Hegels Kritik an Kants Antinomienlehre

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Jannis Pissis, Athen Hegels Kritik an Kants Antinomienlehre Im Blick auf seine Konzeption der Dialektik hat sich Hegel wiederholt auf Kant als Vorgänger berufen, und zwar auf Kants transzendentale Dialektik, insbesondere auf deren Kern, die Lehre von der Antinomie der reinen Vernunft. Kant hat die Dialektik höher gestellt, [im Vergleich zur Tradition und sogar zum späten Platon, J.P.]– und diese Seite gehört unter die größten seiner Verdienste, – indem er ihr den Schein von Willkühr nahm, den sie nach der gewöhnlichen Vorstellung hat, und sie als ein nothwendiges Thun der Vernunft darstellte. 1 Dieses große Verdienst schränkt Hegel allerdings auf die „allgemeine Idee“ von Kants transzendentaler Dialektik ein: dass die Vernunft notwendig darin gerate. Dagegen verdienen „Kants dialektische Darstellungen in den Antinomien der reinen Vernunft [...], wenn sie näher betrachtet werden, […] freilich kein großes Lob.“ 2 Wie kann aber die „allgemeine Idee“ so sehr gelobt werden im Gegensatz zur konkreten Ausführung? Ist das vielleicht ein Zeichen dafür, dass Hegel eher willkürlich an Kants Lehrstück anknüpft und dessen Sinn verkehrt? Bei Kant ist ja der Terminus Dialektik negativ besetzt; zu den Antinomien führt eine „Logik des Scheins“. 3 Hegel fasst dagegen die Antinomik positiv auf, als das Prinzip einer Selbstbewegung der Begriffe. 1 G.W.F. Hegel, Wissenschaft der Logik [=WdL] I, Gesammelte Werke [=GW], Hamburg 1968 ff., Bd. 21, 40. 2 Ebd. 3 I. Kant, Kritik der reinen Vernunft [=KrV], Hamburg 1998, B 349. 1

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Jannis Pissis, AthenHegels Kritik an Kants Antinomienlehre

Im Blick auf seine Konzeption der Dialektik hat sich Hegel

wiederholt auf Kant als Vorgänger berufen, und zwar auf Kants

transzendentale Dialektik, insbesondere auf deren Kern, die

Lehre von der Antinomie der reinen Vernunft. Kant hat die Dialektik höher gestellt, [im Vergleich zur

Tradition und sogar zum späten Platon, J.P.]– und diese Seite

gehört unter die größten seiner Verdienste, – indem er ihr den

Schein von Willkühr nahm, den sie nach der gewöhnlichen

Vorstellung hat, und sie als ein nothwendiges Thun der Vernunft

darstellte.1

Dieses große Verdienst schränkt Hegel allerdings auf die

„allgemeine Idee“ von Kants transzendentaler Dialektik ein:

dass die Vernunft notwendig darin gerate. Dagegen verdienen

„Kants dialektische Darstellungen in den Antinomien der reinen

Vernunft [...], wenn sie näher betrachtet werden, […] freilich

kein großes Lob.“2

Wie kann aber die „allgemeine Idee“ so sehr gelobt werden

im Gegensatz zur konkreten Ausführung? Ist das vielleicht ein

Zeichen dafür, dass Hegel eher willkürlich an Kants Lehrstück

anknüpft und dessen Sinn verkehrt? Bei Kant ist ja der Terminus

Dialektik negativ besetzt; zu den Antinomien führt eine „Logik

des Scheins“.3 Hegel fasst dagegen die Antinomik positiv auf,

als das Prinzip einer Selbstbewegung der Begriffe.

1 G.W.F. Hegel, Wissenschaft der Logik [=WdL] I, Gesammelte Werke [=GW], Hamburg 1968 ff., Bd. 21, 40.2 Ebd.3 I. Kant, Kritik der reinen Vernunft [=KrV], Hamburg 1998, B 349.

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Einerseits muss festgehalten werden, dass es tatsächlich

der zentrale Gedanke, die „allgemeine Idee“, von Kants

transzendentaler Dialektik ist, woran Hegel anknüpfen möchte.

In der transzendentalen Dialektik geht es gar nicht um

willkürliche, sophistische Trugschlüsse, sondern um die

notwendigen Schlüsse der Vernunft auf das Unbedingte. Diese

münden in Antinomien und in einen unvermeidlichen

„transzendentalen Schein“,4 der den Ideen der Vernunft, ihren

Begriffen vom Unbedingten, notwendig anhaftet. Diese Auffassung

Kants von der antinomischen oder dialektischen Natur der

Vernunft wird freilich in der Kantrezeption oft ignoriert oder

nicht ernst genommen.

Andererseits ist nach Hegel daraus, dass die Vernunft

notwendig auf die Antinomien stößt, das „entgegengesetzte

Resultat“5 von demjenigen Kants zu ziehen. Der Widerspruch

steht nicht für das Scheitern der Vernunft im Versuch, das Feld

der gültigen Verstandeserkenntnis zu überschreiten. Vielmehr

sei der Widerspruch selbst „das Erheben der Vernunft über die

Beschränkungen des Verstands und das Auflösen derselben“.6 Das

läuft offenbar „gegen die Intention Kants“.7

Es stellt sich daher die Frage, ob Hegels Kritik an Kants

Antinomienlehre tatsächlich so verstanden werden kann, wie

Hegel sie beschreibt: als eine genaue Kritik, die „den

Hauptpunkt, worauf es ankommt, von der unnützen Form, in die er

hineingezwängt ist, befrey[t]“.8 Wird tatsächlich ein Kern, der

4 Ebd.5 WdL II, GW 12, 242.6 WdL I, GW 21, 30.7 Hegel, Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie [=GPh] III, Theorie-Werkausgabe Bd. 20, Frankfurt/M. 1971, 356.8 Hegel, WdL I, GW 21, 180.

