Das Alibi des Wissenschaftlers: die Entwicklung von Roland Barthes' écriture von Mythen des...

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Christoph Steinmann, Mühleweg 6, 8707 Uekon, [email protected] Titelillustraon mit Erlaubnis von Ilyanna Kerr Das Alibi des Wissenschaftlers Mythologies Éléments de Sémiologie Critique et Vérité Leçon

Transcript of Das Alibi des Wissenschaftlers: die Entwicklung von Roland Barthes' écriture von Mythen des...

Christoph Steinmann, Mühleweg 6, 8707 Uetikon, [email protected] Titelillustration mit Erlaubnis von Ilyanna Kerr

D a s A l i b i d e s W i s s e n s c h a f t l e r s

M y t h o l o g i e s É l é m e n t s d e S é m i o l o g i e C r i t i q u e e t V é r i t é L e ç o n

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Zwischen den Sprachen

Roland Barthes' Schreibweise (écriture) passt sich im Verlauf seiner Entwicklung als Wis-senschaftler seiner Erkenntnis als Wissenschaftler an.

Eine Konstante im Schreiben Barthes' besteht in der Position, die er als Wissenschafter im Verhältnis zu seinem Untersuchungsgegenstand innehat. Der Mythologe, der Semiologe, der Literaturkritiker, der Dozent: alle begegnen sie dem Hiatus zwischen der beschreiben-den Sprache und der untersuchten Sprache − sei diese textlicher, visueller, gestischer o.ä. Natur − als Trennung und Distanz. Diese Trennung folgt jedoch nicht ausschliesslich der wissenschaftlichen Position, sondern findet sich auch in untersuchten Systemen, "unbe-wussten" Darstellungskomplexen wie z.B. des Mythos wieder. Die Schreibweise des My-thologen befindet sich beispielsweise in der dritten Potenz: Metametasprache.

Barthes' Versuche, dieser methodologischen Herausforderung zu begegnen, erinnern an Friedrich Schlegel, der in seinem Aufsatz "Über die Unverständlichkeit" das Problem der Unverständlichkeit mit Unverständlichkeit zelebriert (und dabei Unverständlichkeit verdunkelt und erhellt). Back to Barthes! Das Differenzierende der Opposition Meta- vs. Objektsprache1, das Barthes lange Zeit praktizierte, verweist auf eine ontologische, phä-nomenologische, epistemologische Unknacknuss: das Analyseobjekt "spricht eine andere Sprache" und entzieht sich ständig dem Zugriff des Analytikers. Barthes war sich dieser Problematik bewusst und hat seine Arbeit immer wieder an ihr abgeglichen…

Zwischen Signif iant und Signif ié

Die Relation zwischen Metasprache und Objektsprache scheint vererbt. Das grundlegen-de Modell des dyadischen sprachlichen Zeichens (Saussure) bringt das mentale Konzept eines Ausdrucks als Signifié mit einer Realisierung/Materialisierung dieses Konzept als Si-gnifiant in Verbindung. Nun zeitigt diese Verbindung bereits eine Übertragungsunschär-fe (vergleichbar: Nietzsches Metapher & Metonymie, Peirces vagueness): die mentalen Konzepte sind höchst individuell − das schliesst den konventionalisierten Gebrauch der symbolischen Sprache nicht aus! −, eine vollständige Kongruenz zweier Kommunikations-partner2 ist ein Ideal, das einzulösen nicht möglich ist. So bleibt immer eine Differenz zwischen dem, über das man kommuniziert (Signifié), und dem, das man für diesen Zweck herbeizieht (Signifiant). Diese Differenz findet ihre Parallele in der Objektsprache, welche auch Inhalt ist, und der Metasprache, die als Ausdruck von der ersten spricht.

1 diese Opposition entspringt der paradigmatischen Klassifizierung des Strukturalistismus, die Barthes später − post-struktura-listisch? − nicht mehr in ihrer rigiden Binarität anwenden wird.

2 ob das nun zwei Gesprächspartner, eine Leserin mit ihrem Buch, der Mythologe mit dem Mythos ist, spielt keine Rolle.

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Zwischen Konnotation und Denotation

Die paradoxe und sinnstiftende Relation zwischen dem unmotivierten, konventionalisier-ten Signifiant und dem individuellen, mentalen Signifié findet in Hjelmselvs Konzept der Konnotation und Denotation eine Parallele. Die Denotation steht für einen eindeutigen Verweis, z.B. auf das Wort Tisch als Stellvertreter für das vierbeinige Ding in meinem Ar-beitszimmer; die Konnotation erweitert diese Vorstellung z.B. um den Umstand, dass ich auf dessen Rücken meine literaturtheoretischen Gedanken schreibe: Fleiss,3 Abgeschie-denheit, Abstraktion schwingen in diesem Fall mit, wohingegen ein anderer Tisch konstru-iert wird (der empirisch der gleiche sein kann), wenn ein anderer Mensch die Spielkarten mitdenkt, die in grossem Spieleifer auf den Tisch geschmettert werden. Der Tisch bietet Platz für mehrere gegensätzliche Projektionen; in diesem Sinn ist die Konnotation das indi-viduelle Additiv zur Denotation, welche die Vielfalt des Begriffs erwirkt.

Zwischengemeinsamkeiten

Signifiant und Signifié, Konnotation und Denotation: beiden Dichotomien gemein ist ihre Inkongruenz und ihre gegenseitige Abhängigkeit, die durchaus als Anziehung und Abstos-sung4 aufgefasst werden kann; das Zeichen kann in diesem Spannungsverhältnis niemals zur Ruhe kommen.5

Ebenso verhält es sich mit der Objekt- und der Metasprache, wobei die Objektsprache se-miologisch als das definiert werden kann, das ein System von Zeichenhaftigkeit ausmacht und keinem anderen System sich parasitär aufsetzt; kurz: Objektsprache ist das zeichen-hafte Adaptandum oder Analysandum.

