Kontinuität, Transformation oder Abbruch? Die Gesetzgebung der westgotischen Könige in der...

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Humboldt Universität zu Berlin Philosophische Fakultät I Institut für Geschichtswissenschaften Lehrstuhl für Alte Geschichte Sommersemester 2014, Masterseminar 51119: Transformationen des Römischen Reichs in Forschungskontroversen Dozentin: Prof. Dr. Claudia Tiersch Kontinuität, Transformation oder Abbruch? Die Gesetzgebung der westgotischen Könige in der geschichtswissenschaftlichen Debatte am Beispiel der Sklavengesetze. Von Nikolaos Alexatos Kolberger Str. 18 13357 Berlin, 9. Fachsemester, Matr.-Nr. 537 222 13. März 2015

Transcript of Kontinuität, Transformation oder Abbruch? Die Gesetzgebung der westgotischen Könige in der...

Humboldt Universität zu Berlin

Philosophische Fakultät I

Institut für Geschichtswissenschaften

Lehrstuhl für Alte Geschichte

Sommersemester 2014,

Masterseminar 51119: Transformationen des Römischen Reichs

in Forschungskontroversen

Dozentin: Prof. Dr. Claudia Tiersch

Kontinuität, Transformation oder Abbruch?

Die Gesetzgebung der westgotischen Könige in der

geschichtswissenschaftlichen Debatte am Beispiel der Sklavengesetze.

Von Nikolaos Alexatos

Kolberger Str. 18 13357 Berlin, 9. Fachsemester, Matr.-Nr. 537 222

13. März 2015

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Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung S. 3

2. Die Westgoten S. 4

3. Die Debatte um das Ende des Weströmischen Reichs S. 6

4. Die Quellen S. 8

5. Die Debatte um das westgotische Recht. S. 10

5.1 Römischer oder Germanischer Einfluss? Personen- oder

territorialbezogene Gültigkeit? S. 10

5.2. Westgotische Gesetzgebung: Eine dynamische Fortsetzung

der Romanitas? S. 11

6. Das Beispiel der Sklavengesetze S. 13

7. Schlussfolgerung und Ausblick S. 17

8. Literaturverzeichnis S. 19

3

1. Einleitung

„And yet, even on the incomplete evidence we possess, it may be safely be called the best legislative work of

the fifth century: superior to the West Roman Interpretatio, which was but a paraphrase of older texts; superior to

the Code of Theodosius, which was a mere anthology; superior to the contemporary imperial decrees with their

obscure verbosity; superior in consistency and organization to the slightly, younger Burgundian Code, which,

moreover, borrowed from the Euricianus.“ Ernst Levy, 19421

Mit diesen Worten lobte der deutsch-jüdische Exilant Ernst Levy kurz nach der Kriegser-

klärung der USA, wo der Jurist und Rechsthistoriker Asyl gefunden hatte, gegen das national-

sozialistische Dritte Reich die Gesetzgebung Eurichs. Das Zitat Levys wirft eine ganze Reihe

von Fragen auf: Warum bringt Levy dieses Lob genau in jenem Zeitpunkt zum Ausdruck?

War der Zeitpunkt, der historischer Kontext irrelevant? War nicht etwa die Geschichte der

Goten im Okzident, der Visigoten, Teil des romantischen, nationalistischen und schließlich

nationalsozialistischen Entstehungsmythos des Deutschtums? Beteiligte sich der verfolgte

Akademiker Levy mit diesem Lob vielleicht in einem kulturellen Versuch an der Aneignung

der germanischen Geschichte, diese als hochzivilisiert darzustellen, sogar höher als und im

klaren Kontrast zu der Hitler’sche Barbarei? Die Beantwortung dieser Fragen ist eng verbun-

den mit dem Begriff der „Zivilisation“: Was macht eine Zivilisation aus und wie wird ihr

Gegenteil, die Barbarei, im historischen Diskurs gestellt?

Im Rahmen der vorliegenden Seminararbeit werde ich einen Überblick über den For-

schungstand zur Gesetzgebung des westgotischen Königreichs, mit besonderem Fokus auf die

Institution der Sklaverei. Dabei wird nach Kontinuitäten zwischen dem römischen und dem

westgotischen Recht gesucht. Die Suche nach Kontinuitäten schließt sich der aktuellen Debat-

te an, die sich mit der Frage beschäftigt, ob Rom 476 als Folge einer Krise, die zum Verfall

führte, „starb“ beziehungsweise von den „Barbaren“ umgebracht wurde oder ob die Spätant i-

ke als eine Zeit integrativer Prozesse im Rahmen einer Transformation zu verstehen ist.

Im ersten Teil der Arbeit werde ich eine Zusammenfassung der Geschichte des Westgot-

enreichs schildern. Anschließend werde ich im Rahmen der aktuellen Debatte nach den Kate-

gorien suchen, durch die die Debatte geführt wird. Im dritten Teil werde ich mich mit den

Quellen befassen und mit der Frage, welche Fragen durch deren Forschung entstehen und wie

sich die Geschichte dieser Fragestellung seit dem 19. Jh. entwickelt. Das Thema des vierten

Teils wird die Diskussion über die fachlichen Probleme der Forschung der westgotischen Ge-

1 Levy, Ernst, Reflections On the First 'Reception' Of Roman Law In Germanic States, American Historical Re-view, XLVIII, 1942, S. 209.

4

setzgebung. Den fünften Teil werde ich dem Beispiel der Sklavengesetze widmen und

schließlich werde ich meine Schlussfolgerung und den Ausblick darstellen. Begriffe im Latein

habe ich mit kursiven Buchstaben wiedergegeben.

Eine grundlegende Überlegung Wird-Perkins gilt auch für die vorliegende Hausarbeit:

Auch der historische Diskurs hat seine Geschichte und kann je nach Kontext unterschiedlich

betrachtet und interpretiert werden. Die Geschichtswissenschaft, oder besser gesagt, die Ge-

schichtswissenschaften der verschiedenen Länder unter verschiedenen Sozialordnungen, ha-

ben im Laufe der Zeit zu verschiedenen Tendenzen und Vorlieben geneigt. Sie offenbaren

sich als Bestandteile politischer Programme.2

2. Die Westgoten

Im folgenden Kapitel werde ich einen Überblick über die Geschichte der Westgoten geben.