2

bereits bei Kant eigentlich den Grund der Antinomien ausmacht,

von der unnützen Hülle der Kantischen Darstellung befreit?

Kommt es tatsächlich darauf an, Kants Einsicht in die

antinomische Natur der Vernunft konsequent durchzuführen,9 um

das wahre, positive Resultat zu ziehen?

Der Beitrag diskutiert Hegels explizite

Auseinandersetzung mit den Kantischen Antinomien in der

Wissenschaft der Logik, d.h. vor allem die zwei ausführlichen

Exkurse in der Seinslogik, im Abschnitt über die Quantität,

welche die beiden mathematischen Antinomien Kants behandeln.

Zunächst wird Hegels Kritik an der Kantischen Problemstellung

diskutiert, an der Systematik und Darstellung der Antinomien,

und dann die Kritik an Kants Auflösung der Antinomien.

1. Die Systematik der Kantischen Antinomien

Hegel erhebt einen, seitdem sehr oft wiederholten, Vorwurf

gegen Kant: Seine Systematik sei nicht überzeugend; er habe

seinen vier kosmologischen Antinomien durch die Anlehnung an

die Kategorientafel einen „Schein von Vollständigkeit“10

gegeben. Hegels Vorwurf ist aber eigentlich das direkte

Gegenteil des üblichen, in der Kantliteratur sehr verbreiteten,

Vorwurfs. Der übliche Vorwurf ist nämlich, dass Kant disparate

kosmologische Probleme in ein Schema zwingt – als ob es immer

um das Unbedingte gehe als die Totalität der Bedingungen in

einer Reihe der Synthesis der bedingten Erscheinungen nach

einer bestimmten Kategorie – und dadurch eine Einheit des

Problems vortäuscht, sodass er behaupten kann, das Problem

gründe in der Natur der Vernunft, in ihrer logischen 9 Zur „nicht durchgeführte[n] Einsicht“ Kants s. ebd., 30.10 Ebd., 180.

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Verfassung.11 Nach Hegel ist dagegen die Einheit des Problems

gerade der wahre Kern der Sache.[D]ie Kantischen Antinomien [sind] Darstellungen des Gegensatzes

des Endlichen und Unendlichen in einer concretern Gestalt, auf

speciellere Substrate der Vorstellung angewendet.12

Kant verortet die Antinomien in kosmologischen Bestimmungen, in

den kosmologischen Ideen. Dabei sind die reinen

Verstandesbegriffe bereits auf „Substrate der Vorstellung“

angewandt: auf den Raum, die Zeit, die Materie. Nach Hegel

verdeckt nun diese Anwendung die Einheit des Problems: Es geht

scheinbar um die Substrate selbst, um die Struktur der Materie,

um die Grenzen des Weltalls, eben um disparate kosmologische

Fragen. Der Grund der Antinomien liegt aber in den Begriffen

selbst, in den reinen Denkbestimmungen. Die Antinomien sind

daher rein aufzufassen, ohne die Substrate. Was das bedeutet,

muss im Folgenden noch geklärt werden. Hegel hält jedenfalls an

Kants „allgemeiner Idee“ fest. Er räumt Kant eine Einsicht in

die antinomische oder dialektische Natur der Vernunft ein; bloß

„die tiefere Einsicht“13 zeigt, dass Kant die Sache noch zu eng

fasst, auf das Feld der Kosmologie beschränkt.

2. Die Antithetik der reinen Vernunft

Kants Beweise für die einander entgegengesetzten Thesen

verlaufen apagogisch. Aus der Widerlegung der These (etwa der

zweiten Antinomie: die Materie bestehe aus einfachen Teilen,

ihre Struktur sei diskret) folgt die Antithese (es gebe keine

11 Vgl. etwa P.F. Strawson, The Bounds of Sense, London 1966, 33 f., 157.12 WdL I, GW 21, 228.13 Ebd., 180.

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solchen Atome, die Materie sei kontinuierlich, unendlich

teilbar) und umgekehrt. In seiner ausführlichen Kritik möchte

Hegel zeigen, dass sich diese Beweise, „von allem unnützen

Ueberfluß und Verschrobenheit“14 befreit, auf bloße,

assertorische Behauptungen reduzieren, dass eigentlich bloße

Behauptungen gegeneinander stehen. Wo bleibt dann aber die

Notwendigkeit, woran Hegel doch anknüpfen wollte? Das Zwingende

der Kantischen Antinomien hängt ja an den Beweisen. Es hängt

daran, dass sich die Vernunft sowohl zur These als auch zur

Antithese verpflichtet sieht.

