Entwicklungsmethodik nach Pahl und Beitz und Design Thinking-Vergleich und Einordnung
Primary Goods und Capabilities. Amartya Sen's Kritik am Grundgüteransatz und sein Gegenvorschlag
Transcript of Primary Goods und Capabilities. Amartya Sen's Kritik am Grundgüteransatz und sein Gegenvorschlag
„Primary Goods“ und „Capabilities“
Amartya Sens Kritik an der Grundgüter-Perspektive
und sein Lösungsvorschlag
Hausarbeit zur Erlangung des
akademischen Grades
Bachelor of Arts in Politikwissenschaft
vorgelegt dem Fachbereich 02 – Sozialwissenschaften, Medien und Sport der
Johannes Gutenberg-Universität Mainz
von
Valentin Max Jakob Persau
aus Nürnberg
2015
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung 4
2. Das Spektrum der Gleichheit und die Frage nach der richtigen Metrik im Kontext
sozialer Gerechtigkeit 6
2.1 Gleichbehandlung: Moralische, Rechtliche und Politische Gleichheit 6
2.2 Gleichverteilung: Gleichheit wovon? 8
3. Der Grundgüteransatz im Kontext der Gerechtigkeitstheorie von John Rawls 12
3.1 Die Konzeption der Gesellschaft und der Person 13
3.2 Die Gerechtigkeitsgrundsätze und der Urzustand 15
3.3 Die Grundgüter 18
4. Amartya Sens Kritik an der Grundgütermetrik und der Capability Ansatz 21
4.1 Die Kritik an der Grundgütermetrik 22
4.2 Der Capability Ansatz 25
5. Die Debatte der beiden Ansätze 30
5.1 Einleitende Bemerkungen zum Vorgehen und methodologische Vorbehalte 30
5.2 Rawls' Kritik am Capability Ansatz 32
5.3 Rawls' Interpretation der zwei moralischen Vermögen als Befähigungen 35
6. Fazit 38
Literaturverzeichnis 41
Eidesstattliche Erklärung 46
4
1. Einleitung
Theorien distributiver Gerechtigkeit bedürfen unter anderem einer Stellungnahme zu den
folgenden zwei Aspekten: Einmal muss bestimmt und begründet werden, was verteilt
werden soll und schließlich müssen eine oder mehrere Regeln ausgewählt und
gerechtfertigt werden, die vorschreiben, wie verteilt werden soll. Elizabeth Anderson
formuliert diesen Anspruch an Gerechtigkeitstheorien folgendermaßen: „Theories of
distributive justice must specify two things: a metric and a rule.“ (Anderson 2010: 81).
So operiert John Rawls in seiner Gerechtigkeitstheorie mit der Metrik der so genannten
Grundgüter („Primary Goods“), welche nach seinen zwei Verteilungsregeln bzw.
Gerechtigkeitsprinzipen verteilt werden sollen. Grundgüter sind für Rawls Allzweckmittel,
von denen man annehmen kann, dass jeder rationale Mensch eine höhere Menge einer
geringeren Menge vorziehen würde. Inhaltlich konkretisiert Rawls die Grundgüter als
Rechte, Freiheiten, Chancen, Einkommen und Vermögen sowie die soziale Grundlage der
Selbstachtung. (Rawls 1999a: 79). Die Gerechtigkeitsprinzipien schreiben nun vor, dass
die Kategorien der Rechte, Freiheiten und Chancen gleich verteilt und die Kategorien der
Einkommen und Vermögen dem so genannten Differenzprinzip entsprechend verteilt
werden sollen. (Schmidt 2009: 242).1
Auch wenn die Wahl der Verteilungsregeln ein entscheidender Aspekt innerhalb von
Gerechtigkeitstheorien ist, soll der Fokus dieser Arbeit auf das Was, auf die Substanz
gerichtet werden. Diese Frage hat enorme Relevanz für eine Reihe von Politikfeldern,
insbesondere für die Sozialpolitik und die Entwicklungspolitik, aber auch für eine Reihe
sozial- und wirtschaftswissenschaftlicher Themen.
Inspiriert durch den indischen Ökonom und Philosophen Amartya Sen hat sich eine bis
heute anhaltende Debatte entwickelt, die sich um die Frage dreht, auf der Basis welcher
Informationen die Lebensbedingungen der Menschen adäquat untersucht und wie das
Wohlergehen zweier Menschen sinnvoll verglichen werden soll. Die Wahl eines
Informationsschwerpunktes ist wichtig, denn er soll abbilden können, welche Dinge für
alle Menschen als grundlegend erachtet werden und dabei vergleichbare Größen darstellen.
Wie man sich unschwer vorstellen kann, gehen die Einschätzungen diesbezüglich weit
auseinander.
Zwei dieser Positionen, die als besonders prominent gelten, werden in dieser Arbeit
1 Das Grundgut der sozialen Grundlage der Selbstachtung nimmt eine Sonderrolle innerhalb der Grundgüter ein und wird im Rahmen dieser Arbeit weitestgehend vernachlässigt.