Kempers beginnt sein Buch „Geschichte der Westgoten“ mit den folgenden Worte: „ Man

wird Herrn Edelmann vernünftigerweise nicht Herrn Westmann nennen.“3 Jordanes erwähnt

das Volk der Tervingi als Wisigothi-Vesigothi in seinem Bericht mit dem Titel „Getica“. Vesi-

gothi oder Wisigothi bedeutet „die guten, die adligen Goten“.4 Nordöstlich der dakischen Li-

mes angesiedelt suchten sie Zuflucht vor den Hunnen im Imperium. Das entsprechende Ab-

kommen zwischen dem Kaiser Valens und die westgotischen Anführer Fritigern und Alaviv

wurde 376 vereinbart.5 Auf die Ansiedlung folgte die Schlacht um Adrianopel (378) und der

Vertrag mit Theodosius I. (382). Die Westgoten bekamen den Status der foederati zugespro-

chen und kämpften unter der Führung Alarichs I für den Kaiser gegen den Usurpatoren Euge-

nius. Die Teilung des Imperiums nach dem Tod von Theodosius kennzeichnete den Anfang

einer spektakulären Wanderung: von Thrakien durch Griechenland und über Illyrien erreich-

ten sie die Alpen und drangen in Italien ein. Die Truppen Alarichs standen nun vor Rom im

Oktober 408 und eroberten die Stadt 22 Monaten später, am 24. August 410. „Auf jedem Fall

folgte dann eine der manierlichsten Plünderungen, die eine Stadt je erlebte“, schreibt Heather

mit Hinweis auf die Tatsache, dass die Goten, die Christen waren, großen Respekt vor der

wichtigen heiligen Stätten der Stadt zeigten.6 Kurz nach der Plünderung Roms, die als „der

Untergang der Welt“ von vielen Zeitgenossen Alarichs wahrgenommen wurde, im selben Jahr

2 Wird-Perkins, Brian, Der Untergang des Römischens Reiches und das Ende der Zivilisation, Stuttgart 2007, S.

16f. 3 Kampers, Gerd, Geschichte der Westgoten, Paderborn 2008, S. 15. 4 Ebd., S. 40f.

5 Pohl, Walter, Die Völkerwanderung. Eroberung und Integration, Stuttgart 2005, S. 50f. 6 Heather, Peter, Der Untergang des Römischen Weltreichs, Frankfurt 2010, S. 268.

5

starb der Anführer der Eroberer. Sein Nachfolger Althauf führte sein Volk weiter nordwest-

lich, überquerte die Alpen, um die Wanderung in Hispania weiterzuführen. Althauf wurde in

einer Racheaktion in Barcelona ermordet.7 Die Westgoten erhielten 416 vom Kaiser Honorius

eine Jahresration Getreide und die Aufgabe, Spanien vor Alanen, Sueben und Vandalen zu

verteidigen.8 Schließlich ließen sich die Westgoten in der Provinz Aquitania nieder. Kampers

bemerkt: „Wegen der fragmentarischen und teils widersprüchlichen Überlieferungen sind die

Gründe, die Bedingungen, die Form und der Umfang der Ansiedlung… nicht mehr exakt zu

rekonstruieren.“9 Unter der Herrschaft Theoderichs dehnte sich der Herrschaftsbereich, die

nun als Regnum Tolosanum bezeichnet wurde, nördlich in Gallien und südlich in Spanien.10

In

Bezug auf den politischen Status des Territoriums ist uns ein Brief des Sidonius Apollinaris

überliefert worden, in dem der Bischof erwähnt, dass „das von dem wisigotischen König be-

herrschte Gebiet de facto ein Staat im Staate geworden war. In den zeitgenössischen Quellen

wird es allerdings erst im Jahr 475 als regnum bezeichnet.“11

507 besiegten die Franken unter

dem Merowinger König Chlodwig in einer Schlacht bei Vouillé die Westgoten. Der König

Alarich II. fand bei dieser Schlacht den Tod. Die Schlacht war von großer strategischer Be-

deutung und der Abzug der Westgoten nach Spanien vollendete sich in den Jahren danach. So

wurden die Franken praktisch zu Herrschern Galliens, wobei der Kampf um die letzten Basti-

onen der Westgoten nördlich der Pyrenäen bis in die Mitte des 6. Jh. ging.

Die Bedeutung des tolosanischen Reichs als die erste Stufe im Verfahren der Entstehung

einer römisch-gotischen Synthese hebt Wolfram hervor:

„Because this kingdom was relatively short-lived, many scholars have failed to appreciate the importance of

the history of the kingdom of Toulouse (Regnum Tolosanum), prefering instead to concentrate upon the Italian

Gothic kingdom of Theoderic the Great. This, however, is a mistake, for the study of the Aquitanian Visigoths

can illuminate a set of important questions associated with the rise of barbarian statehood in Roman territory that

cannot be accomplished if one concentrates solely upon the Goths in Italy. The difference between the two Goth-

ic kingdoms is crucial. The Aquitanian Visigoths, on the other hand, began by ruling a small realm and over time

were able to conquer the better part of the Gallic- Spanish praefectura. In so doing, they were forced by circum-

stances to mediate between Gothic and Roman traditions. The result was a unique conjunction of diverse ele-

ments that had far reaching consequences even after the disappearance of the kingdom itself. “12

7 Pohl 2002, S. 60 und Kampers 2008, S. 108.

8 Pohl, Ebd. 9 Kampers 2008, S. 121. 10

Ebd., S.129ff. 11 Ebd., S.140. 12

Wolfram, Herwig, The Goths in Aquitaine: in: German Studies Review,Vol. 2, No. 2 (May, 1979), S. 154.