Nach Hegel steckt nun die Notwendigkeit tiefer, und sie

ist noch zwingender. Es geht nicht einfach darum, dass man „in

der Natur der Vernunft“ Beweisgründe für eine Behauptung

„antrifft“, aber „unglücklicherweise“15 auch für ihr Gegenteil,

sodass man zwischen den beiden hin und her schwankt. Vielmehr

gehen die Behauptungen direkt ineinander über, und zwar nicht

erst als Sätze, die sich auf dasselbe Substrat beziehen (etwa

die Materie), sondern die Begriffe selbst (der Kontinuität und

der Diskretion) gehen ineinander über. Jeder Begriff enthält

sein Gegenteil: In der Kontinuität, der absoluten Teilbarkeit,

liegt das absolute Geteiltsein; in diesem, in der Diskretion,

die Gleichheit der einfachen Teile, damit ihre Kontinuität.16

Insofern die Begriffe selbst ineinander übergehen,

unabhängig vom Substrat, worauf sie angewandt werden („so gut

wie Schwarz und Weiß ein Grau geben, ob […] an einer Wand, oder

[…] auf der Palette“),17 tritt die Antinomie überall auf, wo

14 Ebd., 187.15 KrV, B 449.16 Vgl. WdL I, 187.17 Ebd., 31.

5

die Bestimmung des Kontinuierlichen oder des Diskreten

auftaucht. Schon damit erweist sich die Kantische Lehre als zu

eng; darüber hinaus tritt nach Hegel die Antinomie in allen

Begriffen auf. Rein aufgefasst, besteht die Antinomie gar nicht

darin, dass zwei entgegengesetzte Bestimmungen demselben

Substrat zugesprochen werden müssen, sondern vielmehr darin,

dass jede der entgegengesetzten Bestimmungen zugleich die

andere impliziert, von sich aus, immanent, in die andere

übergeht. Man kann die eine Bestimmung gar nicht ohne die

andere haben.

Dann scheint aber Kant aus falschen Gründen (wenn seine

Beweise keine sind) auf die richtige Einsicht in die

Notwendigkeit der Antinomie gekommen zu sein. Ist das, was

Hegel ausführt, tatsächlich ein Kern, den man aus Kants Lehre

herausschälen kann? Es gilt nun, diese Lehre selbst näher zu

betrachten.18

Die Synthesis des Mannigfaltigen der Anschauung nach den

Kategorien, nach den Regeln des Verstandes, konstituiert die

Gegenstände der Erfahrung. Diese sind bedingt; sie haben zu

ihren Bedingungen andere Erscheinungen, mit denen sie nach

jenen Regeln des Verstandes verknüpft sind. Bedingung eines

Bedingten ist dabei etwa eine Grenze im Raum, ein

konstituierender Teil eines Ganzen oder die Ursache einer

Wirkung. Die Erscheinungen sind daher in Reihen von Bedingungen

geordnet, je nach der Regel, die das Verhältnis zwischen zwei

aufeinanderfolgenden Gliedern bestimmt. Die Vernunft fordert

nun „mit allem Recht“19 das Unbedingte zum Bedingten, und damit18 Zu Kants Antinomienlehre vgl. vom Verf., Kants transzendentale Dialektik, Berlin/Boston 2012, 143 ff.19 KrV, B XX.

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die Totalität, die Vollständigkeit in der Reihe der Bedingungen.

Sie drängt über alle beschränkte Synthesis des Verstandes

hinaus. Es ergeben sich vier Weltbegriffe, vier kosmologische

Ideen. Diese sind „nichts, als bis zum Unbedingten erweiterte

Kategorien“;20 eine Idee dehnt die Synthesis der Erscheinungen,

die in der Kategorie gedacht wird, bis zum Unbedingten aus. Die

vier Antinomien ergeben sich daraus, dass die Totalität der

Reihe entweder ein erstes Glied bedeutet (etwa einfache Teile)

oder dass die Reihe „unendlich, und gleichwohl ganz gegeben“21

sei.

Warum ist aber die Antinomie unvermeidlich? Nicht weil

sich „unglücklicherweise“ –oder eigentlich glücklicherweise,

sodass die Vernunft aus ihrem dogmatischen Schlummer erwacht –

irgendwelche Beweise für beide Seiten finden. Vielmehr liegt

der Grund im Konstruktionsprinzip dieser Reihen überhaupt. Kant

beschreibt den Grund der Antinomie als einen unvermeidlichen

Widerstreit von Verstand und Vernunft, der daraus entspringt,

dass die Totalität der Reihe „erstlich, als Synthesis nach

Regeln dem Verstande, und doch zugleich als absolute Einheit

derselben, der Vernunft kongruieren soll“.22 Diese Synthesis

nach Regeln ist nämlich unabschließbar, die Regeln sehen keine

Unterbrechung vor. Die Vernunft muss daher die Forderung nach

der Totalität mit der Unendlichkeit der Reihe zusammenbringen.

Darin, dass die Reihe „unendlich und gleichwohl ganz gegeben“,

unendlich und doch vollendet sei, liegt aber ein Widerspruch.

Das ist jeweils die Widerlegung der Antithese, der apagogische

Beweis der These, dass ein erstes Glied angenommen werden muss.20 Ebd., B 436.21 Ebd., B 445.22 Ebd., B 450.

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Diese Annahme verstößt aber gegen die Verstandesregel, das

Prinzip der Reihe (etwa das Kausalitätsprinzip oder das

Prinzip, dass die Materie, als das Reale im Raum, wie dieser

immer weiter teilbar sei). Das ist der apagogische Beweis der

Antithese.

Die Behauptungen gehen indirekt ineinander über, indem

jede widerlegt wird, sodass auf die andere geschlossen wird.

Dieser Struktur liegt aber jener Widerstreit von Vernunft und

Verstand zugrunde, die Asymmetrie zwischen der Forderung nach

Totalität oder absoluter Einheit einerseits und der

Mannigfaltigkeit der Reihe andererseits. Die beiden Seiten

müssen zusammengebracht werden; sie können aber nicht

zusammengebracht werden. Daher ist die Antinomie unvermeidlich.