5
genauer untersucht. Eine Position ist die schon erwähnte Grundgütermetrik von John
Rawls. Kritisch zu dieser Metrik äußerte sich Amartya Sen, der eine prominente
Alternative dazu entwickelte, die auf so genannten Funktionsweisen („Functionings“) und
Befähigungen („Capabilites“) aufbaut. Sen gelang es, mit dem Befähigungsansatz
(„Capability Ansatz“) (CA) einen ernstzunehmenden Gegenentwurf zu all jenen
Perspektiven zu etablieren, die auf Ressourcen im weitesten Sinne basieren. Statt sich auf
zu verteilende Mittel selbst zu konzentrieren, geht es im CA eher darum, welche
angestrebten Funktionsweisen – Seinszustände („beings“) oder Handlungen („doings“) –
eine Person mithilfe dieser Mittel tatsächlich erlangen bzw. vollziehen kann. Die
Befähigung, zwischen angestrebten Funktionsweisen zu wählen, interpretiert Sen als
Freiheit. Dies ist die andere Position, die genauer untersucht werden soll.
Sen äußerte seine Kritik gegenüber Rawls erstmals in „Equality of What?“ (1980). Sein
Grundgedanke ist, dass egalitäre Positionen unterteilt werden können, je nachdem, welche
Metrik zu Grunde gelegt wird. Gleichheit zu fordern, ist demnach nicht genug. Es muss die
Frage beantwortet werden, was gleich verteilt werden soll. Er stellte überdies fest, dass in
scheinbar allen prominenten normativen Gerechtigkeitstheorien die eine oder andere Form
der Gleichheit gefordert wird. (Sen 1995; 2009: 318).
In dieser Arbeit werden die Grundgüterperspektive und der Befähigungsansatz
gegenübergestellt. Dabei soll den Fragen nachgegangen werden, welche Mängel Sen in der
Verwendung der Grundgütermetrik sieht und inwiefern der CA eine brauchbare
Alternative für das Problem ist, welches er in dieser Metrik sieht. In diesem Zuge wird
auch herausgestellt, welche Grenzen einer solchen Gegenüberstellung gesetzt sind.
Um diesen Fragen adäquat nachgehen zu können, bietet sich folgendes Vorgehen an:
Zunächst wird die Diskussion um die zu verwendende Metrik in den Kontext der
Gleichheit gestellt, indem einerseits verschiedene Dimensionen des Gleichheitsprinzips
identifiziert werden und andererseits für die Grundlagen und Folgefragen der „Equality of
What“-Debatte sensibilisiert wird (Kapitel 2). Es folgt eine Beschreibung der Grundgüter
sowie ihre Rolle bei Rawls. Dies schließt die Darstellung weiterer Bestandteile seiner
Gerechtigkeitstheorie mit ein, da Grundgüter darin eine zentrales Element bilden (Kapitel
3). Die Kritik, die Sen an der Grundgüterperspektive äußert, wird daran anschließend
dargestellt, bevor sein Gegenentwurf – der CA – vorgestellt wird. (Kapitel 4). Es folgt die
Diskussion ausgewählter Argumente und Positionen, die es letztlich ermöglichen sollen, zu
einem differenzierten Urteil der Leitfragen zu gelangen (Kapitel 5). Die Ergebnisse dieser
Arbeit werden im Fazit zusammengefasst und bewertet (Kapitel 6).
6
2. Das Spektrum der Gleichheit und die Frage nach der richtigen Metrik im Kontext
sozialer Gerechtigkeit
Das Themenspektrum der sozialen Gerechtigkeit ist breit. Auch das Prinzip der Gleichheit,
welches bei Verteilungsfragen immer wieder auftaucht, hat mehrere Dimensionen.
Gleichheit wird in verschiedenen thematischen Zusammenhängen unterschiedlich
verstanden und zieht komplexe Folgefragen nach sich. Dabei ist der Stellenwert der
Gleichheit sowie ihr Verhältnis zu anderen Werten umstritten. Verschiedene
Deutungsversuche und -vorschläge durchziehen die meist fachübergreifenden Debatten.
Dieses Kapitel ist keineswegs um eine systematische oder historische Abhandlung des
Gleichheitsprinzips bemüht – sofern dies überhaupt in einem überschaubaren Rahmen
möglich wäre. Vielmehr geht es nun um den Versuch einer Annäherung an einen wichtigen
wie kontroversen Begriff, der sowohl in Rawls' Fairnesskonzeption der Gerechtigkeit als
auch in Sens Befähigungsansatz jeweils eine spezifische Rolle einnimmt. Die im
Folgenden geschilderten Interpretationen der Gleichheit in unterschiedlichen
Anwendungsbereichen sowie ihrer Kritik dienen daher der Einbettung des
Grundgüteransatz und des Befähigungsansatz in Themenkomplexe, von denen diese
Ansätze geprägt sind.
