Osmanische Sozialdisziplinierung am Beispiel der Nomadenstämme Nordsyriens im 17.-18. Jahrhundert

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Geltung einer alle Le},ensbereiche regelnden, von Gott gegebenen Normativitat vertritt. Keiner der Erzahler stellt diese Geltung in Frage. Einzig al-Kurdi lasst zumindest ein Element von Allgemeinheits- individualitat erkennen, indem er eine radikale Gesellschafts- und Kulturkritik vornimmt, wahrend as-Suyuti und an-Nabulusi bei aller Betonung ihrer Unterscheidbarkeit von anderen sozialen Akteuren die bestehende gesellschaftliche Ordnung doch gnmdsatzlich aner- kennen. Al-Kurdi bricht nicht ganzlich mit islamischer kultureller Tradition, sondem verweist immer wieder auf altere Autoritaten. die seine Position bestatigen. Auch in diesem Punkt liegt somit Allge- meinheitsindividualitat im oben beschriebenen Sinne bei ihm nicht vor. Allerdings ist zu bedenken, dass die Autoritaten, auf welche er sich bezieht, eine Denktradition vertreten, die menschliche Gesell- schaft als prinzipiell verderbt ansieht und deswegen in kritischer Distanz zu ihr steht. Innerhalb dieser Gesellschaft gibt es fur den Ein- zelnen keinen ganzlich zufriedenstellenden art, hochstens ein eini- germaBen komfortables Leben, wie es al-Kurdi in Agypten gefunden zu haben scheint. Zusammenfassend lasst sich somit sagen, dass al-Kurdi sicher kein Vertreter einer "modemen" Individualitat war, einer Form der Indi- vidualitat, die den Einzelnen letztlich nur auf sich selbst vertrauen lasst. Aber sucht man nach Spuren, vielleicht Vorlaufern oder Punk- ten, an welche die Entwicklung hin zu einer solchen Individualitat in islamischen Kulturen anknupfen konnte, dann sollte sein Text nicht ubersehen werden. 50 Osmanische Sozialdisziplinierung am Beispiel der Noma- denstamme Nordsyriens im 17.-18. jahrhundert" Stefan Winter Der folgende Beitrag soll erortern. inwiefem sich Gerhard Oestreichs Konzept der "Sozialdisziplinierung in der fruhen Neuzeit" auf die gesellschaftliche Entwicklung Westasiens unter osmanischer Herr- schaft nutzlich anwenden lasst. In der deutschen Geschichtswissen- schaft zahlt der 1958/59 vorgetragene Begriff zu den "Fixstemen un- ter den Theorien historischer Prozesse,"! und hat insbesondere zwei Forschungszweigen als Paradigma gedient, die gesellschaftlichen Verflechtungen und Auswirkungen des staatlich-politischen Absolu- tismus hervorzuheben: Zum einen haben Reformationshistoriker die Kirchen- und Sittenzucht als Grundlage der sowohl katholischen wie auch protestantischen Territorialstaaten im 16.-17. [ahrhundert identi- fiziert, wobei die Bedeutung des Verordnens "von oben" fur die Kon- fessionsbildung von manchen Kritikem bereits vehement angezwei- felt worden ist.2 Zum anderen ist die zunehmende Policey gegeniiber sozialen Devianten im friihneuzeitlichen Reich - Haretiker, [uden, fahrendes Yolk, Gauner - heute in den Mittelpunkt der historischen Kriminologie geruckt.t Die Disziplinierung als Gesellschaftsprozess hat jedoch nur bedingt Widerhall in der anglo-franzosischen Ge- • Ich bedanke rnich herzlich bei Constantin Fasolt, Reiner PraB und Hubertus Neuschaffer fur ihre wertvollen Anregungen und Hinweise. 1 Neben "Rationalisierung" und "Zivilisationsprozess", nach Gerd Schwerdhoff, ZivilisationsprozeB und Geschichtswissenschaft: Norbert Elias' Forschungspara- digma in historischer Sicht, in: Historische Zeitschrift, 266, 1998, S. 561-605. 2 Zur Einfiihrung in die Problematik der Sozialdisziplinierung in Europa, siehe Gerhard Oestreich (gest. 1978), Strukturprobleme des europaischen Absolutismus, in: Vierteljahrschrift fir Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, 55, 1968, S. 329-347; Winfried Schulze, Gerhard Oestreichs Begriff Sozialdisziplinierung in der Friihen Neuzeit, in: Zeitschrift fir Historische Forschung, 14, 1987, S. 265-302; Martin Scheutz, Alltag und Kriminalitiit: Disziplinierungsversuche im sieirisch-oeierreichischen Grenzgebiet im 18. [ahrhunderi, Wien, Munchen 2001, S. 18-34. 3 Siehe z.B. Gerd Schwerdhoff, Devianz in der alteuropaischen Gesellschaft: Umrisse einer historischen Kriminalitatsforschung, in: Zeitschrift fir Historische Forschung, 19, 1992, S. 385-414; Uwe Danker, Rliuberbanden im Alten Reich um 1700: Ein Beitrag zur Geschichte von Herrschaft und Kriminalitiit in der Friihen Neuzeii, Frankfurt a. M. 1988. 51

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Geltung einer alle Le},ensbereiche regelnden, von Gott gegebenen Normativitat vertritt. Keiner der Erzahler stellt diese Geltung in

Frage. Einzig al-Kurdi lasst zumindest ein Element von Allgemeinheits­

individualitat erkennen, indem er eine radikale Gesellschafts- und Kulturkritik vornimmt, wahrend as-Suyuti und an-Nabulusi bei aller Betonung ihrer Unterscheidbarkeit von anderen sozialen Akteuren die bestehende gesellschaftliche Ordnung doch gnmdsatzlich aner­kennen. Al-Kurdi bricht nicht ganzlich mit islamischer kultureller Tradition, sondem verweist immer wieder auf altere Autoritaten. die seine Position bestatigen. Auch in diesem Punkt liegt somit Allge­meinheitsindividualitat im oben beschriebenen Sinne bei ihm nicht vor. Allerdings ist zu bedenken, dass die Autoritaten, auf welche er sich bezieht, eine Denktradition vertreten, die menschliche Gesell­schaft als prinzipiell verderbt ansieht und deswegen in kritischer Distanz zu ihr steht. Innerhalb dieser Gesellschaft gibt es fur den Ein­zelnen keinen ganzlich zufriedenstellenden art, hochstens ein eini­germaBen komfortables Leben, wie es al-Kurdi in Agypten gefunden

zu haben scheint. Zusammenfassend lasst sich somit sagen, dass al-Kurdi sicher kein

Vertreter einer "modemen" Individualitat war, einer Form der Indi­vidualitat, die den Einzelnen letztlich nur auf sich selbst vertrauen lasst. Aber sucht man nach Spuren, vielleicht Vorlaufern oder Punk­ten, an welche die Entwicklung hin zu einer solchen Individualitat in islamischen Kulturen anknupfen konnte, dann sollte sein Text nicht

ubersehen werden.

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Osmanische Sozialdisziplinierung am Beispiel der Noma­denstamme Nordsyriens im 17.-18. jahrhundert"

Stefan Winter

Der folgende Beitrag soll erortern. inwiefem sich Gerhard Oestreichs Konzept der "Sozialdisziplinierung in der fruhen Neuzeit" auf die gesellschaftliche Entwicklung Westasiens unter osmanischer Herr­schaft nutzlich anwenden lasst. In der deutschen Geschichtswissen­schaft zahlt der 1958/59 vorgetragene Begriff zu den "Fixstemen un­ter den Theorien historischer Prozesse,"! und hat insbesondere zwei Forschungszweigen als Paradigma gedient, die gesellschaftlichen Verflechtungen und Auswirkungen des staatlich-politischen Absolu­tismus hervorzuheben: Zum einen haben Reformationshistoriker die Kirchen- und Sittenzucht als Grundlage der sowohl katholischen wie auch protestantischen Territorialstaaten im 16.-17.[ahrhundert identi­fiziert, wobei die Bedeutung des Verordnens "von oben" fur die Kon­fessionsbildung von manchen Kritikem bereits vehement angezwei­felt worden ist.2 Zum anderen ist die zunehmende Policey gegeniiber sozialen Devianten im friihneuzeitlichen Reich - Haretiker, [uden, fahrendes Yolk, Gauner - heute in den Mittelpunkt der historischen Kriminologie geruckt.t Die Disziplinierung als Gesellschaftsprozess hat jedoch nur bedingt Widerhall in der anglo-franzosischen Ge­

• Ich bedanke rnich herzlich bei Constantin Fasolt, Reiner PraB und Hubertus Neuschaffer fur ihre wertvollen Anregungen und Hinweise.

