieren zu können.178 Bei dem Verhältnis zwischen Logik und Jurisprudenz geht es weder um „Hassliebe“179 noch um sonstige Gefühle, sondern just um Kommunikationsprobleme. Deswegen habe ich schrittweise auf die zwei erforderlichen Komponenten einer Normenlogik bzw. einer Vermutungslogik aufmerksam gemacht: die bedingte Struktur (dyadische deontische Logik) und die Widerleglichkeit (default Logik) und anschließend ein passendes Modell angewendet.

176 Roberts/Zuckerman, Criminal evidence (Fn. 1), S. 233. 177 Der hier verwendete Singular dient nur der Einfachheit der Ausführungen. 178 Ähnlich, Klug, Logik. (Fn. 83), S. 5. 179 J. Joerden, Logik im Recht: Grundlagen und Anwendungsbeispiele, 2. Aufl., S. 1.

This is a preliminary draft of a text which was published in: RECHTSTHEORIE 45 (2014), S. 243–276

24

Das kombinieren beider oben erwähnten Elemente beim M3D Modell ermöglichte uns, über die Phänomenologie der Funktion bzw. der tatsächlichen Wirkung der Rechtsvermutungen hinauszugehen und deren Struktur zu konturieren. Aufgrund der hier unternommenen Strukturanalyse konnten wir eine Rechtsvermutungsdogmatik aufstellen, und zwar eine, die ohne Begriffe wie “Vermutungsgegner” “Gefahr” und Prozessverlust” etc. auskommen kann. Solche Begriffe höhlen das konstituierende Element juristischer Erkenntnis aus: ihren erga omnes verbindlichen Charakter. Die Beweislastlehre informiert uns hingegen nicht über unser Forschungsobjekt, sondern über die Interessen der einen oder anderen Partei. Eine juristische Theorie (so eine ist die hier präsentierte Rechtsvermutungsdogmatik) kann allerdings nicht „auf irgendwelche seelische Prozesse oder körperliche Vorgänge gerichtet“ sein.180 Ihre Aufgabe zielt darauf ab, die jeweiligen Normen zu erkennen. Wie man die Folgen der Beweislosigkeit bewerten bzw. was man als zu vermeidendes Risiko verstehen wird, lässt sich erstens pauschal nicht vorwegsagen (die Beweggründe können sich stark unterscheiden)181 und zweitens nicht unter rechtsdogmatischem Blickwinkel erfassen. Dies wäre Aufgabe der (Rechts-)Psychologie.

180 H. Kelsen, Reine Rechtslehre : Einleitung in die rechtswissenschaftliche Problematik, Leipzig [u.a.] 1934, S. 6. 181 Kelsen, RR-1 (Fn. 180), S. 31 f.