2.1 Gleichbehandlung: Moralische, Rechtliche und Politische Gleichheit
Gleichheit kann zunächst einmal als Verhältnis zwischen unterschiedlichen Menschen
betrachtet werden. „Equality is a relationship between different people.“ (McKerlie 1996:
274). Was in dieser Aussage mitschwingt, ist die Ambivalenz des Wortes different –
unterschiedlich. Denn faktisch sind Menschen ungleich: Hautfarbe, Körpergröße, (soziale
und geographische) Herkunft, Geschlecht, Religionszugehörigkeit, Persönlichkeit,
Intelligenz, Vermögen u.v.a. sind allesamt deskriptive Attribute, bezüglich derer sich
Menschen unterscheiden. Dennoch ist Gleichheit ein zentraler Wert in (modernen)
Demokratien. Neben der mehr oder weniger offenkundigen, deskriptiven Ungleichheit
sowie einem Pluralismus an Lebensentwürfen, wird also moralische Gleichheit zwischen
Menschen postuliert (Dahl 1996: 639; siehe auch: Dahl 1989 und Dahl 2000). Aus der
Zuschreibung des gleichen intrinsischen Wertes an jeden Menschen folgt, dass
Gleichbehandlung zu einem zentralen Prinzip staatlichen Handelns in Demokratien wird.
Dieser Anspruch wird theoretisch und praktisch in unterschiedlicher Weise
7
operationalisiert und führt in seiner minimalen Interpretation zunächst zu rechtlicher und
formaler politischer Gleichheit.
In der Menschenrechtsphilosophie etwa gilt, dass zwischen Menschen, die sowohl Träger
als auch Adressaten von Menschenrechten sind, nicht diskriminiert werden darf. (Koller
1998: 99-104). In demokratischen Verfassungen beziehen sich Grundrechte und -freiheiten
formal auf alle Menschen (bzw. Staatsbürger) gleichermaßen. Zum Beispiel schreibt
Artikel 3 des Grundgesetzes die Gleichheit vor dem Gesetz (Absatz 1), die
Gleichberechtigung von Frauen und Männern (Absatz 2) und die Nichtdiskriminierung auf
Grund persönlicher Merkmale und Eigenschaften (Artikel 3) vor. Zusätzlich zu dieser
rechtlichen Gleichheit drückt sich das Prinzip in der Regel des gleichen Stimmgewichtes
aus („one man, one vote“; im Grundgesetz Artikel 38, Absatz 1). Im Zuge der Entwicklung
anspruchsvollerer Demokratievorstellungen wurde das ältere Verständnis von Demokratie,
das vornehmlich auf freien Wahlen basiert, durch die Idee des öffentlichen
Vernunftgebrauchs erweitert. (Sen 2009: 324). Neben der formalen politischen Gleichheit
bei Wahlen – bzw. als dessen notwendiges Supplement – bedarf es in der anspruchsvollen
Interpretation von Demokratie des gleichen Zugangs zu öffentlichen Prozessen der
Deliberation. Nach Brighouse eröffnen sich jedem Menschen erst dadurch die gleichen
politischen Einflusschancen („Equal availability of political influence“) (Brighouse 1996:
120).
Beim Auswahlmodus des politischen Personals ist der Einfluss sozialer Ungleichheiten
unterbunden. Dies ist ein historisch bedeutsames Resultat der Demokratisierung. Das
demokratische Ideal, wonach alle Interessen die gleiche Chance haben, berücksichtigt zu
werden (Dahl 1989: 115), wird jedoch dann herausgefordert, wenn soziale und
ökonomische Ungleichheiten ursächlich für eine ungleiche Mobilisierung bei Wahlen, eine
ungleiche Teilhabemöglichkeit an Prozessen der gesellschaftlichen Deliberation und an
anderen politischen Aktivitäten und Ausdrucksformen sind.2 Ungleiche Repräsentation
birgt die Gefahr, dass den Belangen der Bürger unterschiedliche Wichtigkeit zukommt und
sich damit die soziale Ungleichheit reproduziert oder gar verschärft.
Auch John Rawls erkannte, dass die formale Garantie gleicher Rechte und Freiheiten
unzureichend ist, da der Wert dieser Freiheiten mit zunehmender Macht und Reichtum für
diese Personen höher ist. Er begegnet dieser Problematik mit der Forderung nach einem
2 Armin Schäfer stellte erst kürzlich da, wie das Wahlrecht in Deutschland disproportional stark von sozioökonomisch besser gestellten Bürgern wahrgenommen wird. (Schäfer 2015). Russel J. Dalton beobachtete, dass Wohlhabendere in höherem Maße die Bereitschaft, Fähigkeiten und Ressourcen besitzen, sich politisch zu engagieren. (vgl. Dalton 2014).
8
fairen Wert der gleichen politischen (und ausschließlich dieser) Freiheiten, die durch das
Prinzip fairer Chancengleichheit und durch das Differenzprinzip gesichert werden sollen.
(Rawls 1999a: 179; siehe auch: Rawls 2001: 148-150). „Der zweite Gerechtigkeits-
grundsatz übernimmt bei ihm die Aufgabe, den Abstand zwischen formaler und
tatsächlicher Gleichheit zu minimieren oder, anders gefasst, politische Gleichheit gegen
soziale Ungleichheit zu immunisieren.“ (Schäfer 2015: 41).
