Zur Konventionalität der Minnerede. Eine Skizze am Beispiel von des Elenden Knaben...

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Ludger Lieb (Dresden) und Peter Strohschneider (München) Zur Konventionalität der Minnerede Eine Skizze am Beispiel von des Elenden Knaben >Minnegericht< I Man kann die Ausdrücke >Konvention< oder >Konventionalität< als normative Begriffe in solchen Kunstdebatten benützen, in denen es >vor< jeder historischen Rekonstruktion immer schon um ein abschließendes ästhetisches Urteil geht. Produktiver scheint es allerdings, die genannten Begriffe vielmehr im Hinblick auf analytische Aufschlußkraft angesichts begrenzter historischer Materialfelder zu formulieren, und zu diesem Zweck mag es sich zunächst empfehlen, >Kon- vention< und >Konventionalität< für Handlungen zu reservieren: Konventionen regulieren Handlungen, als konventionell bezeichnet werden Handlungen - äs- thetische Handlungen und auch sprachlich verfaßte durchaus nicht ausge- schlossen. Demgemäß sollen in dieser Skizze Texte als Handlungen aufgefaßt werden, genauer: »als Manifestationen historisch spezifischer, also in situative Handlungskontexte eingelassener Kommunikationen.« 1 Unter dieser Voraus- setzung läßt sich sodann für eine erste Explikation des Leitbegriffs dieser Skizze von einer auch im alltäglichen Wortgebrauch sedimentierten Bestimmung aus- gehen: Jede Konvention und alle Konventionalität hat etwas mit >Wiederholung< zu tun. Wiederum im Rekurs auf die Alltagssprache mag man überdies den Umkehrschluß ausschließen: Nicht jede Wiederholung folgt schon den Bestim- mungen einer Konvention und wäre in diesem Sinne konventionell zu nennen. Wer von konventioneller Wiederholung, von der Repetitivität des Konventio- nellen spricht, sagt gewissermaßen >mehr< (und anderes) als mit dem Ausdruck >Wiederholung< allein. Was aber sagt er >mehr<, und wie werden aus Handlungs- wiederholungen Konventionen? Handlungen können wiederholt werden: 2 Ich kann am Montag Spazierenge- hen und am Mittwoch wieder, und es scheint selbstverständlich, daß der eine 1 Peter Strohschneider, Situationen des Textes. Okkasionelle Bemerkungen zur >New Philologys in: ZfdPh n 6 (i997), Sonderheft, S. 62-86, hier: 66; vgl. auch unten S. 120. 2 Wir gehen im folgenden, wenn auch sehr viel knapper, so doch im Prinzip ähnlich vor wie z. B. Peter L. Berger und Thomas Luckmann, Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie, mit einer Einleitung zur deut- schen Ausgabe von Helmuth Plessncr, übersetzt von Monika Plessner, 5. Aufl., Frank- furt a. M. 1977, S. 23ff. und S. 6off, oder David Lewis, Konventionen. Eine sprach- philosophische Abhandlung, aus dem Amerikanischen übersetzt von Roland Posner und Detlef Wenzel, Berlin/New York 1975, S. 3 jff.

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Ludger Lieb (Dresden) und Peter Strohschneider (München)

Zur Konventionalität der Minnerede

Eine Skizze am Beispiel von des Elenden Knaben >Minnegericht<

I

Man kann die Ausdrücke >Konvention< oder >Konventionalität< als normative Begriffe in solchen Kunstdebatten benützen, in denen es >vor< jeder historischen Rekonstruktion immer schon um ein abschließendes ästhetisches Urteil geht. Produktiver scheint es allerdings, die genannten Begriffe vielmehr im Hinblick auf analytische Aufschlußkraft angesichts begrenzter historischer Materialfelder zu formulieren, und zu diesem Zweck mag es sich zunächst empfehlen, >Kon-vention< und >Konventionalität< für Handlungen zu reservieren: Konventionen regulieren Handlungen, als konventionell bezeichnet werden Handlungen - äs-thetische Handlungen und auch sprachlich verfaßte durchaus nicht ausge-schlossen. Demgemäß sollen in dieser Skizze Texte als Handlungen aufgefaßt werden, genauer: »als Manifestationen historisch spezifischer, also in situative Handlungskontexte eingelassener Kommunikationen.«1 Unter dieser Voraus-setzung läßt sich sodann für eine erste Explikation des Leitbegriffs dieser Skizze von einer auch im alltäglichen Wortgebrauch sedimentierten Bestimmung aus-gehen: Jede Konvention und alle Konventionalität hat etwas mit >Wiederholung< zu tun. Wiederum im Rekurs auf die Alltagssprache mag man überdies den Umkehrschluß ausschließen: Nicht jede Wiederholung folgt schon den Bestim-mungen einer Konvention und wäre in diesem Sinne konventionell zu nennen. Wer von konventioneller Wiederholung, von der Repetitivität des Konventio-nellen spricht, sagt gewissermaßen >mehr< (und anderes) als mit dem Ausdruck >Wiederholung< allein. Was aber sagt er >mehr<, und wie werden aus Handlungs-wiederholungen Konventionen?

Handlungen können wiederholt werden:2 Ich kann am Montag Spazierenge-hen und am Mittwoch wieder, und es scheint selbstverständlich, daß der eine

1 Peter Strohschneider, Situationen des Textes. Okkasionelle Bemerkungen zur >New Philologys in: ZfdPh n 6 (i997), Sonderheft, S. 62-86, hier: 66; vgl. auch unten S. 120.

2 Wir gehen im folgenden, wenn auch sehr viel knapper, so doch im Prinzip ähnlich vor wie z. B. Peter L. Berger und Thomas Luckmann, Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie, mit einer Einleitung zur deut-schen Ausgabe von Helmuth Plessncr, übersetzt von Monika Plessner, 5. Aufl., Frank-furt a. M. 1977, S. 23ff. und S. 6off, oder David Lewis, Konventionen. Eine sprach-philosophische Abhandlung, aus dem Amerikanischen übersetzt von Roland Posner und Detlef Wenzel, Berlin/New York 1975, S. 3 j f f .

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Notiz
Lieb, Ludger: Zur Konventionalität der Minnerede. Eine Skizze am Beispiel von des Elenden Knaben ‚Minnegericht' [gemeinsam mit Peter Strohschneider]. In: Literatur und Wandmalerei II. Konventionalität und Konversation. Burgdorfer Colloquium 2001. Hg. von Eckart Conrad Lutz, Johanna Thali und René Wetzel. Tübingen: Niemeyer 2005, S. 109-138.

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Spaziergang den anderen in gewisser Weise wiederholt. Ebenso klar ist aber auch, daß die wiederholende Handlung und die wiederholte keineswegs iden-tisch sind: Ich ist im Verlauf der zwei Tage ein anderer geworden, die Welt hat sich in zahllosen Hinsichten verändert, und auch seine Schritte werden den Spaziergänger allenfalls im Ungefähren dorthin führen, wo er vorgestern schon war. Das Problem ist wohlbekannt und als eine Grundfrage der Philosophie von Heraklit über Soren Kierkegaard bis hin zu Gilles Deleuze immer wieder reflektiert worden: >Echte< Wiederholung kann es nicht geben: >Man kann nicht zweimal in denselben Fluß steigen.<3

Es ist aber freilich auch niemand gezwungen, >Wiederholung< - immer noch und wiederholt - als eine ontologische Kategorie zu verstehen, als Identitätsaus-druck. Man muß Repetitivität nicht als sozusagen substantielles Merkmal von Sachverhalten auffassen, sondern kann >Wiederholung< vielmehr als einen Beob-achtungs- oder Zuschreibungsbegriff konzipieren. Etwas als Wiederholung von etwas anderem zu beobachten, zu beschreiben, zu adressieren, dies heißt: Un-terscheidungen treffen und Selektionen vornehmen. Es heißt, die unabsehbare Fülle von Differenzen zwischen zwei Handlungen auszublenden und demge-genüber Partialidentitäten, punktuelle Ubereinstimmungen usw. zwischen ih-nen herauszuheben - zu selegieren - und auf diese Weise Bezugsetzungen zwi-schen Verschiedenem vorzunehmen, Ahnlichkeitsverhältnisse zu postulieren. Als Beobachtungsbegriff ermöglicht es der Ausdruck >Wiederholung<, verschie-dene Handlungen als gleiche, also das Differente als In-Differentes aufzufassen.4

Wiederholung ist ein Entdifferenzierungsausdruck.

II

Gehen wir einen Schritt weiter: Ich kann nicht allein am Montag und am Mitt-woch Spazierengehen, sondern auch am Samstag, oder vielleicht über Monate hin immer freitags, und so fort. Man kann zur immer gleichen Tageszeit stets ungefähr denselben Weg einschlagen. Man kann überdies sozusagen Generalent-scheidungen treffen - ein für alle Mal: Man kann sich entschließen, den Spazier-gang unabhängig von persönlichen Stimmungslagen oder den Veränderungen des Wetters vorzunehmen. Solcherart entsteht allmählich - schrittweise gewis-sermaßen was man eine Gewohnheit nennen mag oder Habitualisierung. »Jede Handlung, die man häufig wiederholt, verfestigt sich zu einem Modell, welches unter Einsparung von Kraft reproduziert werden kann [...]. Habitua-lisierung in diesem Sinne bedeutet, daß die betreffende Handlung auch in Zu-

3 Heraklit, Fragment 91, in: Die Fragmente der Vorsokratiker, griechisch und deutsch, Bd. 1-3, hg. v. Hermann Biels, 6. Aufl., hg. v. Walther Kranz, Berlin 1 9 5 B d . 1, S. 171.

4 Systematisch komplementär wäre etwa die im Anschluß an Niklas Luhmann weiter-entwickelte Konzeption von >Kultur< als Selbstbeobachtungsbegriff und Distinktions-formel bei Dirk Baecker, Wozu Kultur?, Berlin 2000, S. 33ff., 98ff. u. ö.

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kunft ebenso und mit eben der Einsparung von Kraft ausgeführt werden kann.«5 Wer jeden Sonntagmorgen spazierengeht, der wird nicht mehr sagen, er >wiederhole< wöchentlich einen lang zurückliegenden primordialen Sonntags-spaziergang. Er geht vielmehr >gewöhnlich< sonntags spazieren. Wiederholun-gen werden hier in gewisser Weise auf sich selbst angewandt: Man wiederholt sozusagen das Wiederholen, und dieserart werden Wiederholungen zu Ge-wohnheiten habitualisiert.

Solche Gewohnheiten setzen nicht voraus, daß das Ich sie gemeinsam mit einem Gegenüber oder doch mit Bezug auf einen anderen vollzöge (Ich putzt sich >gewöhnlich< morgens die Zähne). Hingegen ist es für sie charakteristisch, daß sie im Vollzug gerade nicht als Gewohnheiten objektiviert werden.6 Ihre völlig unverzichtbare Leistung ist es, von Entscheidungslasten zu befreien, also Fragen wie: >Ist mir eigentlich nach einem Spaziergang zumute? Und wenn ja: Wohin sollte ich denn gehen ?< gar nicht erst entstehen zu lassen. Diese Leistung aber beruht gerade darauf, daß Gewohnheiten sich - als Gewohnheiten - wie von selbst verstehen, daß nicht zum Gegenstand von Reflexion, Verhandlung, Entscheidung werden muß, was der Gewohnheit unterworfen ist. Erst wenn man aus dem Gewohnheitsmäßigen heraustritt, um es sozusagen >von außen< zu beobachten, wenn man also das Selbstverständliche in etwas transformiert, was dem Verstehen allererst aufgegeben ist, dann tritt am Gewohnheitsmäßigen ein situationsübergreifendes Handlungsmuster hervor, eine Regularität in ganz be-stimmten (selektiven) Hinsichten, welcher die eingewöhnte Handlung >wie von selbst< folgt. Was auf der Ebene einfacher Wiederholung jene Identitätsbehaup-tung ist, die ausblendet, wie viele Differenzen sie ausblenden muß und daß sie stets höchst partial gilt, das sind auf der Ebene von Gewohnheiten solche Re-gularitäten. Denn Gewohnheitshandeln ist nicht als ein Befolgen von Regeln zu verstehen, weil dem stets eine Entscheidung zur Regelanwendung vorausginge. Gewohnheiten sind nicht präskriptiv. Auch kommen sie nicht durch Setzung oder Beschluß zustande, wie bereits das Alltags wissen weiß: >Ich beschließe, ab sofort die Gewohnheit zu haben, sonntags spazieren zu gehen< wäre ein ganz unsinniger Satz. Gewohnheiten haben keinen fixierbaren Ursprung.7 Sie ent-

5 Berger und Luckmann, Die gesellschaftliche Konstruktion (Anm. 2), S. 5 6. 6 Dieser Aspekt ist in soziologischen und kulturanthropologischen Arbeiten immer

wieder hervorgehoben worden, z. B. bei Hans Paul Bahrdt, Grundformen sozialer Situationen. Eine kleine Grammatik des Alltagslebens, hg. v. Ulfert Herlyn, München 1996 (S. 133: Wenn gewohnheitsmäßiges Handeln abläuft, »wird die Tatsache der Ge-wohnheit gerade nicht objektiviert. [...] Der Horizont ist geschlossen. Unser Verhalten ist eindimensional«). Jan Assmann, Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, 2. Aufl., München 1997, S. 136, hat be-tont: Die »jeder kulturellen Formation von Haus aus eigene Tendenz, über die Kon-ventionalität und Kontingenz, d. h. die Auch-anders-Denkbarkeit ihrer Wirklichkeits-konstruktionen, den Schleier der Vergessenheit bzw. der Selbstverständlichkeit zu breiten, erklärt sich aus der natürlichen Kulturangewiesenheit des Menschen.«

7 »Daß ein Konventionssystem ein synchronisches Kraft- und Orientierungsfeld für

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stehen vielmehr evolutiv - sie emergieren und sie gehorchen der paradoxen Logik jenes Selbstverständlichen, das sich selbst gerade nicht versteht, sich viel-mehr verselbständigt.8 Wiederholungen kann man gegebenenfalls vereinbaren, das Gewohnheitsmäßige der Gewohnheit hingegen stellt sich ein - oder eben nicht.

