Ignác Goldzihers hermeneutische Strategien - Zur Historisierung des Islam in westlichen...

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Ottfried Fraisse Ignác Goldzihers hermeneutische Strategien – Zur Historisierung des Islam in westlichen Enzyklopädien Im Folgenden werden die drei Lemmata »Islam«, »Hadith« und »Fiqh«, die Ignác Goldziher (1850–1921) für ganz unterschiedliche Enzyklopädien ge- schrieben hat, auf die Art und Weise ihrer Präsentation und deren Beziehung zu dem diesen Lemmata zugrunde liegenden Islamverständnis untersucht. Es fällt auf, dass Aufbau und Stil von Goldzihers Darstellungen des Islam stark in Abhängigkeit vom Publikationsort variieren. Hierdurch stellt sich die Frage nach der Kohärenz seiner Darstellungen. Die These lautet, dass der Art von Goldzihers Präsentation nicht nur eine spezifische Hermeneutik zugrunde liegt, sondern dass diese aus seinem Islamverständnis hervor- gegangen ist. Goldzihers redaktionelles Konzept für die Enzyklopädie des Islam Für die hier verfolgte Frage nach der Intention von Goldzihers enzyklopä- discher Präsentation des Islam bildet die Tatsache seiner redaktionellen Be- teiligung an der Entwicklung der späteren Enzyklopädie des Islam – der ers- ten ihrer Art – einen natürlichen Ausgangspunkt. Die Vermutung, dass Goldziher sich in diesem Zusammenhang selbst unmittelbar zu Fragen der enzyklopädischen Darstellung des Islam geäußert haben könnte, ist nahelie- gend. Als überragende Autorität auf dem Gebiet der Islamwissenschaften – Goldziher gilt neben Theodor Nöldeke (1836–1930) und Christiaan Snouck Hurgronje (1857–1936) als einer der Gründungsväter der Islamwissenschaf- ten – war er gefragt worden, ob er die Konzeption der geplanten Oriental Encyclopedia übernähme. 1 In der Tat ließ er sich auf dem Orientalistenkon- 1 Goldziher hat als erster Wissenschaftler die Geschichte der islamischen Traditionen kri- tisch dargestellt, insbesondere die Geschichte der Überlieferungen zu Mohammed (Ha- dith) und des muslimischen Rechts (Fiqh). Goldziher wurde 1850 in Székesfehérvár, fünfzig Kilometer südlich von Budapest gelegen, geboren. Er studierte in Budapest, Ber- lin, Leiden und Leipzig, wo er 1870 bei Heinrich Leberecht Fleischer (1801–1888) pro- movierte. In den Jahren 1873/1874 unternahm er eine für ihn prägende Reise nach Da- maskus, Jerusalem und Kairo (vgl. sein »Special-Tagebuch«, hg. von Raphael Patai: Ignaz Goldziher and His Oriental Diary. A Translation and Psychological Portrait, De- JBDI / DIYB • Simon Dubnow Institute Yearbook 9 (2010), 359–380.

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Ottfried Fraisse

Ignác Goldzihers hermeneutische Strategien –Zur Historisierung

des Islam in westlichen Enzyklopädien

Im Folgenden werden die drei Lemmata »Islam«, »Hadith« und »Fiqh«, dieIgnác Goldziher (1850–1921) für ganz unterschiedliche Enzyklopädien ge-schrieben hat, auf die Art und Weise ihrer Präsentation und deren Beziehungzu dem diesen Lemmata zugrunde liegenden Islamverständnis untersucht.Es fällt auf, dass Aufbau und Stil von Goldzihers Darstellungen des Islamstark in Abhängigkeit vom Publikationsort variieren. Hierdurch stellt sichdie Frage nach der Kohärenz seiner Darstellungen. Die These lautet, dassder Art von Goldzihers Präsentation nicht nur eine spezifische Hermeneutikzugrunde liegt, sondern dass diese aus seinem Islamverständnis hervor-gegangen ist.

Goldzihers redaktionelles Konzept für die Enzyklopädie des Islam

Für die hier verfolgte Frage nach der Intention von Goldzihers enzyklopä-discher Präsentation des Islam bildet die Tatsache seiner redaktionellen Be-teiligung an der Entwicklung der späteren Enzyklopädie des Islam – der ers-ten ihrer Art – einen natürlichen Ausgangspunkt. Die Vermutung, dassGoldziher sich in diesem Zusammenhang selbst unmittelbar zu Fragen derenzyklopädischen Darstellung des Islam geäußert haben könnte, ist nahelie-gend. Als überragende Autorität auf dem Gebiet der Islamwissenschaften –Goldziher gilt neben Theodor Nöldeke (1836–1930) und Christiaan SnouckHurgronje (1857–1936) als einer der Gründungsväter der Islamwissenschaf-ten – war er gefragt worden, ob er die Konzeption der geplanten OrientalEncyclopedia übernähme.1 In der Tat ließ er sich auf dem Orientalistenkon-

1 Goldziher hat als erster Wissenschaftler die Geschichte der islamischen Traditionen kri-tisch dargestellt, insbesondere die Geschichte der Überlieferungen zu Mohammed (Ha-dith) und des muslimischen Rechts (Fiqh). Goldziher wurde 1850 in Székesfehérvár,fünfzig Kilometer südlich von Budapest gelegen, geboren. Er studierte in Budapest, Ber-lin, Leiden und Leipzig, wo er 1870 bei Heinrich Leberecht Fleischer (1801–1888) pro-movierte. In den Jahren 1873/1874 unternahm er eine für ihn prägende Reise nach Da-maskus, Jerusalem und Kairo (vgl. sein »Special-Tagebuch«, hg. von Raphael Patai:Ignaz Goldziher and His Oriental Diary. A Translation and Psychological Portrait, De-

JBDI / DIYB • Simon Dubnow Institute Yearbook 9 (2010), 359–380.

gress in Genf 1893 zum Hauptredakteur dieses Vorhabens wählen. Das Pro-jekt ging ursprünglich auf eine Idee von William Robertson Smith (1846–1894) zurück, der Professor für Arabisch in Cambridge und ab 1874 maß-geblicher Mitarbeiter sowie ab 1880 Chefredakteur der neunten Auflage derEncyclopædia Britannica war. Auffällig ist aber, dass Goldziher die ihm zu-gedachte Rolle eines Konstrukteurs dieser Enzyklopädie schon bald in dieeines ihrer Organisatoren eintauschte. 1898 gab er die Hauptredaktion anden Theologen Martinus Th. Houtsma (1851–1943) aus Leiden ab2 undwechselte in das Team des ausführenden Komitees.3

Dazu kommt, dass sich auch aus Goldzihers Zeit als Hauptredakteurkaum nachweisbare Spuren einer etwaigen von ihm erarbeiteten Konzeptionder Enzyklopädie erhalten haben. Goldziher hat (fünf Jahre nachdem er dieHauptredaktion übernommen hatte!) seinem Redakteur beim Verlag Brill inLeiden, Paul Herzsohn, ein allgemeines Schema zugeschickt, auf dessen Ba-sis dieser eine Liste der Lemmata erstellen sollte – allerdings kam dieserdem nicht nach.4 Um Sponsoren zu gewinnen, sollte Goldziher auf Bittendes Verlags eine Broschüre zu Profil und beabsichtigten Innovationen derEnzyklopädie verfassen. Er hat diese Broschüre nie geschrieben. Auch be-

troit, Mich., 1987, aber auch sein allgemeines Tagebuch, Ignaz Goldziher, Tagebuch, hg.von Alexander Schreiber, Leiden 1978). 1905 wurde er, bereits 55-jährig, als erster Judeordentlicher Professor an der Budapester Universität. Zahlreiche Rufe sind an ihn ergan-gen (Prag, Halle, Cambridge, Königsberg, Heidelberg, Straßburg), die er alle ausschlug.1921 ist er in Budapest gestorben (vgl. Peter Haber, Zwischen jüdischer Tradition undWissenschaft. Der ungarische Orientalist Ignác Goldziher, 1850–1921, Köln 2006).

2 In einem Brief vom 24. Mai 1898 schreibt Goldziher an den niederländischen Orientalis-ten Jan de Goeje: »Es muß also ein anderer gefunden werden, der das Zeug, die Energieund die Ruhe dafür hat« (zit. nach Daniel Zande, Martinus Th. Houtsma 1851–1943. Eenbijdrage aan de geschiedenis van de oriëntalistiek in Nederland en Europa [Ein Beitragzur Geschichte der Orientalistik in den Niederlanden und Europa], 2 Bde., Amsterdam2000, 238 und 561).

3 Diesem Gremium gehörten neben Goldziher der Orientalist und IslamwissenschaftlerMichael Jan de Goeje (1836–1909) aus Leiden (nach dessen Tod Christiaan Snouck Hur-gronje [1857–1936]) und der Wiener Orientalist und Bibliothekar Joseph Karabacek(1845–1918) an.

4 Daniel Zande erwähnt in seiner Dissertation über Houtsma und die Geschichte der Orien-talistik in den Niederlanden und Europa mehrere aus dem Jahr 1897 stammende Briefeaus der Korrespondenz Goldzihers zur Enzyklopädie des Islam, die von einem neunglied-rigen Schema sprechen. Zande vermutet, dass es sich dabei um eine regionale Einteilunggehandelt habe (Zande, Martinus Th. Houtsma 1851–1943, 233 f.). Noch 1895 schwebteGoldziher ein anderes Schema vor. In einem Brief an den Semitisten Franz Praetorius(1847–1927) plädierte er für eine Zweiteilung der Lemma-Liste: »1) Philologie, Litera-tur, Religion; 2) Geschichte, Geographie, Alterthümer, Kunst etc.« – wobei er hinzusetzt:»Oder nach einem anderen, erst nach der Personenwahl festzusetzenden Schema« (Uni-versitäts- und Landesbibliothek Sachsen-Anhalt, Bibliothek der Deutschen Morgenlän-dischen Gesellschaft, Halle (Saale), DMG-Akten 1895: Brief von I. Goldziher [Budapest]an Prof. Praetorius [Halle] vom 26. August 1895).