Tatsächliche politische Gleichheit, die in dieser anspruchsvollen Lesart über die formale
politische Gleichheit weit hinausgeht, führt unweigerlich zu Verteilungsfragen. Ein
wichtiges Kriterium, an denen sich Erwägungen sozialer Gerechtigkeit oftmals orientieren,
sind die sozialen Bedingungen, unter denen der gleiche Status als Bürger gewährleistet ist.3
Dennoch wird die „Equality of What“- Debatte größtenteils unabhängig von der
Diskussion um Bedingungen politischer Gleichheit geführt. (Brighouse 1996).4 Gewiss
haben beide Diskussionen unterschiedliche Schwerpunkte. Die Frage, welche die
geeignetste Metrik ist, um Lebenslagen und -aussichten zu vergleichen und was es daher
ist, über das Menschen in gleichem Umfang verfügen sollten, ist verschieden von der
Frage, wie das Ideal der gleichen politischen Einflussnahme begründet und institutionell
realisiert werden kann. Dennoch haben die Debatten Berührungspunkte.5 Dafür spricht
auch, dass man Rechte und Freiheiten sowie den Anteil an der politischen Macht (durch
die Fähigkeit zur politischen Einflussnahme) als Güter auffassen kann, die eine bestimmte
Verteilung in einer Gesellschaft haben. Die Voraussetzung von Verteilungsfragen ist die
Beantwortung der Frage, was verteilt werden soll.
2.2. Gleichverteilung: Gleichheit 'wovon' ?
Über die Garantie rechtlicher und (zumindest formaler) politischer Gleichheit besteht
weitestgehender Konsens unter allen Strömungen innerhalb der „Equality of What“-
Debatte.6 Dies könnte auch erklären, weshalb diese beiden Dimensionen eher
ausgeklammert werden.
Nun zur Frage nach der richtigen Metrik. Zunächst ist zwischen subjektiven und
objektiven Metriken zu unterscheiden. Zu ersteren zählen etwa Glück („Happiness“),
Befriedigung („Satisfaction“) und Wohlergehen („Welfare“). Demgegenüber sind
3 John Rawls ist in „political liberalism“ (1993) besonders von diesem Kriterium motiviert. 4 Rawls ist wie gesagt die Ausnahme. Er selbst hat sich auch nicht eingehend an der Debatte beteiligt,
sondern eher am Rande versucht, die Verwendung der Grundgüter-Metrik zu verteidigen.5 Zu diesem Ergebnis kommt auch Kenneth Baynes (2008). Kritisch dazu, siehe Robert Post (2006).6 In gewisser Weise dürfte der klassische Utilitarismus die einzige Ausnahme bilden.
9
Ressourcen im weitesten Sinne und Funktionsweisen objektive Metriken. Der
Grundgüteransatz und der Befähigungsansatz haben gemeinsam, dass in beiden subjektive
Metriken abgelehnt werden. (Anderson 2010: 81). Zwar geht es auch den Verfechtern
objektiver Metriken letztendlich um das Wohlergehen der Menschen, jedoch halten sie es
aus unterschiedlichen Gründen für unangebracht, es in subjektiver Form zur
Vergleichsgrundlage zu machen. 7
Die „Equality of What“-Debatte gründet auf dem Gedanken, dass es unzureichend ist,
Gleichheit im Verhältnis zwischen Personen zu fordern. Eine philosophische Position, die
als egalitär charakterisiert wird, ist demnach unterbestimmt. Dennoch beobachtete Sen,
dass Gleichheit in allen ernstzunehmenden Gerechtigkeitsvorstellungen eine zentrale Rolle
spielt. (Sen 1995; 2009: 291). Auch Cohen schreibt: „I take for granted that there is
something justice requires people to have equal amounts of, not no matter what, but to
whatever extent is allowed by values which compete with distributive justice.“ (Cohen
1993: 9). Die Frage, die sich nun stellt ist, in welcher Hinsicht Menschen gleich sein
sollten.
Dass es weitere gesellschaftliche Anforderungen gibt, die in einer Gerechtigkeitstheorie
mit der Gleichheit in Einklang gebracht werden müssen, macht darüber hinaus deutlich,
dass Gleichheit einen geeigneten Platz innerhalb einer Theorie benötigt. Die Festlegung
auf einen bestimmten Bereich wiegt auch deshalb schwer, weil Zielkonflikte zwischen
verschiedenen Formen der Gleichheit auftreten. Menschen in einer spezifischen Hinsicht
bzw. in einem Bereich gleich zu machen, hat zur Konsequenz, dass sie in mindestens einer
anderen Hinsicht ungleich werden. (Sen 1995: 16).8
Jedoch wird auch Kritik grundlegender Art an Gleichheit als gesellschaftlichem Ziel
geäußert. Harry Frankfurt (1987) etwa argumentiert, es gehe in moralischer Hinsicht nicht
darum, dass jeder dasselbe habe, sondern, dass jeder genug habe. Seine Verteilungsregel ist
Suffizienz („Sufficiency“). (Gosepath 2011).