Auf ihrer Oberfläche ist die Antinomie ein Widerstreit der

Gesetze der Vernunft. Jene Forderung der Vernunft wird in sich

entzweit: sie fordert auf der einen Seite den Abschluss der

Reihe, auf der anderen Seite eine unendliche Totalität. Im Kern

liegt aber der Widerstreit von Verstand und Vernunft, der

Gegensatz des Bedingten und des Unbedingten. Hegel sieht diesen

Kern und beschreibt ihn, wie gesehen, als Gegensatz des

Endlichen und des Unendlichen, des Auf-Anderes-Bezogenseins

und der Selbstbeziehung bzw. Selbständigkeit.23

Die beschriebene Struktur weisen nun alle Antinomien bis

auf die vierte auf. Dort lautet die Antithese: ‚Es gibt kein

absolut notwendiges Wesen‘, und die These: ‚Es gibt ein solches

Wesen, entweder als die ganze Weltreihe selbst oder als ein

erstes Glied‘. Die These schließt die Alternative in sich ein.

Die Beweise schließen praktisch direkt, und zwar „aus eben

23 Sehr prägnant in: GPh III, 356.8

demselben Beweisgrunde“:24 Weil die Reihe alle Bedingungen in

sich enthält, muss sie einerseits auch das Unbedingte, das

Notwendige (als die ganze Reihe oder als ein erstes Glied)

enthalten; eben weil die Reihe alle Bedingungen enthält und

jede Bedingung für sich zufällig ist, kann es andererseits

keinen unbedingten Grund geben. „Das erste Argument sieht nur

auf die absolute Totalität der Reihe“,25 das zweite nur auf die

„Zufälligkeit“26 der einzelnen Glieder. Die Antinomie zeigt

sich hier deutlicher als ein Gegensatz des Unbedingten und

Bedingten, ein Widerstreit zwischen der Forderung der Vernunft

und der Regel der Reihe. Hegel greift die

Argumentationsstruktur von Kants vierter Antinomie auf, in der

Wesenslogik, wenn er die Modalkategorien behandelt. „Das

Zufällige hat […] darum keinen Grund, weil es zufällig ist; und

eben so wohl hat es einen Grund, darum weil es zufällig ist.“27

Die Beweise der übrigen Antinomien weisen dagegen dieselbe

Struktur auf. In Kants Darstellung wird das jedoch eher

verdeckt, als ob es um spezifische Argumente für spezifische

kosmologische Fragen ginge. Das führt tatsächlich zu einem

gewissen „Überfluß“ in den Beweisen. Insbesondere für die

Beweise der Antithesen ist die apagogische Form nicht ganz

wesentlich, obwohl diese Form für Kant überhaupt wichtig ist,

wie sich im Folgenden, bei der Besprechung der Auflösung der

Antinomien, zeigen wird. In den Thesen wird kein ausdrücklicher

Widerspruch aufgezeigt. Es wird vielmehr darauf bestanden, dass

die Reihe keine Unterbrechung duldet, etwa dass die Materie im 24 KrV, B 487.25 Ebd.26 Ebd., B 488.27 WdL I, GW 11, 384. – Vgl. hierzu B. Longuenesse, Hegel’s Critique of Metaphysics,Cambridge 2007, 127 f.

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Raum sei und wie dieser immer weiter teilbar sei. Hegel kann

erwidern, dass damit die Kontinuität bloß behauptet wird.28

Bei den Beweisen der Thesen ist dagegen die apagogische

Form wesentlich, da nach Kant in den Antithesen jeweils ein

ausdrücklicher Widerspruch steckt (in der vollendeten

Unendlichkeit). Das ist in der ersten und dritten Antinomie

eher ersichtlich als in der zweiten. Dort baut nämlich Kant in

den Beweis der These die Behauptung ein, dass die

Zusammensetzung eine zufällige Relation der Substanzen sei, die

auch ohne sie bestehen. Hegel bemerkt zurecht, dass Kant diese

Annahme ohne weiteres zum direkten Beweisgrund machen könnte.

In der Auflösung der zweiten Antinomie sowie dann in den

Metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft macht Kant

allerdings deutlich, dass die Antithese deshalb nicht

aufrechterhalten werden kann, weil die Behauptung einer

„unendliche[n] Menge Theile“, einer „wirkliche[n] unendliche[n]

Menge im Objekte“, ein „ausdrücklicher Widerspruch“ ist.29

Der Gegensatz des Unbedingten und Bedingten, der als Kern

der Kantischen Antinomien identifiziert wurde, ist jedenfalls

noch nicht der Kern, den Hegel herauszuschälen meint. Es hat

sich zwar gezeigt, dass die Weltbegriffe die Antinomie

unvermeidlich nach sich ziehen; diesen Begriffen, den 28 Hegels Kritik an Kants Beweisen greift allerdings zum Teil daneben. Nach Hegel vergesse Kant „sonderbar genug“ (WL I, GW 21, 185) im Verlauf des Beweises der Kontinuität seine anfängliche Bestimmung der Zusammensetzung als äußeren Verhältnisses, das nur im Raum möglich ist. Die Bestimmung bedeutet nach Hegel eigentlich, dass die Räumlichkeit selbst den Substanzenäußerlich sei und diese gar nicht in den Raum gehörten. Die Bestimmung bedeutet jedoch für Kant gerade, dass die Materie als „substantia phaenomenon im Raume“ (KrV, B 321) ein Inbegriff von lauter äußeren Verhältnissen ist, und keine schlechthin inneren Bestimmungen hat, wie eineLeibnizsche Monade, die nicht im Raum sei.29 Kant, Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaft, Akademie-Ausgabe [=AA], Berlin 1902 ff., Bd. 4, 507. Vgl. KrV, B 551 ff.