1 Neben "Rationalisierung" und "Zivilisationsprozess", nach Gerd Schwerdhoff, ZivilisationsprozeB und Geschichtswissenschaft: Norbert Elias' Forschungspara­digma in historischer Sicht, in: Historische Zeitschrift, 266, 1998, S. 561-605.

2 Zur Einfiihrung in die Problematik der Sozialdisziplinierung in Europa, siehe Gerhard Oestreich (gest. 1978), Strukturprobleme des europaischen Absolutismus, in: Vierteljahrschrift fir Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, 55, 1968, S. 329-347; Winfried Schulze, Gerhard Oestreichs Begriff Sozialdisziplinierung in der Friihen Neuzeit, in: Zeitschrift fir Historische Forschung, 14, 1987, S. 265-302; Martin Scheutz, Alltag und Kriminalitiit: Disziplinierungsversuche im sieirisch-oeierreichischen Grenzgebiet im 18. [ahrhunderi, Wien, Munchen 2001, S. 18-34.

3 Siehe z.B. Gerd Schwerdhoff, Devianz in der alteuropaischen Gesellschaft: Umrisse einer historischen Kriminalitatsforschung, in: Zeitschrift fir Historische Forschung, 19, 1992, S. 385-414; Uwe Danker, Rliuberbanden im Alten Reich um 1700: Ein Beitrag zur Geschichte von Herrschaft und Kriminalitiit in der Friihen Neuzeii, Frankfurt a. M. 1988.

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schichtsschreibung gefunden, wo die mehr an der Herrschaftspraxis orientierten diskursanalytischen Ansatze von Michel Foucault und Pierre Bourdieu weithin das Bild von Devianz und Kontrolle bestimmen.! Vor allem aber ist Oestreichs Konzept gar nicht in der modemen Nahostforschung rezipiert worden, obwohl gerade hier eine engere methodologische Einbindung in die Sozialwissenschaften das starre, ahistorische Bild eines "fremden Orients" abzulosen ver­mag. Der vorliegende Essay, eine Untersuchung osmanischer Ver­waltungsquellen zum Stammeswesen im landlichen Nordsyrien, ver­folgt zwei Ziele: Erstens soll gezeigt werden, wie sich das Sozialdis­ziplinierungsparadigma in die nahostliche (westasiatische) Ge­schichtsschreibung iibertragen, und eventuell zur Erklarung von Wandel und Modemisierung im friihneuzeitlichen Osmanenreich heranziehen lasst. Zweitens soll gefragt werden, ob der staatliche Disziplinierungsprozess in einem deutlich nicht-europaischen Kon­text wiederum neue Ansatze zur generellen Sozialdisziplinierungs­forschung bieten kann,

Von der Eroberung Konstantinopels (1453) bis zur zweiten Belage­rung von Wien (1683) hielt das osmanische Reich ganz Europa (sowie die islamische Welt) in seinem Bann, Nicht nur seine militarischen Leistungen, sondem auch das stehende kasemierte Janitscharenheer, der gefugige Beamtenapparat und die prachtige orientalische Hof­kultur machten Sultan und GroBvesir jahrhundertelang zum Inbegriff der absolutistischen Herrschaft. Nach den Kopriilii-Reformen begann jedoch ein anscheinend unabwendbarer Niedergang: Der Friede von Kuciik Kaynarca (1774), in dem Sultan Abdiilhamid 1. bezeichnen­derweise den religiosen Titel "Kalif" wiederbelebte, besiegelte eine katastrophale Niederlage gegen Russland, in deren Folge das Osma­nenreich innerhalb des bestehenden Staatensystems nur noch als "Kranker Mann am Bosporus" galt, und am technischen und wirt­schaftlichen Fortschritt der anderen keinen Anteil mehr hatte. 1st die Geschichte der Modeme insgesamt durch eine wachsende Kluft zwi­schen West und Ost, zwischen Nord und Sud gepragt, so miissen ihre

4 Vgl. Einfiihrung zu Stanley Cohen, Andrew Scull (Hg.), Social Control and the State, New York 1983, S. 1-14; John O'Neill, The disciplinary Society: from Weber to Foucault, in: BritishJournal ofSociology, 37, 1986, S. 42-60.

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Urspriinge nicht zuletzt in dem Werdegang des osmanischen Staates von Wien bis Kucuk Kaynarca gesucht werden.

Ein bislang einzigartiger Versuch, die muslimische mit der euro­paischen Modernitat in Einklang zu bringen, ist Reinhard Schulzes These von einer eigenstandigen aber analogen "Aufklarung" seitens osmanischer Intellektueller im 18. Jh.5 Seine Feststellung von be­stimmten "historischen Universalien" im Bereich der Bildung und Kultur war jedoch wenig iiberzeugend, nicht nur aufgrund verschie­dener philologischer Unzulanglichkeiten,s sondem uberhaupt durch das Extrapolieren von breiten soziopolitischen Veranderungen, z.B. "biirgerliche Emanzipation" und "Sakularisierung", aus vereinzelten Texten einer noch immer traditionsorientierten islamischen Gelehr­tenelite. Einen habileren Zugang zu dem Verhaltnis Staat-Indivi­duum im 18. [ahrhundert, wie hier gezeigt werden soll, bietet mogli­cherweise die fruhmoderne Verwaltungsgeschichte, fur die die "So­zialdisziplinierung" zwar keine vollstandige Theorie, aber doch etli­che nutzliche Orientierungen geben kann. Oestreich selber beman­gelte, dass die friihe Neuzeit zu sehr aufgrund der "Wirkung und Nichtwirkung von Institutionen und Behorden" beurteilt werde.? was 1;

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ein ebenso wichtiges Caveat fur die Osmanistik ware, die noch immer die zeitgenossischen Hofchroniken und Kanzleidokumente zum normativen MaB der osmanischen Geschichte zu machen pflegt. Oestreichs besonderes Interesse galt der Gesamtwirkung des Abso­lutismus auf den Friihneuzeitmenschen uber so unterschiedliche ge­sellschaftliche Mechanismen wie Militargehorsam, neostoische Moral oder auch Wirtschaftskameralismus; ein Ansatz der, wie viele seiner Nachfolger angemerkt haben, schliesslich nur als Idealtypus an­wendbar ist. Turkeihistorikern ist es auch gewiss nicht entgangen, dass die friihneuzeitliche Gesel1schaft gerade in der Hauptstadt Istanbul durch eine Vielfalt von neuen Verflechtungen und Verfu­gungen gepragt wurde: Ein ausgefeiltes System von Ziinften (Esnaj)

5 Reinhard Schulze, Das islamische achtzehnte [ahrhundert: Versuch einer historio­graphischen Kritik, in: Die Welt des [slams, 30, 1990, S. 140-159.

6 Vgl. Gottfried Hagen, Tilman Seidensticker, Reinhard Schulzes Hypothese einer islamischen Aufklarung, in: Zeitschrift der Deutschen Morgenliindischen Gesellschaft, 148,1998, S. 83-110.