Eine zweite mögliche Alternative, welche auch als abgeschwächte Form des Egalitarismus
beschrieben wird, fordert die Bevorzugung der am schlechtesten Gestellten Menschen bei
Verteilungsfragen. Priorität („Priority“) ist hier die Verteilungsregel. (Gosepath 2011).
Während beide Positionen sicherlich ihre Berechtigung haben, muss aus der Perspektive
der „Equality of What“-Debatte heraus argumentiert werden, dass sie ebenso wie die
7 Wie z.B. Ronald Dworkin illustriert, gibt es vielfältige Versionen von Theorien, die auf Wohlergehen beruhen. (vgl. Dworkin 1981). Im Rahmen dieser Arbeit können diese nicht systematisch besprochen werden. Einige wenige Kritikpunkte von Rawls und Sen werden an den entsprechenden Stellen und ohne Anspruch auf Vollständigkeit eingestreut.
8 Gleichheit in jeglicher Hinsicht würde Identität bedeuten.
10
unkonkrete Verwendung des Gleichheitsbegriffs unterbestimmt sind. Entsprechend müsste
man etwa fragen: „Sufficiency of what?“ bzw. „Priority in what regard?“. Auch Sen kommt
zu dem Ergebnis, dass Frankfurt vor allem gegen die strikte Gleichverteilung von
ökonomischen Ressourcen argumentiert. (Sen 1995: 15-16).
Darüber hinaus gibt es Zweifel daran, ob Gleichheit ein gehaltvoller moralischer Wert ist
oder ob er leer ist und lediglich der Beschreibung einer Verteilung eines bestimmten Guts
(z.B. Einkommen, Freiheit, Glück) dient? Sen jedenfalls ist überzeugt, dass Gleichheit
auch ein Wert an sich ist und führt ihn auf den Bedarf nach Unparteilichkeit und
Gleichbehandlung zurück. Die Tatsache, dass überhaupt Gleichheit von etwas gefordert
werde, spreche gegen die These des leeren Wertes. (Sen 1995: 23-26).
Was aus dem Gesagten festgehalten werden kann ist, dass Gleichheit in ihrem jeweiligen
Bereich für Egalitäre zwar ein wichtiger Wert ist, welcher innerhalb von
Gerechtigkeitstheorien in der Regel jedoch nicht ohne Bezug zu anderen Werten sinnvoll
interpretiert werden kann. Gleichheit hat, unabhängig der Metrik, darüber hinaus meist
auch nicht um jeden Preis Vorrang. Worum es beim Thema der sozialen Gerechtigkeit
zudem geht ist die Verbesserung von Lebensbedingungen bzw. Lebensqualität. Zu diesem
Zwecke scheint es unumgänglich, einige Ungleichheiten zuzulassen. Kontraintuitiv
hingegen wäre, der Gleichheit willen etwa das Einkommen oder das Glück von Gruppe A
auf das Niveau von Gruppe B zu senken, ohne gleichzeitig etwas für die Lebensqualität
von Gruppe B (bzw. aller) zu erreichen. (Mckerlie: 276-277). Es muss also nicht nur
bestimmt werden, in welcher Hinsicht Gleichheit im Verhältnis von Menschen herrschen
soll, sondern auch, unter welchen Umständen welche Arten und welches Ausmaß der
Ungleichheit zur Verbesserung der Lebensbedingungen toleriert wird. Wichtig ist dabei,
welchen Ursprung bzw. welche Ursachen die jeweiligen Ungleichheiten haben. So gibt es
zum einen natürliche Zufälligkeiten, wie angeborene Talente und Fähigkeiten, physische
und psychische Veranlagungen (einschließlich der motivationalen Veranlagung, diese
Eigenschaften zu fördern) und zum anderen soziale Zufälligkeiten, wie etwa die soziale
Klasse, in die ein Mensch hineingeboren wird oder die Zugehörigkeit zu einer ethnische
Gruppe, die in einer gegebenen Gesellschaft bestimmte Vor- oder Nachteile genießt.
Natürliche und soziale Merkmale sind moralisch willkürlich und beeinflussen die Chancen,
in bestimmte soziale Positionen zu gelangen.9 Daher plädieren Vertreter des so genannten
„luck egalitarism“ für eine Differenzierung in Ungleichheiten, die das Resultat freier,
9 John Rawls' Antwort auf die Problematik moralisch willkürlicher Merkmale wird im dritten Kapitel behandelt.
11
kalkulierter Handlungen und Entscheidungen sind und Ungleichheiten, die auf Umständen
basieren, die sich unserem Einfluss entziehen. Für letztere werden Menschen nicht
verantwortlich gemacht, weshalb sie für daraus resultierende Nachteile kompensiert
werden müssen. (Daniels 2003: 241-276).