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züglich der zentralen Frage nach den Zielen der Enzyklopädie lässt sich kei-ne klare Parteinahme Goldzihers ergründen. Es bleibt offen, ob sie für ihneher ein für die europäische Herrschaft in den Kolonien nützliches, his-torisch-geografische wie auch religiöse Fachtermini umfassendes alphabe-tisches Wörterbuch sein sollte,5 oder ein für ein breiteres Publikum geschrie-bener wissenschaftlicher Grundriss, der alle kulturellen Erscheinungen desarabischen, persischen und türkischen Sprachraums erfasst.6

Ein beredtes Zeugnis für Goldzihers Ambivalenz in Fragen der Konzepti-on der angestrebten Enzyklopädie ist der Bericht, den er anlässlich des11. Orientalistenkongresses 1897 in Paris über den Fortgang des Enzyklopä-die-Projektes erstellt hat. Aus seiner Kritik an Thomas P. Huges Dictionaryof Islam erschließt sich, dass Goldziher in seinen Tagen »den Mangel einerwirklich wissenschaftlichen Encyklopädie« wahrnahm und für ein solchesWerk eine entsprechende »Anlage und [. . .] Methode« einklagte. Nicht we-niger stark betonte er aber auch die praktischen Qualitäten, die die geplanteEnzyklopädie als »literarisches Hilfsmittel« für »Regierungsbeamte« vonStaaten, »zu deren Unterthanen auch Muhammedaner gehören«, haben soll-te. Sie hätte sowohl die Erwartungen der »weitesten Kreise der Orientalis-tenwelt« als auch eines »interessirten grösseren Publicum[s]« zu erfüllen.Nicht nur solle sie »sich [. . .] auf die Vergangenheit des Islam beschränken,sondern in hervorragender Weise [. . .] auch auf dessen Gegenwart erstre-cken«. Sie solle sowohl Artikel westlicher Forscher, als auch »im Orienteselbst lebender Orientalisten« enthalten.7 Weil Goldziher sich nicht auf einpragmatisches Konzept für die zu erstellende Enzyklopädie festlegen konnteoder wollte, lässt sich seiner Tätigkeit für die Enzyklopädie des Islam nichtunmittelbar eine Antwort auf die Frage nach der Intention seiner Präsentati-on des Islam in einer westlichen Enzyklopädie entnehmen. Es gilt aber zuprüfen, ob hinter dem, was hier als Ambivalenz erscheint, nicht doch einekonsistente Haltung ausgemacht werden kann.

5 Dies war die Position Jan de Goejes, seines Kollegen im ausführenden Komitee (Zande,Martinus Th. Houtsma 1851–1943, 236).

6 Dies war die Position des Hauptredakteurs Martinus Th. Houtsma (Zande, Martinus Th.Houtsma 1851–1943, 241).

7 Ignaz Goldziher, Real-Encyklopädie des Islam, in: Monatsschrift für den Orient (1897),H. 8, 115f. (Hervorhebungen von Goldziher). Letztlich erhielt die Enzyklopädie eineForm, die eine Mischung aus Elementen von De Goejes und Houtsmas Konzepten dar-stellte: Nach Art eines Grundrisses erfasst sie – gleichwohl in Form einer alphabetischenLemmaliste – alle kulturellen Gebiete des Islam.

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Der Raum Budapest als Bedingung für Goldzihers Methode

Da es also keine äußeren Zeugnisse für Goldzihers Konzeption der Präsenta-tion des Islam in westlichen Enzyklopädien gibt, sind wir vor allem auf dieinnere Evidenz seiner Texte verwiesen. In Gestalt der zahlreichen Lemmata,die Goldziher geschrieben hat, steht zum einen ein reiches Textmaterial fürdie Frage nach Goldzihers enzyklopädischer Darstellung des Islam zur Ver-fügung.8 Zum anderen haben diese Texte aber jeweils einen spezifischen re-gionalen Entstehungskontext, der hier nicht unerwähnt bleiben soll. Wie einoberflächlicher Blick auf das Lemma-Material deutlich macht, hatte sichGoldziher sicher kein auf bestimmte Charakterzüge festgelegtes Bild vomIslam zurechtgelegt, das er in den unterschiedlichen Enzyklopädien stetsnur auf die eine oder andere Weise reproduziert hätte. Schon innerhalb einund desselben Lemmas wie etwa dem zur muslimischen Gesetzeswissen-schaft, dem Fiqh, das Goldziher zum einen für die ungarische EnzyklopädieA Pallas Nagy Lexikona geschrieben hat, zum anderen aber auch für die En-zyklopädie des Islam, kann man nur mit Mühe ein und denselben Autor wie-dererkennen.9 Während der ungarische Artikel den Fiqh ausschließlich alseine literarisch-bibliografische Größe behandelt – allein die Aufzählung derEditionen der Quellenwerke der einzelnen Rechtsschulen nimmt den halbenArtikel in Anspruch –, möchte der »Fiqh«-Artikel in der Enzyklopädie desIslam diametral entgegengesetzt das muslimische Recht in seiner histori-schen Entwicklung unter philologischen, literarischen und religionsverglei-chenden Gesichtspunkten darstellen. Der ungarische Artikel zielt auf eineneher an praktischen Fragen des Zugangs zu den Quellentexten interessiertenLeser, der deutsche Artikel auf einen Leser, der das Gesamtphänomen inseiner Genese verstehen will. Während der ungarische Artikel zu erkennen

8 Wie häufig Goldziher um Lexikonbeiträge gebeten wurde, veranschaulicht ein Blick inBernard Hellers Bibliografie der Werke Ignác Goldzihers. Er schrieb für die 14. Auflagevon Brockhaus’ Konversations-Lexikon, 16 Bde., Leipzig 1882–1887, die Artikel zur ara-bischen Literatur und zur Geschichte und Religion des Islam, sechs Artikel für die vonJames Hastings herausgegebene Encyclopaedia of Religion and Ethics, 12 Bde. und In-dexband, Edinburgh 1908–1926, steuerte dreißig Lemmata zur Enzyklopädie des Islam.Geographisches, ethnographisches und biographisches Wörterbuch der muhammeda-nischen Völker, 4 Bde. und Ergänzungsband, Leiden, 1913–1938 (nachfolgend EI) bei,wie auch 207 Lemmata allein für die ungarische Enzyklopädie A Pallas Nagy Lexikona.Az összes ismeretek enciklopédiája [Das Große Lexikon von Pallas. Enzyklopädie des ge-samten Wissens], 18 Bde., Budapest 1893–1900. Für die Enzyklopädie seiner amerikani-schen Glaubensgenossen, die Jewish Encyclopedia. A Descriptive Record of the History,Religion, Literature, and Customs of the Jewish People from the Earliest Times to thePresent Day, 12 Bde., New York/London 1901–1906 (nachfolgend JE), schrieb er nurdrei Artikel.

9 Vgl. Art. »Fiqh«, in: A Pallas Nagy Lexikona, Bd. 7, 186, und Art. »Fikh«, in: EI, Bd. 2,106–111.

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gibt, dass der Islam geografisch nicht weit entfernt war und damit eine realeGröße darstellte, scheint der deutsche Text davon geprägt zu sein, dem Is-lam in einem bestehenden, in bestimmter Weise vorgeprägten Interpretati-onsfeld eine eigene Stimme verleihen zu wollen. Selbstverständlich kannman diese Unterschiede abtun und mit Goldzihers Bestreben erklären, dasser dem potenziellen Leser seinen Gegenstand so leicht eingängig wie mög-lich präsentieren wollte. Hier soll aber der umgekehrte Weg eingeschlagenwerden: Es ist zu prüfen, ob hinter dem, was als Leserorientierung oder Ab-wesenheit einer konzeptuell-kohärenten Interpretation des Islam gedeutetwerden könnte, eine für Goldzihers Auffassung vom Islam verifizierbarePosition ausgemacht werden kann.