6

Schon nach der Schlacht bei Vouillé wurde der Schwerpunkt der westgotischen Herrschaft

nach Spanien verlagert. Unter dem König Leovigild (569-586) wurde das Regnum Toletanum

gegründet. In den ca. 200 Jahren, die die Gründung des Königreichs von Toledo von der ara-

bische Eroberung der iberischen Halbinsel trennen, wurde die dynamische Integration der

Westgoten in einem Mittelmeersystem vollständig und in diesem Sinne wäre eine offene Fra-

ge, ob die Araber einen romanischen Raum erobert haben. Haben Mitte des 8.Jh. die Einwoh-

ner Spaniens romanisch bzw. in früheren Versionen der romanischen Dialekten und Sprachen,

die noch heute auf der Halbinsel herrschen, gesprochen?

3. Die Debatte um das Ende des Weströmischen Reichs.

In der zeitgenössischen Geschichtsliteratur herrscht eine Debatte über die Frage, ob das

Römische Reich spätestens 475 für gescheitert („tot“) erklärt werden kann oder ob das seit

diesem Datum nicht mehr als solche existierende Weströmische Reich sich in etwas anderes

transformiert hat und folglich weiter lebte. Folgendes wird als sicher betrachtet. das politische

Gebilde, das sich nach der Teilung „Hesperium Imperium“ nannte und als Fortsetzung der

kaiserlichen Macht im Westen wahrgenommen wurde, hatte aufgehört zu existieren. Die

Quellen überliefern uns, dass die Zeitgenossen Das Ende der Existenz des Reichs wurde als

Zeichen für den Weltuntergang empfanden.13

Gegen die Vorstellung des Untergangs wird viel

argumentiert. Ein Beispiel unter vielen dient dieser Gegenargumentation: Das Anstreben der

neuen Herrscher Italiens, die Anerkennung des Kaisers in Konstantinopel zu sichern.

„In der Tat brauchte [der König der Ostgoten] Theoderich fast vier Jahre, um Odoaker zu besiegen, der auch

Römer in seinem Lager hatte. Theoderich benötigte noch weitere vier Jahre, um von [Kaiser] Anastasius die

Insignien des kaiserlichen Palastes Westroms zu erhalten, die Odoaker dem Kaiser Zenon geschickt hatte… Die

Zeichen der Macht, die von Zenon versprochen waren, wurden von Anastasius erst 497 bestätigt, als Theoderich

der unbestrittene Herr Italiens geworden war und als nicht nur der Senat, sondern auch der Bischof von Rom

diese Bestätigung forderten. Nun erst war Theoderich, den Zenon nach Italien gesandt hatte, um dort rex Gotho-

rum Romanorumque zu werden, wirklich und legal der Amtsvertreter des oströmischen Kaisers.“14

Die Ereignisse des 5. Jh. werden in zweierlei Hinsicht betrachtet, jede von beiden bietet

das entsprechende kategoriale Instrumentarium: von eine Krise die zum Verfall, zum Unter-

gang und faktisch zum Ende der (zentralen) Romanitas führte, schreibt Heather15

.Wird-

13Heather 2010, S. 228. 14

Demougeot, Emilienne, Bedeutet das Jahr 476 das Ende des Römischen Reiches im Okzi-dent?, Klio, Januar 1978; 60, 2, S. 378. 15

Heather 2010, S.496 und 499.

7

Perkins fügt die Beurteilung als Ende einer Zivilisation hinzu.16

Solche Kategorien entspre-

chen dem Ansatz Gibbons, der die Basis für die moderne Geschichte des Römischen Reichs

schuf. Schließlich bedeutet spätestens das Jahr 476 den Anfang der finsteren Zeiten, der „dark

ages“, des Mittelalters.

Andere Deutungsmöglichkeiten liefern Historiker, die mit Kategorien wie Übergang,

Wandel und Transformation arbeiten. Wird-Perkins schreibt, dass in der Literatur „die germa-

nischen Invasionen“ als „die friedliche Integration“ von Völkern und Kämpfern, die Bestand-

teile des Reichs waren, etwa als foederati. Statt eines Verfalls und eines Endes der Zivilisati-

on interpretiert zum Beispiel Peter Brown schon 1971 die oben geschilderten Ereignisse als

religiöse und kulturelle Revolution. Dieser positive Ansatz führt dazu, die Zeit von 476 bis

zum 8. Jahrhundert nicht als „Mittelalter“ zu bezeichnen, sondern als eine „ausgedehnte Spät-

antike“. Spätantike ist damit laut Wird-Perkins ein positiver Begriff: der Begriff des Bruchs

wird verlassen und die germanischen Völker werden geschichtswissenschaftlich

griert.17

Da die Interpretation der Quellen Raum für sowohl eine Abbruchs- als auch eine Kon-

tinuitätsthese schaffen, überrascht der Versuch nicht, eine Synthese zu formulieren. Koch

schreibt: „Die Vorstellung einer den ethnischen Grenzlinien folgenden Feindschaft, wie sie

dem lange gepflegten Bild eines römisch-germanischen Antagonismus entspricht, stellt sicher

eine Extremposition im Meinungsspektrum der heutigen Forschung dar. Mehrheitsfähig wird

diese dann, wenn man ihr die aggressive Schärfe nimmt und sie darauf beschränkt, zu beto-

nen, dass Goten und Römer zwei klar getrennte und ethnisch definierte Bevölkerungsgruppen

innerhalb des Tolosanischen Reichs waren. Ohne die ethnische Separation dabei in Frage zu

stellen, wird die Akzentsetzung dahingehend verschoben, dass der allmähliche Akkulturati-

onsprozess stärker betont wird, den speziell die Goten in Annäherung an ihre römisch gepräg-

te Umwelt vollzogen hätten.“18

Institutionell und kulturell getrennt in der ersten Phase der

westgotischen Herrschaft gingen die Westgoten in den Weg der kulturellen Integration in der

(post-) römischen Welt.