Die Metasprache wird grundlegend von der Undarstellbarkeit der Welt infrage gestellt. Barthes zeigt in Mythologies anhand des physikalischen Zitats e=mc², wie sich die Kon-notation der Denotation bemächtigt und die pure Darstellung kontaminiert (das Genie Einsteins, die Fantasie der Weltenformel etc.). Dieser Prozess ist nicht bloss ein mythologi-scher, sondern wie oben vermutet, Exempel eines basalen, semiotischen Faktums. Peirce6 zeigt in seinem ontologisch-phänomenologischen Ansatz überzeugend, dass die Weige-rung jedes Zeichens, ausschliesslich Denotat zu bleiben, eine existenzielle Bedingung von Kommunikation ist. Käme es im Verlauf der Semiose zur Absolutheit7 des Sinns, so wäre das Zeichen nicht mehr in der Lage, weitere Zeichen zu generieren, die Kommunikation käme zum Stillstand. darwinistisch formuliert könnte man behaupten, Kommunikation erteile als Art ihren Zeichen den holistisch motivierten Auftrag, eine gewisse Restunschär-

3 es handelt sich dabei um eine fiktive Konnotation: eine Konnotation ist in keiner Weise der Wahrheit verpflichtet.4 die Voraussetzung für die semiologische Analyse ist Ähnlichkeit und Unähnlichkeit zweier Oppositionselemente im Paradigma, die

vektorial durchaus in Anziehung und Abstossung übersetzt werden können.5 vgl. die unabschliessbare Semiose nach Peirce und dessen Theorie des Vagen.6 Peirce, Charles Sanders: Phänomen und Logik der Zeichen. Frankfurt am Main: Suhrkamp. 1993.7 lat. absolvere: loslösen

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fe zu garantieren, um die Erhaltung des Systems zu garantieren. Diese Unschärfe stellt die Konnotation zur Verfügung. Wenn e=mc² eine Konnotationswolke ausbildet, so ist das höchstens ein höchst theoretisches Paraproblem8 für die Physik; für die Beobachtung der Wirkung von Konnotationen und damit Anhaltspunkt für einen Umgang mit der ei-genen Sprache in Verbindung mit der Sprache eines untersuchten Systems jedoch sehr aufschlussreich.9

frottement

Roland Barthes ist aus verschiedenen Gründen ein herausragender Autor,10 hier inter-essiert aber primär das Schreibverhalten, das er je nach Phase (i.e. Erkenntnisstand) und Gegenstand aktiviert. Die Kritiker, die in Barthes einen Nichtwissenschaftler sehen, haben ihn schlicht nicht verstanden, denn es ist gerade die Variabilität11 seines Schreibens, die einer wie auch immer gearteten12 Inkongruenz zwischen Objekt und Sprache Rechnung trägt.

Die Unvereinbarkeit wird gerade nicht als Problem, sondern als fruchtbares frottement zweier Systeme erachtet. So wie die Reibung Grundlage der Zeugung säugetierischen Le-bens ist, so auch der Zeugung eines dialektisch zwischen den beiden Systemen vermitteln-den Sinns.13 Barthes macht − wie Schlegel und andere zuvor − aus der Not eine Tugend.

Vier Texte aus 1957, 1965, 1966 und 1978 zu unterschiedlichen Schwerpunkten (Mytholo-gie, Semiologie, Literaturkritik und Wissenschaftsprogramm) sind in der Lage, exemplarisch aufzuzeigen, wie sich Barthes unterschiedlicher Annäherungen und Schreibweisen bedient: einerseits sind synchrone, intratextuelle Auffälligkeiten, andererseits diachrone, sozusagen schreibgenetische Veränderungen feststellbar. Diese sollen im folgenden diskutiert werden…

Mythologies Éléments de Sémiologie Critique et Vérité Leçon

In Mythologies teilt Barthes seinen Text auf in zwei Sektoren, die Sprachen, die dabei in-volviert sind, in vier Ebenen. Der erste Teil beinhaltet die Analysen verschiedener kulturel-ler, codierter oder scheinbar uncodierter Texte, der Mythen; der zweite Teil − wenn man so will − die Analyse der Analysen. Da bereits die Mythen auf zwei Ebenen wirksam sind, die Analysen derselben eine dritte einführen, benötigt die Analyse der Analysen eine vier-te Ebene:

8 gr. para für neben, ausserhalb: ein jenseitiges Problem9 vgl. Einsteins Gehirn in: Barthes, Roland: Mythendes Alltags. Berlin: Suhrkamp Verlag. 2010. S. 118-120.10 natürlich auch ein ebensolcher Denker, Strukturalist etc. Es geht in hier enstehendem Aufsatz jedoch um seine écriture, also um

Barthes' Sprachmöglichkeit oder -freiheit in Anbetracht der Problematik von Objekt- und Metasprache. 11 und nicht etwa Flexibilität, die aufgrund von Druck sich verbiegen lässt.12 ontologisch, phänomenologisch, epistemologisch…13 In einem weiteren Gedanken zu Barthes' Variabilität versetzt er den Leser in die Position des Wissenschaftlers, der keine Plattheit

vorfindet, sondern Widerspruch, Unvereinbarkeit. So performieren beide − Autor und Leser − das nach Barthes notwendige Oszillieren zwischen den inkongruenten Systemen: jeglicher doxa wird damit der Riegel geschoben.

4. Ebene: Metametametasprache in Der Mythos heute ↓3. Ebene: Metametasprache in Mythen des Alltags ↓2. Ebene: Metasprache des Mythos → Konnotationssystem in Éléments de Sémiologie ↓ 1. Ebene: Objektsprache

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fe zu garantieren, um die Erhaltung des Systems zu garantieren. Diese Unschärfe stellt die Konnotation zur Verfügung. Wenn e=mc² eine Konnotationswolke ausbildet, so ist das höchstens ein höchst theoretisches Paraproblem8 für die Physik; für die Beobachtung der Wirkung von Konnotationen und damit Anhaltspunkt für einen Umgang mit der ei-genen Sprache in Verbindung mit der Sprache eines untersuchten Systems jedoch sehr aufschlussreich.9

frottement

Roland Barthes ist aus verschiedenen Gründen ein herausragender Autor,10 hier inter-essiert aber primär das Schreibverhalten, das er je nach Phase (i.e. Erkenntnisstand) und Gegenstand aktiviert. Die Kritiker, die in Barthes einen Nichtwissenschaftler sehen, haben ihn schlicht nicht verstanden, denn es ist gerade die Variabilität11 seines Schreibens, die einer wie auch immer gearteten12 Inkongruenz zwischen Objekt und Sprache Rechnung trägt.