10

kosmologischen Ideen, haften aber jene Substrate an (Raum,

Zeit, Materie). Die Ideen sind die bis zum Unbedingten

erweiterten Kategorien. Erweitert werden aber erst die auf die

Synthesis der Anschauungen bereits angewandten Kategorien.

Steckt der Grund der Antinomien noch tiefer? Sind die

Kantischen Antinomien insgesamt reiner aufzufassen, wie Hegel

es fordert?

Hegel greift Kants zweite Antinomie noch einmal in der

Wesenslogik, in einer Anmerkung zum Verhältnis des Ganzen und

der Teile, auf,30 und er führt sie zurück auf den Widerspruch

in diesem Verhältnis: Das Ganze besteht aus Teilen, die allein

selbständig sind, aber dann ist der Teil nicht als Teil, nicht

in der Beziehung auf das Ganze, selbständig, sondern selbst als

Ganzes genommen, somit ist das Ganze selbständig, was wiederum

als solches aus Teilen besteht usw. Der Widerspruch besteht

darin, dass genau in derselben Hinsicht wo das eine Glied

selbständig ist, nicht dieses, sondern das andere selbständig

ist, und der Widerspruch perpetuiert sich in einen unendlichen

Progress. Ein unendlicher Progress entsteht nach Hegel

überhaupt überall da, „wo relative Bestimmungen bis zu ihrer

Entgegensetzung getrieben sind“.31 Im Blick auf Kants zweite

Antinomie ist aber das Verhältnis Teil-Ganzes die Relation, die

die Reihe bildet, das Verhältnis zweier aufeinanderfolgender

Glieder, von Bedingung und Bedingtem. Die Antinomie steckt also

in jedem Schritt, in jedem Glied der Reihe: in der ersten

Antinomie im Verhältnis zwischen der Grenze und ihrer

Überschreitung (dem Widerspruch im Quantum, der sich in der

30 Vgl. WdL I, GW 11, 358 f.31 WdL I, GW 21, 129.

11

Reihe perpetuiert), in der dritten im Verhältnis von Ursache

und Wirkung, in der vierten im Verhältnis des Zufälligen zu

seinem Grund.

Der Grund der Antinomien liegt dann in einem Umstand, den

Kant einsieht: dass die Gegenstände nicht unmittelbar (den

Sinnen oder dem Verstand) gegeben, sondern erst durch die

ordnenden Relationen konstituiert werden. Für Kant bricht

freilich die Antinomie erst dann aus, wenn die Reihe bis zum

absoluten Ganzen ausgedehnt wird. Er sieht den festen Boden der

Erkenntnis in der sinnlichen Anschauung, wo die einzelnen

Erscheinungen, die einzelnen Glieder der Reihe, gegeben werden.

Nach Hegel kann jedoch Kant die Antinomie in der Konstruktion

der Reihe, damit in den Weltbegriffen als solchen, nur deshalb

finden, weil diese schon im Begriff liegt, der die Reihe

konstituiert, in der ordnenden Relation. Darin besteht nach

Hegel der Kern der Antinomien: ihr Grund liegt in den reinen

Begriffen selbst, in den Kategorien, in den reinen

Denkbestimmungen. Die Substrate haben dann „keine Kraft noch

Gewalt“.32

Hegels Kritik ist dann auch in ihrem Sarkasmus

verständlich, wenn er etwa den Beweis der Antithese der zweiten

Antinomie auf folgendes reduziert:[A]uch die besten Mikroskope und die feinsten Messer haben uns

noch auf nichts einfaches stoßen lassen. Also soll auch die

Vernunft nicht auf etwas einfaches stoßen wollen.33

Die Kritik ist offenbar ungerecht, denn es geht nach Kant um

ein prinzipielles, kein empirisches Problem. Hegels Punkt ist, 32 Ebd., 180.33 Ebd., 186.

12

dass Kant seine Entdeckung verschleiert, wonach die Probleme

logisch-begrifflicher Natur und keine Mysterien des Kosmos

sind. Nach Kant geht es schließlich anscheinend darum, dass

prinzipiell keine „Anschauung des Einfachen“34 möglich sei bzw.

dass uns die Erfahrung im Blick auf das ganz Kleine oder das

ganz Große im Stich lässt.35

Dann werden umgekehrt auch die Stellen verständlich, wo

Hegel Kant anscheinend übertrieben lobt. Was soll es heißen,

dass Kant das „unendliche[] Verdienst“ zukommt, „den Anstoß zur

Wiederherstellung der Logik und Dialektik, in dem Sinne der

Betrachtung der Denkbestimmungen an und für sich, gegeben zu

haben“?36 Zum einen wird hier der Grundgedanke von Kants

transzendentaler Analytik gelobt: „die Denk- und

Begriffsbestimmungen sind es, in denen […der Gegenstand] ist,

was er ist“.37 Die Analytik legt ja damit den Grund für die

Dialektik. Zum anderen bleibt nach Hegel Kants Erkenntniskritik

in der transzendentalen Ästhetik und Analytik im Gedanken

befangen, dass die Verstandesbegriffe oder die

Anschauungsformen im Subjekt gründen, deshalb bis zum Ansich

der Dinge nicht vordringen: sie werden ihrer Form nach

kritisiert. Dagegen betrachtet die „Kritik der Ideen“,38 die

transzendentale Dialektik, die Ideen ihrem Inhalt nach und zeigt,

dass sie an sich selbst antinomisch sind. Hegel hat freilich

auszusetzen, dass die kosmologischen Ideen keine reinen

Denkbestimmungen, sondern mit einem sinnlichen Stoff vermischt

sind. 34 KrV, B 469.35 Vgl. ebd., B 513 ff.36 WdL II, GW 12, 243 f.37 Ebd., 244.38 WdL I, GW 21, 48. Vgl. Hegel, Enzyklopädie (1830), GW 20 [=Enz], § 46, 82.