1972 versuchte Nehlsen in der Gesetzgebung der Westgoten rauszufinden, ob es Verbesse-

rungen und eine Milderung der Gesetze zugunsten der Sklaven gab und inwiefern die christli-

che Religion dazu beigetragen hat.19

Er kam zu der Schlussfolgerung, dass diese im Vergleich

16

Wird-Perkins 2007, S.12. 17 Wird-Perkins, S. 17. 18 Koch, Manuel, Ethnische Identität im Entstehungsprozess des spanischen Westgotenreichs, Berlin/Boston 2012, S.58. 19 Nehlsen, Hermann, Sklavenrecht zwischen Antike und Mittelalte. Germanisches und römi-sches Recht in den germanischen Rechtsaufzeichnungen, Göttingen 1972, S. 178.

8

zu dem römischen Recht „… die westgotischen [Vorlagen] milder aus[fiel].“20

Unter diesem Aspekt

werde ich im Kapitel 6 nach Abbrüchen, Transformationen und Kontinuitäten suchen.

4. Die Quellen.

Die primären Quellen des Rechtes im westgotischen Königreich, die uns durch die archäo-

logische Forschung überliefert sind, sind die Texte der Gesetzgebung, die allesamt in Latein

verfasst sind. Die Texte tragen den Namen des jeweiligen Königs, unter dessen Herrschaft sie

veröffentlicht wurden. Chronologisch geordnet sind der Codex Euricianus (um 480), das Bre-

viarium Alaricianum, genannt auch Lex Romana Visigothorum und in seiner Zeit auch Codex

Theodosianus, promulgiert 508 vom König Alarich II., der Codex revisus von Leovigild um

580, die Leges Visigothorum oder Liber iudiciorum vom König Cindasvinth im Jahr 643 und

die Gesetze seines Sohnes, König Reccesvinth zehn Jahre später. Über diese wird debattiert,

ob es sich um eine Revision des Liber iudiciorum oder um einen neuen Codex handelt.21

Von

der Menge her nennenswert sind die ungefähr hundert Gesetze des Königs Erwig, die zur Re-

vision und neuer Promulgation im Jahr 681 führten.22

Schließlich fügten die Könige Egica

(687-702) und Witiza (702-709?) Novellas und Revisionen den Leges Visgothorum hinzu.

(Velásquez 1999, 256)

Bezüglich der Quellen schlägt Isabela Velásquez vor:

„To best approach the Visgothic legislation we consider the publication of [Karl] Zeumer in the ‚Monumenta

Germaniae Historica‘(1902) as well as his work on the history of Visigothic legislation (1898 [1944]), as texts of

primary importance.“23

Die Bedeutung Karl Zeumers ist insofern wichtig, weil er sich mit dem Codex Euricianum

befasst hat und die Grundlagen für die weitere Forschung geschaffen hat.

Nehlsen mahnt zur Vorsicht:

„Die Geschichte der westgotischen Rechtsquellen weist wesentlich mehr Unsicherheiten auf, als dies, vermit-

telt durch die zusammenfassenden Darstellungen in rechtsgeschichtlichen Lehrbüchern, aber auch in quellenge-

schichtlichen Werken, den Anschein hat.“24

20

Nehlsen 1972, S. 247. 21

Claude, Dietrich, Adel, Kirche und Königtum im Westgotenreich, Sigmaringen 1971, S. 134ff. 22 Nehlsen 1971, S. 160. 23 Velásquez, Isabel, Jural relations as an indicator of syncretism: From the law of inheritance to the dum inlicita of Chindaswinth, in: Peter Heather (Hg.), The Visigoths. From the migration period tot he seventh century. An ethnographic perspective, San Marino (R.S.M.) 1999, S. 225. 24

Nehlsen 1972, S. 153.

9

Karl Zeumer nannte 1894 den Codex Parisinus Lat.12161, ein Palimpsest, „Codex Euricia-

nus“ im Namen des westgotischen Königs Eurichs (um 440- 484). Die Pariser Fragmente, ein

mit Unzialen des 6.Jh. reskribierter Kodex, sind in Kapitel mit durchlaufender Zählung und

Titeln eingeteilt.25

Zu den Quellen zählen auch die Briefe von Sidonius Apollinaris. Wie Overwien schreibt

„…berichtet uns Sidonius auch von politischen Ereignissen, doch ebenso breiten Raum nehmen Empfehlungs-

schreiben, Landgutbeschreibungen, Anekdoten über Briefträger u.a. ein, also alles scheinbar harmlos, teils amü-

sant klingende Geschichtchen, wie man sie z.B. auch aus dem Werk des Plinius kennt. Bei der Beurteilung des

Briefwerkes konzentrierte man sich jedoch zu sehr auf den Literaten Sidonius und übersah, dass er in den 70er

Jahren des 5. Jh. als Bischof von Clermont zum einen zu den führenden Personen des gallo-römischen Wider-

standes gegen die Westgoten gehörte“26

So wird Sidonius als ein sehr guter Kenner der Westgoten dargestellt. Dabei spielt auch

sein Selbstbild eine Rolle, wenn davon ausgegangen wird, dass dieses sich die Abgrenzung

zum Fremdbild (o. Feindbild) entsteht.

Im deutschsprachigen Raum wurde Mitte des 19. Jh. die Urheberschaft des Codex disku-

tiert. Bluhme argumentierte 1847, dass der Codex unter der Herrschaft von Reccared I. ent-

standen sei. E. Th. Gaupp 1853 widersprach dieser Behauptung. Gaupp vertrat die Meinung,

dass der Codex ein Werk der Herrschaft Eurichs sei. Die Argumentation Bluhmes blieb den-

noch bis in die 1880er Jahre allgemein akzeptiert. Die Hypothese Gaupps erhielt durch die

Interpretationen neu aufgetauchter Fragmente aber auch mancher Briefe von Sidonius Apolli-

naris durch Zeumer (1887) neuen Aufschwung. Sidonius schrieb:

„… rex inclitus… per promotae limitem sortis ut populos sud armis, sic frenat arma sub legibus“ (Ep. 8 ,3,

3).