Die Unvereinbarkeit wird gerade nicht als Problem, sondern als fruchtbares frottement zweier Systeme erachtet. So wie die Reibung Grundlage der Zeugung säugetierischen Le-bens ist, so auch der Zeugung eines dialektisch zwischen den beiden Systemen vermitteln-den Sinns.13 Barthes macht − wie Schlegel und andere zuvor − aus der Not eine Tugend.

Vier Texte aus 1957, 1965, 1966 und 1978 zu unterschiedlichen Schwerpunkten (Mytholo-gie, Semiologie, Literaturkritik und Wissenschaftsprogramm) sind in der Lage, exemplarisch aufzuzeigen, wie sich Barthes unterschiedlicher Annäherungen und Schreibweisen bedient: einerseits sind synchrone, intratextuelle Auffälligkeiten, andererseits diachrone, sozusagen schreibgenetische Veränderungen feststellbar. Diese sollen im folgenden diskutiert werden…

Mythologies Éléments de Sémiologie Critique et Vérité Leçon

In Mythologies teilt Barthes seinen Text auf in zwei Sektoren, die Sprachen, die dabei in-volviert sind, in vier Ebenen. Der erste Teil beinhaltet die Analysen verschiedener kulturel-ler, codierter oder scheinbar uncodierter Texte, der Mythen; der zweite Teil − wenn man so will − die Analyse der Analysen. Da bereits die Mythen auf zwei Ebenen wirksam sind, die Analysen derselben eine dritte einführen, benötigt die Analyse der Analysen eine vier-te Ebene:

8 gr. para für neben, ausserhalb: ein jenseitiges Problem9 vgl. Einsteins Gehirn in: Barthes, Roland: Mythendes Alltags. Berlin: Suhrkamp Verlag. 2010. S. 118-120.10 natürlich auch ein ebensolcher Denker, Strukturalist etc. Es geht in hier enstehendem Aufsatz jedoch um seine écriture, also um

Barthes' Sprachmöglichkeit oder -freiheit in Anbetracht der Problematik von Objekt- und Metasprache. 11 und nicht etwa Flexibilität, die aufgrund von Druck sich verbiegen lässt.12 ontologisch, phänomenologisch, epistemologisch…13 In einem weiteren Gedanken zu Barthes' Variabilität versetzt er den Leser in die Position des Wissenschaftlers, der keine Plattheit

vorfindet, sondern Widerspruch, Unvereinbarkeit. So performieren beide − Autor und Leser − das nach Barthes notwendige Oszillieren zwischen den inkongruenten Systemen: jeglicher doxa wird damit der Riegel geschoben.

4. Ebene: Metametametasprache in Der Mythos heute ↓3. Ebene: Metametasprache in Mythen des Alltags ↓2. Ebene: Metasprache des Mythos → Konnotationssystem in Éléments de Sémiologie ↓ 1. Ebene: Objektsprache

Das Vokabular wird sich mit Éléments de Sémiologie anpassen respektive differenzieren: Wo in Mythologies beide, die Sprache des Mythos und die Sprache des Mythologen, als Metasprache bezeichnet werden, wird Barthes das Prinzip der mythischen Metasprache in Éléments de Sémiologie nach Hjelmslev als Konnotationssystem bezeichnen. In Mytho-logies findet diese terminologische Differenzierung noch nicht statt, die Sprache des Ob-jekts und die Sprache des Analytikers heissen zumindest noch gleich, auch wenn sie einen unterschiedliche n Aufbau haben.

Barthes' Metasprache funktioniert als Umkodierung der Umkodierung, die die Metaspra-che des Mythos an ihrem Objekt vornimmt; d.h. sie wiederholt den Mechanismus der Mythifizierung.14 Damit erreicht seine Schreibweise eine doppelte Funktion: einerseits re-produzieren die Beschreibungen15 die Funktionsweise der Mythen, andererseits mythisie-ren sie diese. Denn − die Ideologiekritik ist in Mythologies deutlich als zentrale Motivation spürbar − das Anliegen Barthes' liegt in der Entdeckung der und im Widerstand gegen die Mythen: der Mythos als "gestohlene Sprache" muss selber gestohlen werden: wenn die Reversibilisierung der Umkodierung (durch den Mythos) nicht möglich ist, so soll der My-thos selber seiner Wirkung ausgesetzt werden und seinerseits umkodiert, mythologisiert werden.16 Mit seinen eigenen Konnotierungen legt Barthes die Konnotationen der My-then frei, die zweite und die dritte Sprachebene (vgl. obige Grafik) nähern sich einander an.

Mit der vierten Sprachebene, die den Abschnitt "Der Mythos heute" schreibt, distanziert sich Barthes von der partiellen Verschmelzung der zweiten Ebene der Mythenschreibung und der dritten Ebene der Mythenbeschreibung und verfasst eine Mythenbeschreibungs-beschreibung oder eben die Metametametaebene. Das tönt komplizierter, als es ist…

In seinem Versuch, die Mythenbeschreibung oder die Mythologie wissenschaftlich zu fun-dieren, findet eine interessante (und bezeichnende) Gegenläufigkeit statt: einerseits be-tont Barthes die Kultürlichkeit seiner Arbeit, ein Attribut, die dem Mythos in seiner künst-lichen Vernaturalisierungstendenz entgegenwirkt, andererseits verfällt Barthes17 selber dem Mythos, wenn er die Kulturanalyse verlässt und eine Ideologiekritik durchführt, wel-che die (politische) Rechtsposition des Mythos ihrerseits als quasi naturgegeben definiert. Was Barthes damit gemeint haben mag, ist hier nicht von Belang. Was aber auffällt, zeigt sich im Sprung von Mythologies zu Éléments de Sémiologie: eine deutliche Zuwendung zur wissenschaftlichen Diktion…

14 das ist genau dieselbe Herangehensweise, die sich Schlegel auch nutzbar macht, und der spätere Barthes in Critique et Vérité und Leçon auch wählen wird.