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3. Die Auflösung der Antinomien.

Kant und Hegel fassen, wie gesehen, den Grund der Antinomien

unterschiedlich auf. Daraus ergibt sich auch ihre

unterschiedliche Auflösung der Antinomien. Nach Kant kann die

Forderung der Vernunft mit der Konstruktion der Reihe nicht

zusammengebracht werden, daher müssen sie auseinandergehalten

werden. Es muss auf den Weltbegriff verzichtet werden, und die

Position des transzendentalen Idealismus kann diesen Verzicht

rechtfertigen. Die Reihen der raumzeitlichen Erscheinungen

haben kein Bestehen an sich. Sie sind (zwar empirisch reell,

aber transzendental) ideell, daher reicht die Reihe nur soweit

wie der Regress in ihr reicht. Die fertige Totalität, das

vollständige Ganze, ist nur scheinbar da. Es ist die gemeinsame

falsche Voraussetzung von These und Antithese, dass sie dieses

Objekt unterstellen. Ihr Widerspruch ist daher auch nur

scheinbar, er hat keine objektive Bedeutung. Man darf vom

Bedingten nicht auf das Unbedingte schließen. Die Synthesis des

Verstandes umfasst nur bedingte Erscheinungen, Phaenomena; die

Vernunft kann das Unbedingte, das sie fordert, nur als Noumenon

denken. Die notwendige Forderung fungiert nur regulativ, als

richtungweisend für den Verstand. Regulativ fungiert dabei aber

gerade die Vorstellung von der Vervollständigung der Synthesis

des Verstandes: der Weltbegriff, der den Widerspruch nach sich

zieht. Der transzendentale Schein lässt sich nicht vertilgen,

auch wenn er aufgedeckt wird.39 Auch wenn (in den ersten beiden

Antinomien) nur die Antithese regulativ fungiert, dann bedeutet

das, dass wir den Regress anstellen müssen, als ob die

vollständige Reihe unendlich viele Teile enthalte bzw. als ob 39 S. KrV, B 354 f.

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die Welt unendlich, unbegrenzt sei. Jenen „ausdrücklichen

Widerspruch“ (der vollendeten Unendlichkeit) nehmen wir im

Modus des Als Ob.40

Indem der Widerspruch vermieden wird oder zum Schein erklärt

wird, perenniert er. Nach Hegel wird der Widerspruch dagegen

aufgelöst, indem er festgehalten wird. Die notwendige Antinomie

bestand ja im Widerspruch zwischen der Einheit der Bestimmungen

(die eine zieht die andere nach sich) und ihrer

Entgegensetzung. Das Festhalten dieser Struktur zeigt nun, dass

die Entgegengesetzten in ihrer Einheit zu fassen seien. Sie

haben kein Bestehen für sich, isoliert voneinander, sondern nur

als Momente, die zusammengehören. Die falsche Voraussetzung war

die Auffassung der Bestimmungen als selbständiger, ihre

Trennung, das einseitige Beharren auf die eine gegen die

andere. Jede Bestimmung ist nichts ohne die andere; sie sind

ideell im Hegelschen Sinne, nur Momente eines Realen.41 Das

wahre, positive Resultat der Antinomien ist das Auflösen der

beschränkten Verstandesbestimmungen, ihre „wahrhafte Kritik“.42

Die kritische, negative Funktion von Kants transzendentaler

Dialektik wird gar nicht über Bord geworfen, sondern

transformiert. Die Kategorien werden nicht in ihrer Anwendung

auf bestimmte Substrate restringiert, auf das Übersinnliche

oder das Unbedingte als Totalität des Bedingten, sondern an

ihnen selbst. Für sich selbst, losgelöst von ihrer Einheit,

haben die Bestimmungen (etwa des Einfachen als des Diskreten

oder des Unendlichen) überhaupt keine Anwendung.

40 S. ebd., B 700. 41 Vgl. WdL I, GW 21, 142, 147.42 Ebd., 49.

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Kontinuität und Diskretion sind damit nur Momente des

Begriffs der Quantität, nicht einander ausschließende

Unterarten. Das Moment der Kontinuität in einer diskreten Größe

ist etwa die Form der Reihe in der Reihe der natürlichen

Zahlen; das Moment der Diskretion in einer kontinuierlichen

Größe der Punkt in der Linie. Auch Kants dynamische Theorie der

Materie – die Auffassung der Materie als kontinuierlich (als

potentiell unendlich teilbar) und die Ablehnung des Atomismus –

ist nach Hegel nur einseitig. Das betrifft auch das Verhältnis

von Ganzem und Teil: das dynamische Verhältnis der Kraft und

ihrer Äußerung, in das dieses übergeht, ist zwar „das

wahrhaftere“, jedoch auch „einseitig“.43

Die Bestimmungen Ganzes und Teil haben freilich im Blick

auf Kants Antinomien auch eine übergreifende Bedeutung. Es geht

ja immer um die Totalität in der Reihe der Bedingungen. Indem

es sich zeigt, dass sich die Totalität und die Teile

wechselseitig bedingen, hält Hegel fest, dass „[d]as ganze

Verhältniß […] das Unbedingte“ ist.44 Unbedingt sind weder

letzte Glieder noch eine absolute Einheit des Ganzen gegen die

mannigfaltigen bedingten Glieder. Die „wahrhafte Auflösung“

von Kants Antinomien besteht darin, „dass die Kategorien keine

Wahrheit an ihnen haben, ebenso wenig aber das Unbedingte der

Vernunft, sondern nur die Einheit beider als konkrete“.45 Das

ist „der letzte Schritt in die Höhe“,46 den Kant nicht

vollzieht: das ganze Verhältnis (zwischen der Regel des

Bedingten und der Forderung des Unbedingten), damit den

43 Ebd., 214.44 Ebd., 356.45 GPh III, 359.46 WdL I, GW 21, 30.

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Widerspruch selbst als Erhebung über die Beschränkungen zu

fassen. Kant flieht „zur sinnlichen Existenz“ zurück,47 zum

Bedingten, und hält damit aber das Unbedingte der Vernunft als

getrennt aufrecht, jenseits des Bedingten.