Die Tatsache, dass Goldziher dasselbe Lemma in unterschiedlichen Spra-chen und für unterschiedliche Regionen stark abweichend konzipiert hat,muss nicht kontingent sein, wie mit Goldzihers Verhältnis zu seinem Wohn-ort Budapest verdeutlicht werden kann. Eine Hermeneutik, die die geogra-fische bzw. sprachliche Verortung der entsprechenden Enzyklopädie be-rücksichtigt, könnte durch Erfahrungen bedingt sein, die an den Wohnortgebunden sind, in Goldzihers Fall an Budapest. Häufig wird der Umstand,dass Goldziher Budapest als Lebenszentrum nicht aufgeben wollte, obwohler unter den dort gegebenen Arbeitsbedingungen – er war Sekretär der jüdi-schen Gemeinde – und der fehlenden fachlichen Anerkennung litt,10 nur alsKuriosum abgetan (W. Montgomery Watt sprach von »The Prisoner ofBudapest«). Bekanntlich hat Goldziher wiederholt attraktive Stellenangebo-te aus ganz Europa abgelehnt. Es gilt jedoch, die hermeneutische Bedeutungder »Randständigkeit« von Budapest für sein Werk im europäischen Kon-text nicht zu unterschätzen. Die ebenfalls häufig anzutreffende Erklärung,dass Goldziher eben ein ungarischer Patriot gewesen sei, bleibt ebenso ander Oberfläche, weil sie die historische Dimension seiner Entscheidungfür den Verbleib in Budapest außer Acht lässt. Goldziher entstammte eineralten spanisch-jüdischen Familie, die im 17. Jahrhundert zunächst nachHamburg, im 18. Jahrhundert aber teilweise in das heutige Ungarn überge-siedelt war.11 In seinem Geburtsort Székesfehérvár ist schon seit Anfang des16. Jahrhunderts eine große jüdische Gemeinde nachgewiesen. Von 1526bis 1699 waren Teile Ungarns unter türkischer Herrschaft, jedoch gehörteSzékesfehérvár auch in dieser Zeit zu den Niederlassungen, die kontinuier-lich jüdisch besiedelt blieben.12 Diese politisch, sprachlich und kulturell sichüberlagernden Vergangenheiten spiegeln sich in der Tatsache, dass Gold-

10 Vgl. Goldziher, Tagebuch.11 Heinrich Loewe, Ignaz Goldziher. Ein Wort des Gedenkens, o. O. [Berlin] 1929, 8.12 András Kovács, Ungarn, in: Elke-Vera Kotowski/Julius H. Schoeps/Hiltrud Wallenborn,

Handbuch zur Geschichte der Juden in Europa, Darmstadt 2001, 151–163, hier 153.

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zihers Muttersprache nicht leicht zu bestimmen ist. Eigentlich hatte er dreiMuttersprachen: Hochdeutsch, den lokalen jüdisch-deutschen Dialekt unddas Ungarische.13 Was hiermit angedeutet werden soll, ist der Umstand, dassGoldziher an seinem Wohnort Budapest gelernt hat, nach Kultursphären zudifferenzieren; für den kosmopolitischen Ort Budapest war der Umgang mitverschiedenen Sprachtraditionen konstitutiv. Darüber hinaus ging – wieauch andernorts – ein tiefer Riss durch die jüdische Gemeinde in Székesfe-hérvár. »Läppische Ritualien«, wie Goldziher sich ausdrückte, verursachteneine Spaltung der Gemeinde. Ein liberaler Flügel, zu dem sich GoldzihersVater, Adolf Goldziher, rechnete, stand einem orthodoxen Flügel unver-söhnlich gegenüber. So ging dieser Riss sogar durch Goldzihers Familie,denn der Zwölfjährige sagte über sich: »Ich vertrat die äußerste Orthodoxieund war nicht geneigt, ein Tüpfelchen meines vielgeliebten Talmud zu op-fern.«14 Dieses »Klima« sich überlagernder sprachlicher und kulturellerSphären ähnelte insbesondere der Lebenswirklichkeit der Juden unter isla-mischer Herrschaft. Bekanntlich genossen die jüdischen Gemeinden in mus-limischen Ländern im Gegensatz zu ihren aschkenasischen Glaubensgenos-sen weitgehende Freiheiten in der Religionsausübung. Es könnte fürGoldziher daher stimulierend gewesen sein, seine Islamforschung trotz desbelastenden Brotberufs gerade an einem Ort wie Budapest zu betreiben, des-sen charakteristische räumliche Konstitution wiederum sich auf die Metho-de seines Schreibens ausgewirkt hat.15

Der Fokus wird sich im Folgenden auf die beiden Lemmata »Islam« und»Hadith« in der Jewish Encyclopedia und die beiden Lemmata »The Princi-ples of Law in Islam«, also den Fiqh, und »Die Religion des Islam« richten.Die Letzteren stammen aus zwei enzyklopädischen Kulturgeschichten: dervon Henry Smith Williams (1863–1943) herausgegebenen The Historian’sHistory of the World (ab 1904) und der von Paul Hinneberg (1862–1934) he-rausgegebenen Die Kultur der Gegenwart. Ihre Entwicklung und ihre Ziele(ab 1906).

Folgende drei Thesen werden den Fortgang der Untersuchung leiten. Wieerwähnt, bilden Goldzihers Lemmata auf den ersten Blick keine stilistischeoder einen bestimmten Zugang zum Islam abbildende Einheit. Versucht

13 István Ormos, Goldziher’s Mother Tongue. A Contribution to the Study of the LanguageSituation in Hungary in the Nineteenth Century, in: Éva Apor/István Ormos (Hgg.), Gold-ziher Memorial Conference, Budapest 2005, 203–243.

14 Goldziher, Tagebuch, 21.15 Vgl. das Statement Goldzihers in einem Brief 1889 an József Bánóczi: »Man is a result of

historical circumstances, his character is determined by the circumstances and not by hiscranial index« (zit. nach Ormos, Goldziher’s Mother Tongue, 237). Vgl. auch Julia Ri-chers, Jüdisches Budapest. Kulturelle Topographien einer Stadtgemeinde im 19. Jahrhun-dert, Köln/Weimar/Wien 2009.

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man zu bestimmen, was sie dennoch eint, dann zeigt sich, dass Goldziher –so die erste hier vertretene These – jeweils zu Beginn seiner Lexikonartikelzunächst dem durch die unterschiedlichen Herausgeber repräsentierten odervorgegebenen Profil gefolgt ist, jedoch nur, um sich im weiteren Verlaufwieder von ihm abzusetzen und im Lemma einen kritischen Subtext – ge-wissermaßen als Kontrapunkt – einzuflechten. Deshalb hatte der erste defi-nitorische Paragraf eines Lexikoneintrags oder Lemmas für Goldziher einedoppelte Funktion: den Gegenstand aus der Perspektive des Publikations-organs zu definieren und gleichzeitig den Impuls für einen Subtext zu plat-zieren – einen Subtext, der eine Läuterung seines Ausgangspunktes be-zweckte.

Bei diesem Verfahren ist das von Goldziher entworfene Bild des Islamstets wesentlich durch die Perspektive des Publikationsorgans mitbestimmtund darf daher nicht mit Goldzihers eigener Sicht des Islam gleichgesetztwerden. Dennoch lässt sich erkennen, dass – so die zweite These – Gold-ziher am Islam besonders die, seiner Meinung nach, in ihm institutionalisier-te Dynamik schätzte, nämlich das Eigene durch Eingehen auf ein Fremdes,das dem Eigenen zunächst völlig entgegengesetzt zu sein scheint, zu for-men. Mit diesem »Entwicklungsgesetz« des Islam hätte Goldziher dann ge-nau gegen eine Auffassung – etwa des Historikers Leopold von Ranke(1795–1886) und des Philosophen Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770–1831) – angeschrieben, die der arabischen Welt keine wirkliche Geschichtezubilligte – eine Auffassung, die sich bis heute einer großen Verbreitung er-freut.

Betrachtet man diese beiden Thesen, dann drängt sich die – und das istdie dritte These – Koinzidenz zwischen Goldzihers Sicht des Islam und dervon ihm gewählten formalen Herangehensweise, den Islam im Rahmen ei-ner Enzyklopädie darzustellen, auf. Letztlich sind Fragen der Form und derDarstellung ja immer auch Fragen der Methode. Das »Entwicklungsgesetz«des Islam, in der ständigen dynamischen Begegnung mit dem Anderen dasEigene zu suchen, stellt offensichtlich auch eine innere Matrix von Gold-zihers Denkstil dar: An den Anfang seiner Lemmata stellte er stets den imBlick auf ein bestimmtes Publikum verfremdeten Islam, an dem er, wovonder Subtext zeugt, sich in Reibung ein geläuterteres Bild erarbeitete. EinDenkstil, der durchaus ein Abbild der Dynamik zwischen den verschiedenenkulturellen Horizonten – dem orientalischen und dem europäischen wieauch dem jüdischen und dem ungarischen – am Rande des Balkans darstellt.

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Der Islam in seiner historisch-philologischenBeziehung zum Judentum –

Goldzihers »Islam«-Artikel in The Jewish Encyclopedia

Für die Aufdeckung der Reibungen zwischen dem an der Ausrichtung derjeweiligen Enzyklopädie orientierten Lemma und seinem Subtext, die imFolgenden mit drei Beispielen belegt werden sollen, ist die Kenntnis desProgramms der jeweiligen Enzyklopädie hilfreich. Im Fall der Jewish Ency-clopedia liegt dieses – im Unterschied zur Enzyklopädie des Islam – in ei-nem ausführlichen Vorwort vor. Als Goldziher seinen »Islam«-Artikel fürdie Jewish Encyclopedia schrieb, war ihm deren Programmatik sicher ver-traut, da er ein Mitglied des Foreign Board of Consulting Editors war.16 DieHerausgeber edierten ihre zwischen 1901 und 1906 in Amerika produziertezwölfbändige Enzyklopädie aufgrund der Beobachtung, dass eine großeDiskrepanz zwischen der Bedeutung des jüdischen Anteils an der Entwick-lung der (westlichen) Kultur und dessen mangelnder Sichtbarkeit bestehe:»While they [die Juden] have thus played a prominent part in the develop-ment of human thought and social progress throughout the centuries, therehas been no faithful record of their multifarious activity.«17 Die Juden seiennicht nur an ihre eigene Tradition gebunden, sondern sie hätten aufgrundder von ihnen wahrgenommenen Aufgabe für die Welt am allgemeinenFortschritt der Menschheit mitgewirkt: »The Jews are closely attached totheir national traditions, and yet, in their dispersion, are cosmopolitan, bothas to their conceptions of world-duty and their participation in the generaladvancement of mankind.«18 Im Kontext dieses Anspruchs der Jewish Ency-clopedia, die weltgeschichtliche Aufgabe der jüdischen Kultur darzustellen,kommentiert das Vorwort auch das Verhältnis von Judentum und Islam. Esbehauptet, dass die Juden gemeinsam mit den Muslimen den Islam geformtund auch gemeinsam die spanisch-arabische Blüte hervorgebracht hätten:»They [die Juden] joined with the Arabs in the molding of the new faith, Is-lam, and of the entire Arabian-Spanish civilization.«19

Der Wunsch aber, die zivilisatorische Bedeutung des Judentums für dieEntwicklung der Menschheit in einer amerikanischen Enzyklopädie sichtbarzu machen, könne nur deshalb erfüllt werden, weil zahlreiche jüdische For-scher, vor allem die der Wissenschaft des Judentums in Deutschland, ent-sprechende Vorarbeiten geleistet hätten: »That this has now become possi-

16 JE, Bd. 1, Preface, VII–XXI. Goldziher ist einer der 29 ausländischen Berater der Heraus-geber in den Vereinigten Staaten.