III

Freilich gibt es nicht nur dort, wo Ich allein und für sich agiert, Handlungsre-gularitäten. Es gibt sie auch in Kommunikations- und Interaktionszusammen-hängen. Ich mag vielleicht wöchentlich Spazierengehen, wobei er regelmäßig auf eine junge Dame trifft, mit welcher immer wieder ein Gespräch entsteht, so daß beide alsbald - wiederum gewissermaßen wie von selbst - ihre Tage in der Weise einrichten, daß solche Begegnung zur Gewohnheit wird. Hierbei liegt dann allerdings ein Typus von Gewohnheit vor, der gegenüber dem eben skizzierten allgemeinen Begriff durch Zusatzbestimmungen spezifiziert ist und für den da-her ein gesonderter Ausdruck am Platze sein mag. Diese Zusatzbestimmungen haben alle damit zu tun, daß es sich nun um Handlungsregularitäten einer Kom-munikations-, und hier speziell einer Interaktionssituation handelt. Sozusagen >Träger< der Handlungsregularitäten ist jetzt nicht mehr ein einzelner, sondern ein Kollektiv - bestehe es einstweilen auch lediglich aus zwei Personen.9 Für dieses Sozium setzen die Handlungsregularitäten eine gewisse Kohärenz und Persistenz voraus, die sie zugleich stabilisieren und reproduzieren. Insofern sind sie reziprok und zugleich Phänomene zweiter Ordnung - sekundär nämlich im chronologischen wie systematischen Sinne. Für derartige Spezialfälle von Ge-wohnheiten soll im folgenden der Ausdruck >Konventionen< reserviert sein.

Weil Ich und Dame, Ego und Alter, in einer Folge vorangegangener Situatio-nen auf eine bestimmte Art und Weise gehandelt haben, erwarten sie als kon-ventionell Handelnde wie selbstverständlich in jeder neuen Situation, die sie zu dieser Folge rechnen, daß die Handlungen des je anderen erneut nach derselben Art und Weise ablaufen. Dieserart verbindet sich die konventionelle Handlung von Ego reziprok mit einer komplementären Handlung von Alter - schon min-destens dadurch nämlich, daß je der Eine die gewohnheitsmäßige Handlung des

menschliches Verhalten bildet, wird nur dadurch möglich, daß es fest und fraglos in der Tradition, im Herkommen und in der Sozialisation verankert ist und von dorther seine Legitimation erfährt« (Robert Weninger, Literarische Konventionen. Theoreti-sche Modelle. Historische Anwendung [Stauffenburg Colloquium 20], Tübingen 1994, S. 22).

8 Mit Heidegger gesagt: »Was uns als natürlich vorkommt, ist vermutlich nur das Ge-wöhnliche einer langen Gewohnheit, die das Ungewohnte, dem sie entsprungen, ver-gessen hat« (Martin Heidegger, Der Ursprung des Kunstwerks, mit einer Einführung von Hans-Georg Gadamer, Stuttgart i960, S. 16).

9 An einem ähnlichen Beispiel entwickelt auch Lewis, Konventionen (Anm. 2), S. 43, seinen Konventionsbegriff.

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jeweils Anderen als erwartbare Handlung billigt. Man kann demnach nie alleine konventionell handeln, sondern immer nur mit anderen. Und selbstverständlich: Der Mechanismus auf der Ebene komplementärer Erwartungen wiederholt sich auf derjenigen der Erwartungserwartungen, dann der von Erwartungen an Er-wartungserwartungen usw.10

Überdies ist unsere Modellsituation so angelegt, daß man sehen - und dann zu den typischen Merkmalen von Konventionen rechnen - kann, daß Erwar-tungsbrüche allenfalls schwach und sozial informell sanktionierbar sind. Was auch sollte Ich tun, oder: bei welcher Instanz sollte er Klage erheben, wenn die Dame eines Tages nicht mehr konventionell handelte, wenn sie nicht mehr zum gewohnten Treffpunkt käme oder das gewöhnlich sich einstellende Gespräch verweigerte? Mehr als die Mißbilligung des nicht-konventionellen Handelns bliebe dem Ich kaum. Es gibt keine Judikative der Konvention; allerdings kann durchaus schon die informelle Mißbilligung eines konventionswidrigen Verhal-tens durch die Gruppe für den einzelnen belastend, in einfachen Sozialsystemen auch existentiell bedrohlich sein. Lägen hingegen stärkere Sanktionsmöglich-keiten vor, gewönne die Handlungsregularität an gesteigerter präskriptiv-nor-mierender Kraft und an Explizitheit, würde aus der Regularität eine Regel und wäre diese zum Beispiel mit stabilisierten Rollenentwürfen und -hierarchien, mit Teilnahmekriterien ausgestattet, würden überdies ihre Prinzipien und Gel-tungsansprüche symbolisch zum Ausdruck gebracht, dann könnte man — je nachdem — von Bräuchen, von Gesetzen oder von Organisationen sprechen.

Dies kann hier auf sich beruhen. Es kommt zunächst allein darauf an, daß mit dem Ausdruck Konvention für reziproke und komplementäre Gewohnheits-gefüge eines Soziums Regulierungszusammenhänge sozusagen mittlerer Ebene in den Blick gerückt werden sollen: oberhalb von >einfachen< Handlungswie-derholungen und unterhalb von strukturierten und explizit präskriptiven oder prohibitiven Formen der Herstellung von Gleichförmigkeit, ErwartungsSicher-heit und Überschaubarkeit in sozialen Ordnungen. Den Ausdruck »Konventi-on oder >Konventionalität< kann man in diesem Sinne verwenden, um Regu-laritäten des Handelns zu beschreiben, die gewissermaßen auf halber Strecke liegen zwischen bloßer Redundanz einerseits und andererseits institutionalisier-ten Handlungsnormen mit hoher Geltungssicherheit und klarer Sanktionsbe-wehrung. Und wenn man so ansetzt, dann wird man weiterhin sagen dürfen, daß die regulative Kraft von Konventionen einer jener zentralen Mechanismen der Produktion und Reproduktion von sozialer Kohärenz und Persistenz ist,

ro Lewis, Konventionen (Anm. 2), S. 27-34, rekonstruiert die Replikationsprozesse (Re-plikation meint den Vollzug des Gedankengangs einer anderen Person) bei interakti-ven Koordinationsproblemen: A erwartet, daß B das tut, was A und B als optimal ansehen; diese Erwartung kann A durch Replikation des Gedankengangs von B ge-wonnen haben: A erwartet, daß B erwartet, daß A das tut, was A und B als optimal ansehen usw. Lewis spricht in diesem Zusammenhang von reziproken Erwartungen, Erwartungs erwartungen und Erwartungen n-ter Ordnung.

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deren Ausfall die jeweiligen Sozialordnungen sofort kollabieren ließe. Was hier Konvention genannt werden soll, gehört zu den wichtigsten Verfahren, elemen-tare Verläßlichkeiten des sozialen Handelns über die Grenzen einer unmittel-baren Interaktionssituation hinweg herzustellen. Es sind Verfahren, die Erwar-tungen an das Handeln des Gegenübers und an das Handeln in zukünftigen Situationen mit diesem Handeln selbst so abzustimmen ermöglichen, daß Uber-forderungen durch völlige Kontingenz oder permanente Enttäuschungen aus-bleiben. Konventionen sichern Rekurrenz - nicht also ist Konventionalität eine schale Folge von Rekurrenz, sondern umgekehrt ist Rekurrenz eine wichtige Leistung von Konventionen und in diesem Sinne sind sie situationsabstrakt: Konventionen unterwerfen Handlungen solchen Regularitäten, die nicht nur für eine unmittelbare Interaktionssituation gelten, sondern auch für eine zweite oder andere, an anderen Orten, zu anderer Zeit, unter anderen Teilnehmern.

IV

Freilich: Wirksam (und manifest) werden jene Handlungsregulierungen, die wir Konventionen nennen wollen, allein in konkreten Handlungen und also immer situativ. Man kann nicht außerhalb von Situationen handeln, und man kann nur in sozialen Situationen konventionell handeln.11 Dieses Moment des stets situa-tionalen Funktionierens von situationsabstrakten Handlungsregularitäten er-möglicht es, die Bestimmungen des Konventionellen über seine emergente Ent-stehung aus Habitualisierungsprozessen und Gewohnheiten heraus typologisch noch etwas weiter zu präzisieren: durch systematische Abgrenzung vom Ge-setz. Das Gesetz entsteht nicht evolutiv durch Habitualisierung, durch Einge-wöhnung. Es wird vielmehr gesetzt. Es könnte also auch anders sein, als es ist: Als Gesetztes hält es die von ihm ausgeschlossenen Alternativen gegenwärtig. Wäre ein Gesetz nur in dieser Setzung gegründet, würde mithin seine Geltung kontingent scheinen können, würde die Setzung als ein Akt beliebiger, will-kürlicher oder zufälliger Festlegung sichtbar. Es ist deswegen unerläßlich, die Gesetzeskraft, die Bindungswirkung und Unverfügbarkeit des gesetzlichen Normgehaltes sozusagen separat zu institutionalisieren. Einer der dafür zur Verfügung stehenden Mechanismen ist Universalisierung: Daß das Gesetz stets, überall, für alle und für alle Fälle gilt, invisibilisiert seine Kontingenz. Ein an-derer Mechanismus ist das Autorisationsverfahren nach dem Autorschaftsmo-dell: Gott oder der König, der >über< oder >vor< dem Gesetz steht, >gibt< es in einem mythischen Stiftungsakt, oder es machen - viel später - das parlamen-tarische Gesetzgebungsverfahren und seine Prozeduren12 die Kontingenz un-11 Vgl. Douwe Fokkema, The Concept of Convention in Literary Theory and Empirical

Research, in: Convention and Innovation in Literature, hg. v. Theo D'haen, Rainer Grübel und Helmut Lethen (Utrecht Publications in General and Comparative Lite-rature 24), Amsterdam/Philadelphia 1989, S. 1-16, hier: 2 und 12.

12 Vgl. Niklas Luhmann, Legitimation durch Verfahren (Soziologische Texte 66), Neu-wied am Rhein/Berlin 1969, S. 174-200.

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sichtbar. Daß das Gesetz gesetzt wird, dies soll hier heißen, daß es gegeben wird und daß es eben wegen der Unverfügbarkeit des Gebers für die dem Gesetz unterworfenen Empfänger nicht verfügbar ist. In einem strukturellen Sinne könnte das Gesetz insofern stets >heilig< genannt werden.

Konventionen haben demgegenüber keinen auctor und daher auch keine auc-toritas^ sie können uns auch nicht heilig sein. Sie gelten überdies nicht univer-sell, sondern jeweils nur für bestimmte Fälle in bestimmten Situationen mit bestimmten Akteuren. Sie können deswegen einerseits als gruppenspezifische Distinktionsmerkmale benützt werden und sind andererseits - >von außen< be-trachtet - unübersehbar kontingent. Jedoch stellt sich bei ihnen diese Frage nach ihrer Kontingenz für die Akteure gerade nicht, wenn und insofern sie konven-tionell handeln. Man wird zudem sagen müssen, daß die Bindungswirkung, die Geltungskraft von Konventionen viel geringer sei als diejenige des Gesetzes; die Sanktionen für konventionswidriges Handeln sind weniger einschneidend als diejenigen für das Verbrechen. Indes heißt dies nicht, daß Konventionen zu-gleich auch verfügbarer wären als Gesetze. Ihre Unverfügbarkeit beruht jedoch nicht auf einem Setzungsakt samt seinen spezifischen Voraussetzungen und Im-plikationen. Sie beruht auf dem Eingewöhntsein: darauf, daß Konventionen ge-rade nicht gesetzt, sondern sich emergent sozusagen eingeschlichen haben in das differenzierte Gefüge normativer Handlungssteuerungen überhaupt. Konven-tionell darf man ein Handeln nennen, das so ist, wie es ist, weil >man es eben so macht<. Solange Ich konventionell handelt, kann er keine anderen Begründun-gen für sein Handeln angeben als eben den Verweis darauf, daß man es schon immer so gemacht habe. Das logische Äquivalent der Konvention ist in diesem Sinne die Tautologie. Es bedarf daher erheblicher Abstandnahme, es braucht die analytische Distanz von Beobachtungen zweiter Ordnung, wenn die Konven-tionen des Handelns nicht nur tautologisch begründbar sein, sondern zum Bei-spiel in ihrem Regulierungsgehalt historisch rekonstruierbar werden sollen. Wir geben uns konventionellerweise zur Begrüßung die rechte Hand - und dies in Ostdeutschland übrigens konventionellerweise sehr viel häufiger als in West-deutschland. Aus der Tautologie des >das macht man eben so< kommt man aber allenfalls als distanzierter (zum Beispiel kulturwissenschaftlicher) Beobachter heraus.14

13 »Der Konvention haftet als kommunale Übereinkunft [...] immer eine entindividuali-sierte und ursprungslose Form an. Der Urheber einer nachträglich konventionalisierten Stilform ist für den Weiterverwender oder späteren Leser per definitionem irrelevant« (Weninger, Literarische Konventionen [Anm. 7], S. 37).

14 Dies beispielsweise mit den Erklärungen, die rechte Schwert- als die Begrüßungshand habe einstmals Verzicht auf Waffengebrauch und Friedensbereitschaft signalisiert und das von Ost nach West laufende Frequenzgefälle dieser Geste sei Symptom dafür, daß die Vergrößerung der Körperabstände und die Verringerung der Häufigkeit körperli-cher Berührungen im sozialen Raum sich diesseits und jenseits des Eisernen Vorhangs ebenso asynchron entwickelt habe wie die gesamtgesellschaftlichen Modernisierungs-prozesse, mit denen sie einhergehe. Derartige Einsichten sind den Handelnden im Vollzug ihres Handelns gerade entzogen.