15 ein sehr schönes Beispiel gibt "Der neue Citroën" ab.16 es ist auch hier wieder dieselbe Vorgehensweise wie F. Schlegels in "Über die Unverständlichkeit", es gibt einen volksmundigen

Ausdruck dafür: "jemanden mit seinen eigenen Waffen schlagen".17 Barthes, Roland: Mythen des Alltags. Frankfurt am Main: Suhrkam. 2003. Ab Seite 228.

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Mythologies Éléments de Sémiologie Critique et Vérité Leçon

Die Éléments de Sémiologie nehmen die strukturalistische Herangehensweise der Mytho-logies auf und formulieren die Vision einer Semiologie aller zeichenhaften Systeme. Dabei kehrt Barthes die saussuresche Hierarchie zwischen Linguistik und Semiologie um und unterstellt diese jener. Damit errichtet er eine Vortheorie, die wahrscheinlich mit lingu-istischen Methoden18 arbeiten können wird. Der Text selber ist wie der (in Dichotomien eingeteilte) Aufbau streng wissenschaftlich, abstrakt und akzeptiert die methodologischen Leerstellen, die aus epistemologischen resultieren.

Die Metasprache teilt er nun auf in ein Konnotationssystem und in die Wissenschaftsse-miotik. Das Konnotationssystem als zweite Ebene bedient sich des gesamten Zeichens der Objektsprache und fügt es bei sich an der Stelle des Signifiants ein. Die Wissenschafts-semiotik dagegen setzt das Zeichen der Objektsprache an den Platz seines Signifiés. Die Mythen in Mythologies funktionieren nach dem Verfahren des Konnotationssystems, der wissenschaftliche Teil der Mythologies, Mythologie heute, stellt eine wissenschaftssemio-tische Beschreibung dar.

Widerstand der Sprache gegen die dichotomische Kategorisierung

Besonders interessant sind diejenigen Überlegungen, die die rechtwinklige Anordnung von Syntagma und Paradigma hinter-fragen.19 Denn es scheint bei der Neutralisierung und der Übertretung das Verlangen der Sprache zu geben, sich nicht zwischen Syntagma und Paradigma, zwischen parole und langue entscheiden zu müssen.20

Die Übertretung bezeichnet das Phänomen, in dessen Verlauf sich ein bestimmtes Para-digma zu einem Syntagma wandelt.21 Sie ermöglicht schöpferische Phänomene, "so als gäbe es vielleicht eine Verbindung zwischen der Ästhetik und den Verdunklungen des se-mantischen Systems."22

Die umgekehrte Beeinflussung wirkt sich in der Neutralisierung aus: eine relevante Op-position verliert im Einfluss des Kontextes, des Syntagmas, welches das Paradigma auf-hebt, ihre Relevanz.23 "Sehr allgemein gesagt, stellt die Neutralisierung eine Art Druck des Syntagmas auf das System [Paradigma] dar, und man weiss, dass das Syntagma, das dem Sprechen nahesteht, ein Faktor der »Verdunkelung« des Sinns ist; die stärksten Systeme (wie die Strassenverkehrsordnung) haben arme Syntagmata [diskontinuierlich, "löchrig"];

18 die linguistisch-strukturalistische Tätigkeit untersucht die beiden menschlichen Grundoperationen der syntagmatischen Segmen-tierung und der paradigmatischen Klassifizierung; dabei spielt der Binarismus eine entscheidende (und fragwürdige oder besser unangenehme) Rolle, die in späteren, literaturtheoretischen Werken mehr und mehr kritisiert werden wird.

19 mit dem Verb "hinter-fragen" frage ich nach der Möglichkeit einer dritten, strukturalistischen Dimension.20 vgl. Le Neutre21 z.B. wenn man der relevanten (paradigmatischen) Opposition weise/Wiese den paradigmatischen Oppositionsstrich entfernt und

so das neue Syntagma weise Wiese (auch wenn unsinnig) produziert.22 Barthes, Roland: Elemente der Semiologie. Frankfurt am Main: Suhrkamp. 1983. S. 72.23 z.B. Emanzipation der Arbeiter ≈ Emanzipation der Massen ≈ Emanzipation des Proletariats.

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die grossen syntagmatischen Komplexe (wie das Bild) haben die Tendenz, den Sinn zweideu-tig zu machen."24

Gibt es tatsächlich einen Widerstand der Sprache gegen die klare Zuteilung in Syntagma und Paradigma, parole und langue, so verwundert es nicht, wenn sich ähnliches auf der Ebene von Denotation und Konnotation, Signifiant und Signifié abspielt. Dies bedeutet jedoch nicht, dass sich Objekt- und Metasprache dieser Verweigerung anschlössen, denn diese sind nicht mit jenen gleichzusetzen, und die Einteilung in Objekt- und Metasprache ist eine vorgängige. Es liegt aber auf der Hand, dass Éléments de Sémiologie als wissen-schaftlichster Text dieses Quartetts eine enge Verknüpfung zwischen linguistischen Kate-gorien und Semantizität vorschlägt.

Wo die Éléments de Sémiologie in ihrer Diktion theoretisch auf eine Übertretungsnotwen-digkeit hinweisen, findet sich die Explikation, wie eine solche Übertretung gestaltet sein kann, in Critique et Vérité…

Mythologies Éléments de Sémiologie Critique et Vérité Leçon

Critique et Vérité ist ein Frontalangriff auf die "ancienne critique", die an obigen Werken an-schliesst und Barthes' Antrittsvorlesung am Collège de France Leçon vorbereitet. Die Me-tasprache wird nun in Zweifel gezogen und im Hinblick auf die Literatur negiert. Barthes wirft nun der traditionellen Kritik die Besetzung einer solchen vor. Damit nehme sie eine Position ein, aus der sie von oben herab über literarische Werke urteilen zu können glau-be.25 Diese distanzierte Haltung führe aus zwei Gründen nicht ans erwünschte Ziel:

1. seien die Kriterien (Stil, Geschmack, Klarheit etc.) willkürlich (und dabei quasi mythologi-siert: sie gelten als unumstösslich, naturgegeben); doch Willkür ist noch nicht das ganze Problem, der Irrtum der "ancien critique" ist viel basaler, er liegt nicht in der falschen Wahl der Kriterien begründet, sondern im Glauben, wählen zu können: Sprache bietet dem Kritiker jedoch eine solche Wahl nicht. Eine eindeutige Verortung relativ zum Werk führt zur Denotierung desselben; das heisst, die Literaturkritik unterbindet die interpre-tatorische Mannigfaltigkeit und lässt das Werk erstarren.26

2. näherten sich die Schriftsteller der Moderne einer écriture an, die die Bedingungen der Literatur (Selbstreferenzialität) thematisiere und so die Differentialität zwischen Litera-tur und Kritik aufhebe: "Il n'y a plus ni poètes ni romancier : il n'y a plus qu'une écriture."27

24 Barthes, Roland: Elemente der Semiologie. Frankfurt am Main: Suhrkamp. 1983. S. 71.25 Der ideologische Aspekt ist eine erste Verbindung zu Mythologies und zu Leçon. 26 diese Erstarrung erinnert an das erstarrte Syntagma, das zum Paradigma verkommt und so die Kombinatorizität sprachlicher

Zeichen einschränkt.27 Barthes, Roland: Critique et Vérité. Paris: Editions du Seuil 1966. S. 46.

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Die moderne Literatur betreibe also die berechtigte, notwendige Nivellierung zwischen Werk und Kommentar: dies kommt einem Streben der Objektsprache (Literatur aus der Perspektive der Literaturwissenschaft) nach gleichzeitiger Metasprachlichkeit gleich, wo-mit die Metasprache ihren Status verliere. Um dieser Entwicklung gerecht zu werden (und den Konsequenzen der unter 1. erwähnten Fehleinschätzungen auszuweichen), müsse sich der Kritiker (als Nutzher der Metasprache im Sinne der Wissenschaftssemiotik aus Éléments de Sémiologie) der Literatur annähern.

Das Werk und seine Offenheit

Der Schriftsteller definiert sich über sein problembehaftetes Verhältnis zur Sprache: "Est écrivain celui pour qui le langage fait problème, qui en éprouve la profondeur."28 Das kann

− und soll − auch der Kritiker sein. Die Interpretation eines Werks unterliegt verschiede-nen Strömungen, das Werk an sich ist ein selbständiges und offenes; es besitzt strukturell bedingt mehrere Bedeutungen, und diese Bedeutungsvielfalt ist das Symbolische eines Kunstwerks. Der Akt der Lektüre baut auf den "[in]certitudes du langage"29 auf. Die Lin-guistik ersetzt deshalb die Philologie als Interpretantin, welche einsinnig liest, mit ihrem Konzept der Konnotation et al. Fällt die Philologie als Wegweiser weg, so ist Literatur das, was sie ausmacht: sie ist von keinem Kontext "geschützt"30 und kanonisiert.

Nun stellt die Lektüre ebenfalls einen Kontext dar, doch findet sie das Werk nicht vor, son-dern setzt es − die syntagmatische Spur der Symbole − zusammen. Die Lektüre kann auf zwei Arten erfolgen: 1. sie erfasst als "science de la littérature (ou de l'écriture)" die Vielfalt der Bedeutungen eines Werks und 2. als "critique" auf eigene Gefahr31 eine einzige, spezi-elle Bedeutung. Die "critique", die auf einen einzigen Sinn zielt, kann geschrieben werden oder stumm erfolgen, weshalb von der Tätigkeit des Kritikers (der ja schreiben muss) die-jenige der libidinösen Verschmelzung des Lesers mit der écriture des Werks unterschieden werden muss: "la lecture".32

Science de la Littérature

Literaturwissenschaft wird keine Wissenschaft der Inhalte sein können, sondern der Be-dingungen des Inhalts, also der Formen; sie wird nicht Symbole, sondern deren Poliva-lenz beschreiben: nicht die erfüllten Bedeutungen, sondern die leere Bedeutung werden strukturalistisch33 untersucht. Die Linguistik soll diese Arbeit übernehmen und ein Be-schreibungsmodell der literarischen Sätze erstellen34 mit dem Ziel, die Akzeptierbarkeit

28 Barthes, Roland: Critique et Vérité. Paris: Éditions du Seuil. 1966. S. 46. 29 Barthes, Roland: Critique et Vérité. Paris: Éditions du Seuil. 1966. S. 52.30 Wohlstandsverwahrlosung31 lat. discrimen, -inis: Unterscheidung, Gefahr.32 die Lektüre als individuelle, nicht vermittelnde Interpretation werde ich in diesem Text nicht mehr berücksichtigen.33 der Begriff des Strukturalismus ist von zentraler Bedeutung in Barthes' Philologiekonzept: dieser untersucht die Struktur, das

"mechanische" Zusammenarbeiten der Symbole, er erkennt den Wert (als Differential der Symbole), und nicht die Bedeutung (als Relation von Signifiant und Signifié)

34 die Linguistik beschreibt die Grammatikalität der Sätze, nicht deren Bedeutung.

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(oder Grammatikalität), und nicht die Bedeutung von literarischen Werken zu beschrei-ben. Nochmals: Symbole sind keine Träger von Bedeutung, sie sind die leeren Formen, die uns gestatten, zu sprechen. Die Objektivität der Literaturwissenschaft bezieht sich auf das Intelligible, das Verständliche eines Werks, also darauf, wie Bedeutung zustande kommt, nicht welche.

Kritik

Die Kritik bringt Bedeutung hervor, sie gibt der rein lesenden Rede [parole, dem Syntag-matischen] eine Sprache [langue, also ein Paradigma]: "Le critique dédouble les sens, il fait flotter au-dessus du premier langage [parole?] de l'œuvre un second langage, c'est-à-dire une cohérence de signes."35

Die drei Notwendigkeiten der Kritik

Barthes stellt explizit eine Liste in Aussicht, die er aber nicht als solche nachliefert:36

1. Alles im Werk ist bedeutungsvoll. Die linguistische Exhaustionsregel besagt, dass alle Elemente erschöpfend dargestellt werden müssen; dasselbe gilt für die Kritik. Häufigkeit (Quantität) ist für den Sinn nicht von Belang: Bedeutung entsteht strukturalistisch durch Differenz (Qualität).