Eine übergreifende Bedeutung haben im Blick auf Kants

Antinomien auch die Bestimmungen des quantitativen Endlichen

und Unendlichen. Im Kern liegt ja stets der Widerspruch von

Totalität und Unendlichkeit in der Reihe der Bedingungen. Hegel

setzt nun gar nicht auf das aktuelle Unendliche, während Kant

beim potentiellen Unendlichen stehenbleibe, wie es manchmal

geschildert wird.48 Hegel lobt ja gerade Aristoteles für seine

Auflösung der Zenonischen Antinomien, für seine Auffassung des

potentiellen Unendlichen: der Punkt sei nur Moment in der

Linie, diese bestehe nicht aus aktuell unendlich vielen

Punkten.49 Die Vorstellung unendlich vieler Punkte oder Teile

ist für Hegel ein „nichtiger Nebel und Schatten“,50 ein bloßer

Widerspruch. An Kants Begriff der Unendlichkeit moniert Hegel

vielmehr folgendes. Kant definiert das Unendliche dahingehend,

„daß die sukzessive Synthesis der Einheit in Durchmessung eines

Quantum niemals vollendet sein kann“.51 Er setzt damit ein an

sich vollendetes Quantum voraus, jenseits des Regresses. Diese

Vorstellung eines Jenseits soll dann für die sukzessive

Synthesis regulativ fungieren. Nach Hegel sieht Kant nicht,

dass im Regress selbst auch über das Unendliche hinausgegangen

worden ist, dass das für sich gestellte Unendliche als Jenseits

des endlichen Quantums destruiert wurde. Das wahre quantitative47 Ebd.48 Vgl. etwa G. Priest, Beyond the Limits of Thought, Oxford 20022, 102 ff.49 S. WdL I, GW 21, 188.50 Ebd., 233.51 KrV, B 460. Vgl. WdL I, GW 21, 240.

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Unendliche, das sich aus der Auflösung des quantitativen

unendlichen Progresses, der gründlich gefassten ersten

Antinomie Kants, ergibt, ist nach Hegel die Einheit des

Endlichen und Unendlichen, die er als qualitative

Quantitätsbestimmung festhält und auch im Blick auf die

Mathematik fruchtbar macht.52

Nach Hegel verteilt Kant den Widerspruch, anstatt ihn

aufzulösen, an das Subjekt und das Objekt53 (an die stets

bedingte Synthesis und das unerreichbare Unbedingte) bzw. er

entfernt ihn vom Ansich der Dinge und verlegt ihn in die

Vernunft (die jene widersprüchlichen Weltbegriffe weiterhin

notwendig bildet). Es ist diß eine zu große Zärtlichkeit für die Welt, von ihr den

Widerspruch zu entfernen, ihn dagegen in den Geist, in die

Vernunft zu verlegen und darin unaufgelöst bestehen zu lassen.

In der That ist es der Geist, der so stark ist, den Widerspruch

ertragen zu können, aber er ist es auch, der ihn aufzulösen

weiß.54

Kants Intention ist jedoch der Forderung Hegels nicht einfach

entgegengesetzt. Kants Zärtlichkeit für die Dinge ist nämlich

keine Härte für die Vernunft, wie Hegel unterstellt. Kant will

„nicht die Schuld auf die Sache schieben“,55 aber nicht weil er

lieber die Vernunft beschuldigt und verschmäht. Diese

Schuldabweisung wäre vielmehr eine Ausrede für eine faule

Vernunft, die Antinomie hoffnungslos unaufgelöst zu lassen. Die52 Zu Hegels Deutung der Infinitesimalrechnung vgl. M. Wolff, „Hegel und Cauchy“, in: Hegels Philosophie der Natur, hg. v. R.-P. Horstman/M.J. Petry, Stuttgart 1986, 197-263.53 S. WdL I, GW 21, 240. 54 Ebd., 232.55 KrV, B 510.

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Vernunft muss dagegen die Verantwortung auf sich nehmen. Die

kosmologische Frage muss „aus der Idee allein aufgelöset werden

können“.56 „Eine deutliche Darlegung der Dialektik, die in

unserem Begriffe selbst liegt, würde uns bald zur völligen

Gewißheit bringen.“ 57

Wenn etwa die Dialektik sittliche Bestimmungen aufzuheben

scheint, muss man nach Kant, genau wie es Hegel fordert, „zur

Vernunft das Vertrauen haben“:58 man darf keine „Scharwachen“59

aufstellen und der Vernunft etwas vorschreiben. Nach Kant

werden freilich die sittlichen Bestimmungen durch die Trennung

von Phaenomena und Noumena restituiert. Kants Zärtlichkeit für

die Dinge ist nicht nur eine „für die weltlichen Dinge“,60 die

dadurch geschont werden, dass die Antinomie nur in der

äußersten Erweiterung der Reihen, nicht in jedem Glied,

anzutreffen ist. Sie ist vor allem eine Zärtlichkeit für die

letzten Dinge (die Freiheit des Willens als absolute

Selbsttätigkeit oder die Vorstellung eines notwendigen Wesens),

die als Noumena gerettet werden, insofern die Vernunft ihre

Begriffe vom Unbedingten als widerspuchsfrei und hypostatisch

denken darf.