7 Oestreich, Strukturprobleme, S. 338.

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und Preiskontrollen (Narh), offentliche Feuerschutzverordnungen, und besonders die Schaffung eines professionellen, stadtischen Poli­zeikorps (Zabtfye) im 18. [ahrhundert sind Aspekte, die sich vollends in das Modell von Sozialdisziplinierung und friiher Modernisierung einfugen, ohne dass hier etwa auf europaische Vorlagen zuruckge­

griffen wurde. Am nachhaltigsten hat Oestreichs Konzept bislang die Diskussion

urn Konfessionsbildung und Konfessionalisierung in Deutschland gepragt. Seit mehreren [ahren haben Reformationshistoriker wie Heinz Schilling eine universelle Disziplinierung durch die Landes­kirchen (Ausbreitung von Konsistorialraten. Gemeindevisitationen, strengeren Ehe- und Sexualnormen usw.) als vereinigendes Struk­turmerkmal samtlicher katholischer, lutherischer, und calvinistischer Territorialstaaten in der fruhen Neuzeit darzustellen versucht," eine Theorie die jedoch von Heinrich Richard Schmidt u.a. mit Verweis auf die Unabhangigkeit vieler Presbyterien als ubermalsig etatis tisch zurUckgewiesen wird.? FUr die westasiatische Geschichtsschreibung bleibt jedenfalls der interkonfessionell-vergleichende Aspekt des Dis­ziplinierungsparadigmas von hochstem Interesse, zurnal die inner­islamische .Konfessionsbildung" zwischen dem sunnitischen Osma­nenreich und dem zwolferschiitisch gewordenen Iran auch genau in die erste Halfte des 16. [ahrhundert fallt, Religiose Verfolgungen setzten zeitgleich in beiden Landern ein, besonders gegen die schiitischen Kizilbas-Tiirkmenen im osmanischen Anatolien. Es ware jedoch verfehlt, hier eine allgemeine Konfessionalisierung der west­asiatischen Gesellschaft erkennen zu wollen, da es gerade im sunniti­schen Staat keine separate "Kirche" gab, die sich eigenmachtig urn die soziale Zucht und Ordnung gekiimmert hatte. Das Ahnden, d.h. die Konstruktion von religioser Divergenz unter den Osmanen, war

8 Siehe Ronnie Po-Chia Hsia, Social Discipline in the Reformation: Central Europe 1550­1750, London, New York 1989; Heinz Schilling, Die Kirchenzucht im fruhneuzeit­lichen Europa in interkonfessionell vergleichender und interdisziplinarer Per­spektive: eine Zwischenbilanz, in: ders. (Hg.), Kirchenzucht und Sozialdisziplinie­rung im fruhneuzeitlichen Europa, Zeitschrift fUr Historische Forschung, Beiheft 16,

S.11-40. 9 Heinrich Richard Schmidt, Sozialdisziplinierung? Ein Pladoyer fur das Ende des

Etatismus in der Konfessionalisierungsforschung, in: Historische Zeitschrift, 265,

1997, S. 639-682.

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eine obrigkeitliche Strategie, urn ohnehin unliebsame Beamte, Ordensmystiker und v.a, Nomadenstamme zu bandigen bzw. vollstandig aus der Gesellschaft auszugrenzen.w

FUr die Osmanen (und auch 'fur Gerhard Oestreich selbst) spielte die Konfessionsbildung an sich keine wesentliche Rolle bei der Sozi­alkontrolle in der Friihmoderne, Die groBe innenpolitische Heraus­forderung des osmanischen Souverans blieb das grundsatzliche Problem, seine Steuer- und Rechtshoheit tiber die auf drei Kontinen­ten verstreute, ethnisch und wirtschaftlich au.f5erst heterogene Land­bevolkerung auszudehnen, bzw. sie auszubauen. Die Osmanen wa­ren in den asiatischen Provinzen schlielslich Erben einer langen Reihe von islamischen Staaten, die sich die Nomadenstamme und Krieger­bauem der grenzenlosen Hochebenen und Wtisten muhsam untertan machen mussten.» Speziell in den Krisenjahren des spaten 17. und des 18. [ahrhunderts, konnte ein solches Bestreben nicht einfach durch die staatliche Repression, sondem vor allem auch durch die Ko-optation und die Integration von lokalen Akteuren gelingen.

Wie in den folgenden Beispielen aus der nordsyrischen Peripherie gezeigt werden soll, war die Hohe Pforte zu dieser Zeit in besonde­rem MaBe mit Organen der ruralen Selbstregierung, mit dem Ansie­deln und Sesshaftmachen von Nomadenstammen und mit der zent­ralen Uberwachung der groBen Stammeskonfoderationen beschaftigt, Diese aus den schwierigen Zeitumstanden zu erklarenden Reform­ansatze ergeben, so unsere These, eine spezifisch westasiatische Illustration von Sozialdisziplinierung in der friihen Neuzeit.

10 Ahmet Yasar Ocak, Osmanli Toplumunda Zmdtklar ve MUlhidler (15.-17. Yuzyillar), Istanbul 1998; s. hierzu auch die Rezension des Verf. in: Turkish Studies Association Bulletin, 24, 2, Herbst 2000, S. 117-125.

11 Vgl. Xavier de Planhol, Kulturgeographische Grundlagen der islamischen Geschichie, Zurich, Miinchen 1975; Anatoly Khazanov, Nomads and the Outside World, 2. Aufl., London 1994, S. 228-290.

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1. Instanzen ~er Stammes-Selbstregierung in Syrien a) Das Emirat (tUrk.: Beglik)

Die Anerkennung und Amtsverpflichtung fiihrender einheimischer Clanchefs war fur die Zentralregierung immer eine der wirksamsten Strategien, ihre Autoritat in den abgelegeneren Steppen- und Berg­gebieten Syriens zu sichern. Schon im Mittelalter wurden gewisse Drusen- und Beduinenhauptlinge offiziell mit der Beschiitzung des Beiruter Kiistenstreifens, bzw. der PilgerstraBe nach Arabien beauf­tragt und mit dem militarischen Titel "Emir" (Kommandant) ausge­zeichnet, was wiederum ihre Vormachtstellung unter den iibrigen Clans verbiirgte. Insbesondere der "Emir der Araber" waltete im Namen der Mamlukensultane uber ein riesiges Stammesgebiet in der syrischen Wiiste, und lieB sich fur seine Treue bisweilen am Hof in Kairo mit Geld und Kostbarkeiten beschenken.12

Nach der Eroberung von 1516 setzten die Osmanen das Prinzip der Hauptlingsanerkennung fort, urn die syrischen Gebiete in das Reich zu integrieren, und die in Kanzleidokurnenten viel beschworene "Rauberei" (E§klyallk) der Stamme zu unterbinden. Den "Registem der wichtigen Staatsangelegenheiten" (Umur-l Miihimme Defterleri) zufolge beschaftigte z.B. die osmanische Provinzverwaltung im 16. [h. nichts so sehr wie ihr Verhaltnis zu den machtigen Beduinen­fursten der Ebu-~-Familie,die u.a. im [ahr 1558 zur Hille gegen den rebellischen Prinzen Beyazid beigezogen wurden und die spater so­gar eine Korrespondenz mit dem prominenten Reichschronisten Mustafa Ali (gest. 1600) fuhrten. Etwa ab dem 17. [h. wurden die Ebu-Ris unter noch zu klarenden Umstanden von den Hamdiilabbas, ebenfalls eine Familie der arabischen Mevali-KonfOderation, abgelost. Es mag jedenfalls als Zeichen fur eine nun striktere zentrale Aufsicht des "Wiistenemirats" «(:01 Begligi) gelten, dass die Hamdiilabbas ne­ben ihrer allgemeinen Zustandigkeit fur die Beduinenkontrolle auch mit dem Amt des Statthalters von Ane oder von Rahbe, beides wich­

12 Kamal Salibi, The Buhturids of the Arb: Medieval Lords of Beirut and of Southern Lebanon, in: Arabica, 8, 1961, S. 74-97; Mustafa Hiyari, The Origins and Develop­ment of the AmIrate of the Arabs During the Seventh/Thirteenth and Eighth/Fourteenth Centuries, in: Bulletin of the School of Oriental and African

Studies, 38, 1975, S. 509-524.