Drei wichtige Vertreter der „Equality of“- Debatte (neben Rawls und Sen) greifen die
soeben skizzierte Problematik auf.10 So trifft Ronald Dworkin, der eine ausgefallene
Version der Ressourcengleichheit („equality of ressouces“) vertritt, in diesem
Zusammenhang die Unterscheidung zwischen „brute luck“ und „option luck“. „Option
luck is a matter of how deliberate and calculated gambles turn out […]. Brute luck is a
matter of how risks fall out that are not in that sense deliberate.“ (Dworkin 1981: 293).
Richard Arneson, der für „Equal opportunity for welfare“ steht, sind effektive und für alle
äquivalente Auswahlmöglichkeiten zentral, die Aussichten auf Bedürfnisbefriedigung
bieten. (Arneson 1989: 85). Gerald Cohen, dessen Beitrag – „equal access to advantage“ –
sowohl Ressourcen als auch Wohlergehen umfasst, plädiert für die Kompensation bzw.
Eliminierung unfreiwilliger Nachteile. „To say people should be equal in their access to
advantage, according to Cohen, is to say that any involuntary disadvantage – any
disadvantage which either was not chosen or cannot be voluntarily overcome – ought to be
eliminated or compensated.“ (Korsgard 1993: 54)
Alle drei Versionen sowie „Justice as Fairness“ und der Befähigungsansatz (wie sich noch
herausstellen wird) haben gemeinsam, dass sie verantwortlichem Handeln und autonomem
Entscheiden viel Raum gewähren und dafür bestimmte Ungleichheiten zulassen. In diesem
Sinne können sie der liberalen Tradition zugeordnet werden.
Das liberale Gleichheitsverständnis, das über rechtliche und formale politische Gleichheit
hinausgeht, lässt sich am ehesten im Prinzip der Chancengleichheit fassen. So schreibt
Arneson: „The argument for equal opportunity rather than straight equality is simply that it
is morally fitting to hold individuals responsible for the foreseeable consequences of their
voluntary choices […].“ (Arneson 1989: 88). Chancengleichheit gehört sowohl zum
Ansatz von Rawls als auch zu Sen.
Nach diesen Bemerkungen zur Gleichheit und zur „Equality of What“-Debatte wurde der
Rahmen geschaffen, in welchem die Diskussion um die adäquate Metrik geführt wird. Nun
wird der erste der beiden Metriken, die in dieser Arbeit betrachtet werden vorgestellt: Die
Grundgütermetrik von John Rawls.
10 Im Rahmen dieser Arbeit ist es (neben dem Grundgüteransatz und dem Befähigungsansatz) nicht möglich, andere egalitäre Theorien, wie die von Dworkin, Arneson und Cohen detailliert zu entfalten.
12
3. Der Grundgüteransatz im Kontext der Gerechtigkeitstheorie von John Rawls
John Rawls ist der wohl prominenteste Vertreter der politischen Philosophie des 20.
Jahrhunderts. Sein Hauptwerk „A Theory of Justice“ (TJ) aus dem Jahr 1971 sorgte für
eine Wiederbelebung des Interesses am Thema Gerechtigkeit, welchem er sich in seiner
Schaffenszeit quasi ausschließlich widmete. Rawsl versteht TJ als systematische Antwort
auf den Utilitarismus, der die Moralphilosophie bis dahin dominierte. Methodisch knüpft
Rawls an die Vertragstheorie der frühen Neuzeit an. (Rawls 1979: xviii). Von einem
unparteiischen Standpunkt, welcher mit der spezifischen Konstruktion des Urzustandes als
fairer Entscheidungssituation gewährleistet werden soll, möchte Rawls die Überlegenheit
seiner Gerechtigkeitsgrundsätze gegenüber alternativen Vorstellungen demonstrieren und
eine pluralistische liberaldemokratische Gesellschaft entwerfen und legitimieren, deren
institutionelle Grundstruktur von seinen Gerechtigkeitsgrundsätzen reguliert wird. Im
Laufe der Zeit hat Rawls Elemente seiner Theorie immer wieder modifiziert, doch das
theoretische und methodische Gerüst – Gerechtigkeit als Fairness – bleibt im Großen und
Ganzen unverändert. Sein zweites Hauptwerk, „Political Liberalism“ (PL) aus dem Jahr
1993 enthält eine bedeutsame Revision, in dessen Rahmen er von der Vorstellung
abweicht, dass Gerechtigkeit als Fairness eine umfassende moralische Theorie ist.
Stattdessen begreift er sie als ausschließlich politische Konzeption. Der Fokus des PL liegt
auf der Frage, wie eine solche Konzeption innerhalb einer pluralistischen Gesellschaft
dauerhaft Unterstützung generieren kann.
Grundgüter sind im Gefüge der Gerechtigkeitstheorie fest verwurzelt. Für ein umfassendes
Verständnis der Grundgüter ist es daher notwendig, wichtige Elemente von „Justice as
Fairness“ wiederzugeben. Dazu gehört die Idealkonzeption der Gesellschaft und der
Person (3.1) und die Gerechtigkeitsgrundsätze sowie das Verfahren ihrer Legitimation
(3.2). Anschließend können die Grundgüter angemessen vorgestellt, die Begründung für
ihre Verwendung durch Rawls nachgezeichnet und ihre Funktion innerhalb von „Justice as
Fairness“ dargelegt werden (3.3). Dies wird einige Seiten in Anspruch nehmen, erfolgt
jedoch trotzdem in stark verkürzter Form.