Ende des 19. Jh. stellte Zeumer überzeugend fest, dass Eurich der Urheber des Codex war

bzw. unter seiner Herrschaft entstanden ist. Weiter entstand eine Diskussion um die Frage, ob

die Fragmente zu einem einheitlichen Text gehören oder nicht. Vertreter der Meinung, dass es

nicht um einen einheitlichen Text geht, waren v. Schwerin und F. Beyerle. Für die Annahme,

dass der Kodex Werk der Eurizianischen Herrschaft war, hat später der spanische Rechtshis-

25

Nehlsen 1972, S. 153 26 Overwien, Oliver, Kampf um Gallien: Die Briefe des Sidonius Apollinaris zwischen Literatur und Politik, Her-mes,137. Jahrg., H. 1 (2009), S.93

10

toriker Álvaro D’Ors in seinem Werk „El Codigo de Eurico“ argumentiert.27

Die Diskussion

blieb also bis tief in das 20. Jh. offen.

Das Gesetzbuch Reccesvinths, König der Wetsgoten 653-672 war ein Objekt der Untersu-

chungen von Zeumer, der behauptete, es ginge um die Fortsetzung und Vollendung der Kodi-

fizierung, die Chindasvinth (reg. 642-653) begonnen hatte. Das Buch trägt den Namen „Liber

iudiciorum“ (Buch der Urteile). Nehlsen erwähnt ausdrücklich die Tatsache, dass die Kodifi-

kation aus 12 Büchern bestehe - die gleiche Anzahl wie der Codex Iustiniani, der 100 Jahre

früher entstanden war. Des Weiteren stimmt Nehlsen der Meinung Zeumers zu, dass das Liber

teilweise auch aus einem Gesetzbuch Leovigilds (reg. 568-586) besteht, das uns jedoch nicht

überliefert worden ist.28

Problematisch sei laut Nehlsen, die Tatsache, dass einerseits die durch verschiedene Hand-

schriften überlieferten Inskriptionen nicht einheitlich sind, und andererseits, dass mit Interpo-

lationen gerechnet werden müsse.29

Der Codex Euricianum diente außerdem teilweise zusammen mit langobardischen Geset-

zen als Grundlage für die Gesetzgebung der Bayern (Lex Baiuvaiorum), die wiederum weni-

ger Affinität zu der späteren westgotischen Gesetzgebung aufweist.30

Die Werke von Isidor von Sevilla, die ansonsten eine sehr wichtige Quelle darstellen, wie

man den Literaturverzeichnisse der Fachhistoriker entnimmt, tauchten in der Debatte um die

Gesetzgebung der Westgoten der letzten 30 Jahre nicht auf.

5. Die Debatte um das westgotische Recht.

5.1 Römischer oder Germanischer Einfluss? Personen- oder territorialbezogene Gültigkeit?

Velásquez formulierte das Thema der Debatte folgendermaßen:

„Many of the authors of studies on Visigothic legislation… start with Roman and territorial assumptions or

with Germanic and personal assumptionsgiving rise to a controversy with their opponents. “31

Für Velásquez ist von Bedeutung, den Schwerpunkt der Diskussion zu verlagern:

27 Nehlsen 1972, S. 154 f. 28 Nehlsen 1972, S. 157. 29

Ebd., S. 158. 30 Ebd., S. 159. 31

Velásquez 1999, S.227.

11

„If the history of the ancient world, from the barbarians in the ambit of the Roman Empire to later societies in

western Gaul and Spain, is the history of a process of struggle and resistance, of confrontations, but also of pacts

and necessary coexistence, leading finally to a mix in seventh century Spain, why should the history of legal

relationships be any different?“32

Ein Anliegen der Rechtsgeschichte des 19. und in der ersten Hälfte des 20. Jh. in Bezug

auf die Gesetzgebung der Nachfolgerstaaten Roms im Westen war die systematische Unter-

scheidung zwischen dem germanischen und dem römischen Charakter des Rechtes, aufgrund

der Unterscheidung in den Quellen zwischen Goten und Römern.33

Ziel war offenbar die

Schaffung klarer Linien zwischen den beiden Traditionen. Den Versuch, diese Trennung als

Ausgangspunkt anzunehmen und historisch zu begründen, darf man auf die Rolle der Ge-

schichtswissenschaft bei der Bildung nationaler Identitäten zurückführen.

Die Tradition des 19. Jh. verstand das Recht der germanischen staatlichen Strukturen als

eine kaum veränderliche Wesenseigenschaft eines gemeinsamen Körpers, nämlich des Volkes

(gens). Diesen Ansatz betrachtet Gerhard Dilcher historisch und stellt ihn in die romantische

Tradition. Das Recht werde aber als etwas Dynamisches aufgefasst, das als komplexe Synthe-

se aus verschiedenen Einflüssen entstehe.34

Für diese These hatte bereits 1972 Nehlsen argu-

mentiert. Er positioniert sich gegen die Annahme deutscher Rechtshistoriker vom Ende des

19. und Anfang des 20. Jh., dass das westgotische Recht überwiegend germanischer Abstam-

mung mit römischen Einfluss sei. Er akzeptiert aber auch nicht die These von Álvaro D’Ors,

dass es eigentlich um römisches Recht mit germanischem Einfluss geht und dass der Versuch,

das westgotische Recht zu ent-romanisieren, „eingefleischte Vorurteile der Germanisten“ ent-

spreche. Nehlsen lehnt es ab, die Leges Visigothorum als bloß „Römisch-Germanisch“ zu

bezeichnen. Er bevorzugt eine Position, die besagt, dass diejenige, die die Gesetze systemati-

siert und geschrieben haben, „ein bewusstes Eingehen auf die soziale und politische Realität“

ihrer Zeit unternommen haben und somit versucht haben, auf die zeitgenössischen Rechts-

probleme Antworten zu geben.35

5.2. Westgotische Gesetzgebung: Eine dynamische Fortsetzung der Romanitas?

Wenn man die Gesetzgebung der Westgoten untersucht, entsteht die Frage, wie viel römi-

sches Recht sie beinhaltet und welche Bestandteile der römischen Rechtstradition in ihr über-

32

Velásquez 1999, S. 227. 33 Koch 2012, S. 59. 34 Dilcher, Gerhard, Zur Entstehungs- und Wirkungsgeschichte der mittelalterlichen Rechts-kultur, in: Id./Distler (Hg.), Leges-Gentes-Regna, Zur Rolle von germanischen rechtsgewohn-heiten und lateinischer Schrifttradition bei der Ausbildung der frühmittelalterlichen Rechts-kultur, Berlin 2006, S. 60ff. 35

Nehlsen 1972, S. 248.