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tige Wiistenstationen auf der StraBe nach Bagdad, bekleidet wur­den.13

Eine qualitative, im Sinne der Sozialdisziplinierung bedeutsame, Veranderung erfuhr die Beglik-Institution durch die zunehmende Monetarisierung der osmanischen Wirtschaft in der fruhen Neuzeit. Steigende Armeekosten und Inflation einerseits und die Abschaffung der technisch uberholten Provinzkavallerie andererseits bedingten ab dem spaten 16. [ahrhundert eine grundlegende Umstellung der Ad­ministration auf steuerliche anstatt kriegerische Leistung.i- Einheimi­sche Notabeln bekamen jetzt immer ofter landliche Gegenden, deren Dorfer und Bauernhofe fruher als Pfrunden (Tlmar) an berittene Heeresoffiziere vergeben worden waren, als Steuerpacht (iltizam) zugewiesen. Die Stammesgebiete verpachtete man selbstverstandlich an die lokalen Emire, die, trotz hoher Gewinnspannen und politischer Autonomie, dadurch immer abhangiger von der Regierungsgunst sowie von der allgemeinen Wirtschaftslage wurden. Sie waren nun auf die [ahrliche Beglaubigung der Pachten durch das Scharia-Ge­richt, aber auch auf ihre eigenen Kreditgeber, Unterpachter und Steuerpflichtige angewiesen, wollten sie das Amt nicht an zahlungs­tuchtigere Rivalen verlieren. 1585 fiihrten die Osmanen eine massive Strafexpedition in der Provinz Damaskus durch, in der samtliche eingesessene Stammesfiihrer nach Istanbul verschleppt und durch gefugigere ersetzt wurden. Dies begiinstigte den Aufstieg einzelner Crofisteuerpachter. z.B. die Harfus, eine noch dazu schiitische Emirendynastie der Bekaa-Ebene, die jetzt zusatzlich mit dem sym­bolischen Rang des Kommandanten (Sancakbeg) von Homs ausgewie­sen wurde. Ebenso beforderte die Hohe Pforte die drusische Ma'n­Familie zu Sancakbeg« von Safad und Beirut, und erkannte sie damit als offizielle Reichsdeputanten im heterodoxen Kiistenbergland an.l 5

13 Zu den Ebu-Ris siehe weiter Nejat Goytin", Einige osmanisch-turkische Urkunden tiber die Abu Rise, eine ~eyh-Familie der Mawali im 16. [ahrhundert, in: Holger Preifiler, Heide Stein (Hg.), Anniiherung an das Fremde: XXVI. Deutscher Orientalistentag vom 25. bis 29.9.1995 in Leipzig, Stuttgart 1998, S. 430-434.

14 Klaus Rohrborn, Untersuchungen zur osmanischen Verwaltungsgeschichte, Berlin 1973; Metin Kunt, The Sultan's Servants: The Transformation of Ottoman ProvinciaL Government, 1550-1650, New York 1983.

IS Stefan Winter, The Shiite Emirates of Ottoman Syria, mid-17th - mid-18th Century, Diss., University of Chicago 2002, S. 74-85.

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Mit dem Aufbliihen der Region durch den mediterranen Seidenhan­del ersetzten diese neuen Steuerpachtsemirate im Laufe des 17. [ahr­hunderts das Beduinenemirat als die wichtigste Instanz der Uindli­

chen Selbstverwaltung in Syrien.Die Ma'ns konnten ihren Einflussbereich bis uber die Grenzen von

Beirut ausdehnen und unterhielten zeitweise sogar eigene Handels­beziehungen mit Italien. weswegen sie heute in libanesischen Schul­buchem als die Begriinder der nationalen Unabhangigkeit dargestellt werden. Diese Sichtweise verkennt jedoch ihre Einbindung in die Reichsadministration, welche sie aus rein finanziellem Interesse bzw.

16 zur Bekampfung des landlichen Bandenwesens einsetzte. 1662 ermordeten die Osmanen z.B. heimtiickisch einen der Ma'n-Emire wegen seiner zunehmenden Eigenwilligkeit, erlaubten dann aber seinem Bruder Ahmed Ma'n, das drusische Steuer-iltizam von den neuen Pachtem auf viele Jahre zurnckzuerobem,17 Erst 1694 wurde ihm das Beglik formell aberkannt und seinen Widersachem verliehen, nachdem er eine osmanische Strafexpedition gegen die in Zahlungs­verzug geratenen schiitischen Hamade-Emire der Provinz Tripoli vereitelt hatte. In diesen [ahren hauften sich die Vergeltungsschlage nicht nur gegen die Drusen und Schiiten, sondem auch gegen kleine alawitische und kurdische Stammesemirate in der Region, deren Zu­gelung und Liquidmachung die Zentralregierung angesichts des kostspieligen Krieges im Balkan jetzt besonders vonnoten hielt."

Fur viele Emire wurde es Immer schwieriger, ihre frei lebenden Stamme zu leiten, und gleichzeitig den erhohten Forderung

en des

Staates nachzukommen. Besonders die Schiiten verweigerten nun mehrmals ihre Pachtvertrage oder wanderten in neue Gebiete abo Im Laufe des 18. Jahrhunderts lasst sich eine gewisse Rationalisierung des Beglik-Systems erkennen, als mit osmanischem Gutheillen eine Emirsfamilie aus Saida die Emire des ganzen Libanongebirges zu

16 Kamal Salibi, The Lebanese Emirate, 1667-1841, in: al-Abhat, 20, 3, 1967, S. 1-16. Vgl. Abdul-Rahim Abu-Husayn, The View from Istanbul: Ottoman Lebanon and the

Druze Emirate, London 2003. 17 Die osmanische Kanzleidarstellung dieser Ereignisse ist enthalten in dem heute in

der Sachsischen Landes- und Universitatsbibliothek (Dresden) befindlichen Miihimme Defteri, Hs. Eb 387, Fol. 54a-55b, 69a, 102a, 142a.

18 Winter, The Shiite Emirates, S. 168-174.

ihren Unterpachtern reduzierte. Die Sihabis, urn deren Beistand manchmal sogar die syrischen Gouvemeure nachsuchten, konnten schlieBlich auch das Hamade-Emirat von Tripoli ausmerzen, nach­dem sie im Fruhjahr 1763 dessen gesamte Steuerpachten vom stadti­schen Scharia-Gericht offiziell zugesprochen bekommen hatten.t? Unter der Sihabi-Regierung genoss v.a. das maronitisch bevolkerte Hochland einen beispiellosen Grad an intemer Ruhe, Entwicklung und Handelsfreiheit. FUr diesen moglicherweise gelungenen Fall der Sozialdisziplinierung musste der osmanische Souveran jedoch die weitgehende Autonornie der Provinzen Saida und Tripoli unter einer einheimischen, spater zurn Christentum konvertierten Dynastie hin­nehmen.t?

ill b) Diekurdische Woiwodschaft von Aleppo

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Eine weit weniger untersuchte, aber mindestens ebenso wichtige Instanz der ruralen Selbstverwaltung war die Woiwodschaft Kilis im Nordwesten Aleppos. In osmanischen Kanzleidokumenten lange Zeit als .Kurden-Distrikt" (Liva-l Ekrad) verzeichnet, scheint Kilis beson­ders im 18. Jahrhundert eine Kontrollfunktion fur samtliche kurdi­schen Stamme des syrisch-anatolischen Grenzgebietes zugekommen zu sein. Woiwode (Voyvoda), eine aus den Balkanprovinzen ubertra­gene Bezeichnung fur nicht-turkische Landesfursten, wurde in Kilis des ofteren ein Mitglied der kurdischen Gouvemeursfarnilie Reswan­zade aus Maras. Wie ihre slawischen Amtskollegen waren sie nicht nur fur die Ordnung und das Steuereintreiben, sondem auch fur die Aushebung einheirnischer Elitetruppen verantwortlich, in diesem Fall fur die uberall im Reich zurn Einsatz kommenden kurdischen Siiuari-Reiter.

Wie die libanesischen Begliks, bezog sich das Voyvodallk von Kilis in erster Linie auf eine gebietsansassige Bevolkerung, Die relative Unbe­standigkeit der kurdischen Stamme jedoch hatte zur Folge, dass ihre

I~ Universltatsbibliothek Tripoli (Abt. Sozialwissenschaften): Scharia-Gerichtsakten, Bd. 17, S. 214-215.

20 Zum Sihabt-Emirat S. weiter Sehabeddin Tekindag, XVIII. ve XIX. asirlarda Cebel Lubnan Sihab-Ogullan, in: Tarih Dergisi, 13, 1958, S. 31-44; Yassine Soueid, Histoire militaire des Muqdta'as libanais aTepoque desdeux Emirats, Bd. 2, Beirut 1985.