17 Ebd., VII.18 Ebd.19 Ebd., VIII.

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ble is due to a series of labors carried on throughout the whole of the nine-teenth century and representing the efforts of three generations of Jewishscholars, mainly in Germany.«20 Alle früheren Versuche, »to gather underone alphabetical arrangement all the innumerable topics of interest to Jewsas Jews«, seien gescheitert.21 Daher kamen die Herausgeber der Jewish En-cyclopedia zu dem Schluss, dass aus finanziellen Gründen und aus Gründender Wissenschaftsorganisation ein derartiges Projekt nur in den VereinigtenStaaten zu realisieren sei.22

Im Hinblick auf unsere Fragestellung gilt es nun zu erheben, ob bzw. wiesich Goldzihers »Islam«-Artikel in den im Vorwort abgesteckten Rahmeneinpasst. Welchen Rang schreibt Goldziher der Wissenschaft des Judentumsbei der Erforschung des Islam zu? Bestätigt Goldziher den Zusammenhangzwischen der Idee einer jüdischen Aufgabe für die Welt und dem univer-salen Fortschritt der Menschheit? Im Besonderen: Bestätigt Goldziher dieformative Rolle des Judentums bei der Entstehung des muslimischen Glau-bens und der Hervorbringung der arabisch-spanischen Zivilisation?23

Der erste, definitorische Paragraf von Goldzihers »Islam«-Artikel bestehtfast ausschließlich aus philologischen Beobachtungen zum arabischen Wortislam. Im deutlichen Kontrast dazu enthält er nur einen Satz zur historischenEntstehung und Ausbreitung des Islam. Ein vornehmlich philologisch aus-gerichteter Beginn eines Lemmas ist sicher nicht weiter signifikant. Unge-wöhnlich im Kontext einer Definition sind aber die Literaturverweise, vondenen Goldziher in seinem ersten Paragrafen nicht weniger als vier unter-bringt. Sie beziehen sich auf zwei Giganten der Wissenschaft des Juden-tums, nämlich Leopold Zunz (Literaturgeschichte der synagogalen Poesie)

20 Ebd., IX.21 Ebd., XIX.22 Zur angemessenen Bewertung dieser Programmatik der Jewish Encyclopedia gehörte die

Darstellung ihres historischen Kontextes. Vgl. hierzu Shuly Rubin Schwartz, The Emer-gence of Jewish Scholarship in America. The Publication of the »Jewish Encyclopedia«,Cincinnati, Oh., 1991. Wichtige Motive für Singers Enzyklopädie-Projekt waren die Zu-nahme antisemitischer Polemik in Europa und den Vereinigten Staaten (etwa im Gefolgeder Bibelkritik und des Darwinismus), Bildungsbemühungen unter den amerikanischenJuden und eine Aufbruchstimmung innerhalb des amerikanischen Reformjudentums, vgl.ebd., 15, sowie auch den Aufsatz von Yaakov Ariel in diesem Jahrbuch.

23 Ignác Goldziher, Art. »Islam«, in: JE, Bd. 6, 651–659. Goldzihers »Islam«-Artikel wurdevon Kaufmann Kohler betreut, der als einer der Herausgeber auch der Leiter des Themen-feldes »Theology and Philosophy« der Jewish Encyclopedia war. Diese Rubrik beinhalte-te die Artikel, die die größten Herausforderungen an die Zusammenarbeit der Autorendarstellten, weil sie Fragen des persönlichen Glaubens leicht berühren konnten(Schwartz, The Emergence of Jewish Scholarship in America, 146). Es hätte also seinkönnen, dass Kohler an Goldzihers »Islam«-Artikel mitgeschrieben hat, jedoch findetsich dieser Artikel nicht unter den von Schwartz verzeichneten, die Kohler nachweislichredaktionell ergänzt hat (ebd., 208, Anm.5).

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und Moritz Steinschneider (Polemische und apologetische Literatur in ara-bischer Sprache zwischen Muslimen, Christen und Juden); zusätzlich ver-weist Goldziher auf zwei traditionelle jüdische Quellen, nämlich die Pesiktade-Rav Kahana und den Midrasch Tanchuma (in der Edition von SalomonBuber). Goldziher häuft all diese Referenzen nur zu dem einen Zweck an,um die Parallele zwischen der Grundform des arabischen Wortes salam(»Friede«), wovon »Islam« ein substantivierter Infinitiv der vierten Form inder Bedeutung »Gottergebenheit« (»submission to God«) ist, und dem theo-logisch äußerst aufgeladenen hebräischen Wort shalam (»vollkommen sein«bzw. ebenfalls »Friede«) herzustellen und ihr Autorität zu verleihen.24 Wiesogleich zu zeigen sein wird, ist diese Konstellation der über die Philologieder Wurzel »s-l-m« hergestellten sehr engen Beziehung zwischen Islam undJudentum die Keimzelle für den Subtext des Lemmas im Rest des Artikels.

Zur Verdeutlichung dessen, wie ungewöhnlich dieser Einstieg in ein »Is-lam«-Lemma für eine jüdische Enzyklopädie aus heutiger Perspektive ist,soll hier ein kurzer Blick auf die zweite Edition der Nachfolgeenzyklopädie,die Encyclopaedia Judaica aus dem Jahr 2007, geworfen werden. Dort hatYohanan Friedman den »Islam«-Artikel verfasst. Ohne Goldziher nament-lich zu nennen, weist er die Rückbindung des Wortes islam an salam als reinhypothetisch zurück und gesteht ihr keinerlei – gar definitorische – Bedeu-tung für den Namen »Islam« zu: »Recent interpretations according to whichIslam is related to salam (›peace‹) seem to have no basis in traditional litera-ture, though the linguistic root of the two words is identical.«25 Vor demHintergrund der früheren Jewish Encyclopedia wird damit aber auch deut-lich, dass Friedman Goldzihers subtile philologische Parallelisierung vonJudentum und Islam ablehnt. Ohne hier in eine Analyse von Friedmans, ei-nem ganz andersartigen historischen Kontext angehörenden »Islam«-Artikelin der Encyclopaedia Judaica eintreten zu wollen, sei nur noch angemerkt,dass dieser ein grundsätzlich anderes Konstruktionsprinzip aufweist. Dortkommt das Verhältnis zwischen Islam und Judentum zunächst überhauptnicht zur Sprache und im Verlauf des Artikels zeigt sich, dass an die Stelle

24 Der Artikel im Original: »Islam – Arabic word denoting ›submission to God‹; the namegiven to the religion of Mohammed and to the practises connected therewith. This reli-gion was preached first to Mohammed’s follow citizens in Mecca, then to all Arabia; andsoon after his death it was spread to distant lands by the might of the sword. Its followersare called ›Moslems‹ (Arabic, ›Muslimin‹). The word ›Islam‹ represents the infinitive,the noun of action, of the factitive stem of the Arabic root ›salam,‹ and is rightlycompared (Zunz, ›Literaturgesch.‹ p.641; comp. Steinschneider, ›Polemische und Apo-logetische Literatur,‹ p.266, note 56) with the use of the ›hifKil‹ of ›shalam‹ in later He-brew; e.g., Pesik. 125a (›mushlam‹); Tan., ed. Buber, Gen. p.46 ib. (where ›hishlim‹ isused of proselytes).«

25 Encyclopaedia Judaica, hg. von Michael Berenbaum und Fred Skolnik, 22 Bde., Detroit,Mich./Jerusalem 22007 (nachfolgend EJ 2), Bd. 9, 88.

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des Judentums als Gegenüber zum Islam die Wissenschaft im Allgemeinengetreten ist. Immer wieder stellt Friedman heraus, dass das Selbstbild derMuslime oft ein Ideal sei, das die Wissenschaft nicht bestätigen könne.