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Eben dies ist die Leistung von Konventionen: zu entlasten von dem Ent-scheidungsdruck, der mit jeder Frage nach Geltungsgründen von Handlungs-normierungen und mit der Verfügbarkeit von Regulierungszusammenhängen gegeben ist. Deswegen gibt es keine Konventionskonflikte, so wie es Normen-konflikte gibt, deswegen kann es auch keine Instanzen der Auslegung und der Applikation von Konventionen geben, so wie es Instanzen der Deutung und Anwendung des Gesetzes gibt. Und deswegen gibt es zwar Konventionswandel und Konventionsverluste - wenn zum Beispiel die Frequenz des Händeschüt-telns in Ostdeutschland mit der Zeit abnimmt - , doch stellen sie sich gewisser-maßen im Rücken der Handelnden ein und werden thematisch nur außerhalb der Handlungsvollzüge selbst. Konventionen kommen und gehen, sie entstehen und verschwinden schleichend.

V

Gehen wir noch einmal zur Modellsituation des Spaziergängers und seiner Dame zurück, und modulieren wir sie zu folgender Geschichte: Ich geht spa-zieren, und das Wetter ist strahlend, die Vögel singen. Anders als ein Gewohn-heitsspaziergänger mußte Ich sich allerdings entschließen, diesen Spaziergang gerade nicht unabhängig von seiner persönlichen Stimmungslage vorzunehmen. Er geht vielmehr spazieren, weil er aus Liebeskummer die Welt hinter sich lassen will. Er beabsichtigt, sich in die Einsamkeit zurückzuziehen und für den Rest seines Lebens zu klagen. Doch dazu kommt es nicht. Hinter typischen >Jenseitsschwellen<, Bach und Wald etwa, trifft er - vielleicht gegen seine eigene, jedenfalls aber gemäß unserer Erwartung - auf eine Dame, mit der sich alsbald ein Gespräch entspinnt. Die Dame beklagt den unglücklichen Verlauf einer Werbungsbeziehung und erzählt dem liebeskranken Spaziergänger recht aus-führlich ihre Geschichte: wie sie nämlich von einem Liebeswerber, den sie stets und gemäß den Regeln der Hohen Minne zurückgewiesen habe, vor das Gericht von Frau Venus zitiert und dort auch verurteilt worden sei. Der Spaziergänger erzählt im Gegenzug der Dame von eigener unglücklicher Liebe. Später wendet er sich selbst an das Venusgericht, um dort nun seinerseits die ihn abweisende Minneherrin nach dem Vorbild des von der Dame im Wald zurückgewiesenen Werbers zu verklagen. Dieses Gericht erreicht er, indem er eine weitere Jenseits-schwelle, diesmal eine Rosenhecke, passiert, hinter welcher er an einem irdisch-paradiesischen Ort auf den allegorischen Hofstaat der Königin Venus trifft. Eine der Damen, Frau Liebe, initiiert das Ich in diese Welt und macht sich zu seiner Anwältin, so daß am nächsten Tag ein Gerichtsprozeß in Gang gesetzt werden kann. Er wird freilich alsbald wieder unterbrochen aufgrund einer Intervention von Frau Aventiure, die den aktuell verhandelten Kasus als ganz gewöhnliche Minnekalamität klassifiziert, wie sie sich jederzeit und überall zutrage. Das Ge-richt beschließt daraufhin, im Vorfeld einer Einzelfallentscheidung zunächst die allgemeinen Regeln der Minne bekannt zu machen. Der Spaziergänger und Klä-

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ger, weil er zugleich das erzählende Ich ist, wird daher von den Damen über-redet, als ihr Sprecher den Codex der Minnenormen in der Welt zu verkünden. Dreizehn Gebote der Liebe teilt ihm Frau Venus mit, die Damen ihres Gefolges übermitteln sodann 33 Regeln der Minne sowie deren typische Gründe und die Formen ihrer Entstehung. Die Geschehnisse enden damit, daß der nun zum Herold des Venushofes mutierte Spaziergänger Abschied nimmt. Daß er in eine Welt zurückkehre, welcher dieser Regulierungszusammenhang der Minne zu verkünden wäre, kann nur noch vermutet werden.

Konventionell wird man den auf solche erstaunlichen Vorkommnisse hinfüh-renden Spaziergang kaum nennen mögen, jedenfalls dann nicht, wenn man die Perspektive des erzählten Ich einnimmt. Im Gegenteil: Der Auszug aus der Welt, die Überquerung von Jenseitsschwellen, die Begegnungen mit der Dame und mit den Personifikationen am Minnegericht sind offenkundig erst- und einmalige Handlungen. Zu einer ganz anderen Einschätzung gelangt hingegen, wer nicht die Ebene des Erzählten, sondern diejenige des Erzählens beobachtet. Was und wie in dem hier resümierten Text von einem Spaziergang und von außerordentlichen Begegnungen erzählt wird, ist aus anderen Texten zur Ge-nüge bekannt. Die Rekurrenz von Motiven, Themen, Konstellationen etc. war, so läßt sich vermuten, für die Interaktion von Erzähler und Publikum dieser Erzählung - im vorliegenden Fall handelt es sich um des Elenden Knaben >Min-negericht< aus der Mitte des 15. Jahrhunderts15 - der Effekt einer spezifischen Konventionalität. Solche Konventionalität bot, gleich der Konventionalität an-derer Minnereden, Handlungsregularitäten für die jeweilige Kommunikations-gemeinschaft und versorgte den Erzähler wie die Hörer oder Leser mit rezi-proken Erwartungssicherheiten. Dies läßt sich freilich nicht mehr in actu beob-achten. Wer aber auch nur wenige von den über 500 Minnereden aus dem 13. bis 16. Jahrhundert liest,16 wird allerorten auf Rekurrenzen von einer Art stoßen, 15 Tilo Brandis, Mittelhochdeutsche, mittelniederdeutsche und mittelniederländische

Minnereden. Verzeichnis der Handschriften und Drucke (MTU 25), München 1968, Nr. 459; Mittelhochdeutsche Minnereden I. Die Heidelberger Handschriften 344, 358, 376 und 393, hg. v. Kurt Matthaei (Nachdr. d. Ausg. Berlin 1913) (DTM 24), Dub-lin/Zürich 1967, Nr. 1, S. 1-34 (zitiert). Diese Minnerede wurde ein zweites Mal nach derselben Leithandschrift, jedoch mit sämtlichen Lesarten aller inzwischen bekannten Textzeugen, ediert von Ekkehard Schmidberger, Untersuchungen zu >Der Minne Ge-richt des Elenden Knaben. Zum Problem der Tradierung, Rezeption und Tradition in den deutschen Minnereden des 15. Jahrhunderts. Mit einem Textanhang, Kassel, Diss. phil. 1978, S. 283-369.

16 Zu den Minnereden vgl. jetzt den Forschungsbericht von Wolfgang Achnitz, Minne-reden, in: Forschungsberichte zur Internationalen Germanistik. Germanistische Me-diävistik, Bd. 2, hg. v. Hans-Jochen Schiewer (Jahrbuch für Internationale Germani-stik. Reihe C, 6), Bern usw. 2003, S. 197-255; ferner ders., Kurz rede von guoten minnen / diu guotet guoten sinnen. Zur Binnendifferenzierung der sogenannten >Min-nereden<, in: Jahrbuch der Oswald von Wolkenstein Gesellschaft 12 (2000), S. 137-149. Nach wie vor grundlegend ist die Arbeit von Ingeborg Glier, Artes amandi. Unter-suchung zu Geschichte, Überlieferung und Typologie der deutschen Minnereden (MTU 34), München 1971.

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welche auf interaktive Regularitäten jener Kommunikationen schließen läßt, deren Medium die überlieferten Schrifttexte einmal gewesen sein mögen.17

V I

Die Regeln und Gebote der Minne, die das Ich in des Elenden Knaben Min-nerede der Welt verkünden soll, sind in der Forschung besonders beachtet wor-den.18 Doch nicht weil sie des Andreas Capellanus >De amore< zitieren, interes-

17 Für das im vorliegenden Beitrag verfolgte Vorhaben, Minnereden im Spannungsfeld von Konventionalität und Konversation zu situieren, eignet sich des Elenden Knaben >Minnegericht< nicht nur deswegen weil in ihm typische Merkmale der Minnereden-kommunikation besonders gut zu beobachten und zu problematisieren sind. Es finden sich überdies in der Handschrift Heidelberg, Universitätsbibliothek, cpg 344, insge-samt 41 in der Regel halbseitige kolorierte Federzeichnungen, von denen 21 (fol. ir~33v) zum >Minnegericht< gehören. Diese Miniaturenfolge eröffnet die Möglich-keit, einige Überlegungen zum Text auch im vergleichenden Blick auf die Bilder zu akzentuieren. Zu den Federzeichnungen vgl. Bernd Konrad, Die Buchmalerei in Kon-stanz, am westlichen und am nördlichen Bodensee von 1400 bis zum Ende des 16. Jahrhunderts, in: Buchmalerei im Bodenseeraum 13. bis 16. Jahrhundert, hg. v. Eva Moser, Friedrichshafen 1997, S. 109-1 $4 und Katalog der Handschriften S. 259-331, hier: 28 if. mit Abb. von Nr. 8 (fol. 131"); Hans Wegener, Beschreibendes Verzeichnis der deutschen Bilder-Handschriften des späten Mittelalters in der Heidelberger Uni-versitäts-Bibliothek, hg. v. der Universitäts-Bibliothek Heidelberg, Leipzig 1927, S. 57-59 mit Abb. von Nr. 18 (fol. 30*). Für freundliche Auskunft danken wir Norbert H. Ott (München).

18 Die 33 Regeln und 13 Gebote stehen mit den Minneregeln im Traktat >De Amore< von Andreas Capellanus in engem Zusammenhang (Andreae Capellani Regii Francorum De Amore libri tres, hg. v. Emil Trojel, 2. Aufl., München 1972, S. I05f. und 310-312). Sie sind nach Schmidberger, Untersuchungen (Anm. 15), S. 55, »gereimte Übertragun-gen der zwölf praecepta [...] und einunddreißig regulae amoris«; ein eingehender Ver-gleich, der besonders die Reihenfolge dieser Regeln betrifft, ebd., S. 5 5-77. Auch die narrative Einbettung geht z. T. auf >De Amore< zurück. Im 5. Mustergespräch (Lo-quitur nobilis nobili) erzählt Andreas Capellanus von einem Edelmann, der um eine Dame wirbt, ihr u. a. die Minneburg beschreibt (S. 88ff.; vier Pforten entsprechen vier Arten von Frauen/von Liebe) und seinerseits in Ich-Form eine Geschichte erzählt (S. 9iff.): Er sei ausgeritten im Gefolge des Königs, habe bei einer Rast sein Pferd gesucht und sich verirrt. Dabei sei er auf einen prächtigen allegorischen Zug gestoßen, den eine Dame ganz am Ende ihm erläutert: Es handele sich um das Heer der Toten, angeführt vom König der Liebe, gefolgt von den edlen Damen, dann von denen, die allen ihre Liebe schenken, und schließlich von denen, die die Liebeserhörung immer verweigert hätten. Die drei Gruppen lassen sich bei der Burg der Minne in drei Zonen nieder: die ersten in der Burg, die zweiten in der Steppe drum herum, die dritten in der äußersten Zone, der Wüste. Die Minne bildet hier ihr eigenes Jenseits aus, und die Ich-Erzählung ist angelegt als Vision dieses Jenseits, in dem ewige Freude und ewiges Leid aus dem Minneverhalten der Damen auf Erden resultieren. Die Dame bittet schließlich das Ich, als es wieder in seine Welt zurückkehren will, daß es für sie Für-sprecher [!] sei beim König der Liebe. Vgl. auch Schmidberger, Untersuchungen (Anm. 15), S. 1 10-113; Judith Hochuli Fisher Lee, The Minnereden of Der Elende Knabe and Medieval Poems about Sir Penny, Nashville (TN) Ph.D. 1970, S. 139-142.

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sieren sie hier, sondern ihrer Konventionalität wegen. Als ein in dieser Hinsicht so behebiges wie illustratives Beispiel mag das vierte und fünfte Gebot von Frau Venus dienen (V. 1126-1140):

Das fierd geböt ist daß: du solt kain lieb verretter sin, so belipt lang verswigen die din. wer claffty dem wirt gegolten, mit gelicher maß wirt er gescholten, grosses ding erwirbt schwigen, verschwigem herzen sol ain kaißer nigen. wer nit schwigt, der wirt zespöt.

Nun merck daß funfft geböt: diner lieb haimlichkait sol nit vil werden gesait. was sich zwayt, daß tryt sich gern, da mit kömpt lieb zu uneren. ain tröpff on melden gitfroden me dan offenbär lieb ain ganzer se.

Die Stereotypien solcher Rede liegen offen zutage. Das vierte ist vom fünften Gebot kaum zu scheiden, hier wie da geht es um die Pflicht zur Verschwiegen-heit, und Ahnliches findet sich allerorten unter den Geboten und Regeln der Minne in dieser wie in anderen Minnereden.19 Daß das >Minnegericht< des Elen-den Knaben eine auf allen Textebenen typische Minnerede sei, ist überdies durch eingehende Vergleiche mit anderen Gedichten längst dargelegt worden.20

Solche Darlegung muß nicht wiederholt werden, denn es geht hier nicht um jenen Nachweis von Rekurrenzen, bei welchem solche Textvergleiche ihren ei-genen methodischen Prämissen zufolge sich bescheiden müssen. Vielmehr soll hier jene Konventionalität beschreibbar werden, als deren Leistung und Effekt

19 Die knappen regulae undpraecepta des Andreas Capellanus werden im >Minnegericht< mit konventionellem Wortmaterial angereichert, werden »zu kurzen Glossen zum je-weiligen Thema, die auch formelhafte Wendungen anfügen«, sie sind »zu kleinen Kommentaren zum jeweiligen thematischen Punkt angewachsen und werden häufig durch formelhafte Wendungen auf eine den Lesern des 15. Jahrhunderts vertraute Aus-sage gebracht« (Alfred Karnein, De amore in volkssprachlicher Literatur. Untersu-chungen zur Andreas-Capellanus-Rezeption in Mittelalter und Renaissance [GRM Beiheft 4], Heidelberg 1985, S. 252). Ausführlicher diskutiert Schmidberger, Unter-suchungen (Anm. 15), S. 90-95, hier: 91, die »Glossierungen« der Liebesregeln mit einem ähnlichen Ergebnis: Zur »variierenden Ausweitung der Gebote und Regeln tritt eine meist mit Sprichwörtern, Redensarten und Beispielen argumentierende oder er-läuternde Weiterführung, die auf Allgemeingültigkeit zielt. [...] Mit dieser Rezeptions-form verlieren die Sentenzen des Andreas viel von ihrer blitzenden Schärfe«. Dieses abschließende Werturteil macht eine forschungsgeschichtlich typische - eine geradezu konventionelle - Verlustrechnung für konventionelle Literaturproduktion auf, die ent-scheidende Funktionen dieser >Rezeptionsform< verkennt. Zur Capellanus-Rezeption beim Elenden Knaben vgl. ferner Fisher Lee, The Minnereden (Anm. 18), S. 133-142.