2. Die Logik der Symbole37 verhindert das "Delirium" der écriture des Kritikers, sie unter-sucht Symbolketten und -funktionen, wie sie Rhetorik und Psychoanalyse untersuchen: Substitution (Metapher), Auslassung (Ellipse), Verdichtung (Homonymie), Verschiebung (Metonymie), Leugnen (Antiphrase, z.B. schöne Bescherung). Diese Kategorien stellen regelhafte, und keine willkürlichen Umwandlungen dar. Symbolketten (Vogel-Nest-Fa-milie-…) liefern einen Hinweis auf grosse Sinnzusammenhänge.

3. Der Autor erfährt die Welt, der Kritiker das Buch: Buch=Welt. Daraus folgt eine Gleich-heit des Sprechens beider in bezug auf ihr Objekt. Eine geordnete Subjektivität, welche die Logik der Symbole respektiert und sich aus ihr schöpft, ist allemal besser als eine ungeschulte Objektivität,38 die sich unreflexiv hinter der Buchstäblichkeit (Denotation) verschanzt wie hinter etwas Natürlichem (Mythologischem).

Die wissenschaftliche Subjekt-Objekt-Relation muss aufgegeben werden zugunsten einer kritischen Subjekt-Prädikat-Relation; anders gesagt (wenn man denn der wissenschaftli-chen Teilung treu bleiben möchte): nicht das untersuchte Werk ist das Objekt des kriti-

35 Barthes, Roland: Critique et Vérité. Paris: Éditions du Seuil. 1966. S. 64.36 eine kleine Bemerkung zur Auflösung der Dichotomie wissenschaftlich vs. literarisch auf formaler Ebene.37 wie sie z.B. die Psychoanalyse und der Strukturalismus erörtern.38 um eine solche handelt es sich bei der "ancienne critique", wenn man Barthes' Widerlegungen dieser im ersten Teil von Critique

et Vérité liest.

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schen Subjekts, sondern dessen eigene écriture, "le sens dédoublé", also die écriture des Kritikers, welche die écriture des Werks anamorphisch39 verdoppelt. Die Metasprache des Kritikers entwickelt sich damit in eine intrapersonelle Rede.

Das Subjekt (des Autors, des Kritikers) ist kein Erfülltes, die Relation zwischen Subjekt und écriture keine zwischen Inhalt und Ausdruck, keine "zwischen Signifié und Signifiant". Das Subjektive ist eine Leerstelle, die die écriture des Schriftstellers umschreibt.40 So gewen-det stellt die écriture das Subjekt dar im Prozess, diese Leere des Subjektiven zur Rede [pa-role] kommen zu lassen. Die Funktion des Symbols wiederum besteht darin, diese Leere des Ich zu bezeichnen. Die Kritik fördert das Symbol zutage, indem sie das Subjekt und die écriture vereint, "en sorte que la critique et l'œuvre disent toujours : je suis littérature."41

− die Kritik fördert paraphrasierend das Aufblühen der Symbole. Das Werk bleibt immer écriture, Subjekt, Absenz.

Der Kritiker stellt seine écriture dar, nicht das Werk (als Objekt). Diese Distanz ist das − so paradox verkehrt das tönen mag −, was dem Kritiker ermöglicht wird und was der Wis-senschaft fehlt: die Ironie. Die Ironie ist die Frage, welche der écriture durch die écriture gestellt wird. Es gibt eine Ironie der Symbole, ein Vorgehen, die écriture durch die Exzesse der écriture infrage zu stellen. Diese (barocke) Ironie ist das einzige, worauf der Kritiker sich verlassen kann, das ihm unmittelbar gegeben ist, also soll er sie nutzen.

Eine Sprache

Barthes thematisiert in Critique et Vérité eine Sprachposition, die sich deutlich von den bisherigen Zugängen zum Objekt unterscheidet. Die literaturkritische écriture fällt mit der literarischen écriture zusammen: beide bedienen sie sich ihrer leeren Symbole. Die écri-ture des Kritikers lässt sich auf diese ein und bringt sie in einen neuen Zusammenhang, wobei die Ironie der écriture das potentielle Delirieren42 in Schach halten. Barthes scheint damit die Konsequenzen aus der Einsicht zu ziehen, dass Wissenschaft, die Auslöschung des signierenden Subjekts, dem Spiel der Symbole und der Leere des Subjekts nicht ge-recht werden.

Mythologies Éléments de Sémiologie Critique et Vérité Leçon

Leçon ist der offenste der vier Texte. Einerseits liegt das an seiner Gattungszugehörigkeit,43 andererseits stellt er, ausgehend von einer Wissenschaftsbiographie, eine widerständleri-sche Vision des machtfreien Lernens und Lehrens in den akademischen Raum. Biographie,

39 einer Art schielenden Sehens.40 die Leerstelle folgt der epistemologischen Prämisse, dass nicht allesrestlos erkennbar sei. Vgl. dazu Amor Vacui, welche ich eben-

falls auf academia.edu hinterlegt habe.41 Barthes, Roland: Critique et Vérité. Paris: Éditions du Seuil. 1966. S. 71.42 dies als blosse Konzession der Philologie gegenüber; Symbole haben das Potential zum Delirium.43 Er ist die Transkription der Antrittsvorlesung am Collège de France vom 7.1.1977.

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das heisst: Subjektivität, Individualität; heisst auch: in der Gegenwart auf die Vergangen-heit zurückgreifen und in die Zukunft zu projizieren. Der Aspekt der Wissenschaft verweist auf den offenen, intellektuellen Weg, den Barthes über Jahrzehnte beschritten hat; un-verblümt benennt er die Leerstellen, die seinen bisherigen Angriffen getrotzt haben und die auch seine weitere Tätigkeit − vermehrt aber als Konstituenten seiner Methode − be-stimmen werden.