12

leben. Es ist gemeinsamer Topos, dass es eher nicht die klassischen und spätklassischen Wer-

ke Roms sind, die den Ton angeben, sondern dass die Westgoten eine dynamische und kon-

struktive Zusammensetzung ihrer „Rechtsgewohnheiten“ mit dem römischen Provinzialrecht

oder dem sogenannten Vulgarrecht unternommen haben. Koch stellt den Begriff „Vulgar-

recht“ in Fragedie Frage des Begriffs „Vulgarrecht“, den er als unpräzise beschreibt: Geht es

um die Vulgarisierung des klassischen Rechts für die Bedürfnisse einer Agrargesellschaft, die

eine vereinfachte Version der Gesetzen brauchte und die einen Bevölkerungszuwachs erfuhr,

der in die neue rechtliche aber auch gesellschaftliche und wirtschaftliche Landschaft integriert

werden sollte? Oder ist der Begriff garidentisch zu dem des Provinzialrechts? Hierunter wer-

den die „nicht kodifizierten gewohnheitsrechtliche Elemente einschließend Bestimmungen in

den jeweiligen Provinzen des Imperiums, welche vor allem Rechtsfragen des alltäglichen Le-

bens vor Ort regelten“ verstanden.36

Die Affinität zwischen beiden Rechtstraditionen ist nicht

zu übersehen, zwar nicht in inhaltlicher aber in konzeptueller Hinsicht. Es geht nämlich hier

um eine gemeinsame Praxis: Barbarische und römische Bevölkerungen, die vom Rom ent-

fernt sind, organisieren ihr soziales Leben auf der Grundlage einer nicht kodifizierter Recht-

lichkeit, die nicht unbedingt die aus Rom stammende ist, sondern es ist ein Zeugnis der Erfah-

rungen und der Traditionen, die vor Ort gemacht beziehungsweise praktiziert werden.

Koch stellt sich die Frage, ob der Ansatz, dass die Leges Barbarorum ein „Mischrecht“

waren,

„nicht zugunsten einer Perspektive aufgegeben werden sollte, welche die Gesetzgebung in den regna als

Fortsetzung der aus dem spätantiken Römischen Reich geerbten Rechtstradition unter veränderten äußerlichen

Bedingungen in den Blick nimmt.“

Er erwähnt, dass in der Forschung die These immer häufiger vertreten werde, dass die bar-

barischen Könige in der Tradition der Prätorianerpräfekte Gesetze erließen, die sie nun aber

auch kodifizieren ließen. Sei es nicht von geringerer Bedeutung, dass auch die kaiserliche

Gesetzgebung weiterhin gültig gewesen sei, wie am Beispiel des Codex Theodosianus, der im

Lex Romana Visigothorum vom 506 weitergeführt wurde?37

Koch erzählt von der Diskussion der Rechtshistoriker ab Ende des 19. Jh., die bis in die

Mitte des 20. andauerte, über die Frage, ob es beim Westgotischen Recht um personale oder

territoriale, nämlich für alle Einwohner unabhängig von ethnischer Zugehörigkeit, Gültigkeit

ging. Die Position zum Beispiel von D’Ors, der die Meinung vertrat, das das Recht stark ro-

36Koch 2012, S.61. 37

Ebd., S. 62f.

13

manisiert war, impliziert, dass, wie beim römischen Recht auch beim westgotischen war die

Gültigkeit personenbezogen. Spanische Forscher wie García Gallo und D’Ors argumentierten

für die territorialbezogene Position. Koch bemerkt, dass die beiden Positionen die erste und

die letzte Gesetzgebung betreffen, nämlich die von Leovigild, Mitte des 6. Jh., die klar zwi-

schen romanes und gens unterschied und das Liber iudiciorum Reccesvinths vom 653, das

territoriale Gültigkeit hatte. In dieser Spanne von zweihundert Jahren werde auch für jede

weitere signifikante Station der westgotischen Gesetzgebung argumentiert, dass jeweils mit

ihr die personale Gültigkeit aufgehoben worden sei, so Koch.38

Die neuere Forschung schlägt eine klarere Lösung vor als es die rechtsgeschichtlichen

Deutungsansätze bieten und behauptet: Die Gültigkeit sei territorial gewesen. Der Grund, wo-

für es zwei Corpora gab, sei die römische Gesetzgebung selbst und ihre Tradition gewesen,

die ohnehin mehrgliedrig war. Die Orte, in denen die Goten angesiedelt worden seien, waren

unter der Gültigkeit des allgemeinen römischen Rechtes. Die selber waren wiederum foedera-

ti, mit dem Imperium verbundene militärische Kraft. Nichts deute darauf hin, dass diese

grundlegende Gesetzgebung in Folge der politischen Veränderungen außer Kraft gesetzt ge-

worden sei.39

6. Das Beispiel der Sklavengesetze.

Nach der Problemstellung und dem Skizzieren der Debatte soll am Beispiel der Sklavenge-

setze das dynamische Eingehen der westgotischen Gesetzgebung gezeigt werden. Nehlsen

fasst wie folgt zusammen:

„Sowohl in den alten westgotischen Gesetzen (antiquae) als auch in den jüngeren werden bei den einzelnen

Kriminaltatbeständen freie und unfreie Täter in der Regel nebeneinander aufgeführt, wobei die jeweils angedroh-

ten Strafen durchweg voneinander abweichen. Die den römischen Quellen entlehnte Unterscheidung zwischen

honestiores, humiliores und servi erscheint in den Leges Visigothorum verhältnismäßig selten und ist fast aus-

schließlich auf Gesetze begrenzt, deren leovigildianische Herkunft vermutet werden darf.“40

Nicht mal zwei Jahrzehnte später war Isabel Velásquez bereits überzeugt davon zu wissen,

welche die Antiquae seien.41

38 Ebd., S.64f. 39

Koch 2012, S. 65f. Siehe dazu: Anm. 132. 40 Nehlsen 1972, S. 190. 41

Velásquez 1999, S.226.