20 Vgl. Schmidberger, Untersuchungen (Anm. 15), S. 114-167.

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die Rekurrenz von Textmerkmalen allererst sich versteht. Solcherart nämlich ließen sich dann Gegebenheiten sozusagen der Textoberflächen auf Handlungs-regulationen, das heißt auch auf Prozeßkategorien zurückführen - und an dieser Stelle liegt eine der Prämissen der gegenwärtigen Skizze: Texte können als Handlungen rekonstruiert werden.21 Auf diese Ebene führen aber nicht schon Sachverhalte der Rekurrenz, sondern (jedenfalls im Rahmen des hier benützten terminologischen Inventars) erst der Begriff der Konventionalität.

Dabei versteht sich: Jene Prozesse der Eingewöhnung und Konventionalisie-rung selbst, wie sie oben von der Stufe kontingenter Wiederholungen aus phä-nomenologisch zu skizzieren waren, sind an einem Einzeltext so wenig zu be-obachten wie an historischen Textensembles. Was letztere allerdings - und im Gegensatz zum isolierten Einzeltext - ermöglichen, ist die Skizze eines Modells davon, wie eingeschliffene Konventionen in der literarischen Kommunikation funktioniert haben könnten, um sodann als Merkmalsrekurrenzen auf den Text-oberflächen sich zu manifestieren — also als das, was im Alltagssprachgebrauch ihre Konventionalität heißt.

Zu diesem Zweck wäre etwa jede Textproduktion22 als ein Prozeß aufzufas-sen, in welchem fortlaufend Entscheidungen neuen Entscheidungsbedarf pro-duzieren und in welchem damit wiederum Entscheidungen erzwungen wer-den.23 Konzipiert man so, dann ergibt sich eine weitere Perspektive auf die Probleme von Konventionalität: Anders als die phänomenologische Problem-

21 Vgl. etwa Karlheinz Stierle, Text als Handlung. Perspektiven einer systematischen Li-teraturwissenschaft, München 1975; Hans Ulrich Gumbrecht, Konsequenzen der Re-zeptionsästhetik oder Literaturwissenschaft als Kommunikationssoziologie, in: Poe-tica 7 (1975), S. 388-413, hier: 39^.; Alexander Schwarz, Text als Handlung, in: Ders., Angelika Linke, Paul Michel und Gerhild Scholz Williams, Alte Texte lesen. Textlin-guistische Zugänge zur älteren deutschen Literatur, Bern/Stuttgart 1988, S. 125-166; Jürgen E. Müller, Literaturwissenschaftliche Rezeptions- und Handlungstheorien, in: Neue Literaturtheorien. Eine Einführung, hg. v. Klaus-Michael Bogdal, Opladen 1990, S. 176-200; Jan-Dirk Müller, Neue Altgermanistik, in: Jahrbuch der deutschen Schil-lergesellschaft 39 (1995), S. 445-453, hier: 450; Peter Strohschneider, Textualität der mittelalterlichen Literatur. Eine Problemskizze am Beispiel des >Wartburgkrieges<, in: Mittelalter. Neue Wege durch einen alten Kontinent, hg. v. Jan-Dirk Müller und Horst Wenzel, Stuttgart/Leipzig 1999, S. 19-41.

22 Das Modell vereinfacht stark und unterscheidet nicht zwischen Produktion und Dis-tribution, nicht zwischen Textverfassen und Textvortrag usw. Es geht allein um die Darlegung eines Prinzips.

23 Und man wird annehmen, daß auf der Seite interaktiver Rezeption von Texten die-selben Prinzipien in analoger Weise wirksam sein können. Zum Erzählen als Ent-scheidungsabfolge vgl. etwa Jürgen Habermas und Niklas Luhmann, Theorie der Ge-sellschaft oder Sozialtechnologie. Was leistet die Systemtheorie?, Frankfurt a. M. 1971, S. 75; Rainer Warning, Rezeptionsästhetik als literaturwissenschaftliche Pragmatik, in: Rezeptionsästhetik. Theorie und Praxis, hg. v. Rainer Warning, München 1975, S. 9-41, hier: 36-38; Umberto Eco, Nachschrift zum >Namen der Rose<, in: Ders., Der Name der Rose. Die große, erweiterte Ausgabe. Mit Ecos Nachschrift und Kroebers Kom-mentar, Frankfurt a. M. 1984, S. 649—709, hier: 668.

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entfaltung zu Anfang der vorliegenden Skizze visiert sie das Konventionelle nicht sozusagen vom Innern der Handlungsvollzüge her, aus der Teilnehmer-perspektive an. Sie stellt dem vielmehr eine Rekonstruktion aus einer Außen-position zur Seite. Als ein Fremdbeobachter nähme man, um es im Rückgriff auf den hier wiederholt bemühten Modellfall zu sagen, nicht an einem Spazier-gang teil. Statt dessen verfügte man über die Möglichkeit, verschiedene und vergleichbare Spaziergänge aus der Distanz zu beobachten, und dabei ließen sie sich als rekurrente Ketten von Entscheidungsalternativen darstellen. Etwa fol-gendermaßen:

Die Entscheidung, eine Minnerede in Ich-Form zu erzählen und dabei den Ich-Protagonisten der Erzählung zunächst über eine Jenseitsschwelle gehen zu lassen, klärt nicht schon alle Fragen, sondern sie produziert vor allem neuen Entscheidungsbedarf. So gibt es etwa ungezählte Möglichkeiten, Jenseits-schwellen narrativ zu inszenieren, und auch der Fächer der im Spätmittelalter denkmöglichen, weil kulturell plausiblen Optionen ist noch deutlich größer als das im Corpus der Minnereden realisierte Spektrum. Ausgeschlossen sind dort zum Beispiel das Übersetzen über den Acheron, der Eingang ins Paradies, das Versetztwerden auf den Magnetberg, die Entführung durch einen Greifen, Meerfahrten, Zeitmaschinen oder rauschhafte Ekstasen. Als Alternativen stehen vielmehr tatsächlich (und so gut wie ohne Ausnahme) lediglich die Traumvision und der Spaziergang zur Entscheidung.24 Auf der Ebene eines solchen forma-listischen Modells wäre es diese Kontingentierung von Entscheidungsalternati-ven, welche wir als Konventionen zu beschreiben vorschlagen.

In dem hier diskutierten Texttyp produziert die Entscheidung gegen die Traumvision und für den Spaziergang als Modus des Jenseitsübergangs vor al-lem neuen Entscheidungsbedarf: Man mag sich vorstellen, das Ich könnte jen-seits der Schwelle - auch für den Wald muß aber erst einmal eine Entscheidung gefallen sein - etwa auf Drachen, Riesen, Heiden, Kranichschnäbler, Kräuter-weiblein, Aventiureritter, Engel oder betende Einsiedler treffen. Doch wieder-um: Im Produktionsprozeß von Minnereden kommen die meisten dieser Denk-möglichkeiten als (sozusagen ernsthafte) Optionen gar nicht vor. Vielmehr begegnen stets nur liebende Herren, liebende oder geliebte Damen und Perso-nifikationen abstrakter Liebesinstanzen, und im >Minnegericht< ist es zunächst eine Dame, hinter der zweiten Schwelle sind es sodann die Liebespersonifika-tionen.

Vielleicht erübrigt es sich, auch die nächsten Schritte dieser vereinfachenden Modellbildung zu tun und am Beispieltext mitzuvollziehen. Das Prinzip wird deutlich sein. An jedem der unübersehbar vielen Entscheidungspunkte eines Erzählprozesses, wie er hier durch den Text des Elenden Knaben vertreten wird,

24 »Der Traum und noch mehr der Spaziergang gehören nächst der Dichterrolle zum festen Motivbestand der Gattung, und zwar so eng, daß man sie schon nahezu als konstituierende Merkmale betrachten könnte« (Glier, Artes amandi [Anm. 16], S. 398).

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gibt es einen überaus weiten Möglichkeitshorizont. Seine manifeste Begrenzung soll hier >Konvention< heißen.25 Konventionen schränken also Freiheitsgrade drastisch ein und produzieren gerade so Freiheitschancen:26 Es ist die Reduktion eines unübersehbaren Feldes von Möglichkeiten, dessen Überkomplexität jeden Entscheidungsprozeß kollabieren lassen würde, auf ein demgegenüber gut kon-trollierbares Ensemble von jeweils realisierbaren Optionen. Von ihnen kann man wissen, daß sie wahrscheinlich erfolgreich sind - dies garantiert die Kon-vention. Konventionen sichern Entscheidungsfreiheit in dem von ihnen sele-gierten Rahmen von Handlungsoptionen. Oder ganz plakativ: Konventionen reduzieren Kontingenz durch Kontingentierung.

Der Text erzählt, was er erzählt. Er erzählt nicht, was er nicht erzählt. Die Kontingentierung von Möglichkeiten geschieht in der Weise, daß nicht nur die ausgeschlossenen prinzipiellen Möglichkeiten, sondern auch ihr Ausschluß selbst unsichtbar bleibt. Sichtbar werden läßt die Konvention allein die einge-schlossenen (aber im aktuellen Fall nicht realisierten) Möglichkeiten: Die Min-nerede erzählt, was sie erzählt - hier nämlich einen Spaziergang und indem sie dies tut, hält sie die Traumvision als eine eingeschlossene, aber nicht reali-sierte Alternative gegenwärtig. Eine Fahrt auf den Magnetberg oder in die Un-terwelt aber ist im Text nicht nur nicht realisiert, sie wäre unter den Konven-tionen der Minnerede auch nicht realisierbar. Sie ist keine Alternative. Konven-tionen regeln in diesem Sinne, welche Alternativen es gibt und welche nicht,

25 Wenn diese Überlegungen Konventionen als immer schon getroffene >Entscheidungen< beschreiben, zerstört der analytische Ansatz notwendigerweise die Selbstverständlich-keit des konventionellen Handelns; das Ziel einer Konvention ist es ja gerade, sich selbst zu invisibilisieren. Es ist daher zu betonen, daß die Rekonstruktion konventio-neller Entscheidungen beim Verfertigen einer Minnerede nicht in dem Sinne Wirklich-keitsreferenz besitzt, daß derartige Entscheidungen vom Textproduzenten je einzeln und bewußt getroffen würden. Es soll nicht der Vorstellung Vorschub geleistet wer-den, wir »stünden [...] unablässig vor der Wahl zwischen verschiedenen Handlungs-möglichkeiten, [wir] würden [...] ständig an Verzweigungspunkten des Handelns halt-machen, an denen wir uns fragen, ob wir in die eine oder andere Richtung gehen sollen« (Gunter Gebauer und Christoph Wulf, Spiel - Ritual - Geste. Mimetisches Handeln in der sozialen Welt, Reinbek bei Hamburg 1998, S. 9). Bei der Rekonstruk-tion solcher Entscheidungen an Verzweigungspunkten des Handelns geht es vielmehr -mit Niklas Luhmann, Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie, 5. Aufl., Frankfurt a. M. 1994, S. 162, zu sprechen - »um ein analytisches Interesse: um ein Durchbrechen des Scheins der Normalität [...] um phänomenologische Reduktion«, deren Methode es ist, »Normales für unwahrscheinlich zu erklären«, damit die Bedin-gungen der Möglichkeit des Normalen überhaupt sichtbar werden können.

26 Dies ist ein Grundgedanke auch zum Beispiel in der Literaturtheorie von Stanley Fish (Is there a text in this class? The authority of interpretive communities, Cambridge MA 1980): »Wahrheit, Wirklichkeit, Tatsachen, Bedeutung oder Werte [sind] als Pro-dukte von sozialen Abmachungen und langfristigen Gewöhnungsprozessen anzusehen [...], die den Handlungsspielraum des einzelnen zwar beschränken, ihm aber dadurch gleichzeitig in der Wirkung garantierte Mechanismen der Verständigung bereitstellen« (Weninger, Literarische Konventionen [Anm. 7], S. 6).

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und sie tun dies so, daß der Bestand an Alternativen stets als selbstverständlich erscheint - wiewohl er bei systematischer Distanz leicht als Alternativenalter-native zu anderen Alternativen erweisbar ist. Dieserart kann man formal zu beschreiben versuchen, in welchem Sinne Konventionen als Selbstverständlich-keiten wirken und in welcher Weise konventionelles Handeln - auch bei der Kommunikation von Minnereden - von Entscheidungsdruck entlastet ist: Die Konvention garantiert, daß die Alternative von konventionellem und nicht-konventionellem Handeln ausgeschlossen ist. Zu konventionellem Handeln gibt es für den Handelnden und im Vollzug der konventionellen Handlung keine Alternative.27 Damit sei auch gesagt: Die Konventionalität der Minnerede ist keine >schlechte<, sondern eine im kommunikativen Handeln unhintergehbare.