Leerstellen: epistemologische Widerstandsnester, sie perforieren das Wissen, machen es heterogen. Wo Barthes bereits in Critique et Vérité den etablierten Diskurs als besitzer-greifend anprangert und dessen Struktur untergräbt, erhöht er nun die Diskontinuität der Erkenntnis zu einem zentralen Anliegen: so, in seiner Uneindeutigkeit, verliert der Diskurs einen Teil seiner Wirkung: "Aussi, plus cet enseignement est-il libre, plus encore est-il néces-saire de se demander sous quelles conditions et selon quelles opérations le discours peut se dégager de tout vouloir-saisir."44

Ja, wie befreit man den Diskurs von seinem Potential, (politisch, ideologisch) über andere zu verfügen? Woher rührt Macht? Barthes erkennt nicht eine Macht, sondern eine Legion agiler Machterscheinungen, die nach dem Prinzip des Mythos funktioniert. Er schreibt: "La raison de cette endurance et de cette ubiquité, c'est que le pouvoir est le parasite d'un or-ganisme trans-social, lié à l'histoire entière de l'homme, et non pas seulement à son histoire politique, historique. Cet objet en quoi s'inscrit le pouvoir, de toute éternité humaine, c'est : le langage − ou pour être plus précis, son expression obligée : la langue."45

Sprache und Macht

Macht ist eine menschliche Konstante, une "éternité humaine" (der Mythosverdacht wird gleich entkräftet werden). Macht ist eine Struktur, welcher der Bemächtigte sich zu unter-werfen gezwungen ist. Macht hat sich in die Sprache eingeschrieben und wirkt aus ihr her-aus auf alle, da sich niemand ausserhalb der Sprache aufhalten kann. Macht ist das Signifié, das in verschiedenen und wechselnden Signifiants auftreten kann.

Betrachten wir Sprache [langue] als geschichtlich gewachsenes, soziales Phänomen, so kommt ihr − trotz Geschichtlichkeit − eine "éternité humaine" zu; sie ist dem Menschen als langage ein Attribut, das ihn weit mehr als andere Attribute definiert. Deshalb kann der Vorwurf der Mythologisierung vernachlässigt werden.

Die Macht der Sprache rührt von ihrer Struktur her: sie definiert streng und von vorher-ein, wie man über gewisse Verhalte spricht, sie ist "fasciste ; car le fascisme, ce n'est pas d'empêcher de dire, mais d'obliger à dire."46 Freiheit (der Zeichenkombinatorik) und Gefan-genschaft (in den Regeln der Struktur) bedingen sich in der Struktur der Sprache dialektisch,

44 Barthes, Roland: Leçon/Lektion. Antrittsvorlesung im Collège de France. Frankfurt am Main: Suhrkamp. 1980. S. 12. 45 Barthes, Roland: Leçon/Lektion. Antrittsvorlesung im Collège de France. Frankfurt am Main: Suhrkamp. 1980. S. 16.46 Barthes, Roland: Leçon/Lektion. Antrittsvorlesung im Collège de France. Frankfurt am Main: Suhrkamp. 1980. S. 18.

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der Kompromiss ist die Stereotypie als Konkretisierung einer Konventionalisierung (vgl. das erstarrte Syntagma > Paradigma). Verständigung und Unfreiheit verhalten sich offenbar so, wie es das Signifiant und das Signifié tun: sie sind nicht unabhängig voneinander denkbar.

All diese Überlegungen sind in bezug auf die écriture Barthes' zentral, denn sie vereinen verschiedene seiner Fokusse: Unnahbarkeit des Gegenstandes, Unvollständigkeit der Er-kenntnis/Vermittlung, Auflehnung gegen jedwelcher Art von Einschränkung/Zwang. Sozu-sagen als Vermächtnis kombiniert Barthes in Leçon die drei oben in Beziehung gebrachten Werke zu einer Synthese: die Eindämmung des Eindämmenden erfolgt wie bei den Mytho-logies; das theoretische Fundament entspricht demjenigen der Éléments de Sémiologie; die pragmatischen Konsequenzen ähneln denjenigen in Critique et Vérité:

Sprache vs. Sprache

"Il ne reste, si je puis dire, qu'à tricher avec la langue, qu'à tricher la langue [!]. Cette tricherie salutaire, cette esquive, ce leurre magnifique, qui permet d'entendre la langue hors-pouvoir, dans la splendeut d'une révolution permanente de langage [!], je l'appelle pour ma part : littérature."47

Literatur kann in Barthes' Verständnis − erinnern wir uns an Critique et Vérité − keinen kanonischen Korpus darstellen, er nennt Literatur einfach: "la pratique d'écrire",48 und eine derart offene Formulierung beinhaltet eben die literaturwissenschaftliche Schreibweise auch.

Die Literatur weiss nichts, aber sie weiss von allem; sie entspringt der fortwährenden In-kongruenz zwischen Leben und Wissenschaft − Objekt- und Metasprache: "De ce qu'il n'y a point de parallélisme entre le réel et le langage, les hommes ne prennent pas leur parti, et c'est ce refus, peut-être aussi vieux que le langage lui-même, qui produit, dans un affaire-ment incessant, la littérature."49

47 Barthes, Roland: Leçon/Lektion. Antrittsvorlesung im Collège de France. Frankfurt am Main: Suhrkamp. 1980. S. 20, f.48 Barthes, Roland: Leçon/Lektion. Antrittsvorlesung im Collège de France. Frankfurt am Main: Suhrkamp. 1980. S. 24.49 Barthes, Roland: Leçon/Lektion. Antrittsvorlesung im Collège de France. Frankfurt am Main: Suhrkamp. 1980. S. 32.

Mythologies:die Funktion des Untersuchungsgegenstandes wird gegen diesen eingesetzt

Éléments de Sémiologie:bietet das theoretische Fundament zur Analyse der Struktur des Problems

Leçon:Befreiung vom sprachlichen Diskurs, Abkehr vom Strukturalismus: Post-Strukturalismus?

Critique et Vérité:befreit die Objektsprache aus der Klammer der Metasprache, verbindet Objekt- und Metasprache

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Literatur macht sich also gerade den Umstand, dass keine absolute Darstellung möglich ist, zunutze und hält so den reduktionistischen und mythologischen Welterklärungsversu-chen Alternativen vor Augen: eine solche Annäherung an den Untersuchungsgegenstand ist dieselbe, die Barthes im Verlauf seiner Forschung immer mehr und mehr herausbildet und praktiziert.50 In dieser Entwicklung fallen Objekt- und Metasprache asymptotisch zu-sammen: eine vollständige Deckung ist nicht erreichbar, die versuchende Tätigkeit jedoch ist das, was der Deckung am nächsten kommt.