Welch andersartige Assoziationen werden dagegen durch den von Gold-ziher gewählten Beginn seines »Islam«-Artikels aus dem Jahr 1904 aus-gelöst. Es ist möglich, dass mit der aufgezeigten Bedeutungsparallele desGrundwortes islam zu dem hebräischen shalam sogar mehr als diese ange-deutet werden soll, nämlich ein kulturelles Ursprungsverhältnis – denn derzitierte Belegtext, etwa die Pesikta de-Rav Kahana, ist älter als der Koran,wie auch das Hebräische sprachgeschichtlich älter ist als das Arabische.Diese Rückbindung des Islam an das Judentum innerhalb der Definition desIslam hat eine kaum zu verbergende symbolische Dimension. Goldziher istkeineswegs dafür bekannt, eine dezidiert jüdische Sicht des Islam vertretenzu haben, denn wie wir noch sehen werden, war er immer bestrebt, dem Ein-druck entgegenzuwirken, der Islam bestehe nur aus Versatzstücken der jüdi-schen Tradition. Man kann also voraussetzen, dass er mit dieser Betonungdes jüdischen Anteils an der Entstehung des Islam vor allem auch der Pro-grammatik der Jewish Encyclopedia entsprach. Auch die oben vorgestellteprogrammatische Position der Jewish Encyclopedia, dass die relevante For-schung vor allem aus der Feder der Forscher der Wissenschaft des Juden-tums stamme, scheint Goldziher durch seine Verweise auf Leopold Zunz(1794–1886), Salomon Buber (1827–1906) und Moritz Steinschneider(1816–1907) zu bestätigen. Sogar das Anliegen der Darstellung des zivilisa-torischen Fortschritts durch das Judentum mag man in Goldzihers Wahl sei-nes virtuellen Ausgangspunktes von Judentum und Islam, nämlich im »Frie-den«, berücksichtigt sehen.

Oben haben wir das kontrapunktische Verhältnis von Lemma und Subtextals Goldzihers Methode behauptet. Wenn diese These zutrifft, dann wird derSubtext des Lemmas »Islam« in seinem Verlauf durch a) das identitätsrele-vante Verhältnis zwischen Judentum und Islam, b) die Rolle der Wissen-schaft des Judentums dabei und c) das Verhältnis von Philologie und Ge-schichte geprägt sein. Und genau so ist es. Sieben der 16 Unterkapitel desLemmas behandeln – fast schon redundant – das jüdisch-muslimische Ver-hältnis, nämlich die Abschnitte »Opposition to Judaism«, »Relation to Ju-daism«, »Treatment of Jews«, »Anti-Jewish Traditions«, »Influence of Ju-daism on Islam«, »Influence of Jewish on Mohammedan Law« und»Restriction of Recognition of Islam«, wobei nur zwei der verbleibendenneun Abschnitte (»Sects« und »Its Spread«) dieses Verhältnis gar nicht be-rühren. Der von Goldziher eingeführte Subtext stellt dabei teils eine Bestäti-gung, teils einen Kontrapunkt zum Lemmabeginn dar: Einerseits steht das –in der Definition des Lemmas philologisch begründete – enge Verhältniszwischen Judentum und Islam weiterhin im Zentrum des Artikels; anderer-

Ignác Goldzihers hermeneutische Strategien 369

seits findet hinsichtlich der Gewichtung von Philologie und Geschichte imVerlauf des Artikels ein weitreichender Umschwung statt: weg von einertheologisch-philologischen Argumentation hin zu einer historisch-politi-schen. So schwächt Goldziher die konzeptuelle Bedeutung der Anleihen desKoran aus Thora und Aggada – eine seit dem Mohammed-Buch AbrahamGeigers Was hat Mohammed aus dem Judenthume aufgenommen? (1833)wohlbekannte Tatsache – ab und sieht sie als die Folge einer zufälligen, his-torischen Nachbarschaft einer jüdischen Gemeinde in Medina zu der GruppeMohammeds.26 Weiterhin relativiert er die jüdischen Einflüsse, indem er ih-nen die des Parsismus und des Christentums als gleichbedeutend zur Seitestellt.27 Schließlich erreicht Goldziher eine Historisierung des VerhältnissesIslam–Judentum, indem er die Annäherung Mohammeds an die Juden vorallem unter dem Aspekt seines Machtgewinns thematisiert und dabei die Ju-den als die Sich-Verweigernden darstellt.28 Vorübergehende religiöse Anlei-hen Mohammeds bei den Juden wie Gebetsrichtung, Speisegesetze und Da-tum des jährlichen Fastentags seien Konzessionen zur Machtsteigerunggewesen, die von ihm wegen der ablehnenden Haltung der Juden wiederaufgehoben wurden. Die Philologie steht hier im Dienst der Geschichte undnicht umgekehrt.29

Auch die häufig anzutreffende Ansicht – Goldziher nennt Alfred von Kre-mers Kulturgeschichte des Orients unter den Chalifen (Wien 1875–1877) –,dass das muslimische Recht unter dem Einfluss der Halacha sich ausgebildethabe, unterwirft Goldziher einer enttheologisierenden historischen Bre-chung. Er erachtet nicht das jüdische, sondern das römische Recht als ur-

26 JE, Bd. 6, 652 (wie auch 656).27 Ebd.28 Ebd., 652 f.29 Goldzihers Historisierung der Entwicklung des Islam geht so weit, dass er die – von ihm

gewöhnlich in Abgrenzung von der ShiKa und den Kharidjiten als Einheit behandelten –vier Rechtsschulen des Islam (Hanafiten, ShafiKiten, Malikiten und Hanbaliten) aufbrichtund als konkurrierende Sekten bezeichnet – etwas, das er, soweit ich sehen kann, nur indiesem Artikel getan hat und wogegen er sich ausdrücklich in seinem »Fiqh«-Artikel inder Enzyklopädie des Islam (»nur völlige Unkenntnis kann sie als Sekten bezeichnen«,EI, Bd. 2, 110) und in seinem Artikel zu den »Principles of Law in Islam« (Usul al-Fiqh)in der Enzyklopädie The Historians’ History of the World verwahrt hat: »It is therefore agreat error, and one which leads to a total misunderstanding of the whole character of Is-lam, to describe these four currents of thought, or madsahib, as the Mohammedans callthem, as ›sects‹, [. . .] The fact that [. . .] differences of ritual exist cannot be denied. Butschisms take their rise from dogmatic and juridical questions of a far more radical charac-ter, and lie far beyond the sphere of the points in controversy between the four schools ofthe law« (Ignác Goldziher, »The Principles of Law in Islam«, in: The Historians’ Historyof the World. A Comprehensive Narrative of the Rise and Development of Nations fromthe Earliest Times as Recorded by over Two Thousand of the Great Writers of AllAges. . ., hg. von Henry Smith Williams, 25 Bde., London/New York 1904–1908, Bd. 8,294–304, hier 303).

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sächlich für die Koinzidenzen zwischen muslimischem und jüdischemRecht. Und er fasst zusammen: »There is, however, legitimate doubt in thecase of many of such coincidences whether Roman law, the influence ofwhich on the development of Mohammedan law is beyond question, shouldnot be considered as the direct source from which Islamic teachers bor-owed.«30 Vor allem das ebenfalls von Goldziher für die Jewish Encyclope-dia verfasste »Hadith«-Lemma benutzt dieser, um eine theologische Nähezwischen den Traditionen des Judentums und des Islam stark zu relativieren.Den Vergleich zwischen den Heiligen Schriften Miqra und Koran bzw. derMischna und der Sunna kommentiert er folgendermaßen: »This comparison,however, is quite absurd, for the Arabic ›sunnah‹ (which means ›manner‹,›custom‹) is etymologically and materially different from the Hebrew word[Mischna] with which it was identified.«31 Allenfalls die Unterscheidung ei-nes halachischen und eines aggadischen Hadith will er gelten lassen. DieAggada unterscheide sich substanziell vom Hadith, weil Letzterer viel mehrals nur Erzählung wie die Aggada enthält, nämlich auch ethische Vorschrif-ten oder Religionsgesetze, und die Mischna unterscheide sich substanziellvon der Sunna, weil sie die authentifizierte Halacha darstellt, die Sunna aber»nur« Gewohnheitsrecht ist (die religiöse Authentifizierung, die der Hala-cha zukommt, ruht dagegen auf dem Hadith).

Damit werden die Konturen von Goldzihers Methode der Einführung ei-nes Subtextes in das Lemma deutlicher. Die vorwiegend philologisch-theo-logische Argumentation zu Beginn des Lemmas erhält im Fortgang des Arti-kels ihre eigentliche Basis in der Geschichte, wodurch die anfänglicheGewichtung von Philologie und Geschichte zugunsten Letzterer umgekehrtwird. Da es Goldziher aber um eine in beide Richtungen verlaufende Dyna-mik zwischen Philologie und Geschichte geht, wirkt sich diese auch auf dieArt und Weise aus, in der Goldziher auf den einen historischen Satz vomBeginn des Lemmas zurückkommt, wonach der Islam »by the might of thesword« bis in entfernte Länder verbreitet worden sei. Im Subtext seines Arti-kels ist es Goldziher nun wichtig, diese communis opinio »komplementär«,also philologisch, zu grundieren. Unter der Überschrift »Treatment of Jews«und »Pact of Omar« betont Goldziher jetzt, dass es Urkunden und sogar in-nerhalb des muslimischen Rechts selbst Regelungen gebe, die eine toleran-tere Sprache und nicht die des Schwertes sprächen. Hierzu zitiert er die An-

30 JE, Bd. 6, 657. Dieser Punkt war Goldziher besonders wichtig und er hat ihn u. a. auch inseinem »Fikh«-Artikel in der Enzyklopädie des Islam, Bd. 2, 107 und 109, in seinem »Is-lam«-Artikel in der Enzyklopädie Die Kultur der Gegenwart, Teil I, Abt. III.1, 87–135,hier 102, und in seinem Artikel »The Principles of Law in Islam« in der EnzyklopädieThe Historians’ History of the World, Bd. 8, 297, erwähnt.