VII

Niemand wohl würde behaupten wollen, alle Minnereden (oder auch: alle Min-nereden eines Typs) seien miteinander identisch. Umgekehrt wird jede breitere Lektüreerfahrung auch die Behauptung schwierig machen, solche Texte seien einfach nicht-identisch. Solche Paradoxie auf der Ebene von Identitätslogiken versuchen wir funktional als Konventionalität zu fassen. Üblicherweise hat man hingegen für solche Texteigenschaften auch andere Ausdrücke zur Verfügung: Gattung, Erzählschema, Topos, Formel, Motiv, Sprachstereotyp usw. Sie alle beziehen sich - in der einen oder anderen Weise und freilich im Blick auf un-terschiedliche Textebenen - auch auf etwas, was hier Konventionalität heißt. Jede Textbeschreibung im Medium der genannten Begriffe unterscheidet Dif-ferenzmomente zwischen den Texten von In-Differenzmomenten, selegiert zu-gunsten letzterer und transformiert solcherart je singuläre Texte in Manifesta-tionen eines gemeinsamen Prinzips.28 Der einzelne Text ist in solcher Beobach-

27 Diese Bestimmung von >Konvention< versucht ein Problem zu umgehen, das beim Gattungsbegriff, wenn wir recht sehen, bislang ungelöst blieb: Präskriptiv-normative Gattungsbegriffe scheiden als anachronistisch aus, strikt deskriptive Gattungsbegriffe provozieren stets den Einwand, schon für die Produzenten der Texte müßten die Gattungsnormen Orientierungskraft besessen haben, es sei anders die Gattungshaftig-keit der Gattungstexte nicht erklärbar. Konventionen hingegen, so soll hier gezeigt werden, operieren jenseits der Unterscheidung von Präskription und Deskription.

28 Während (traditionell hermeneutische) Einzelinterpretationen von Minnereden gerade umgekehrt verführen: Selektion des Differenten, Profilierung des Einzeltextes im Kon-trast zu übergreifenden Prinzipien. Und in diesem Sinne wäre mit mehr oder weniger Aufwand (aber eher mit mehr) jede Minnerede auch als ein Text aufzufassen, der zumindest einen Rest an Originalität und Innovation birgt. Um das dahinter liegende Dilemma klarer zu fassen, ließe sich konstatieren, daß die Hermeneutik einer Episteme der Innovation Einzeltexte als solche nur beobachten kann, wenn sie sie als >innova-tive< zu beobachten, wenn sie also den Fokus auf deren Originalität etc. einzustellen in der Lage ist. Geht das nicht, dann kann sie den Einzeltext allein noch als Dokument >epigonaler Massenware< o. ä. behandeln, dann muß sie klassifikatorisch, statistisch vorgehen, während die Einzeltextinterpretation nicht zustande kommt. - Es ist dies

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tungshaltung dann zumal bestimmt durch solche Momente der Rekurrenz, die hier als Effekt von Konventionalität zu beschreiben sind. Solche methodische Entdifferenzierung läuft freilich den Reflexen aller klassizistischen Ästhetiken stracks zuwider. Sie könnte aber ein medienanthropologisch und historisch-poetologisch gerade triftiges Verfahren sein, wenn es nämlich Gleichförmigkei-ten identifiziert, die als solche am primären historischen Ort der Texte in be-schreibbarer Weise für deren kommunikativen Erfolg funktionsrelevant gewe-sen sein mochten.

Was für klassizistische Ästhetiken die schale Redundanz eines Werkes wäre, seine >schlechte< Konventionalität als Mangel an Originalität und Innovation, das kann in kommunikationspragmatischer Perspektive Voraussetzung des kommunikativen Erfolgs des Textes als Handlung sein. Dabei gibt es für die eine Implikation dieser Erwägung, daß sie nämlich Texte als Medien und Voll-zugsformen kommunikativer Handlungen auffaßt, theoretische Gründe; sie brauchen hier nicht ausgeführt zu werden.29 Es gibt dafür aber auch konkrete historische Veranlassung, und diese hängt insbesondere mit den spezifischen medienanthropologischen Gegebenheiten der mittelalterlichen volkssprachigen höfisch-aristokratischen Literatur zusammen. Man hat diese Gegebenheiten -um nur an die wichtigsten Stichworte zu erinnern - auf den Begriff der >Vo-kalität< gebracht,30 und man kann zeigen, daß Textualität hier etwas anderes ist als bei Texten aus modernen, durchgebildeten Schriftkulturen.31 Es hängt dies mit der typischen Performativität mittelalterlichen Textvollzugs (und dies üb-rigens in der Lektüre auf lange hin kaum weniger als in der Aufführungssitua-tion) sowie mit den Reproduktionsformen von Handschriftlichkeit zusammen, damit also, daß — nicht weniger holzschnittartig ausgedrückt - der Abstand zwischen dem Körper und dem Text und gleichermaßen die Abstände zwischen den Körpern der verschiedenen Kommunikationsteilnehmer in der Regel sehr viel geringer sind als in medientechnisch vermittelten Kommunikationszusam-menhängen. Mittelalterliche Literatur funktioniert zumal in Interaktionssyste-men.32 Sie ist vorwiegend Rede, deren situationsübergreifende Wiederholbarkeit von daher auf Strukturierungen, Musterbildungen, Entkoppelungen von den Kontingenzen der Einzelsituationen beruht, also auf - im Wortsinne - Abstrak-

wohl der Grund, weshalb es in der bisherigen Minneredenforschung cum grano salis nur zwei Zugangsweisen gibt: Einzelinterpretationen ästhetisch elaborierterer Werke (fast ausschließlich Großformen) auf der einen, Überblicke, Kataloge, Typisierungen auf der anderen Seite.

29 Vgl. oben Anm. 21. 50 VgL Ursula Schaefer, Vokalität. Altenglische Dichtung zwischen Mündlichkeit und

Schriftlichkeit (ScriptOralia 39), Tübingen 1992. 31 VgL Strohschneider, Textualität (Anm. 21). 32 Vgl. Niklas Luhmann, Einfache Sozialsysteme, in: Ders., Soziologische Aufklärung 2.

Aufsätze zur Theorie der Gesellschaft, Opladen 1975, S. 21-39; Andre Kieserling, Kommunikation unter Anwesenden. Studien über Interaktionssysteme, Frankfurt a. M. 1999.

Zur Konventionalität der Minnerede 117

tionen gegenüber dem konkreten Ich und Du, Jetzt und Hier des je Okkasio-nellen.33

In dieser Perspektive ist es wenig überraschend, daß jene Literatur, von der hier die Rede geht, konventionell genannt werden kann in eben jenem Sinne, der hier zu profilieren ist. Charakteristisch sind für sie eingewöhnte Formen der Rede, reziproke Typisierungen des kommunikativen Handelns nicht allein auf der Seite der Zuhörer (in den Repräsentationsritualen höfischer Gesellschaften, in welchen der soziale Ort der weltlichen Literatur zuvörderst zu sehen ist), sondern auch auf derjenigen der Urheber und der Sprecher und der literarischen Rede selbst. Auf vielen Ebenen - von den topischen und rhetorischen Formie-rungen der Sprach- und Darstellungselemente über die Uniformität der Wert-und Wissensordnungen bis zu den Makrostrukturen zum Beispiel der epischen Welten und ganzer Erzählzusammenhänge - grenzen Konventionen rigide die Entscheidungsspielräume bei der Textproduktion ein und erweist sich daher die mittelalterliche Literatur in der distributiven und rezeptiven Kommunikations-situation als Erfüllung des immer schon Erwarteten, als bestimmt von einge-schliffenen Mustern, als Aktualisierung unvordenklicher Modelle.34 So löst sie sich von den Kontingenzen des je Okkasionellen, so wird sie erwartbar, so werden die mit ihr verbundenen Risiken der Störung von vergleichsweise la-bilen - weil institutionell allenfalls schwach und organisatorisch gar nicht ge-sicherten - Kommunikationsgefügen gering gehalten. Die literarische Rede spricht, wie sie spricht und wie man je schon literarisch gesprochen hat, weil man literarisch so eben spricht<. Sie ist konventionell. Und erst vor diesem Hintergrund versteht sich die Ungeheuerlichkeit der Geltungsansprüche der Texte zum Beispiel von Wolfram von Eschenbach oder Gottfried von Straß-burg.

33 Vgl. Strohschneider, Situationen des Textes (Anm. i), S. 80, 83. 34 Die Forschungen zu Mündlichkeit und Schriftlichkeit sowie zum kulturellen Gedächt-

nis haben mehrfach auf diese Dimension vormoderner Literaturen hingewiesen; vgl. etwa Franz H. Bäuml, Autorität und Performanz. Gesehene Leser, gehörte Bilder, geschriebener Text, in: Verschriftung und Verschriftlichung. Aspekte des Medienwech-sels in verschiedenen Kulturen und Epochen, hg. v. Christine Ehler und Ursula Schae-fer (ScriptOralia 94), Tübingen 1998, S. 248-273, hier: 251L: In der Performanz mit-telalterlicher Literatur handle es sich nicht um Informationsvermittlung, vielmehr »um Aktivierung oder Reaktivierung [re-enactment nach Egbert Bakker] von schon Ge-wußtem«; vgl. auch Burghart Wachinger, Konversation bei Hermann von Sachsen-heim. Anspielungen zwischen Konfliktbewältigung und Zeitvertreib, in diesem Band, S. 140, der für Anspielungen auf entlegene Wissenselemente in der >Mörin< den Begriff der >vorgewußten Elemente< einführt. Die Erfahrung des Rezipienten, so Bäuml wei-ter, »mit der Tradition - man könnte sagen der Institution - vergangener Performan-zen erhebt diese zu autorisierten und autorisierenden Bezugspunkten« (S. 252), imd die Anbindung der Performanz »an die Oralität - und damit die Traditionalität der Performanzen - zeigt den rituellen, kommunal legitimierenden Charakter solcher Dis-kurse an« (ebd., S. 253).

126 Ludger Lieb / Peter Strohschneider

VIII

Man könnte diese hier freilich allein in einem Grundzug angerissenen Überle-gungen, die gewissermaßen das Konventionelle der volkssprachlichen Literatur als Mechanismus ihrer Institutionalisierung in prekären Kommunikationszu-sammenhängen auffassen,35 auch noch in folgender Richtung fortführen und damit eine weitere Funktionsdimension mittelalterlicher Literatur in den Blick bringen: Für bestimmte - keineswegs für alle - Gattungen der volkssprachlichen literarischen Rede, darunter vielleicht nicht nur Prosalegenden, Sprechsprüche oder Chroniken, sondern auch Minnereden, könnte die Hypothese plausibel werden, daß in mancher Hinsicht der Abstand zwischen den literarischen und gewissen Formen der alltagssprachlichen, konversationeilen Rede kaum beson-ders groß ist. Niemand würde freilich behaupten, man habe im 14. oder 15.Jahrhundert alltäglich in vierhebigen Reimpaarversen gesprochen. Doch könnte man sich vorstellen, daß unter bestimmten Umständen zum Beispiel aristokratischer Geselligkeit konversationelle Formen des Sprechens etwa über die Liebe sich nur wenig von dem unterscheiden, was und wie in Minnereden über die Liebe gesprochen wird. Das hieße umgekehrt, daß jene literarische Form der Rede, für die wir den Gattungsbegriff Minnerede haben, nicht allein spricht, wie man je schon >literarisch< gesprochen hat, sondern so, wie man überhaupt - etwa über die Minne - spricht. Literarische Texte wären dann eine Speicherungs- und Institutionalisierungsform von Konversationen,36 und darin läge eine Funktion von möglicherweise nicht geringer kultureller Bedeutsam-keit: Als Rede, die spricht, was und wie man spricht, reproduzierte die litera-rische Rede das >Eingeübtsein< eines Soziums in bestimmte konversationelle Formen des Redens über bestimmte Sachverhalte.37

35 Vgl. auch Literarische Kommunikation und soziale Interaktion. Studien zur Institu-tionalität mittelalterlicher Literatur, hg. v. Beate Kellner, Ludger Lieb und Peter Stroh-schneider (Mikrokosmos 64), Frankfurt a. M. 2001.

36 Hierzu würde auch die Metapher vom Tauschwert der Formeln passen, mit der Chri-stoph März in diesem Band die serielle Liedproduktion des 14. und 15. Jahrhunderts auf den gegenüber dem Hohen Mittelalter veränderten colloquialen Umgang zu be-ziehen versucht.

37 Im Zusammenhang der Vokalität mittelalterlicher Literatur wäre die Spezifik der Min-nereden im ausgehenden Mittelalter fruchtbar zu beschreiben, wenn man sich an der von Bäuml, Autorität (Anm. 34), S. 262, eingeführten Differenz orientiert zwischen einerseits einer hörenden >unliterarisierten< Rezeption der verba, in der die Traditio-nalität der verba sowie ihre Bindung an das Weltverständnis der schriftlosen Menschen und an die kommunale Rezeptionssituation dominieren, und andererseits einer hören-den >literarisierten< Rezeption der scripta, die mittelbar erfolgt, durch einen Vermittler, der von den literarisierten Rezipienten als Interpret erkannt wird, und in der die scripta als Quelle gedacht sind, welche »hinter der kommunalen Rezeption liegt und unabhängig von ihr fungiert«. Man muß wohl im 14. und 15. Jahrhundert mit einem weitgehend literarisierten Publikum der Minnereden rechnen; insofern würde der Vor-tragende einer Minnerede als interpretierender Vermitder eines von ihm geschiedenen Textes erscheinen. Die Ich-Erzählung und die starke Involviertheit dieses Ich in die

Zur Konventionalität der Minnerede 117

In der Weise, wie wir diese Überlegung hier einstweilen vortragen können, bleibt sie freilich spekulativ und kann sie allenfalls ganz im Allgemeinen einige Plausibilität beanspruchen. Doch gibt es gerade in Minnereden Textmerkmale, die es nahelegen könnten, sie nicht (wie man das für moderne Literatur prinzipiell versucht hat) als ästhetische Formen der Entautomatisierung und der reiche Anschlußkommunikationen produzierenden Kommunikations->Stö-rung<38 aufzufassen, sondern vielmehr als Manifestationen des konventionellen Moduliertseins von Rede über Minne: als Mechanismen der kulturellen Re-produktion, die vielmehr über Kommunikations->Stabilisierung< funktionieren. Textanalytisch zu greifen wären derartige Funktionalitäten zum Beispiel an den in gewisser Hinsicht >offenen< Textenden nicht weniger Minnereden: Wenn etwa der Erzähler seine Minnerede mit der Bitte beendet, es möge nun ein anderer weiterreden,39 wenn Streitgespräche unentschieden bleiben oder wenn Urteils-findungen in Minneprozessen einem Publikum übertragen werden.40 In solchen Fällen liegen Textgestalten vor, die die textinternen Minnediskurse gerade nicht abschließen, sondern an die textexterne Anschlußkommunikation der Hörer sozusagen weiterreichen,41 und die augenscheinlich nur dann funktionieren

erzählte Handlung (Autodiegese) scheinen nun aber genau dieser Scheidung von Text und Vermittler entgegenzuwirken. In diesem Sinne wäre es vielleicht plausibel anzu-nehmen, daß die spezifische Konventionalität der Minnereden ein Versuch ist, die Gebundenheit der literarischen Kommunikation an die kommunale Rezeptionssitua-tion zu >retten<, die mit der sich etablierenden Schriftlichkeit verloren zu gehen drohte.