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Fahndung und steuerliche Erfassung zum Hauptthema der Kilis­Verwaltungsakten wurde. Ahnlich wie heute wanderten in osmani­scher Zeit fortlaufend Bewohner des Kurd Dagl (Kurdenberg) in die GroBstadt Aleppo ab, urn Arbeit zu suchen. was die kollektive Steuerlast auf den zUrUckgebliebenen Stamm in unzurnutbarer Weise erhohen bzw. komplizierte Neueinteilungen notwendig machen konnte." Den Woiwoden wurden anscheinend auch Steuerabgaben fur kurdische Stamme berechnet, die ihnen rechtens zwar unterstellt, aber eigentlich nur sporadisch im Kilis-Gebiet anzutreffen waren, wie z.B. die unbandigen Qilicli. Auch die $exlo und Oq<;i-Izzedinlo grif­fen Karawanen im benachbarten Maras an oder taten sich mit turk­menischen Banden in Adana zusammen. was regelmaBig Straffeld­zuge der entsprechenden Provinzheere gegen Kilis zur Folge hatte,22

Andererseits gibt es geniigend Beispiele aus dem 18. [h., wo die Kurdenstamme seitens der Hohen Pforte gegen eine exzessive Be­steuerung oder unmafsige Strafen beschiitzt werden sollten. Sogar fur die Kurden der verachteten, nicht-muslimischen Ezidi-Sekte galten feste Steuersatze, die rechtlich nicht iiberschritten werden durften.P Vor allem aber wurde die Woiwodschaft immer wieder d urch Gene­ralmobilmachungen fur Kriege im Osten in die Reichspolitik mitein­bezogen. Rhoads Murphey hat gezeigt, dass sich gerade die tribalen Volksgruppen in strategischen Durchzugsgebieten mit groBem Ge­winn an der Verladung von Kriegsmaterialien und der Versorgung der Sultansarmee beteiligten, wie u.a. die Kamel- und Eseltreiber von Kilis, die den wichtigen Euphrathafen Birecik bsdienten.e' Anlasslich solcher Kriegsvorbereitungen verscharften sich jedoch die Regie­rungskampagnen gegen aufsassige Stamme in der Umgebung, z.B. 1734, als der mit dem Schiffstransport beauftragte Pascha von Saida erst einmal gegen die Seriganlo des Kiad Dagz ins Feld zog.25 Letzt­endlich bleibt festzuhalten, dass die zunehmende Integration der

21 Zentrum fur Historische Dokumente, Damaskus: Aleppo Sultansdekrete (Evilmir-i

Sultilnfye), Bd. 1, S. 59; Bd. 4, S. 44; Bd. 5, S. 390. 22 Aleppo Sultansdekrete, Bd. 1, S. 22-23; Bd. 3, S. 31, S. 52, S. 151, S. 206. 23 Aleppo Scharia-Gerichtsakten, Bd. 36, S. 155, S. 188; Aleppo Sultansdekrete, Bd. 2,

S.140. 24 Rhoads Murpey, Ottoman Warfare, 1500-1700, London 1999, S. 82.

25 Aleppo Sultansdekrete, Bd. 3, S. 56.

kurdischen Woiwodschaft in den Staat auch prinzipiell mit einer ver­starkten Uberwachung und Disziplinierung der Stamme einhergehen musste.

2. Osmanische .Peuplierungs"-Poliiik (Iskan Siyaseti)

Neben der burokratisch-administrativen Reform muss die landlich­territoriale Herrschaftskonsolidation zu den Fundamentalvorgangen der friihen Modernisierung gezahlt werden. Besonders in Ostmittel­europa, ebenfalls im russischen Zarenreich und schliefslich auch in Nordamerika wurde die interne Kolonisierung zu einem der wich­tigsten Mittel des State-building im 18. Jahrhundert. In Brandenburg­PreuBen gewahrleisteten nicht nur hugenottische Handwerksleute, sondern auch niederlandische Deichbauexperten, westfalische Bau­ernverbande und andere Siedler die kurfurstlich verordnete .Peuplierung" des agrarischen Hinterlandes.w Bei den Osmanen, die mit PreuBen den relativ hochentwickelten Staatsapparat und die re­lativ unterentwickelte Pionierfront gemeinsam hatten, nahm im 18. Jh. die "Peuplierungs"-Politik aufgrund des ausgepragten Noma­dentums in Westasien eine besondere Dimension an.

Der turkische Sozialhistoriker Cengiz Orhonlu hat, unter Benut­zung osmanischer "Siedlungsregister" (iskan Defterleri), eine imperi­ale Stammesansiedlungspolitik speziell fur den Zeitraum 1691-1696 beschrieben, als schwere Kriegsverluste im Balkan und die daraus i,resultierenden Steuerausfalle und Fliichtlingswellen in Richtung 'II

IIAnatolien die wirtschaftliche Entwicklung der asiatischen Provinzen I

zur obersten Prioritat der Hohen Pforte machten.27 Neben Steuerver­ II

giinstigungen fur Nomadengruppen, die sich permanent auf Cehof­ten niederliefsen, Handelsrouten sicherten oder neue Landstriche ur­

26 Gunter Vogler, Absolutistische Herrschaft und stimdische Gesellschaft, Stuttgart 1996, S. 169-172, S. 204, S. 256; Rita Gudermann, Morastwelt und Paradies: Okonomie und Okologie in der Landwirtschaft am Beispiel derMeliorationen in Westfalen und Branden­burg (1830-1880), Paderborn 2000, bes. S. 108, S. 196-205. In den Worten Friedrichs II. "Alle Religionen seindt gleich und guth, wan nur die leute, so sie profesiren, Ehrlige leute seindt, und wen Tiirken und Heihden karnen und wollten das Land popliren, so wollen wir sie Mosqueen und Kirchen bauen.", aus Georg Borchardt (Hg.), Die Randbemerkungen Friedrichs des Grofien, Potsdam 1936, S. 79-80.

27 Cengiz Orhonlu, Osmanlt imparatorlugu'nda Asiretlerin iskilm, Istanbul 1987.

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bar machten, hatte diese Politik jedoch auch eine sehr starke diszipli­nierende Komponente. Ziel der Ansiedlungen war es nicht, lediglich neue Bauem zu gewinnen, sondem v.a. groBere Stammesverbande aufzusplittem und zu uberwachen, so dass ihr standiger Druck auf die sesshafte Dorf- und Landbevolkerung verringert wurde. Auch endete diese Politik keineswegs mit dem Frieden von 1699; vielmehr fand sie in unzahlbaren Kanzlei- und Gerichtsakten des weiteren 18. [ahrhundert ihren Niederschlag, und kann somit problemlos als die wichtigste Angelegenheit der osmanischen Provinzverwaltung in der gesamten fruhen Neuzeit charakterisiert werden.v

Obwohl die lskim Siyaseti auch weite Gebiete um Erzurum, Sivas und Diyarbekir beruhrte, kam Nordsyrien eine besondere Stellung zu. Im nordlichen Kiistengebirge versuchte die Regierung, vielerorts Wanderstamme anzusiedeln, nicht nur um die hervorragenden Wei­degrunde besser auszunutzen, sondem auch um die heimischen Begliks etwas einzugrenzen.e' Dadurch entstand regelmafiig Streit tiber die finanziellen Pflichten und Rechte der zugezogenen Konar­GOfer (buchstablich: .Lagerer-weiterzieher"), die dann in den Scharia-Gerichten der Provinzhauptstadte entschieden wurden. 1732 z.B. verweigerten Turkmenen, die sich bei Safita niedergelassen hat­ten, unter Verweis auf ihre Stammeszugehorigkeit, die Mietzahlung an die ortlichen alawitischen Steuerpachter.s' 1740 verursachte die Zwangsansiedlung von neuen Stammen bedeutende Steuerausfalle in der Provinz Tripoli.u Dagegen gab es immer wieder Falle, wo Sied­lerverbande (die maronitischen Khazins, die kurdischen Reswan, u.a.) aus eigener Initiative Landzuweisungen beantragten, und somit freiwillig zur Konsolidierung der Staatsmacht in der landlichen Peri­pherie beitrugen. Die staatlich geforderte Integration von Araber­und Tiirkmenenklans, aber auch von Zigeunem, Tscherkessen und

28 Siehe weiter De Planhol, Kulturgeographische Grundlagen, S. 264-71; Yusuf Halacoglu, XVIII. Yilzy,lda Osmanli lmparaiorlugu'nun tskQn Siyaseti ve A$iretlerin Yerlestirilmesi, Ankara 1988; Mouna Liliane Samman, Apercu sur les mouvements migratoires recents de la population en Syrie, in: Revue de geographie de Lyon, 53, 1978, S. 211-228.