13
3.1 Die Konzeption der Gesellschaft und der Person
Menschen sehen nach Rawls die Notwendigkeit zu sozialer Kooperation, um vor dem
Hintergrund mäßiger Güterknappheit einen angemessenen Lebensstandard zu erreichen.
Dies sind die objektiven Anwendungsbedingungen der Gerechtigkeit („objective
circumstances of justice“). (Rawls 2001: 84). Die Interessenharmonie aller in diesem Punkt
wird jedoch kontrastiert von einem gleichzeitigen Interessenkonflikt, „ […] denn es ist den
Menschen nicht gleichgültig, wie die Kooperationserträge, die durch ihre Zusammenarbeit
erzeugten Güter, verteilt werden.“ (Kersting 2001: 34). Hinzu kommt das Faktum des
vernünftigen Pluralismus („fact of the reasonable pluralism“) als subjektive
Anwendungsbedingungen der Gerechtigkeit („subjective circumstances of justice“). Damit
ist gemeint, dass Bürger in freien Gesellschaften durch den Gebrauch ihrer moralischen
Vermögen umfassende moralische, religiöse und philosophische Lehren entwickeln und
vertreten, die miteinander unvereinbar sind. Aus diesen Lehren heraus – gleichsam wie
explizit oder bewusst Menschen sie ausdifferenzieren – werden Interessen, Werte und Ziele
abgeleitet, kurz: Bürger vertreten eine Konzeption des Guten – dazu gleich mehr. Rawls
sieht diesen Pluralismus als dauerhaftes Merkmal freier Gesellschaften. Nur durch Gewalt
könnte er unterdrückt werden. (Rawls 1993: 58-59; 2001: 32-34). Eine politische
Gerechtigkeitskonzeption soll nun gefunden werden, die die Unterstützung eines sog.
übergreifenden Konsens („overlapping consensus“) gewinnen kann. (Rawls 1993: xviii). In
Frage kommt demnach keine Konzeption, die aus der einen oder anderen umfassenden
Lehre abgeleitet wurde, da keine umfassende Lehre von allen bejaht werden könnte. Da die
Zwangsgewalt in demokratischen Staaten vom Kollektiv der freien und gleichen Bürger
ausgeübt wird, kann die politische Macht nur dann legitim sein, wenn sie auf der
Grundlage einer geteilten, politischen Gerechtigkeitskonzeption von den Bürgern
voreinander öffentlich gerechtfertigt werden kann. Rawls nennt dies das liberale
Legitimitätsprinzip („liberal principle of legitimacy“). (Rawls 2001: 40-41).
Um eine ideelle Gesellschaft zu entwerfen, setzt er grundlegende Ideen zueinander in
Beziehung, welche er nach eigener Aussage der öffentlichen politischen Kultur der
demokratischen Gesellschaft, ihrer wichtigsten Gesetze und Auslegungen der
Verfassungstradition entnimmt. (Rawls 2001: 5).
Die grundlegende und ordnende Idee ist für Rawls die einer Gesellschaft als
generationsübergreifendes faires System sozialer Kooperation. (Rawls 2001: 5). Diese Idee
wird verbunden mit der Idee der wohlgeordneten Gesellschaft („well-ordered society“).
14
Dies ist die idealisierte Beschreibung einer Gesellschaft, die von einer öffentlichen
Gerechtigkeitskonzeption wirksam reguliert wird. Das bedeutet, erstens dass alle Bürger
dieselbe Konzeption akzeptieren bzw. teilen und sicher sein können, dass alle anderen
diese ebenfalls teilen. Darüber hinaus wissen die Bürger zweitens, dass die wichtigsten
politischen und sozialen Institutionen der gesellschaftlichen Grundstruktur von den
öffentlich anerkannten Gerechtigkeitsprinzipien gesteuert werden und drittens verfügen die
Bürger über einen Gerechtigkeitssinn, der sie dazu befähigt, die Gerechtigkeitsprinzipien
zu verstehen und anzuwenden. (Rawls: 2001: 8-9). Als nächstes gelangt Rawls zur Idee der
Grundstruktur („basic structure“). Sie ist der Rahmen, innerhalb dessen die zentralen
Ordnungsprinzipien, Regeln und Verfahren einer Gesellschaft zur Geltung kommen. Von
den Institutionen der Grundstruktur geht im höchsten Maße Verteilungswirkung aus und
prägt die Bürger in vielfacher Hinsicht, weshalb die Grundstruktur zum Hauptgegenstand
der politischen Gerechtigkeitskonzeption wird. (Rawls 2001: 10). „By major institutions I
understand the political constitution, and the principle economic and social arrangements.“
(Rawls 1999a: 6)
Die wohlgeordnete Gesellschaft wird von Bürgern bevölkert, die ihrerseits in bestimmter,
idealer Weise konstruiert werden. Die Konzeption der Person ist eine normative und
politische Konzeption, die nicht auf psychologischen und metaphysischen Begründungen
fußt. (Rawls 2001: 19). Ihre Beschreibung baut auf der Idee der freien und gleichen
Personen („idea of free and equal persons“) auf. Bürger sind frei und gleich, wenn sie in
einer wohlgeordneten Gesellschaft ein Leben lang die Fähigkeit besitzen, an sozialer
Kooperation teilzunehmen und die Motivation zur Anerkennung fairer
Kooperationsbedingungen aufbringen. Dazu benötigen sie, was Rawls die beiden
moralischen Vermögen („two moral powers“) nennt.