38 Die auch auf dem Freiburger Colloquium gelegentlich geäußerte Vermutung, Konver-sation lasse sich nur anregen durch die Verbindung des Konventionellen mit dem Unkonventionellem oder anders gesagt: durch die »raffinierte Variation<, müßte wohl nach ihren neuzeitlichen Implikationen befragt werden. Es könnte nämlich sein, daß wir heute nur zwei Typen von Konversation denken können: die (>gute<, gelehrte) Konversation, die hermeneutisch verfährt, also im Gespräch Dingen >auf den Grund geht<, oder die (schlechte, oberflächliche) Konversation, die eben nur >flach< ist und sich in belanglosem Geplauder (small talk) oder steifen Förmlichkeiten (in der zeit-genössischen Alltagsbedeutung von >Konventionalität<) erschöpft. Manches scheint dafür zu sprechen, daß für das Mittelalter mit Konversationen zu rechnen ist, die jenseits solcher Klassifikation liegen.

39 Vgl. Ludger Lieb, Eine Poetik der Wiederholung. Regeln und Funktionen der Min-nerede, in: Text und Kultur. Mittelalterliche Literatur 1150-1450. DFG-Symposion 2000, hg. v. Ursula Peters (Germanistische Symposien. Berichtsbände 23), Stutt-gart/Weimar 2001, S. 506-528.

40 Vgl. Ludger Lieb und Peter Strohschneider, Die Grenzen der Minnekommunikation. Interpretationsskizzen über Zugangsregulierungen und Verschwiegenheitsgebote im Diskurs spätmittelalterlicher Minnereden, in: Das Öffentliche und Private in der Vor-moderne, hg. v. Gert Melville und Peter von Moos (Norm und Struktur 10), Köln usw. 1998, S. 275-305.

41 Im Falle des >Minnegerichts< ist dieser Gestus des Eingebundenseins der Minnerede in Anschlußkommunikationen auch in der Schriftlichkeit noch - sozusagen als Reflex -vorhanden, wenn im cpg 344, fol. 33v, nach dem letzten Vers steht: Sequitur alia ma-teria. - Die Offenheit der Minnerede trifft sich in gewisser Weise auch mit jener »strukturellen Offenheit« der epischen Bilder, die Rene Wetze!, Konvention und Kon-

IIO Ludger Lieb / Peter Strohschneider

können, wenn man für die Gemeinschaft derjenigen, die unter anderem auch im Medium einer (oder mehrerer) Minnerede(n) kommunizieren, voraussetzen kann, daß über die Inhalte und Formen der konversationeilen Behandlung von Minnefragen wie über Minnenormen im wesentlichen (gar selbstverständliches) Einvernehmen besteht.42

Auch im >Minnegericht< des Elenden Knaben lassen sich manche Aspekte auf solche Funktionsmöglichkeiten beziehen: Die Verschiebung der Prozeßent-scheidung auf einen unbestimmten Zeitpunkt führt dazu, daß die mit der Min-nerede begonnene Erzählhandlung kein Ende hat, sondern fortdauert im Hier und Jetzt der textexternen Kommunikationssituation, in welcher ja, wie man nicht vergessen darf, der Protagonist der epischen Welt als Ich-Erzähler in ge-wisser Weise anwesend ist.43 Dieserart wird die Verhandlung über die Regeln und Gebote der Minne sowie über deren Applikation auf den einen oder an-deren Kasus an das Publikum weitergereicht. Auch die Drohung der textinter-nen Minnegöttinnen, in Zukunft normwidrige Minnehandlungen gerichtlich zu verfolgen, beansprucht für die Minnenormen eine Geltung, die die Grenzen der epischen Welt in Richtung auf die konversationelle Umwelt des Textes über-schreitet. Schließlich scheinen auch die >Gebote< und >Regeln< auf Kommuni-kationssituationen jenseits des Textes bezogen: Sie werden von den Göttinnen dem erzählten Ich aufgegeben, damit das erzählende Ich sie in der >Welt< der Liebenden verkünde.44

versation. Die Wandbilder von Runkelstein und ihre Betrachter, in diesem Band, S. 536, plausibel macht.

42 Für die Wandmalereien scheint dies in ähnlicher Weise zu gelten, vgl. Eckart Conrad Lutz, Der Minnegarten im Zürcher Haus zur Mageren Magd, in: Literatur und Wand-malerei. Erscheinungsformen höfischer Kultur und ihre Träger im Mittelalter, hg. v. Eckart Conrad Lutz, Johanna Thali und Rene Wetzel, Tübingen 2002, S. 365-404, hier: 387: »Auswahl, Variation und Komposition der Szenen sind doch wohl nur denkbar als Ergebnis, als Teil eines (virtuellen) >Gesprächs<, dessen Erneuerung und Fortset-zung durch die Ausmalung provoziert wird. [,..] Die Konventionalität von Themen und Motiven, ihre ständige Erinnerung, ist Bedingung für die Grundverständigung zwischen den Rezipienten, die eine Wiederaufnahme des Gesprächs erst erlaubt. Sie ist freilich zugleich Ausdruck des Anspruchs des Auftraggebers auf die Zugehörigkeit zum Kreis derer, die sich untereinander zu verständigen vermögen, Ausdruck eines Anspruchs auf Bildung also, auf Teilhabe an der sog. höfischen Kultur.«

43 Die Deixis des Pronomens Ich ist in Performanzsituationen zu stark, als daß die Un-terbrechung (oder das Irrelevantwerden) der Referenz des sprechenden Ich auf das besprochene Ich einfach herzustellen wäre. Dies führt hier aber wahrscheinlich we-niger zu einer >Entfiktionalisierung< der epischen Welt (deren Fiktionalität schon we-gen des Personifikationsapparates nicht bestritten werden kann) als zu einer Fiktio-nalisierung der textexternen Kommunikationssituation, zu >Minne-Reden-Spielen<.

44 Grenzen zwischen einem Diesseits der aktuellen Rede und einem utopisch-fiktionalen Jenseits der Minne werden gezogen, um überschritten zu werden: in der erzählten Welt durch das Ich, das eine Jenseitsschwelle überschreitet, sodann im Erzählen des Ich von diesem >Jenseits<, schließlich aber auch in der exemplarischen Funktion der >jenseitigen< Minnekommunikarion für die textexterne Konversation. Es ist daher nicht

Zur Konventionalität der Minnerede 117

Die letzten vier Federzeichnungen zu dieser Minnerede im cod. pal. germ. 344 erzählen übrigens gleichfalls von solcher Fortsetzung der Kommunikation. Sie zeigen das Ich mindestens noch zweimal in Kommunikationssituationen mit Damen (Abb. 2b), sie schließen die Erzählung durch eine glückliche Vereini-gung mit der Geliebten ab, und sie greifen insofern über das im Text erzählte Handlungsende hinaus.45 Daraus könnte der Schluß gezogen werden, daß der Text der Minnerede ursprünglich einer Kommunikationssituation angehörte, in der die Verlautbarung der Minneregeln sowie die Kommunikation mit der Ge-liebten einer freien Konversation vorbehalten blieb, und daß erst mit der Fixie-rung und Illustrierung im Codex eine Fiktionalisierung oder Exemplifizierung dieser Minnegeschichte einsetzte. Anders gesagt: Der nicht der neuen Situation angepaßte Text fungiert im Codex als Garant authentischer Minnekommuni-kation, während das Bildprogramm die vergangene Geschichte eines Minnever-hältnisses vergegenwärtigt.

verwunderlich, wenn der Etter, der in Bild Nr. 7 (fol. I2r, vgl. Abb. 2a) die Schwelle zum Reich der Personifikationen markiert, an Zäune erinnert, die gelegentlich auf Wandmalereien zu sehen sind und dort offenbar in vergleichbarer Weise eine Welt des Diesseits von einer utopischen Welt der Minne- und Aventiureszenen abtrennen; vgl. z. B. die Zaune in den Wandmalereien auf Schloß Friedberg in Tirol (Abbildungen bei Oswald Trapp, Die Maximilianischen Gemälde im Friedberger Rittersaal, in: Wiener Jahrbuch für Kunstgeschichte 23 [1970], S. 5-27) und den Beitrag von Hans-Rudolf Meier, Dekorationssysteme profaner Raumausstattungen im späten Mittelalter, in die-sem Band, S. 411-414, bes. 413. Es ist denkbar, daß die Zäune auf den Wänden darauf verweisen sollen, daß das, was auf der Wand gemalt ist, einen privilegierten Einblick verschafft, z. B. in eine Welt der höfischen Minnekommunikation. Die nicht seltenen Gesprächsszenen in Minnegärten wären ebenfalls hierher zu stellen. Wie die exem-plarische Minnekommunikation in den Minnereden und ihre offenen Enden scheinen auch diese Wandmalereien die Funktion gehabt zu haben, (Minne)-Konversation zu initiieren, indem sie (Minne)-Konversation vorführten. — Wir danken Hans-Rudolf Meier für freundliche Hinweise. - Zu den kulturhistorischen und kulturanthropolo-gischen Aspekten gezäunter Grenzziehungen vgl. etwa Hans Peter Duerr, Traumzeit. Über die Grenze zwischen Wildnis und Zivilisation, Frankfurt a. M. 1985, S. 8of. u. Ö.; Lambertus Okken und Hans-Dieter Mück, Die satirischen Lieder Oswalds von Wol-kenstein wider die Bauern. Untersuchungen zum Wortschatz und zur literarhistori-schen Einordnung (GAG 316), Göppingen 1981, S. 298ff.

45 Nr. 18 (fol. 3ov): Minner spricht zur klagenden Dame im Wald; - Nr. 19 (fol. 3zr): Minner verkündet vier Damen etwas, unter diesen ist auch seine Minnedame (Abb. 2b); - Nr. 20 (fol. 32v): Minner steht zwischen zwei Damen (vielleicht Wer-bungsszene?); - Nr. 21 (fol. 33v): Minner und Minnedame stehen nahe beieinander, sie hat den rechten Arm unter seinen linken geschoben. - Auch das auf 10 Holzschnitte reduzierte Bildprogramm der Drucküberlieferung des >Minnegerichts< zeigt im letzten Holzschnitt die sozusagen textexterne Verkündungsszene: Hie verkündet der Jungling liebhaberen vnd liebhaberin den orden vnd reglen der liebe (zitiert nach Schmidber-ger, Untersuchungen [Anm. 15], S. 391). - Demgegenüber folgt im Text des Elenden Knaben nach dem Abschied von den Minnepersonifikationen nurmehr eine Art Epi-log, in dem das sprechende Ich über rechte und falsche Minne reflektiert und seiner Hoffnung auf Erhörung durch die Dame Ausdruck gibt.

IIO Ludger Lieb / Peter Strohschneider

Fortsetzbarkeit in Anschlußkommunikationen gehört zu den Spezifika der Textsorte Minnerede, und sie unterscheidet sie von anderen Textsorten. Selbst-verständlich kann auch das kommunikative Geschehnis zum Beispiel einer ro-manhaften Artuserzählung in Anschlußkommunikationen über den Roman fortgesetzt werden, doch können diese die Kommunikationen >im< Roman nicht in der Weise fortsetzen, wie textexterne Kommunikationen die Formen und Inhalte der textinternen Kommunikation von Minnereden zu prolongieren ver-mögen. Artusromane halten nicht in der Weise Formulierungen für das Spre-chen über ritterliche Abenteuer bereit, wie dies Minnereden für das Sprechen über die Liebe tun. Man könnte in diesem Sinne sagen: Minnereden stellen im Maße ihrer Konventionalität >Vorratsformulierungen< für das konversationelle Sprechen über die Minne und das Verhalten von Minnenden bereit, und sie provozieren und modulieren dieserart textexterne Anschlußkommunikatio-nen.46 Wäre dem so, dann hieße dies, daß Minnereden im Regelfall nur unter den Bedingungen einer aristokratischen Konversationskultur funktionieren können, in der im wesentlichen so gesprochen wird über die Minne, wie in der epischen Welt der Minnereden gesprochen wird - eine Konversationskultur, deren Stabilität wesentlich auf ihrer Konventionalität beruht.

Das oben bereits zitierte vierte und fünfte Minnegebot könnte jenen Typus konventioneller Rede ebenso anschaulich repräsentieren wie jeder andere Aus-schnitt zum Beispiel aus dem langen Kanon von Minneregeln, der den größten Teil der Erzählung des Elenden Knaben umfaßt. Es handelt sich um sozusagen in Prozessen der Weitergabe >von Mund zu Mund< eingeschliffene Allerwelts-weisheiten, die selten anderes bieten als die Repetition dessen, was jeder (text-externe) Teilnehmer aristokratischer Minnekonversation auch ohnedies wüßte (V. 1169-1174):

Daß ailfft gebot ich dir gesprich: du solt sin hupsch und höfflich mit allem wandel und sytten, din fruntschafft söl sin niemans vermitten. lieb will kain unzucht hön; bistu stet, du sigst ir an.