Eine weitere Entwicklung, die Barthes' Literaturauffassung und seine eigene écriture in ein enges Verhältnis zueinander bringt, ist die Unterscheidung zwischen wissenschaftlichem und literarischem Schreiben: das Subjektive. Obschon wissenschaftliche Texte von Indivi-duen verfasst werden, haben sie die Tendenz, das sprechende Subjekt zu verhüllen (eine Form der Mythologisierung). Die Literatur hingegen weist auf das schreibende Subjekt und dessen Individualität hin. Es ist auffällig, wie Barthes die Offenlegung seiner Autorschaft, seiner subjektiven Herangehensweise forciert.

Da Literatur ebenfalls in der Lage ist, einen Diskurs zu etablieren, bedarf sie gewisser Vor-sichtsmassnahmen. Einerseits soll sie sich versteifen − "s'entêter" −, andererseits sich fort-bewegen − "se déplacer". Die Versteifung ermöglicht es ihr, sich nicht auf andere Diskurse einzulassen; die Fortbewegung stellt sicher, dass der Schreibende nie da ist, wo man ihn sucht.51

Das Abenteuer des Subjekts

Sich fortbewegen… Die Semiologie ereilt dasselbe Schicksal, das Barthes dem Mythos wünscht: die Verwandlung ihrer Tätigkeit in ihr Sein. Die Semiologie beweist sich zwar als probates Mittel, Macht zu enthüllen, tritt damit jedoch selber eine Machtposition an: "on se glorifiait de faire apparaître ce qui avait été écrasé, sans voir ce que, par là, on écrai-sait ailleurs."52 Wie die Literatur benötigt die Semiologie einen Schutzmechanismus; einen Schutz vor sich selber!

Zwischen Objektsprache und Objektsprache

Die Semiologie kann − nun formuliert Barthes, was sich schon länger zwischenzeilig, also unwissenschaftlich angekündigt hat − keine Metasprache sein! Eine solche Phantasie im-plizierte ein Ausserhalb der Sprache, das es nicht gibt, wie auch Derrida weiss: "il n'y a pas de hors-texte."53 Barthes widerspricht sich damit explizit selber, schauen wir auf die My-thologies und die Éléments de Sémiologie zurück, welche im Gegensatz zu Critique et Vérité eine Metasprache postulieren. Das bedeutet für die objektivierte Wissenschaft, dass ihre

50 vgl. die Mythologisierung des Mythos und die Literarisierung der Kritik.51 ein kontinuierliches Alibi52 Barthes, Roland: Leçon/Lektion. Antrittsvorlesung im Collège de France. Frankfurt am Main: Suhrkamp. 1980. S. 50.53 Derrida, Jacques: De la Grammatologie. Paris: Éditions de Minuit. 1967. S. 158, f.

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Metasprachlichkeit eine vermeintliche ist.

Es stellt sich die Frage, wieso eine Metasprache ausserhalb sein und nicht einer Sukzessi-vität folgen soll. Das Konzept des saussureschen Zeichens, das zum Signifiant (Konnota-tionssystem) oder Signifié (Wissenschaftssemiotik) eines weiteren Begriffs wird, verlangt keine para-doxa, kein sprachliches, kein theoretisches Jenseits. Wenn Barthes also ein

"Innerhalb" der Sprache und ein "Ausserhalb" der Sprache, das es (das Ausserhalb) nicht geben kann, verweist er auf eine unipolare Dichotomie. --->

Die Semiologie kann demzufolge ihren früheren Anspruch als metasprachliches Werkzeug nicht einlösen, sie kann den Wissenschaften dienen, aber bloss als Variable, denn: "c'est même précisement lorsque la sémiologie veut être une grille qu'elle ne soulève rien du tout."54 Semiologie ist eine Fiktion, wie alle wissenschaftlichen Annäherungen an die Reali-tät, und wird wie diese von der Geschichte entsorgt werden.

Barthes' Wissenschaftsverständnis ist von einem einzigartigen Grossmut, seine Tätigkeit ist − analog der modernen Literatur − zutiefst selbstreferenziell, die fortwährende Infrage-stellung der Theorie lässt diese zu einer variablen, aufmerksamen Lehre wachsen.

Leçon beschreibt die Ankunft eines Wissenschaftlers in der engagiertesten Unaufgeregt-heit, das selbstbestimmte Privileg, sich durch nichts anderes einschränken zu lassen als durch die Ironie der eigenen Symbole, welche die eigene écriture mit der untersuchten écriture in ein synthetisches, unabschliessbares Korrekturverfahren schickt. So erhält er einen erweiterten und angemessenen Zugang zu dem, was er untersucht. Die Schluss-formel, die einem Gedanken des produktiven Vergessens folgt, klingt philosophisch nach:

"Sapientia : nul pouvoir, un peu de savoir, un peu de sagesse, et le plus de saveur possible."55

Das Alibi des Wissenschaftlers

Wie gewisse linguistische Phänomene eine klare Zuordnung zu den Dichotomien Syntag-ma vs. Paradigma und parole vs. langue zu verweigern scheinen, widersetzt sich Barthes' écriture der klaren Verortung innerhalb einer Wissenschaftlichkeit: sie versteift sich und sie bewegt sich; sie ist − mit jedem neuen Text − nie da, wo sie vorher auch schon nicht ge-wesen ist. Seine écriture ist eine Operation, die nicht mathematisch beschrieben werden kann, denn sie mündet fortzu in einer ständigen, absichtlich unvorhersehbaren Bewegung.

54 Barthes, Roland: Leçon/Lektion. Antrittsvorlesung im Collège de France. Frankfurt am Main: Suhrkamp. 1980. S. 58.55 Barthes, Roland: Leçon/Lektion. Antrittsvorlesung im Collège de France. Frankfurt am Main: Suhrkamp. 1980. S. 70.