31 JE, Bd. 6, 133.

Ignác Goldzihers hermeneutische Strategien 371

ordnung des Umayyadenkalifen Omar II. (683–720) an seine Heerführerund Administratoren:

»In the instruction which Omar gave to the generals as they set forth to spread the su-premacy of Islam by the power of the sword and to the officials to whom he entrustedthe administration of the conquered lands, the injunction to respect and guard the reli-gious institutions of the inhabitants of such lands who profess other faiths often occurs;e.g. in the directions given to MuKadh ibn Jabal for Yemen, that no Jew be disturbed inthe exercise of his faith.«32

Darüber hinaus zeige die Analyse der Rechtskodizes, dass nach dem zwei-ten Jahrhundert der Hedschra das interkonfessionelle Recht in Form einesentsprechenden Abschnitts im muslimischen Recht definitiv etabliert war:»A chapter dealing with the social and legal position of those ›possessingScripture‹ may be found in every Mohammedan legal code.«33 Der Subtextdes Lemmas offenbart also, dass Goldziher als eine Form der Verifizierungder philologischen bzw. historischen Sachverhalte sowohl die Philologie ander Geschichte, als auch umgekehrt die Geschichte an der Philologie bricht.

Wenn wir nun zu Punkt b, also dem Status der Wissenschaft des Juden-tums, kommen, dann findet ebenfalls im Verlauf des Lemmas eine deutlicheGewichtsverlagerung statt. Zu Beginn seines Artikels hatte Goldziher diebeiden wichtigsten Vertreter der Wissenschaft des Judentums genannt, spä-ter nennt er aber an jüdischen Forschern außer sich selbst nur noch AbrahamGeiger (1810–1874), Felix Perles (1874–1933), Jacob Saphir (1822–1886)und Siegmund Fraenkel (1855–1909) – mit Ausnahme Geigers sicherlichkeine zentralen Figuren der Wissenschaft des Judentums; an nichtjüdischenForschern zitiert er jedoch Christiaan Snouck Hurgronje (1857–1936), Mi-chael Jan de Goeje (1836–1909), Simon van den Bergh (1882–?), ReinhardDozy (1820–1883), Theodor Nöldeke (1836–1930), René Dussaud (1868–1958), Thomas Walker Arnold (1864–1930), Victor Chauvin (1844–1913),Alfred von Kremer (1828–1889) und Carl Brockelmann (1868–1956). Nocheindeutiger in dieser Hinsicht ist das Signal, das von Goldzihers Bibliografieausgeht: Unter 41 bibliografischen Angaben verweist er außer auf sichselbst nur auf drei Forscher der Wissenschaft des Judentums: Gustav Weil(1808–1889), Moritz Steinschneider (1816–1907) und Martin Schreiner(1863–1926). Jedoch zitiert er 16 Quellen muslimischer Herausgeber oderAutoren.

32 JE, Bd. 6, 655.33 Ebd. In seinem »Fikh«-Artikel in der Enzyklopädie des Islam betont Goldziher, dass die

Analyse der Entwicklung des muslimischen Rechts aus der Überlagerung mit anderenRechtssystemen »eines der anziehendsten Probleme dieses Teiles der Islamwissenschaft«ist. In seinem Artikel »The Principles of Law in Islam« in der Enzyklopädie The Histori-ans’ History of the World macht er kein Hehl aus seiner Bewunderung für diese Fähigkeitdes Islam und betrachtet sie als einen seiner innersten Wesenszüge.

372 Ottfried Fraisse

Um kein Missverständnis aufkommen zu lassen: Selbstverständlich istdas Verhältnis zwischen dem ersten definitorischen Paragrafen und dendann folgenden Abschnitten im Lemma »Islam« nicht als These und Anti-these zu verstehen, sonst wäre es sozusagen das Ziel des Enzyklopädiearti-kels, die ursprünglich gegebene Definition als wertlos zu erweisen – was na-türlich absurd ist. Für Goldziher war seine Definition des Islam einevertretbare, gültige Definition, allerdings lautet die Behauptung, die hierbelegt werden soll, dass dem ersten Paragrafen eine Gesetzmäßigkeit derDarstellung innewohnt, die eine andere ist, als der Verlauf des Lemmas of-fenbart. Goldzihers Methode scheint es zu sein, eine dynamische Durchdrin-gung von Philologie und Geschichte herzustellen und zwar so, dass jeweilsdas eine seine eigentliche Bedeutung im Moment seiner Begrenzung durchdas andere erhält. Offen bleibt bislang, inwiefern diese Methode etwas mitGoldzihers Sicht des Islam zu tun hat.

Der Islam als Kirchengeschichte – Goldzihers »Islam«-Artikelin der Enzyklopädie Die Kultur der Gegenwart

Aber vielleicht ist ja das Lemma »Islam« der Jewish Encyclopedia im Hin-blick auf Goldzihers Methode nicht der Verallgemeinerung fähig. Daher sollnun unter gleicher Fragestellung Goldzihers »Islam«-Artikel in der Enzy-klopädie Die Kultur der Gegenwart. Ihre Entwicklung und ihre Ziele be-trachtet werden. Um was für eine Enzyklopädie handelt es sich bei diesem18-bändigen, von Paul Hinneberg 1905 begonnenen und bis 1926 heraus-gegebenen Werk? Hinneberg war Privatsekretär von Leopold von Rankeund ab 1892 der Herausgeber der Deutschen Literaturzeitung und damit eineSchlüsselfigur in der preußischen Wissenschafts- und Kulturpolitik. SeinEinfluss wurde noch dadurch gesteigert, dass er in enger Verbindung mitdem Ministerialdirektor Friedrich Althoff (1839–1908) stand, welcher dieGeschicke der preußischen Universitäten über mehr als zwei Jahrzehnte ent-scheidend prägte. Althoff nahm großen Anteil an diesem dem KaiserWilhelm II. gewidmeten Enzyklopädie-Projekt und unterstützte es »in be-reitwilligster Weise«.34 Im schlanken Vorwort der Enzyklopädie beobachtetHinneberg die wachsende Spezialisierung der Kultur der Gegenwart, dienach einer »verknüpfenden Zusammenfassung des auf den einzelnen Kul-turgebieten Erreichten« verlange. Zunächst rühmt Hinneberg seinen über ei-

34 Zit. nach Michael Stöltzner, Eine Enzyklopädie für das Kaiserreich, in: Berichte zur Wis-senschaftsgeschichte 31 (2008), 11–28, hier 14, vgl. auch <http://www.bwg.wiley-vch.de>(30. Juni 2010).

Ignác Goldzihers hermeneutische Strategien 373

ne rein lexikalische Anordnung des Stoffs hinausgehenden Ansatz, der dasWissen in seiner kulturbildenden Einheit in einer Enzyklopädie darzustellenversuche:

»Aber gerade das, wonach der in die Tiefe dringende Geist am meisten verlangt, dieErkenntnis der letzten und feinsten Verbindungsfäden, welche die Betätigungen aufden verschiedenen Gebieten menschlichen Denkens und Schaffens, in Religion undWissenschaft, in Kunst und Technik, in Staat und Gesellschaft, in Recht und Wirtschaftzur Einheit der modernen Kultur verknüpft, gerade das ist mit den Mitteln lexikalischerArbeitsweise der Natur der Sache nach nicht zu gewinnen. Dazu bedarf es der Zusam-menfassung in einem systematischen Aufbau«35

Was diese Programmatik betrifft, so blieb Hinnebergs Anspruch rhetorisch,denn er hat die in Aussicht gestellte Systematik nicht ausgearbeitet – wie eszum Beispiel Denis Diderot (1713–1784) und Jean le Rond d’Alembert(1717–1783) im Rahmen des Vorworts ihrer Encyclopédie getan hatten.36

Gleichwohl hatte er in diesem Zusammenhang ein kulturbildendes Ziel vorAugen, wovon auch der Untertitel des Werks zeugt. Als Herausgeber bean-spruchte er, den Zuarbeitern der Enzyklopädie seine Idee eines Ganzen auf-zuerlegen. Die Koordination der Enzyklopädie bleibe unfruchtbar, »wennnicht neben den Arbeitern ein Führer steht, der die Sonderinteressen desEinzelnen mit der Idee des Ganzen in Einklang hält.«37 Hierdurch wird einvon Hinneberg kaum verhülltes Motiv deutlich: der Anspruch nationalerFührerschaft (wodurch er durchaus in Konkurrenz mit der Encyclopédie tre-ten konnte). Hinneberg schreibt: »Das Werk vereinigt eine Zahl erster Na-men aus allen Gebieten der Wissenschaft und Praxis und bietet Darstellun-gen der einzelnen Gebiete jeweils aus der Feder des dazu Berufensten ingemeinverständlicher, künstlerisch gewählter Sprache auf knappstem Rau-me«,38 wobei das Werk deutlich macht, dass der jeweils Berufenste de factoein deutscher oder deutschsprachiger Wissenschaftler war.

Immerhin wurde Goldziher eingeladen, den Artikel »Die Religion des Is-lam« zu schreiben. Auch hier hat Goldziher in frappanter Weise den pro-grammatischen Anspruch seines Publikationsorgans zum Ausgangspunktseiner Darstellung des Islam gemacht, indem er die Idee der Einheit der Kul-tur bereitwillig aufgegriffen hat. Da hierbei selbstredend die Einheit der

35 Paul Hinneberg, [Vorwort], in: Die Kultur der Gegenwart. Ihre Entwicklung und ihre Zie-le, hg. von dems., Berlin 1906, V–VIII, hier VIII.

36 Hinneberg war sich seiner Inkonsequenz wohl selbst bewusst, wenn er gegen Ende seinesVorwortes schreibt: »Aber so eifrig mein Bemühen darauf gerichtet war, dem Werke dieForm eines festen, in sich geschlossenen, einheitlichen Ganzen zu geben: Einstimmigkeitdes Inhalts, zugunsten einer bestimmten Parteiauffassung, habe ich nicht erstrebt.«

37 Ebd.38 Die Kultur der Gegenwart, Teil III, Abt. IV, Bd. 2 (ohne Seitenzählung und vor dem Vor-

wort).