46 Es handelt sich bei diesen Vorratsformulierungen nicht um Sentenzen im Sinne von Tomas Tomasek, also um »Erfahrungssätze in geprägter Gestalt«, die auf Handlungs-entscheidungen in kontingenten Situationen zielen oder Handlungen im Nachhinein bewerten (Tomas Tomasek, Sentenzenverwendung im höfischen Roman des 12./ 13. Jahrhunderts. Vom Diskurs zur Konvention, in diesem Band, S. 47-63). Vielmehr sind die Vorratsformulierungen als >Einübungen< zu verstehen, als Formulierungsan-gebote, die innerhalb der Minnekommunikation verwendet werden können. Sie zielen also auf die Ermöglichung kommunikativer Handlungen. Es ist von daher auch plau-sibel, daß - wie Tomasek bemerkt - im Corpus der Minnereden gerade nur wenige Sentenzen nachweisbar sind»

Zur Konventionalität der Minnerede 117

Wohl wird hier das elfte der praecepta amoris des Andreas Capellanus referiert: In omnibus urbanum te constituas et curialemf7 dies Gebot zielt offenbar dar-auf, höfische Höflichkeitsstandards auch außerhalb von Minnekommunikation ins Recht zu setzen. Die Erweiterung solcher Normierung im mittelhochdeut-schen Text geschieht indes locker assoziativ: >Man soll mit allen gut Freund sein, die Liebe will keine Unzucht haben, mit der staete besiegt man die Unzucht.< Nicht nur ist hier keine irgendwie systematisierte Erweiterung zu erkennen, vielmehr scheinen die sich anlagernden Formeln und Wendungen in ihrer Be-liebigkeit nichts anderes vorzuführen als den Modus einer Minne-Konversation selbst, auf die sie - wie wir meinen - zielen und die durch konventionelle Aussagemöglichkeiten bestimmt ist.48 Konventionalität aber meint, wir wieder-holen uns, die Limitierung von Entscheidungsspielräumen, die Verringerung verfügbarer Handlungsoptionen und die Ausstattung dieser Optionen mit Er-wartungssicherheit und interaktiver Erfolgswahrscheinlichkeit. Was hier ge-sprochen werden kann, ist durch Konventionen so eingeschränkt, daß schon auf kleiner Distanz die Rekurrenz als Manifestation des Konventionellen evident wird (V. 1336-1345 und 1356-1364):49

Die sibenzehend regel will ich dich lern: lieb gen lieb hät ye den sit, als man es fint und feit nit3 wan lieb lieb an plickt, von rechter lieb sie erschrick und ferbt sich blaich oder röt. solich natur die lieb hät ich wolt daß kain claffer solt wissen diß haimlich ler, so wird manig mensch behuet vor sunden. [ - ]

Die nunzehend regel soltu schicken: so lieb gen lieb uff plicken tut, gar selten do daß herz ruwt, es werd zittern und springen. daß und mer kan lieb bringen. wan lieb hört lieb nennen, do by mag man lieb erkennen: es tut sich verben und wirt im haiß. es geschieht mangem daß er nit waißt.

Selbstverständlich könnte man derartige Textausschnitte und Texte auch mit ästhetischen Wertungen behandeln und damit ihre Beurteilung auf jene Ebenen der ästhetischen Kompetenz des Autors oder auch einer >herbstlichen< Kultur-stufe verschieben, welche für literarhistorische Analysen unzugänglich bleibt.

47 Anreas Capellanus, De Amore (Anm. 18), S. 106; vgl. Schmidberger, Untersuchungen (Anm. 15), S. 334.

48 Vgl. auch Lieb, Eine Poetik (Anm. 39), S. 517f. 49 Vgl. zum folgenden Beispiel auch Schmidberger, Untersuchungen (Anm. 15), S. 6of.

IIO Ludger Lieb / Peter Strohschneider

Es ließen sich solche Formulierungen aber auch als Indizien dafür verstehen, daß es in ihnen weniger um den propositionalen Gehalt von Rede über Minne geht, als darum, einen nicht enden könnenden Minne-Rede-Fluß in Gang zu setzen und in Bewegung zu halten.50 Was hier zu hören ist, ist gewissermaßen das >Rauschen< dessen, was Berger und Luckmann eine »Konversationsma-schine« nannten: Sie produziert jene »Häufung und Dichte« des Gesprächs, durch welches erst die subjektiven Wirklichkeiten »ihr Volumen« gewinnen.51

In solchem Sinne, so hat man den Eindruck, etabliert sich Minneredenkom-munikation in den zitierten und vergleichbaren Fällen als ein so häufiges wie dichtes Gespräch und konstituiert sie sich dieserart als stabilisierendes Element einer Welt, deren Selbstverständlichkeiten gerade im repetitiven Vollzug des Selbstverständlichen manifest werden; die Tautologie ist eben das logische Äquivalent des Konventionellen.52

IX

Nachdem in einem früheren Schritt Rekurrenz als Effekt von Konventionen und in einem nachfolgenden sodann Kommunikationsstabilisierung als Funk-tion von Konventionalität beschrieben wurde, soll nun in einem dritten und vorläufig letzten Schritt der fremd gewordene historische Status von Konven-tionalität paradox gefaßt werden, indem die zu Beginn dieser Skizze modellhaft entworfene terminologische Differenzierung auf ihre ahistorischen Implikatio-nen befragt wird. Zu diesem Zweck ist zunächst auf die narrative Inszenierung der Gesetzgebung im >Minnegericht< zu achten.

Die Fülle von Formulierungsmaterialien für Konversationsmaschinen wird vom Elenden Knaben in einer Weise narrativ gerahmt, welche ihre Selbstver-ständlichkeit und Fraglosigkeit gerade einschränkt. Der Text bietet nicht allein

50 Um diese Verfahren von anderen Gattungen abzugrenzen, würde sich wohl ein Blick auf die Sangspruchdichtung lohnen, in der in ähnlicher Weise »motivische Redundanz« zu beobachten ist, welcher sich publikumsbezogene Funktionen, z. B. Wiedererkenn-barkeit, zuordnen lassen. Da in der Sangspruchdichtung aber die Rolle des Autors sehr viel stärker ausgeprägt ist und daher »Dichtungskompetenz« nachgewiesen werden muß (was in der Minnerede gerade nicht der Fall ist; hier reicht es, Minnender zu sein), greifen die Spruchdichter bevorzugt u. a. zu allegorischen Auslegungen der konven-tionellen Motive. »Dichterkompetenz ist [...] in Deutungskompetenz und Deutungs-talent erweisbar«, vgl. Jens Haustein, Form und Funktion motivischer Konventiona-lität in der Sangspruchdichtung, in diesem Band, S. 92.

51 Berger und Luckmann, Die gesellschaftliche Konstruktion (Anm. 2), S. 163! 52 Im Hinblick auf solche >Konversationsmaschinen<, die vermutlich nur für je spezifi-

sche Segmente und Strata der Gesellschaft funktionierten, zeigte sich dann noch eine weitere Funktion des Konventionellen: Es kann als Distinktionsmerkmal solcher so-zialen Einheiten dienen: Nur derjenige, der die Konventionalität des Minne-Rede-Flusses in seiner eigenen Rede fortsetzt oder dessen Konventionalität zumindest bil-ligt, kann Mitglied einer Minnekommunikationsgruppe sein. VgL auch Lieb, Eine Poe-tik (Anm. 39), S. 518-520.

Zur Konventionalität der Minnerede 117

einen reichen Formulierungsvorrat, sondern er bietet für diesen Vorrat zugleich auch eine mythische Ursprungsgeschichte an. Diese Geschichte ist in Analogie zu einem religiösen Offenbarungsmodell aufgebaut und bezieht eben aus dieser Analogie ihr Legitimationspotential." Sie beantwortet die Frage nach Genesis und Gültigkeit des bereitgehaltenen Formulierungsvorrates und könnte damit indizieren, daß dieser Vorrat - tendenziell oder weithin - aus dem Bereich des Fraglosen in denjenigen des Fragwürdigen gerät, daß er seine Selbstverständ-lichkeit verloren hat oder zu verlieren droht.

Elemente dieses Rahmens sind zunächst in den Handlungsrollen des Ich-Akteurs aufzusuchen. Das Ich dieser Minnerede überschreitet nicht allein zwei-mal Schwellen, so daß insgesamt drei Wirklichkeitsbereiche konstituiert wer-den: die alltägliche Ausgangswelt, der Raum der Begegnung mit der klagenden Dame sowie der Jenseitsraum von Venus und ihrem Gefolge. Es ist überdies jeder dieser Sphären eine spezifische Handlungsrolle des Ich zugeordnet. Der sich zunächst wie alle Minner als Märtyrer wahrnimmt (V. 212), beabsichtigt seine Herkunftswelt zu verlassen, um in der Fremde und Wildnis außerhalb ihrer Grenzen als eilender knab, sozusagen also als Einsiedler der Minne sich seiner Minneklage einsam hingeben zu können. Dies wird durch die zufällige Begegnung mit der Dame im Wald unterbunden, die dem Ich den Weg weist in die in noch weitere Ferne entrückte Venuswelt. Dort wird dem Ich-Protago-nisten schließlich die Rolle eines Propheten zuteil, zu welcher es auch gehört, die göttlichen Gesetze im Diesseits zu verkünden (V. 1076-1082):

sie wôlten mich wißen und leren die Liehen orden und geböt, daß ich daß tat durch den werden Göt und verkunt es allen lütten die diß sach wollend trutten, und tat sie die regel underwißen wie lieb mit lieb sy ze spißen.

Fast möchte man sagen, es sei wie bei Moses und den Gesetzestafeln auf dem Berg Sinai: Es liegt eine Kommunikationssituation vor, die sozusagen die Gren-ze von Immanenz und Transzendenz übergreift und die in diesem strukturellen Sinne als Offenbarungsakt zu beschreiben ist. Es sind indes Minnegesetze, die dieserart zum Inhalt göttlicher Revelation werden. Und der Prophet, welcher sie empfängt, wird diese Offenbarung nicht allein an die Menschen weitergeben,

53 Auch die hier nicht weiter thematisierten katalogartigen Aufzählungen von Minne-regeln stiften, schon insofern sie Aufzählungen sind, Legitimität. Tilman Krischer, ETYMOS und ALETHES, in: Philologus 109 (1965), S. 161-174, hat hinter den Ka-talogen die vormoderne Vorstellung aufgedeckt, »daß >Aufzählen< und >Wahrheit< zu-sammengehören: Wer die Wahrheit kennt, der kann sie auch genau aufzählen, und wer genau aufzählt, der beweist damit, daß er die Wahrheit spricht« (S. 170). Vgl. auch Hans Blumenberg, Arbeit am Mythos, 5. Aufl., Frankfurt a. M. 1990, S. 47; Haiko Wandhoff, Der epische Blick. Eine mediengeschichtliche Studie zur höfischen Litera-tur (Philologische Studien und Quellen 141), Berlin 1996, v. a. S. 144^.

IIO Ludger Lieb / Peter Strohschneider

er hat sie ihnen zuvor schon als imitable Leitfigur vorgelebt: in jenem Marty-rium, das sich für ihn aus der Befolgung der Ordnungen der Minne ergeben hatte. Darin eben liegt seine besondere Qualifikation für die Rolle des Pro-pheten.

Komplementär zu diesem Modell der Weitergabe von Minne-Rede ist über-dies auch deren Ursprungsort so inszeniert, daß er einem religiösen Basismodell strukturhomolog ist. Das Ich befindet sich im Innern der konzentrisch ange-ordneten Sphären dieser epischen Welt an einem Ort des faszinosen und para-diesischen Geheimnisses, Es sind die Minnepersonifikationen, die diesen Ort bevölkern, die einen Göttinnenhimmel bewohnen, in welchem - wie bei Gott das Buch des Lebens54 - ein Buch geführt wird, dar in geschriben waß der lieben recht; / und wer ye waß geweßen irkneht (V. 1097^). Dieses Buch der Gesetze der Liebe und derjenigen, die ihnen unterworfen waren, hat seinen Platz im Innersten dieser mysteriösen Innenwelt, nämlich in einem haimlich gemach (V. 1095), und es ist hier, in der Mitte des Numinosen, daß das Ich jene Geset-zesworte aus dem Munde der Göttin Venus empfängt, die es an das >Volk< der Liebenden weitergeben wird. Erzählt wird das Mysterium eines sakralisierten Stiftungsaktes, eines Ur-Sprunges von Minnegesetzen, der freilich, wie es in schriftreligiös geprägten Kulturen kaum anders sein könnte, von einem ihm vorausgehenden Buch paradoxerweise nicht zu unterscheiden ist; die Frage, ob hier die Rede oder die Schrift der Venus primär seien, ist unter solchen Ver-hältnissen offenkundig falsch gestellt.55

Die Strategien struktureller Sakralisierung jenes Rahmens, in welchem die Regeln und Gebote der Minne ausgesagt werden, liegen offen zutage. Dies ist freilich im Diskurs der Minnereden keineswegs originell, insofern Stategien der Sakralisierung von Minne zu deren stehenden Verfahren gehören.56 Weit weni-ger typisch hingegen ist, worauf es uns hier ankommt: Es ist spezifisch ein Stiftungsakt von Minnegesetzen, der im >Minnegericht< des Elenden Knaben erzählt wird: eine Gesetzgebung.

54 Vgl. insbesondere Ps 69,29, Phil 4,3, Apc 3,4. Zur Traditionsgeschichte vgl. etwa Hans Blumenberg, Die Lesbarkeit der Welt, Frankfurt a. M. 1981, S. 23^

55 Die Illustration zu dieser Szene (Taf. I) umgeht dieses Problem, indem sie nicht Frau Venus zeigt, sondern das Ich, dessen Rede an eine Dame offenbar als Weitergabe dessen verstanden werden soll, was im Buch steht. Damit kann der Schrift eindeutig die Priorität zugesprochen werden. Durch sie ist die Rede des Ich legitimiert. Zwar trifft diese Darstellung strukturell gesehen recht genau das Textverfahren, das ebenfalls auf eine Autorisierung der Rede des Ich zielt, doch findet eine solche Szene im Text keine Entsprechung.

56 Erinnert sei nur aus der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts an die >Sekte der Minner< (Brandis 302) oder >Das Kloster der Minne< (Brandis 439), aus dem 15. Jahrhundert an >Das weltliche Klösterlein< (Brandis 440) oder >Die Beichte einer Frau< (Brandis 340). Auch in den bildenden Künsten liefert die christliche Ikonographie die Bildmuster für Minnedarstellungen, wie Norbert H. Ott, >Freisetzung< und >Rituaüsierung<, in diesem Band, S. 254-259, anhand der Ikonographie der Baumgartenszene eindrücklich zeigt.