14

In Bezug auf die reinen Bußtatbestände zeigt sich eine gewisse Kontinuität der römischen

Gesetzgebung, da hier kein Hinweis auf den Stand des Täters enthalten wird. Auch nach rö-

mischem Recht wurde im Falle einer Sklaventat die Normalbuße verwirkt. Es gibt aber ge-

sonderte Erwähnungen von Sklaventaten, die in diesem Falle zu unterschiedlichen Rechtsfol-

gen führen.42

Im Bereich des Privatbußrechtes gab es in der früheren Gesetzgebung erneut keinen Unter-

schied zwischen rechtsverletzenden Freien und Sklaven. Dies stammte sowohl aus dem römi-

schen Privatbußrecht als auch aus Vorlagen, deren Herkunft als germanisch bzw. westgotisch

vermutet wird. Eine Veränderung ist erst in den Pariser Fragmenten zu finden, und zwar in

Bezug auf Unrechtstaten, die dem Betroffenen keinen bleibenden Schaden anrichteten. Das

stellt laut Nehlsen „eine Abkehr“ vom römischen Prinzip der Nicht-Unterscheidung zwischen

Freien und Sklaven dar. Hier aber sieht Nehlsen eine Milderung zugunsten der Sklaven, in-

dem für die gleichen Tat, für die mit einem Vielfachen (duplum, quadruplum usw.) des ange-

richteten Schadens gesühnt wurde, ab einem gewissen Zeitpunkt für Sklaven ein niedrigerer

Multiplikator verwendet wurde.43

Das öffentliche Strafrecht wurde von den Westgoten nicht „gedankenlos abgeschrieben,

sondern eigenständig umgestalte[t]“. Die Todesstrafe zum Beispiel wurde wesentlich seltener

angedroht in Vergleich zu den spätrömischen Quellen. Neue Strafbestände wurden eher im

Zusammenhang mit den christlichen Geboten eingeführt und das betrifft die Abtreibung, die

Prostitution und das Vergehen wider die Religion aber auch die Judengesetze. In diesem Fall,

genau sowie im Falle des Privatbußrechtes, betreffen die Verschärfung der Strafen und die

Kriminalisierung mehr die Freien als die Sklaven. Deswegen kann man hier „einen bewussten

Verzicht auf das Prinzip erkennen, dass Sklaven strenger zu bestrafen sind als Freie.“44

Darüber hinaus ergibt die Forschung, dass die Verwendung eines bestimmten römischen

Textes nicht nachgewiesen werden kann und dass man eher auf der Grundlage „zeitgenössi-

scher provinzialrömischer Rechtspraxis“ die Gesetzgebung kodifiziert hat.45

Betrachtet man das oströmische Reich unter Justinian als eine institutionelle aber auch

großenteils territoriale Fortsetzung des Imperiums, darf man bei der Suche nach Kontinuitäten

auch die Interaktion und Aktualisierung miteinschließen: So bediente sich der König Chin-

42 Nehlsen 1972, S. 191. 43

Nehlsen 1972, S. 216f. 44 Ebd., S. 247. 45

Ebd., S. 248.

15

dasvinth bei seiner Gesetzgebung des Codex Iustiniani in Bezug auf befangene Richter, in-

dem er die 86. Novelle als Vorbild benutzte, um zu bestimmen,

„dass ein für befangen erklärter Richter den Bischof zur Verhandlung hinzuziehen hatte.“46

Aber auch der Kanon, der bestimmte,

„dass, aus Verehrung für den König und zu Ehren des Königs- und Metropolitansitzes‘ die Bischöfe von

Toledo sich je einem Monat in der Umgebung ihres Metropoliten aufzuhalten hatten, mit Ausnahme der Zeiten

der Aussaat und der Ernte“.

Vorbild soll die σύνοδος ἐνδημούσα des Patriarchen von Konstantinopel gewesen sein, die

auch eine solche Regelung beschlossen hatte.47

Claude schlägt eine Schlussfolgerung vor, die sich auf den dynamischen Ansatz bezieht:

„Für alle Phasen der westgotischen Gesetzgebung ist eine Anlehnung an das römische Recht zu beobachten,

deren Umfang über das hinausgeht, was die deutsche Forschung bisher zugestehen wollte. Der untersuchte große

Teilbereich der Leges Visigothorum lässt jedoch auch das Wirken der Rechtsvorstellungen erkennen, deren Ur-

sprung wohl im germanischen Kulturkreis gesucht werden darf.“

Das entnimmt man von den Parallelen, die man zwischen dem späteren Westgotenrecht

und die Überlieferungen von Tacitus zieht:

„…die Redaktoren der Leges Visigothorum, wenn sie eine römische Quelle benutzten, [kopierten] niemals

bloß diese, sondern [sie verarbeiteten die] stets selbständig“.

Beispiel dafür könnte die Verwendung der Begriffe bucelarrii und saiones, die als Begriffe

weiter in Rechtstexte bleiben aber mit veränderter Bedeutung.48

An dieser Stelle sollte man

sich die Anmerkung Wolframs in Bezug auf den Codex Euricianus in Erinnerung rufen:

„It is clear, however, from the Codex that the social categories all pertained to differentiations between

fighting men. It is impossible to imagine that real peasants and artisans could be found amongst the lower strata

of the Goths. Even the slaves brought by the Goths to Aquitaine were trained for warfare rather than to plow the

soil. “49

Wolfram behauptet also, dass die Westgoten eine Gemeinschaft von Krieger waren, mit ih-

ren Familien und ihren Sklaven, die bei den Kriegshandlungen die Krieger unterstützten und

dass sie der jeweils schon vorhandenen ortlichen wirtschaftlichen und sozialen Verhältnissen

und Strukturen bedienten.