29 In dieser Absicht begann schon 1305 das Mamlukensultanat den turkmenischen Assaf-Stamm im Libanongebirge anzusiedeln.

30 Tripoli, Scharia-Gerichtsakten, Bd. 6, S. 125. 31 Tripoli, Scharia-Gerichtsakten, Bd, 7, S. 233.

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anderen osmanischen Volksgruppen in die westsyrische Gesellschaft, :

erreichte im 18. und 19. Jahrhundert ein Ausmafs, dem die heutige I

I Geschichtsforschung noch kaum Rechnung getragen hat. Die Prob­leme und administrativen Widerspriiche dieser Politik konnen viel­ I leicht am einfachen Beispiel der Lekwan-Kurden angerissen werden, die um 1749 auf GroBfarmen feste Anstellungen als Tagelohner fan­den und sich daraufhin ansiedelten, u.a. in der Region von Tripoli. Hier wurden also die wesentlichen Ziele der jslain Siyaseti verwirk­Iicht, namlich die Zerschlagung eines nomadischen Stammesverban­des und die Umerziehung seiner Mitglieder zu Bauem. Und doch konnte sich die zentrale Verwaltung nicht ganz mit der Aufhebung ihrer einstigen Gruppensteuerpacht abfinden und bestand darauf, die Lekwan so zu besteuem, wie es das Gesetz von jeher vorsah.»

Die Schiusseirolle in der osmanischen »Peuplierung"-Politik spielte die nordsyrische Provinz Raqqa. Zwischen dem anatolischen Plateau und den grofsen arabischen Wiisten liegend, wurde Raqqa jahrlich von vielerlei Nomaden durchzogen, blieb jedoch nur dunn besiedelt. Nach dem Plan der Regierung sollten am Nord-Sud verlaufenden Belikh-Fluss tiirkmenische Stamme schon in den 1690em angesiedelt werden und Seide anbauen, eine potentiell ertragreiche neue In­landsindustrie. Dadurch wiirden auch Dorfer wie Ak.;akale (heute an der syrisch-tiirkischen Grenze), deren Einwohner geflohen waren, neu bevolkert werden und zur Verteidigung gegen die kriegerischen Aneze- und $ammar-Beduinen dienen, die aus nicht ganz geklarten demographischen Grunden im spaten 17. Jahrhundert aus der arabi­schen Halbinsel zu emigrieren begannen.ea [edoch abgesehen von diesen wirtschaftlichen und innenpolitischen Zielen, wurde eine An­siedlung in den Weiten Raqqas hauptsachlich als StrafmaBnahme gegen unbandigo Nomaden- und Soldnergruppen aus Anatolien ge­handhabt. Unzahlige Kanzlei- und Gerichtsdokumente berichten in diesen [ahren von Kurden und Tiirkmenen, die wegen ihrer E$kiyaltk gegeniiber der sesshaften Bevolkerung formlich nach Raqqa depor­tiert werden soUten. Oft blieb es dann bei der einfachen Androhung

32 Tripoli, Scharia-Gerichtsakten, Bd. 11, S. 85-86.

33 Aleppo Sultansdekrete, Bd. I, S. 71-74;Cengiz Orhonlu, Osmanli imparatorlugu'nda A$iretlerin iskQm, S. 50-52. Zu der Beduinenwanderung siehe ferner Norman Lewis, Nomads and Settlers in Syria and Jordan, 1800-1980, Cambridge 1980.

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dieser Strafe, und selten hielten es deportierte Stamme tatsachlich langer als ein paar Jahre in der Ode aus, bevor sie begnadigt oder verbotenerweise in ihre Heimaten zuruckkehrten-P' Raqqa kann durchaus als das "Sibirien" des osmanischen Reiches verstanden

werden. Der Posten des Gouverneurs verdient hier besonderes Augenmerk.

Raqqa selbst, einstige Sommerresidenz der Kalifen, war schon zu Beginn der osmanischen Herrschaft nur noch eine Geisterstadt; als Amtssitz der ca. 1586 etablierten Provinz (Eyalet) fungierte allenfalls das nordlich gelegene Urfa (Edessa). Als ranghochster Vollstrecker der imperialen isJcan-Politik war der Gouverneur ohnehin in erster Linie damit beschaftigt. sowohl mit der Zentralregierung als auch mit anderen Provinzbehorden die Uberfuhrung von Stammen in sein Territorium zu koordinieren. In der Regel soUte er sie schon an der Eyalet-Grenze in Empfang nehmen, so z.B. auch 1729, als die Statt­halter von Aksaray and Ankara Anweisungen bekamen, ihre Sied­lungskandidaten aus verschiedenen tiirkmenischen Stammen

"auf der Reise Tag und Nacht bestens bewacht und be­schutzt zu fuhren ... und sie Richtung Raqqa zu treiben und bringen, so dass kein einziger von ihnen zuriickkehre bis der Euphrat iiberquert ist ... und Raqqa in Eile und Not erreicht werde, bevor die Winterjahreszeit eintritt. Sobald sie dem gegenwartigen Gouverneur von Raqqa, meinem Wesir Ahmed Pascha (moge Gott der Allmach­tige seinen Ruhm andauern lassen!) iiberantwortet wor­den sind, soll ein Bescheid der Ubergabe vom besagten Wesir ausgesteUt und meiner hochehrenwerten Pforte

zugesandt werden."35

Es kam jedoch (u.a. 1690·und 1736) auch vor, dass der Gouverneur eigens ermachtigt wurde, mit seinen Truppen in die Nachbarprovinz

34 Vgl. Ahmet Refik, Anadolu'da Turk A~iretleri (966-1200): Anadolu'da ya~yan turk asiretleri hakkinda Divan! Humayun munimmedefterlerinde mukayyethukicmleri havidir, 2. Aufl., Istanbul 1989, Dokument Nr. 142,144,148-149,154,157,160-161,163-165, 169-170, 172-173, 177, 186, 195, 201, 207-208, 211, 213, 217, 221-222, 225-227, 230,

232-233, 237-238. 35 Ebd., Dok. Nr. 212.

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Aleppo zu kommen, und rebellische Sippschaften zwecks isJcan nach Raqqa zu verschleppen.w Letztendlich hing der Erfolg des ganzen Siedlungsunternehmens, zumindest in den Augen der Zentralregie­

,

II' rung, auch groBteils von der Initiative des Pascha abo Ein Rund­schreiben an samtliche Provinzbehorden in Anatolien, ebenfalls 1729 datiert, riigt ausdriicklich "die Fahrlassigkeit mancher Gouverneure Raqqas" als Ursache fur die haufige Flucht der internierten Stamme und ihre Ruckkehr zum Rauberleben.F

Wie viel die osmanische .Peuplierungsv-Politik tatsachlich zu einer langfristigen Machtkonsolidierung im landlichen Westasien beigetra­gen hat, bleibt eine offene Frage. In einer umfangreichen Studie zur Bevolkerung Norddeutschlands fuhrt Rolf Gehrmann die Effizienz des "obrigkeitlichen Populationismus" im 18. [ahrhundert weniger auf aktiv gesteuerte Kolonisierungen als auf Erleichterungen im Hei­rats- und Gesundheitswesen zuriick;38 Faktoren, die in den nord­syrischen Stammesansiedlungsprojekten vollig ohne Belang waren. Dagegen kann die umgreifende Etikettierung und Kriminalisierung von Nomaden als "E~kiya", moglicherweise zu den wichtigsten Implikaten der isJcan Siyaseti fur das osmanische Staatsgefuge gerech­net werden. Ungeachtet der grundlegenden soziookonomischen Funktion, die freie Wanderhirten schon immer in der westasiatischen Gesellschaft hatten, wurde die aktenkundige landliche Policey, ahn­lich wie im zeitgleichen barocken Europa, zu einem wesentlichen Strukturmerkmal des osmanischen "Tulpenzeit"-Absolutismus. Das Fazit des Geschichtsanthropologen Uwe Dankers, "die beachtliche gesellschaftliche Integrationsleistung der fruhmodernen Ordnungs­politik wurde erkauft mit einer durchaus gewaltsamen Ausgrenzung der Rander", bezeichnet ebensowohl die osmanischen Nomaden­stamme wie die deutschen "Rauber und Gauner":

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,,[SJie alle werden in den massiven Umdeutungsprozes­ II sen am Beginn der Friihen Neuzeit neu bewertet, stigma­ 'I

tisiert und in negative Rollen gepresst, denen sie zu ge-

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36 Aleppo Sultansdekrete Bd. I, S. 22-23; Bd. 3, S. 205. 37 Refik, Anadolu'da Turk A~iretleri, Dok. Nr. 216. III1

38 Rolf Gehrmann, Bevolkerungsgeschichte Norddeutschlands zwischen AUfkliirung und ,II Yormarz, Berlin 2000, bes. S. 280-282.