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Zieht man diese letzten Beobachtungen zusammen, dann ist zu sehen, daß im >Minnegericht< eine Konstellation vorliegt, welche mit den im Verlauf dieser Untersuchung entwickelten Begriffen nur noch paradox beschrieben werden kann. Der Text inszeniert konventionelle Vorratsformulierungen als Offenba-rungen der Liebesgöttin(nen): Er führt das Selbstverständliche auf seinen quasi mythischen Ursprung zurück und läßt das Konventionelle gegen seinen eigenen Begriff als Ergebnis eines Stiftungsaktes erscheinen. Das Konventionelle wird hier gesetzt, und es zeigt sich dieserart als das, was es nicht ist: als Gesetz. Die Argumentation ist damit an einem Punkt angelangt, an welchem die oben in den Abschnitten 3 und 4 eingeführte typologische Rede von >Konvention< und >Gesetz< nur noch aporetisch fortgesetzt werden könnte: Die vom Elenden Kna-ben formulierten Normen der Minne sind gewissermaßen in gleicher Weise konventionell und gesetzesförmig, es sind gesetzte Konventionen und konven-tionelle Gesetze. An einem solchen Punkt muß man, wie sich versteht, die Argumentationsebene wechseln, man kann an ihm allein dann noch weiterma-chen, wenn man das Verhältnis von analytischem Begriff und historischem Ge-genstand selbst in den Blick rückt.

Ein solcher Wechsel der Beobachtungsebene gestattet es, die entstandene Aporie in historische Distanz und epistemologische Differenz zwischen dem Begriff und seinem Gegenstand zu transformieren. Einerseits nämlich schlägt sich in ihr offenkundig die historische Distanz zwischen dieser Begriffssprache und ihrem Gegenstand nieder. Der Gegenstand, die Minnerede samt den in ihr formulierten Minnegesetzen, gehört, höchst pauschal gesagt, in kulturelle Zu-sammenhänge, in denen die Gefüge der Handlungsregulationen nicht in jener Weise strukturiert werden, wie die hier vorgenommene Unterscheidung von Konvention und Gesetz dies voraussetzt. Diese Unterscheidung hatte mit einem Verbindlichkeitsgefälle zwischen Gesetz und Konvention und mit abgestufter Sanktionierung operiert; sie hatte jenem den Gesetzgebungsakt, dieser hingegen emergente Herausbildung zugeordnet und solcherart Legitimierungstypen un-terschieden; sie hatte situationsübergreifende universalistische von situational-partikularistischen Regulierungsformen geschieden und überdies die durch Sa-kralisierung hergestellte Unverfügbarkeit des Gesetzes von der in Eingewöh-nungsprozessen sich herausbildenden Selbstverständlichkeit der Konventionen abgehoben. AU dies aber sind Unterscheidungen, welche in den Selbstbeobach-tungen vormoderner Kulturen jedenfalls nicht in der heute geläufigen Weise vorkommen und gelten können. Dort nämlich sind Handlungsnormen mit Ver-bindlichkeitsanspruch stets der metaphysischen Letztbegründung fähig; dort kommt zugleich nicht-interaktionistischen Kommunikationsformen ein ledig-lich insularer Status zu, so daß auch jene in Prozessen der interaktionellen Ein-gewöhnung sich herausbildenden Handlungsregulationen, die als konventionel-le zu klassifizieren wären, weder in dieser distanzierten Weise beobachtet noch in ihrer Verbindlichkeit und Reichweite sogleich vom Gesetz unterschieden würden. In den Semantiken der Selbstbeschreibung solcher vormodernen Kul-

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turen wird die handlungsregulierende Kraft der lex von derjenigen der consue-tudo schwerlich abgehoben, dort bilden der Wortlaut der Schrift, die Rede der Väter und das Wort des Königs mit dem mos maiorum und den narrationes veterum ebenso einen gemeinsamen Regulierungszusammenhang wie mit dem je und je Eingewöhnten und dem seit alters Verläßlichen. Hier gelten also Dif-ferenzierungsmuster, die historisch fremd geworden sind und die quer stehen zu denjenigen, die die Unterscheidung von Konvention und Gesetz begründen. All dies imphziert man übrigens, wenn man zum Beispiel sagt, daß es sich bei mittelalterlichen Kulturen um traditionale handle.

X

Es lassen sich an diese Bemerkungen schließlich ganz knapp zwei Perspektiven anschließen, die ihre Konsequenzen einerseits in eine systematische und ande-rerseits in eine historische Richtung ausziehen. In systematischer Richtung zu-nächst ist klar, daß jede analytisch ertragreiche Unterscheidung von Handlungs-regulationen etwa nach dem Muster von >Konvention< und >Gesetz< keinesfalls eine Unterscheidung auf der Ebene der untersuchten Gegenstände, also der historischen Semantiken kultureller und auch ästhetischer Selbstbeschreibung selbst sein kann und daß es sich mithin auch beim Konventionalitätsbegriff (in dem oben angedeuteten differenztheoretischen Sinn) allein um ein Instrument der Analysesprache handeln kann. Als Analyseinstrument freilich befindet sich der Konventionsbegriff stets in Distanz gegenüber den historischen Gegenstän-den. Erst und gerade im Maße dieser Distanz wächst ihm überhaupt analyti-sches Potential zu; und es ist übrigens solche Distanz, die bei der Arbeit am Text des Elenden Knaben als Aporetischwerden des Begriffs begegnete.

Dabei Heße sich diese Distanz in verschiedener Weise genauer beschreiben. Nur ein Akzent soll hier hervorgehoben werden: Als ein Begriff unserer Ana-lysesprache gehört der Ausdruck >Konvention< - und zwar unabhängig davon, welche begriffliche Fassung genau ihm gegeben werden mag (und es muß ja keineswegs die oben vorgeschlagene sein) - zusammen mit dieser Analyse-sprache und ihren wissenschaftlichen Rationalitätsformen in eine Welt - in un-sere Welt von welcher man unter anderem sagen kann, daß sie in ihren Selbstbeschreibungen alle Konventionalität tendenziell devaluiert. Benützt aber wird dieser Begriff, um vergangene Welten zu studieren und Texte zu inter-pretieren, die gerade in der bezeichneten Hinsicht durch deutliche Alterität von den unsrigen geschieden sind: kulturelle Zusammenhänge nämlich und Texte, bei denen für eine Privilegierung des Unkonventionellen, des Neuen, des Ori-ginellen und des Innovativen die meisten Voraussetzungen >noch< fehlen, in denen daher das Konventionelle schon als solches große Chancen auf Zustim-mung und Legitimität besitzt. Dies heißt selbstverständlich nicht, daß es das Neue im Mittelalter nicht habe geben können (es wäre anders schwerlich die Entwicklung dessen, was sich dann die Neuzeit selbst genannt hat, denkbar). Es

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heißt lediglich, daß die Beobachtung des Neuen als Neues und als Legitimes den in mittelalterlichen Kulturen auf lange hin unwahrscheinlichen Fall darstellt. Dürfte man in dieser Allgemeinheit und Pauschalität weitersprechen - doch dies allein, um vor allen unumgänglichen Abschattierungen und Differenzierungen ein allgemeines Prinzip hervortreten zu lassen so könnte man also sagen: Der Begriff der Konvention - in jedweder Fassung - hat seinen systematischen Ort eben dort, wo sich in den Semantiken moderner Selbstbeschreibungen die mo-dernen Kulturen von denen des europäischen Mittelalters abheben lassen: als posttraditionalistische nämlich, welche die Traditionalismen (und die Konven-tionalitäten) der alteuropäischen Gesellschaften weithin hinter sich gelassen haben. Dies aber ist eine Konstellation, in welcher auch und gerade vom Kon-ventions-Begriff allein ein Gebrauch begründbar wäre, der die historische und epistemologische Distanz zwischen Objekt- und Begriffssprache unentwegt mitdenkt. Umgekehrt dürfte keine Verwendungsweise begründbar sein, die das Konventionelle irgend im Sinne einer universalen, transhistorischen oder trans-kulturellen Gegebenheit denkt.57

Schließlich aber läßt sich jene aporetische Begriffskonstellation, in welche diese Skizze angesichts des >Minnegerichts< mit dem zuvor entworfenen Kon-ventions-Begriff geraten ist, auch in Richtung auf eine Präzisierung desjenigen historischen Ortes auflösen, an welchem der Text des Elenden Knaben mögli-cherweise zu situieren wäre. Dieser Ort nämlich scheint systematisch genau zwischen jenen beiden Ordnungen zu liegen, die im vorangehenden über das Kriterium der Ungeschiedenheit bzw. Unterschiedenheit von >Gesetz< und >Konvention< einander idealtypisch gegenübergestellt wurden. Man kann diesen Ort daher aus zwei entgegengesetzten Perspektiven in den Blick nehmen. Einer-seits ließe sich sagen, es sei dem >Minnegericht< ohne weiteres möglich, »Kon-ventionen der Minne als deren >Gesetze< in Geltung zu setzen und insofern repräsentiere der Text eine kulturelle Lage, in welcher Differenzen der beiden Typen von Handlungsregulierung, ihre Unterscheidbarkeit etwa hinsichtlich ih-rer Verbindlichkeit oder ihrer Reichweite >noch nicht< relevant seien.58 Mit glei-

57 Transhistorisch und transkulturell ist allerdings ein Begriff von Konvention, der diese ganz formalistisch als Kontingentierung von Entscheidungsalternativen versteht (siehe oben S. 12 if.). Nur insofern der Konventionsbegriff gegen das >Gesetz< abgegrenzt wird, wie dies oben, S. 114L, unternommen wurde, ist seine Bezogenheit auf histori-sche Begebenheiten zu begrenzen. Letztlich gründet diese Unscharfe auch der hier versuchten Begriffsexplikation in einer Polyvalenz des Konventionsbegriffs: »weil sich hinter einem Begriff gleich mehrere inkompatible Definitionen und methodologische Applikationen verbergen« (Weninger, Literarische Konventionen [Anm. 7], S. 10), für welche überdies verschiedene »Verortungsmodi« - etwa im Text, im Autor, im Leser oder im Kontext - zu veranschlagen sind. Dieser Aspekt würde hervorgehoben, wenn man das >Minnegericht< in die Tradition jener Minnereden stellte, die gleichfalls die Konventionen des Minnediskurses in Ka-talogen von gesetzesähnlichen Regeln fassen, also etwa Eberhards von Cersne >Der Minne Regel< (Edition du manuscrit avec introduction et index par Danielle Buschin-

IIO Ludger Lieb / Peter Strohschneider

chem Recht könnte aber auch formuliert werden: Es sei >bereits< eine Abnahme ihrer normativen Verbindlichkeit und eine Schrumpfung ihres Regulierungs-horizontes, welche sich in dem Sachverhalt manifestiere, daß die Konventionen der Minne hier einer mythischen Ingeltungsetzung durch (quasi-metaphysische) Stiftungs- und Offenbarungsakte zu bedürfen scheinen.59 Jener Geltungsverlust von Konventionellem wie diese »Kompensation« durch Stiftung und Gesetzlich-keit würden demnach gleichermaßen auf einen Prozeß fortschreitender Ausdif-ferenzierung des Feldes von Handlungsregulativen hinweisen, auf einen Prozeß mithin, der in windungsreichen historischen Entwicklungen dahin führen wird, daß überhaupt >Konvention< und >Gesetz< zum Beispiel auch in der hier vorge-schlagenen Weise unterschieden werden können. In dieser, wie es scheint, glei-chen Begründbarkeit zweier einander entgegengesetzter Interpretamente zeigt sich der Text als sozusagen eine Kippfigur, und darin könnte allerdings der Index einer transitorischen geschichtlichen Position gesehen werden.

ger [GAG 276], Göppingen 1981, S. 1-146) oder die Minnelehre des Johann von Kon-stanz (nach der Weingartner Liederhandschrift unter Berücksichtigung der übrigen Uberlieferung hg. v. Dietrich Huschenbett, Wiesbaden 2002).

59 Diesen Aspekt hervorheben hieße es, wenn man die Uberlieferungsgeschichte des >Minnegerichts< in den Blick nähme. Sie ist nämlich eine der wenigen Minnereden, die in den Buchdruck gelangen, und sie wird dort in einen explizit didaktischen Wir-kungszusammenhang gestellt: Dwyll nun die lieb der iungê angends lebens eyn rey-tzung ist/ bedunckt mich dyß biichlyn der geordneten lieb/ dor yn anderung der weit nie wenig durch schympfliche byspül on boß befleckung der iügen vermerckt würt/ nit vnbilich gesetzt werde (Druck von Mathis Hupfuff, Straßburg 1499 [Sigle d], fol. 2V, zitiert nach Schmidberger, Untersuchungen [Anm. 15], S. 364). Die didaktische Funk-tion von Minnereden, die hier in der Selbstbeobachtung eines Redaktors des ausge-henden 15. Jahrhunderts formuliert wird, wurde in diesem Beitrag weitgehend ausge-blendet. Das soll nicht heißen, daß Minnereden nicht didaktisch sein konnten. Es ist hier nicht der Ort, ihre verschiedenen Gebrauchszusammenhänge zu analysieren, vor-stellbar allerdings sind Minnereden in mindestens drei verschiedenen Situationstypen: 1. Kommunikation zwischen dem Dichtenden und seiner Dame: Minnerede als Wer-bung (vgl. Andreas Capellanus, Ulrich von Liechtenstein, viele Kleinformen ohne nar-rative Rahmung sowie grundsätzlicher, in Bezug auf den Minnesang jetzt: Harald Haferland, Hohe Minne. Zur Beschreibung der Minnekanzone [ZfdPh. Beihefte 10], Berlin 2000, bes. S. 126-150); 2. Kommunikation in einer Minnegemeinschaft: Min-nerede als kollektive Einübung (Partizipation, Anschlußkommunikation, Konventio-nalisierung des Redens über die Minne, vgl. hierzu auch Lieb und Strohschneider, Grenzen [Anm. 40]); 3. Kommunikation in einer medientechnisch vermittelten Situa-tion: Minnereden als Normvermittlung, Didaxe (Sammelhandschriften, Buchdruck). Hier war es allein um die zweite dieser Situationen zu tun, weil nur für sie der Zu-sammenhang von Konventionalität und Konversation von einiger Bedeutung ist.