Zum Vergleich zwischen Kants und Hegels Auflösung der

Antinomien bietet sich derer beider Rückgriff auf die

Antithetik des antiken Skeptizismus. Hegel stellt ja diese

Antithetik der Kantischen gegenüber und lobt die antiken

Skeptiker dafür, dass sie überall, in allen Begriffen, nach dem

56 Ebd., B 507.57 Ebd., B 510.58 WdL II, GW 12, 243.59 KrV, B 775.60 Enz § 48, 84.

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Prinzip der Isosthenie, Antinomien aufzeigten.61 Kant greift

aber selbst auf die akademische und pyrrhonische Skepsis

zurück. Er beschreibt sein Verfahren in der Darstellung der

Antithetik als die „skeptische Methode“: „einem Streite der

Behauptungen zuzusehen, oder vielmehr ihn selbst zu

veranlassen“.62 Das Resultat ist dabei aber nicht die

„skeptische Hoffnungslosigkeit“.63 Kant fordert einen

„vernünftigen Pyrrhonismus“;64 die Darlegung der Antithetik

soll schließlich zur Gewissheit führen. Eigentlich führt sie

aber nur zu einer Sackgasse: zum unvermeidlichen Hin-und-her-

Schwanken zwischen These und Antithese. Die kritische Auflösung

ist dann ein zweiter Schritt, wo der transzendentale Idealismus

ins Spiel kommt. Der „unparteiische Kampfrichter“65 muss dann

nicht mehr nur zusehen, sondern eingreifen. Dieser Richter ist

zwar die Vernunft selbst, aber doch als eine übergeordnete

Instanz zu den streitenden Parteien, die in der Synthesis des

Verstandes das Unbedingte zu bestimmen versuchen. Die Lösung

ergibt sich nicht aus dem Streit selbst; die Auflösung erfolgt

„aus der Idee allein“ nur in dem Sinne, dass sich dann die

Idee, der Weltbegriff, als unrechtmäßig gebildet erweist. Nach

Hegel erfolgt dagegen die Auflösung aus dem Austragen der

Antinomie. Das Festhalten der Bestimmungen (Moment des

Verstandes), ihre Aufhebung, indem sie von sich aus ineinander

übergehen (das negativ-vernünftige Moment) und schließlich das

Resultat, die Auffassung der Entgegengesetzten in ihrer Einheit

61 Vgl. WL I, GW 21, 180.62 KrV, B 451.63 Ebd., B 434.64 Kant, Refl. 2660, AA 16, 459.65 KrV, B 451.

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(das positiv-vernünftige Moment) sind eine und dieselbe

Bewegung.

Abschließend soll noch erklärt werden, warum die

apagogische Form der Beweise für Kant wichtig ist. Sie erlaubt

ihm, die Antinomie als unvermeidlich darzulegen und doch als

Schein zu deuten. Die Beweise sind nämlich nicht erschlichen,

sondern inhaltlich korrekt. Die Widerlegungen sind gültig. Man

darf aber nicht unterstellen, dass die Reihe so oder so

vollständig sei, und somit nach dem Satz des ausgeschlossenen

Dritten auf die jeweils andere These schließen. Der Schein

steckt im unverdächtigen formalen Aspekt der Beweise. Die

formale Logik wird damit zur Logik des Scheins, des Blendwerks;

der apagogische Beweis ist nach Kant „das eigentliche

Blendwerk“ der dogmatischen Metaphysik.66 Erst die

transzendentale Kritik deckt die Antinomie als scheinbaren

Widerspruch auf. In Wahrheit sind These und Antithese der

mathematischen Antinomien nicht kontradiktorisch, sondern

konträr entgegengesetzt und beide falsch. Wenn es sich aber

nicht rein formallogisch bestimmen lässt, ob ein echter

Widerspruch vorliegt, dann wird die Unterscheidung von echtem

und scheinbarem Widerspruch, von analytischer und dialektischer

Opposition,67 fraglich. An dieser Schwierigkeit kann Hegel

anknüpfen. Wenn die Begriffe Gegensatz und Widerspruch in der

Wesenslogik thematisch werden, dann erfolgt das als eine

implizite Auseinandersetzung mit Kants Antinomienlehre.68

66 Ebd., B 821.67 Vgl. ebd., B 532.68 Vgl. hierzu M. Wolff, Der Begriff des Widerspruchs, Königstein/Ts. 1981; A. Arndt, „Hegels Begriff der Dialektik im Blick auf Kant“, in: Hegel-Studien 38 (2003), 105-120.

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Hier ging es um Hegels explizite Kritik, vor allem in den

Exkursen der Seinslogik. Diese Kritik wird Kant nicht immer

gerecht, stellt sich aber doch „in den Umkreis seiner

Stärke“.69 Die Kritik greift Kants systematischen Grundgedanken

von der Notwendigkeit der Antinomie auf, verortet aber diese

Notwendigkeit auf einer fundamentaleren Ebene. Damit werden die

„allgemeine Idee“ sowie die kritische Funktion von Kants

transzendentaler Dialektik radikalisiert und verallgemeinert.

Dr. Jannis Pissis

Neapoleos 81, 15123 Athen, Griechenland

[email protected]

69 WdL II, GW 12, 15.22