46 Claude 1971, S. 121. 47

Ebd., S. 125. 48 Claude 1971, S. 40ff. 49

Wolfram. S.158.

16

Wolfram kam darüber hinaus zur folgenden Schlussfolgerung:

„However, it is safe to conclude that only the legislation of Euric and that of his son Alaric II prove a genu-

ine cooperation between Goths and Romans. This cooperation was forged first by conflict and then by cohabita-

tion. Thus in the first Latin-Barbarian Kingdom a community was established which followed a Roman model,

that is statehood regulated by written law.”50

Auf der Basis dieser Schlussfolgerung könnte man Spuren finden, von dem was als In-

tegration beschrieben wird, nämlich die Aneignung seitens der Westgoten der Staatlichkeit als

eine politische Struktur, deren Grundlage unter anderem rechtliche Texte schaffen. Darüber

hinaus wird die Dynamik bei Herstellung der westgotischen Identität als eine latino-

barbarische angedeutet.

Claude geht ein Schritt weiter und sieht durch die Sicherung von Rechten für die obere

Schicht eine Fortsetzung der ganzen sozialen Struktur des Imperiums unter der Herrschaft der

Westgoten:

„Nach der Ansiedlung der Westgoten traten die senatorischen Adelsfamilien neben den gotischen Adel… Es

handelte sich um meist außerordentlich reiche Großgrundbesitzerfamilien… Die Ansiedlung der Westgoten

mochte zwar einzelnen von ihnen materielle Einbußen als Folge von Landabtretungen gebracht haben, doch

wurde ihre wirtschaftliche Grundlage nicht ernsthaft gefährdet.“51

Die These der dynamischen Kontinuität vertreten im Bezug auf die Gesetzgebund Velás-

quez und Pohl. Velásquez stellt fest:

„There was no rupture between one (legal) system and another, rather there was a process of developement

and evolution conditioned by the transformations in society itself, as well as by the more or less forced coexist-

ence of different peoples“52

Pohl gibt seinerseits folgendes Bild, um seine These über die Integration der Barbaren zu

untermauern:

„Die meisten leges…enthalten…Bußkataloge mit Sätze in römischen Geldwert ausgedrückt.”

Sie seien auf Latein geschrieben und damit allgemein gültig. Das stelle ein Element einer

Rechtssicherheit, das rein barbarische Gesellschaften kaum zu bieten vermochten.“53

50 Ebd., S. 164f. 51

Claude 1971, S. 45. 52 Velásquez 1999, S. 227. 53

Pohl 2002, S. 65.

17

7. Schlussfolgerung und Ausblick.

Generell sind die Fragen der Kontinuität nicht allgemeingültig zu beantworten. Was auf

der einen Seite als Kontinuität erscheint, entpuppt sich an einer anderen Stelle als Bruch. Das

Beispiel des ersten westgotischen Königreichs römischer Prägung und die Überlegungen

Wolframs, werfen ein Licht auf diese Komplexität Licht.

„The Goths played a vital role in Aquitaine; they filled a political vacuum by providing the inhabitants with

an executive power. As such the Goths, or rather their upper strata, had a vital interest in maintaining the existing

Roman social order… All the Goths did was take advantage of the existing class structure and run it more effi-

ciently than the Romans had done. In the long run, however, the same polarization between rich and poor, mas-

ters and serfs, upper and lower class which had ruined Gallo-Roman society was to afflict the Gothic king-

dom.“54

Was war in dieser Welt barbarischer Reiche vom römischen Staat und seiner lateinischen

Kultur geblieben?

Pohl schlussfolgert, dass es einerseits nach dem 5.Jh. in den okzidentalen Teilen des

Reichs weder eine Zentral- und Steuerbehörde noch eine Armee im römischen Vorbild gege-

ben hätte. Andererseits blieben aber soziale und ökonomische Strukturen, Wahrnehmungs-

muster und das städtische Leben:

„In diesen drei Gebieten hatte sich auch die städtische Struktur, Grundlage der antiken Mittelmeerkultur und

des Imperiums, behauptet. In unterschiedlichem Maß hatten diese civitates freilich an Einwohnern, Reichtum

und Bedeutung eingebüßt… Im Übrigen hatte sich fast überall auf ehemaligem Reichsgebiet die spätrömische

Kirchenorganisation mit stadtsässigen Bischöfen, regelmäßigen Synoden und differenzierter kirchlicher Schrift-

lichkeit nicht nur behauptet, sondern verstärkt. „55

Wie in Kapitel 3 schon dargestellt wurde, kann das 5. Jh. nicht ganz als Ende und Unter-

gang einer Zivilisation, aber auch nicht als Zeit eines friedlichen Integrationsprozesses der

„edlen Barbaren“ betrachtet werden. Die Dynamik und die Prozesse der Transformation soll-

ten im Zentrum der Forschung stehen. Ich verwende hier den Begriff Transformation, weil er

meiner Meinung nach am besten Prozesse tiefgehender Veränderungen beschreiben kann: Das

Imperium hörte auf, im Orient zu existieren; Sprache, Religion, Gesetze und vor allem die

Ausstrahlung verschwanden aber nicht. Wie viele Könige hatten nicht den Traum, imperator

caesar augustus zu werden? Noch heute bleibt Rom eine urbs aeterna. All dies bedeutet frei-

lich nicht, dass das Kaiserreich weiterlebte. Dies gilt nur für Teile davon. Und so kehren wir

54 Wolfram 1979, S. 157. 55

Pohl 2002, S. 214ff.

18

zur allgemeinen Frage der zeitgenössischen Forschung zurück: Was überlebte vom weströmi-

schen Reich in den Nachfolgerstaaten? Geht es um Teile, ganze Bereiche oder nur Fragmen-

te? Mit der Vorliegende Arbeit könnte diesbezüglich nur eine Teilantwort für den Bereich der

rechtlichen Organisation gegeben werden, und zwar dass es sich um dynamische Prozesse und

Verhältnisse handelte.

19

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