374 Ottfried Fraisse

westlichen Kultur gemeint war, hat er, um den Islam überhaupt innerhalbdieses Kulturkreises darstellen zu können, seine Geschichte entlang derSchlüsselbegriffe der Geschichte der christlichen Kirchen neu erzählt – einKunstgriff, der natürlich für die Einführung eines Subtextes wie geschaffenwar. Goldziher nötigt hierdurch nicht nur dem christlichen Leser vor dermuslimischen Kirchengeschichte denselben Respekt ab, den der musli-mische der christlichen bereit ist einzuräumen, sondern er versäumt auchnicht, in dem einen oder anderen Punkt die Überlegenheit der muslimischenKirchengeschichte deutlich zu machen. Goldziher erzählt also die Geschich-te des Islam entlang von Schlagworten wie: Sittlichkeit, Mohammed als Sit-tenlehrer, individuelle Verantwortlichkeit, religiöses Abhängigkeitsgefühl,Kirchenversammlungen, Kirchenautorität, Consensus, Kirchenvater, Kir-chenlehrer – ebenso: Inquisition, Wortklauberei, hohle Eitelkeit, Kreuzzug(in übertragener Bedeutung), Dunkelmänner, göttliches Recht, unfehlbareLehre, Ecclesia militans, der Imam als Stellvertreter usw. Deutlich wirdzum Beispiel al-Ghazalı formal und inhaltlich als der muslimische Lutherstilisiert.39 Sogar eine Tradition der Textkritik, nämlich die Hadith-Kritik im9. Jahrhundert, hebt Goldziher hervor, die die historische Kritik des 19.Jahrhunderts, in deren Tradition Goldziher selbst steht, beerbt habe.40 Hier-durch wird der Islam nicht nur mit der westlichen Kirchengeschichte kom-patibel gemacht, sondern an einem Punkt, der sogleich zur Sprache kommensoll, wird er sogar als die bessere Kirche dargestellt.

Es zeigt sich, dass Goldziher sich auch um die von Hinneberg gewünschte»künstlerisch gewählte Sprache« bemüht hat. In seinem »Islam«-Artikelbringt er die eingangs platzierte Definition des Islam in folgende sprachlicheForm:

39 »An Stelle der dialektischen und kasuistischen Religionsbehandlung der Dogmatiker undRitualisten fordert Ghazalı die Pflege der Religion als inneres Selbsterlebnis. In der Er-ziehung zum intuitiven Leben der Seele, zum Bewusstsein von der Abhängigkeit desMenschen findet er den Mittelpunkt des religiösen Lebens [. . .] An Stelle der alles über-wuchernden Scholastik sollte eine versittlichende Wirkung der gesetzlichen Normen undein inniges Erfassen der Ziele des Gotteswortes treten [. . .] Er gilt als der größte Kirchen-vater des Islams« (ebd., Teil I, Abt. III, Bd. 1, 114 f.).

40 »Aus diesem Wust von falschen Überlieferungen haben zuerst im 9. Jahrhundert ernsteKritiker nach gewissen kritischen Gesichtspunkten die Auswahl dessen veranstaltet, wasman als authentisches Traditionsgut betrachten dürfe.« Aber im nächsten Abschnitt:»Man hat früher nicht genügend in Betracht gezogen, daß, so streng immerhin die Kritikist, die jene morgenländischen Autoritäten an ihrem Material betätigen, ihre Gesichts-punkte sich doch nicht decken mit der kritischen Methode, die die moderne Geschichts-wissenschaft an den sich darbietenden Quellenschriften übt« (ebd., 101). Vgl. denselbenPunkt in dem unten besprochenen Artikel »The Principles of Law in Islam«: »In order toobviate this incongruity, there soon developed in Islam a science of textual criticism, astudy in which Islamite erudition outstripped that of Europe by several centuries« (TheHistorians’ History of the World, Bd. 8, 302).

Ignác Goldzihers hermeneutische Strategien 375

»Unter den mannigfachen Motiven, aus denen die Religionsforscher die charakteristi-schen Erscheinungen des religiösen Empfindens ableiten, ist es vornehmlich das Ab-hängigkeitsgefühl, das als herrschender Grundzug durch die Verkündigungen des mek-kanischen Mannes geht, der den Islam hervorgerufen hat. Schon in dem Namen –Islam deutsch = Ergebung – kennzeichnet sich dies Gefühl der Abhängigkeit von einerunbeschränkten Allmacht, der sich der Mensch willenlos hinzugeben hat«41

Mit der Vokabel »Abhängigkeitsgefühl« hat natürlich jeder Gebildete unterden Verächtern der Religion sofort die Ikone des deutschen Protestantismus,Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher (1768–1934), in einer eigentümli-chen Verfremdung eine Lanze für den Islam brechen hören.

Eine Passage, in der dieses Bäumchen-wechsel-dich-Spiel nicht mehr nurunterschwellig kommentiert, sondern als Kritik offen zutage tritt, befindetsich dort, wo Goldziher das Prinzip des Konsensus der muslimischen Ge-lehrten (arab. IdjmaK ) erläutert. Dieser Konsens ist neben dem Koran, denProphetenlegenden (Hadıth) und der individuell begründeten Rechtsmei-nung (Idjtihad) eine von den vier Quellen der Rechtsbildung im Islam.IdjmaK bedeutet, dass nicht eine hierarchische Institution wie die KircheDogmen vorgibt, sondern eine quasi-demokratische Mehrheitsentscheidungder Rechtsgelehrten die Basis des muslimischen Rechts ist. Dieser Begriff»IdjmaK«, der nach Goldziher für den Realismus und die Toleranz des Islamverantwortlich ist, durchzieht sein gesamtes »Islam«-Lemma in der Enzy-klopädie Kultur der Gegenwart – im auffälligen Unterschied zum »Is-lam«-Artikel in der Jewish Encyclopedia, in der er nur in einem NebensatzErwähnung findet, da er bei jüdischen Lesern als vertraut vorausgesetztwird.42 Diesen Konsensus der Rechtsgelehrten, den Goldziher als äußerstcharakteristisch für den Islam hielt,43 bringt er an einer Stelle seines Lemmasin besonders enge und damit kritische Nähe zu Begriffen wie Kirchenver-sammlung und Kirchenautorität. Er sagt:

»Volkesstimme ist Gottesstimme, dieses Prinzip ist Grundlage und Rechtstitel der Zu-lassung, ja auch des verpflichtenden Charakters aller im Laufe der Entwicklung des Is-lams für diesen rezipierten Neuheiten [. . .] Das Gesamtgefühl der Rechtgläubigen hatalles dies [. . .] rezipiert, und es kann daher kein ›Irrtum‹ sein: tolerari potest. Darin liegtdie große Bedeutung dieses Prinzipes für das Verständnis der islamischen Religion.[. . .] Dieser Consensus im Islam kommt jedoch nicht in Kirchenversammlungen zu-

41 Die Kultur der Gegenwart, 87.42 JE, Bd. 6, 653. Für einen jüdischen Leser bedarf dieser Punkt keiner besonderen Hervor-

hebung, da auch das Judentum keine zentrale religiöse Institution wie die Kirche kennt.43 Vgl. folgende Passage aus dem unten besprochenen Artikel zu den »Principles of Law in

Islam«: »This great principle – which, if any man fail to realise and rightly appreciate thedevelopment of Islam and Islamite institutions, must remain a sealed book to him – wasin process of time defined as the doctrine accepted alike by all the four orthodox schoolsof thought« (The Historians’ History of the World, Bd. 8, 304).

376 Ottfried Fraisse

stande; seiner Entstehung ist überhaupt jede äußere Planmäßigkeit fremd. Unbewußtund unbeabsichtigt bildet er sich in den Kreisen, die jeweils als die maßgebendenIdschma-Autoritäten gegolten haben.«44

Die Botschaft des Subtextes von diesem »Islam«-Artikel ist folglich, dassdie Geschichte des Islam nicht nur in Form einer den christlichen Kirchenebenbürtigen Kirchengeschichte erzählt werden kann, sondern dass seinPrinzip des IdjmaK schon im Mittelalter von seiner Modernität zeugt. Damithätte sich für eine weitere Enzyklopädie die oben aufgestellte erste Thesebestätigt: dass Goldziher zunächst den Gegenstand »Islam« aus der Perspek-tive des jeweiligen Publikationsorgans definiert, jedoch nur, um diese an-schließend mithilfe eines Subtextes kritisch zu kommentieren.

Der Islam als Antithese zwischen Tradition und Revolution –Goldzihers Artikel »The Principles of Law in Islam«

in der Enzyklopädie The Historians’ History of the World

Während uns der erste Islam, den Goldziher in der Jewish Encyclopedia prä-sentierte, als eine im historischen Umfeld zum Judentum gewachsene Er-scheinung vorgestellt wurde, der zweite Islam in der Enzyklopädie Die Kul-tur der Gegenwart in Anlehnung und Kontrast zum Protestantismus unsentgegentrat, soll abschließend ein Lemma Goldzihers analysiert werden,das am ehesten eine Innensicht des Islam bietet und daher etwas von Gold-zihers eigener Auffassung vom Islam zu verraten scheint. Es handelt sichum das Lemma »The Principles of Law in Islam« in der Enzyklopädie TheHistorians’ History of the World.45

In mancher Hinsicht scheint das Ziel des Herausgebers der 25-bändigenThe Historians’ History of the World, Henry Smith Williams’, eines eng-lischen Arztes und wissenschaftlichen Publizisten, Paul Hinnebergs Intenti-on mit seiner Enzyklopädie Die Kultur der Gegenwart diametral entgegen-gesetzt gewesen zu sein. Während Hinneberg nationale Führerschaft in demSinn verstand, dass er nur die besten deutschsprachigen Wissenschaftler ein-geladen hat, warb Henry Smith Williams für seine ab 1904 bis 1908 erschei-nende Enzyklopädie gerade mit der Internationalität ihrer Autoren. Hier-durch werde erstmals eine Innensicht der behandelten Themen möglich,weil den Betroffenen selbst jeweils das Wort erteilt werden sollte. In einergroßen Anzeige des The Sydney Morning Herald vom 29. April 1909 wirbt

44 Die Kultur der Gegenwart, 105 f.45 Goldziher, »The Principles of Law in Islam«, in: The Historians’ History of the World,

Bd. 8, 294–304.