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niigen haben. Sie gelten neuerdings als landschadlich, al­lein ihre Existenz wird kriminalisiert, das Strafrecht auf ihre typischen Delikte ausgerichtet.">

Wie das nordsyrische Stammeswesen nicht nur offizielle Siedlungs­programme und die Etablierung eines Reichsbanditenbekampfers in Raqqa, sondern auch die Entwicklung eines imperialen Stammes­verwaltungsapparats mitanregte, solI nun abschliefsend zur Diskus­sion gestellt werden.

3. Weitere Perspektiven: Gab eseinezentrale Nomadenverwaltung des os­manischen Reiches?

Die generelle Finanzmisere und kriegsbedingte Wiistungen im Inland brachten also die Hohe Pforte dazu, ab dem spaten 17. Jahrhundert eine beispiellose Registrierung, Uberwachung und ggf. Strafverfol­gung von nomadischen Stammen in den asiatischen Reichsprovinzen zu initiieren. In diesem Prozess, den der Begriff "Siedlungspolitik" nur unvollstandig urnschreibt, treten, so unsere abschliefsende These, weitere sozio-adminstrative Verkntipfungen quer durch den Staat hervor, weIche bislang nicht ausreichend in der Geschichtsschreibung erfasst worden sind. Nehmen wir das Beispiel der bereits erwahnten Reswan-Kurden: Laut osmanischer Finanzdokurnente bildeten sie steuerrechtlich gesehen, ein kollektives lliizdm des Distrikts Hisn-i Mansur (heute: Adiyaman) im Osten der Provinz Maras, Faktisch jedoch waren einzelne Glieder der Konfoderation tiber ganz Anato­lien verteilt, von Kastamonu im Schwarzmeergebiet bis Erzurum nahe der iranischen Grenze und Mardin im Sudosten.w Etliche zu den Reswan gehorenden Stamme wurden schon friih fur die Ansied­ling in Raqqa bestimmt, wo sie (nach den Aleppiner Kanzleiquellen zu urteilen) sogar relativ gute Beziehungen, sowohl mit den Provinz­

39 Uwe Danker, Die Geschichte der Rauber und Gauner, DUsseldorf, Zurich 2001, S. 313­314.

40 Cevdet Turkay, Basbakanltk Ar§ivi Belgelerine Gore Osman 11 Imparatorlugu'nda Oymak, Asiret ve Cemaatlar, Neuausg., Istanbul 2001, S. 125, S. 541-542. Zu Hisn-i Mansur, siehe Mehmet Tasternir, XVI. YtizYllda Adlyaman (Behisni, Htsn-i Mansur, Gerger, KAhta) Sosyal ve lktisadf Tarihi, Ankara 1999.

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behorden wie auch mit den arabischen Wiistenemiren, genossen.u Die Spuren anderer Re~wan-Kurden tauchen wiederum in den Gerichtsakten von Tripoli auf, wo sie urn 1741, ebenfalls im Einvernehmen mit der Regierung, eine iskan unternahmen und letzt­lich in der lokalen Bevolkerung aufgingen.42

Diese bemerkenswerte, sehr weit gespannte Geschichte von Mig­ration, Disziplinierung und Anpassung ist jedoch noch von keinem Zweig der Westasienforschung richtig aufgegriffen worden, zurnal die Quellen zu den Reswan-Kurdsn tiber sehr viele Archiv- und Sprachbereiche verteilt sind und ihre Bedeutung in jedem Teilbereich nur geringfiigig erscheinen mag.

Einen Gesamtuberblick tiber die Reswan und andere soIche trans­regionalen Nomadenkonfoderationen hatte im 17. und 18. [ahrhun­dert allenfalls die zunehmend zentralistische Administration der reli­giosen Stiftungen (Waqf; turk.: Vakif). Diese Stiftungen von Geldern zugunsten gro1Ser Heiligtiimer (wie Mekka und Medina), stammten teils noch aus vorosmanischer Zeit, wurden aber oftmals auch von osmanischen Prinzessinnen gegriindet, die frei tiber eigene Lande­reien oder ganze Nomadenstamme als private Rentenquellen ver­fiigten.43 Die Reswan, die Woiwodschaft Kilis, und auch die Yeni-Il­Ttirkmenen von Aleppo gehorten zu diesen Vakif-Stammen; ihre ge­samten [ahrlichen Abgaben gingen nicht an die eigentliche Staats­kasse, sondern direkt an den imposanten Moscheenkomplex der 1583 verstorbenen Konigsmuttsr Atik Valide Sultan in Uskudar, gegen­tiber Istanbul am Bosphorus. Da sie aIle nach geltendem Recht von der sakularen Besteuerung befreit waren (serbest), wurden ihre Fi­nanzangelegenheiten nicht von den regularen provinziellen Verwal­tungsapparaten erfasst. Allgemeiner Intendant der Vakif-Stamme wurde vielmehr der Schwarze Palast-Obereunuche, der als personli­cher Sachwalter der enorm einflussreichen Haremsfrauen und ihrer Stiftungen, wie die Recherchen von Jane Hathaway gezeigt haben, gerade im spaten 17. und 18. Jahrhundert, zu einem der machtigsten

41 Aleppo Sultansdekrete Bd. 1, S. 85; Bd. 2, S. 32-33; Bd. 3, S. 218, S. 331; Bd. 5, S. 386. 42 Tripoli, Scharia-Gerichtsakten Bd. 7, S. 280-81, S. 283; Bd. 9, S. 148. 43 Suraiya Faroqhi, Herrscher tiber Mekka: Die Geschichte der Pilgerfahrt, DUsseldorf,

Zurich 1990, bes. S. 104-105, S. 111-129, S. 143-150; Mustafa Guier, Osman 11 Deulei'inde Harameyn Vakiflan (XVI.-XVII. Yuzyillar), Istanbul 2002.

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Figuren im osmanischen Staat avancierte.w Unter seiner Regie entwickelte sich am Sultanshof ein eigenstandiges Buro, das weitgehend von dem eigentlichen Regierungsapparat der Hohen Pforte autonom blieb.

Wenn nun die herkommlichen Provinzverwaltungsregister jeweils nur Bruchstiicke zur Geschichte einzelner Stammesgruppen enthal­ten, so sind es die bislang wenig erforschten Archive dieser jiingeren, zentralisierten Vakif-Administration (heute im Vakiflar Genel Mudurlugu in Ankara), in denen die iiberregionalen Verzweigungen der grofsen Konfoderationen deutlicher hervortreten. Urn nur ein paar Beispiele zu geben: 1706 und 1707 wurde der Diwan von Tripoli beordert, die Vakif-Gelder von neuangesiedelten Yeni-Il-Ttirkmenen abzufiihren; die eigentliche iskan-Kampagne fur die Yeni-Ils in diesen [ahren umfasste jedoch nicht nur die Provinz Tripoli, sondem auch Erzurum, Kars, Sivas, Malatya, Raqqa und sogar Rumelien im euro­paischen Teil des Reiches." Noch verzwickter war es 1751, als der Woiwode der (rechtens in der Provinz Sivas beheimateten) Yeni-ils informiert wurde, dass das schon erwahnte Yeni-il-Siedlungsdorf Akcakale (Provinz Raqqa) von den Reswan-Kurden (Provinz Maras) uberrannt und gepliindert worden war. Die Ironie, zumindest vom Standpunkt der zentralen Vakif-Aufsicht, war, dass beide der ver­feindeten KonfOderationen steuerlich gesehen ja derselben religiosen Stiftung im femen Uskiidar unterstanden.v

Wenn diese Darstellung einer eigenstandigen, parallel zur Hohen Pforte aufkommenden Verwaltung fur grofse Nomadenstamme zu­trifft, so ruckt sie auch die Frage der osmanischen Dezentralisierung im 18. [ahrhundert in ein neues Licht. In der modemen Forschung wird der Aufstieg von regionalen osmanischen Gouvemeursdynas­tien in Nordafrika, Irak, Syrien und auf dem Balkan in dieser Ara oft als ein Anzeichen, wenn nicht fur den beginnenden Niedergang, so doch fur die politische Dezentralisierung und womoglich fur ein keimendes Nationalbewusstsein im Reich verstanden. Die Kontroll­

44 Jane Hathaway, The Role of the Kizlar Agasl in Seventeenth-Eighteenth Century Ottoman Egypt, in: Studia Islamica, 75,1992, S. 41-58.