Ignác Goldzihers hermeneutische Strategien 377

der Verlag, indem er das deutsche und das englische Projekt folgenderma-ßen gegeneinander kontrastierte:

»The Historians’ History is, therefore, what a true history must be – international. Inthis respect the English world history may fairly claim to excel those admirable Ger-man world-histories [. . .] Even the latest and most ambitious of these world-histories isexclusively the work of German historians and inevitably the record takes on the char-acter of a world revolving round Germany as the centre. This is a mistake of the firstmagnitude, and leads to such absurdities as the bestowal of more space upon the reignof Frederick the Great than upon the whole of Greek history. The supreme value of truehistory is that it shows the reader the experiences of other people as well as of his own,from inside.«46

In dieser Weise angesprochen scheint Goldziher keine Notwendigkeit gese-hen zu haben, seinen dekonstruierenden Schreibstil anzuwenden. Statt imersten Paragrafen die dem Publikationsorgan eigene essenzialistische Sichtdes Islam einzufangen, um sie im Verlauf seines Artikels durch einen Sub-text zu dekonstruieren, beginnt er im ersten Satz geradezu mit einem Be-kenntnis: »In studying the lines along which Islam has developed we areconfronted with a singular antithesis within the faith itself«, und diese Anti-these betreffe die Tatsache, dass der Islam zwar eine Revolution gegen diearabische Tradition sei (Djahiliyya), aber nur, um in der Folge selber die Tra-dition wieder zum alleinigen Maßstab zu machen (Sunna). Der Kern des Is-lam sei das Ineinssetzen von Revolution und Tradition.47 Goldziher präsen-tiert also hier den Islam nicht in einer Kampfgestalt, nämlich – wie obenausgeführt – im Gegenüber zum Judentum oder Christentum, sondern sozu-sagen transparent und lässt sein verletzliches Inneres sehen, als einen imKern antithetischen Gegensatz. Diese paradoxe Grundkonstitution einerTraditionsbildung, deren Entstehungsbedingung der revolutionäre Kampfgegen die Vergangenheit sei, sei der Garant für den Erfolg des Islam. Einer-seits seien die genuin muslimischen Traditionen viel zu schwach gewesen,

46 Die Anzeige fährt fort: »This end can be achieved only by such a scheme of internationalcollaboration as marked the composition of the Historians’ History, in which the reader seesthe life of the human race in all its diversity, and the experiences and destinies of the variousnations in their true relation. By this means he becomes actually a sounder patriot (even ifno other object be involved in the reading of history) and a more level-headed judge ofhis own people and their destiny«, in: The Sydney Morning Herald, 29. April 1909, 10,<http://news.google.com/newspapers?nid=lL5 f5cZgq8MCdat=19090429&b_mode=2.>(30. April 2010).

47 The Historians’ History of the World, Bd. 8, 294: »It [the Islam] is the outcome of a revo-lutionary movement which arose to declare war against the past of the Arab nation and ofall other nations which it subdued by the ruthless sword of Islam. Yet it had scarcely ta-ken the first step in its career, before investing with little short of sacramental importancean idea so wholly alien to the spirit of subversion and revolution that it seems to us rathera palladium of the most rigid conservatism. This is the idea of the sunna.«

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um in den eroberten Ländern ein funktionierendes Staatswesen aufzubauen;andererseits konnte aber über das dem Islam intrinsische Moment der Tradi-tion als Fiktion jegliche kulturelle Erscheinung in eine genuin muslimischeGröße umgewandelt werden. Goldziher trägt diesen Punkt erneut nicht nurmit großer Anteilnahme vor, sondern er bekennt ausdrücklich, dass sich sei-ne historische Hochachtung vor dem Islam auf genau diesen Punkt gründe:

»This phenomenon which early came to maturity and was widely accepted in Moham-medan theological circles as legal and of indubitable authority, is of profound impor-tance to our historic estimate and judgment of Islam. What ever the ignorant men whostood by its cradle may have thought to be the meaning of the new word which theywere charged to proclaim to the oriental world, the first step which conquering Islamtook on its victorious career taught it to accommodate itself to an alien spirit, and tomould its own intellectual heritage by influences which seem absolutely heterogeneousto a superficial observer.«48

In diesem Zitat spiegelt sich deutlich die oben in der zweiten These behaup-tete Bewunderung Goldzihers gegenüber der im Islam institutionalisiertenDynamik, das Eigene mithilfe des Fremden zu formen. Mit anderen Worten:Die Programmatik der Enzyklopädie der Historians’ History of the Worldermöglichte es Goldziher, ohne Subtext auszukommen.

Gemäß der dritten oben genannten These, soll hier abschließend die sichaufdrängende Koinzidenz zwischen Goldzihers Sicht des Islam und der vonihm gewählten hermeneutischen Strategie des Subtextes für die enzyklopä-dische Darstellung des Islam dargestellt werden.

Die Einheit von Goldzihers Historisierung undenzyklopädischer Präsentation des Islam

Mit den Lemmata in der Jewish Encyclopedia und der Kultur der Gegen-wart wurden zwei Beispiele angeführt, in denen Goldziher jeweils zunächsteine bestimmte Sicht des Islam akzeptierte, um in Reibung an ihr einen dif-

48 Ebd., 298. Dieser Gedanke wird ebenfalls mit großer Emphase in Goldzihers »Fikh«-Lemma in der Enzyklopädie des Islam vorgetragen: »Es war ja für die völlig ungeschul-ten, aus armseligen sozialen Verhältnissen auf alte Kulturländer eindringenden, in ihnensich als Herrscher festsetzenden Leute das wie von selbst gegebene, unter den neuen Ver-hältnissen vom Gewohnheitsrecht der eroberten Länder zu rezipieren, was sich an diedurch die Eroberung geschaffenen Zustände angleichen und mit den Forderungen derneuen religiösen Anschauungen vereinbaren ließ. Die spezielle Erforschung dieser im all-gemeinen schon seit früherer Zeit ausgesprochenen und belegten, jedoch nur auf be-schränktem Gebiet sporadisch festgestellten rechtshistorischen Tastsache ist eines der an-ziehendsten Probleme dieses Teiles der Islamwissenschaft« (EI, Bd. 2, 106–111, hier107).

Ignác Goldzihers hermeneutische Strategien 379

ferenzierenden Subtext auszubilden – einen Subtext, den man weniger mo-dern übrigens auch einen Midrasch nennen könnte. Wenn es möglich ist,dieses Vorgehen als ein zentrales hermeneutisches Prinzip Goldzihers beider Präsentation des Islam in westlichen Enzyklopädien zu bezeichnen,dann lässt sich durchaus dessen Kongruenz mit dem erkennen, was Gold-ziher als zentral (»profound importance to our historic estimate andjudgment of Islam«) für seine Sicht des Islam herausgestellt hatte: Der vonihm gewählte hermeneutische Weg für die Darstellung des Islam und diehistorische Hermeneutik des Islam bilden eine methodische Einheit. In bei-den wirkt das Prinzip der Herausbildung des Eigenen mithilfe des Fremden.Umgekehrt wird damit verständlich, warum Goldziher mit der Form der En-zyklopädie, welche »das menschliche Wissen in seiner Gesamtheit [. . .] dar-zustellen sucht«,49 in Bezug auf den Islam Schwierigkeiten gehabt habenmuss. Während die Enzyklopädie (oder das enzyklopädische Lemma) dasWesen ihres Gegenstandes über die Darstellung seiner Gesamtheit zu erlan-gen sucht, beruhte für Goldziher das Wesen des Islam vielmehr auf einemdynamischen Prinzip. Die Gesamtheit des Islam blieb damit außerhalb sei-nes Blickfeldes, weil nach Goldziher seine Ränder per definitionem fließendund gerade in diesem Fluss für den Islam wesensbildend sind. Goldziher er-weist sich damit als ein dem Autonomieideal der Moderne entwachsener,nachmoderner Denker, der sich die Hermeneutik zur Darstellung seines Ge-genstandes nicht von einer wissenschaftlichen Systematik vorgeben ließ,sondern von seinem Gegenstand selbst.

49 Vgl. das Lemma »Encyklopädie« in der zeitgenössischen 14.Auflage des Brockhaus:»Gegenwärtig versteht man unter E. die Lehre von der Gesamtheit der menschlichenKünste und Wissenschaften in ihrem Zusammenhange oder auch nur von einem enger be-grenzten Wissensgebiet und benennt mit dem Titel E. Werke, welche das menschlicheWissen in seiner Gesamtheit oder den gesamten Wissensstoff eines einzelnen Faches dar-zustellen suchen.« (Brockhaus’ Konversations-Lexikon, 14. Aufl., Bd. 6, 98).

380 Ottfried Fraisse