45 Vakiflar Genel Miidiirliigii Arsivi, Ankara: Bd. 321, S. 18, S. 53, S. 75, S. 100, S. 119,

S. 186, S. 196-197. 46 VGM Arsivi Bd. 344, S. 272.

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aufsicht tiber die transregionalen Reichsstamme, deren samtliche Hi­den in den Handen der einheitlichen Hof-Vakif-Behorde in Istanbul zusammenliefen, steht jedoch im Widerspruch zu diesem Zer­setzungstrend. Dass hier ein sehr bedeutendes Segment der landli­chen Bevolkerung immer enger in den Sultansstaat eingebunden wurde, sollte als ein nicht minder wichtiger Aspekt der friihen Mo­dernitat in Westasien gesehen werden.

Fazit

Das nordsyrische Stammeswesen wurde im spaten 17. und im 18. [ahrhundert einer Vielzahl von neuen Kontrollen, Regulierungen und Zuchtmalsnahmen ausgesetzt, die man im Sinne Gerhard Oestreichs als "Sozialdisziplinierung" bezeichnen kann. In diesem Artikel haben wir versucht zu zeigen, wie der osmanische Staat zunehmend die marginale landliche Bevolkerung unter Beteiligung ihrer eigenen Emire und Woiwoden zu erziehen und zu integrieren versuchte; da­nach wurde die Ansiedlung von Nomaden- und Rauberstammen vor allem in der Wiistenprovinz Raqqa als eine osmanische Version von "Peuplierungspolitik" dargestellt; und schliefslich wurde vorgeschla­gen, gegeniiber dem herkommlichen Provinzverwaltungsapparat die iiberregionale Vakif-Stiftungsaufsicht als neue zentrale Kontroll­instanz der groBen Wanderkonfoderationen zu verstehen. All diese Aspekte deuten auf eine immer tiefere administrative und gesell­schaftliche Konsolidation und damit auf eine eigene ansetzende Mo­demisierungsdynamik des osmanischen Staates in der friihen Neu­zeit hin.

Die Perspektive unserer Ausfiihrungen war, bedingt durch die uns verfugbaren Verwaltungsquellen, hauptsachlich die des absolutisti­schen Ordnungsstaates. Denn es fehlen nach wie vor eigenhandige Zeitzeugnisse der landlichen, geschweige denn der nomadischen Gesellschaft in Syrien, die auch auf eine Umsetzung von obrigkeitli­cher Disziplin in geistig-moralische und psychologische Selbstzucht verweisen konnten. Somit schliefsen die Erkenntnisse uber Stamm und Staat in Westasien nicht an die fortwahrende Diskussion deutscher Historiker uber den "richtigen" makro- oder mikrohistori­schen Ansatz der Sozialdisziplinierung an - eine Diskussion, die sich

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zunehmend in Pladoyers fur Sowohl-als-auch-Perspektiven und methodologischen Pluralismus verlaufen hat47 und die allmahlich in Frage stellt, ob Oestreichs eher ambivalenter Begriff fur die heutige europaische Geschichtsforschung tatsachlich noch von groBem hermeneutischen Wert sein kann. Gerade aber der Blick tiber den europaischen Tellerrand hinweg auf andere Formen der gesell­schaftlichen Kontrolle in anderen, geschichtswissenschaftlich noch nicht geniigend erforschten Staaten der friihen Neuzeit konnte der Diskussion neue Impulse geben. Einerseits fordert das Sozialdiszipli­nierungsmodell die osmanische Historiographie heraus, die intensive Uberwachung und Repression von schiitischen, kurdischen, tiirkme­nischen usw. Stammen im 17.-18. Jahrhundert nicht mehr als Aus­druck urewiger Animositaten oder als letzte Abwehr gegen den un­vermeidlichen Niedergang zu werten, sondern als durchaus differen­zierte Strategie eines typischen friihneuzeitlichen Reiches, seine ad­ministrative und territoriale Staatshoheit durch ein effizienteres encadrement der sozialen Peripherie auszubauen. Andererseits ver­dient es die osmanische Erfahrung mit Sozialdisziplinierung, auch von der europaischen Historiographie ernst genommen zu werden: Welche Aspekte man auch immer betont, die Umdeutung und das Aushandeln von soziopolitischen Spielraumen zwischen Staats­autoritat und landlicher Randgruppe war keineswegs ein Spezifikurn einer christlich-eurcpaischen Zivilisation auf der Schwelle zur Neu­zeit. Die osmanische Sozialdisziplinierung gegeniiber dem ausge­dehnten Stammeswesen in Nordsyrien und anderswo belegt ein neu­artiges Verhaltnis zwischen dem friihen Ordnungsstaat und seinen Subjekten und muss somit als eine der wichtigsten einheimischen Wurzeln der Modernitat in Westasien gesehen werden.

47 Vgl. Einfuhrung in Heinz Schilling (Hg.), Instiiutionen, Instrumente und Akteure sozialer Kontrolle und Disziplinierung im frilhneuzeitlichen Europa, Frankfurt a. M. 1999, S. 23-25.

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Die Grenzen der "Altemativen Modeme" in der Geschichte des spatosmanischen ostlichen Mittelmeers!

Keith Watenpaugh

Der Begriff der Modernitat wird oft verwendet in der Historiographie des kolonialen und des postkolonialen aufiereuropaischen Raurnes; er bezeichnet ein einzigartiges historisches, kulturelles und ideologi­sches Phanomen, dessen Assoziationen mit dem Westen und mit der westlichen Dominanz iiber den Rest der Welt das grofse Interesse an ihm rechtfertigen. Dennoch wird, urn Jiirgen Kocka zu paraphrasie­ren, die Anziehungskraft eines Konzeptes wie das der Modernitat kaurn durch seine Genauigkeit erreicht.? Und es ist genau diese feh­lende Genauigkeit, die zur Formulierung des ebenso wendigen Kon­zepts der "Alternativen Modernitat" fuhrt.

Die "Alternative Modernitat" - oft in der Mehrzahl gebraucht, aber nicht mit "Alternativen zur Modernitat" zu verwechseln - hat zwei Funktionsweisen, die sich urn zwei breite Themenkomplexe drehen. Zurn einen geht es urn das zerstiickelte Wesen des Gebildes Moder­nitat, das von westlichen eurasischen Denkern, von Marx iiber Simmel und Benjamin, bestimmt und neubestimmt wurde. Bei dieser Betrachtungsweise unterliegt Modernitat denselben Revisionen, De­konstruktionen, Dialektiken wie andere intellektuelle Bewegungen und Ideologien auch. Nur wenn man sie in die kulturelle und intel­lektuelle Landschaft der europaischen Denkart, Kultur und Politik einbettet, erreicht Modernitat eine Dimension, die sie nicht besitzen wiirde, wiirde sie einheitlich und eigenstandig betrachtet werden. In ihrer zweiten und gebrauchlicheren Manifestation entwickelte sich "Alternative Modernity", urn iibergreifend fur Revisionen der Mo­dernisierungstheorie und urn in den USA fur eine Rechtfertigung von AreaStudies zu stehen.

Beispielhaft fur diese zwei Ideen ist das Mission Statement eines von der Ford Foundation initiierten Programmes, an dem "die funf

1 Dieser Beitrag wurde aus dem Amerikanischen ubersetzt von Stefan Winter und David Fuchtjohann.

2 [urgen Kocka, Industrial Culture and Bourgeois Society: Business, Labor, and Bureaucracy in Modern Germany, New York 1999,S. 232.

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