Das eine moralische Vermögen ist die Anlage zum Gerechtigkeitssinn. Darunter versteht
Rawls „ […] the capacity to understand, to apply, and to act from (and not merely in
accordance with) the principles of political justice that specify the fair terms of social
cooperation.“ (Rawls 2001, 18-19). Das andere moralische Vermögen ist „[…] a capacity
for a conception of the good: it is the capacity to have, to revise, and rationally to pursue a
conception of the good. Such a conception is an ordererd family of final ends and aims
which specifies a persons's conception of what is of value in human life.“ (Rawls 2001: 19)
Eine Konzeption des Guten steht meist in Verbindung mit umfassenden Lehren, aus
welchen das Gute normalerweise abgeleitet werden. (Rawls 2001:19).
Personen sind nach Rawls gleich, wenn sie dauerhaft das notwendige Mindestmaß dieser
15
Vermögen (in Verbindung mit den so genannten Vernunftvermögen als intellektuelle
Fähigkeiten des Urteilens, Denkens und Schließens) besitzen, um an der sozialen
Kooperation teilzunehmen. (Rawls 1993: 19)
Personen sind in drei Hinsichten frei. In erster Hinsicht sind sie frei, wenn sie sich selbst
und anderen als Besitzer dieser moralischen Vermögen zugestehen, eine Konzeption des
Guten zu haben und diese aus rationalen und vernünftigen Gründen zu modifizieren und zu
revidieren. (Rawls 1993: 30) In zweiter Hinsicht sind sie frei, insofern sie sich als
selbstbeglaubigende Quelle gültiger Ansprüche betrachten. Das bedeutet, dass sie sich
berechtigt fühlen, auf der Grundlage der öffentlichen Gerechtigkeitsgrundsätze Ansprüche
an die Gesellschaft zu stellen, um ihre Konzeption des Guten zu fördern. (Rawls 1993: 32-
33). In dritter Hinsicht sind Menschen frei, wenn sie als fähig betrachtet werden,
Verantwortung für ihre Ziele zu übernehmen. Das verlangt, dass sie ihre, im Rahmen der
politischen Gerechtigkeitskonzeption gültigen Ansprüche an die Gesellschaft an die ihnen
berechtigterweise zur Verfügung stehenden Mittel anpassen. (Rawls 1993: 33-34).
Den Bürgern werden darüber hinaus zwei hochrangige Interessen zugesprochen, die beiden
moralischen Vermögen zu verwirklichen und auszuüben. (Rawls 1980: 525).
3.2 Die Gerechtigkeitsgrundsätze und der Urzustand
Vor dem Hintergrund dieser Vorstellung von der Gesellschaft und ihrer Bürger formuliert
Rawls zwei Gerechtigkeitsgrundsätze. Die Gerechtigkeitsgrundsätze lauten:
„a. Each person has an equal claim to a fully adequate scheme of equal basic rights and liberties,
which scheme is compatible with the same scheme for all; and in this scheme the equal political
liberties, and only those liberties, are to be guaranteed their fair value.
b. Social and economic inequalities are to satisfy two conditions: first, they are to be attached to
positions and offices open to all under conditions of fair equality of opportunity; and second, the are
to be to the greatest benefit of the least advantaged members of society“ (Rawls 1993: 5-6).
Dazu bedarf es einiger Erläuterungen. Zunächst sind Vorrangregeln zu beachten. Das erste
Prinzip (a) hat lexikographischen Vorrang vor dem zweiten Prinzip (b). Und innerhalb des
zweiten Prinzips hat das Prinzip der fairen Chancengleichheit (nach „first“)
lexikographischen Vorrang vor dem so genannten Differenzprinzip (nach „second“). Das
bedeutet, dass das zweite Prinzip erst zur Anwendung kommen darf, wenn das erste
Prinzip zur Gänze erfüllt ist. Dasselbe gilt auch innerhalb des zweiten Prinzips. Der
16
kompromisslose Vorrang der gleichen Rechte und Freiheiten soll verhindern, dass
ökonomische Erwägungen die Zuteilung von Rechten beeinflussen. Rawls will so „Trade-
Offs“ zwischen Freiheiten und ökonomischem Gesamtnutzen verhindern. (Rawls 2001: 43,
46-47).
Das Kriterium, welche Grundrechte und Freiheiten das erste Gerechtigkeitsprinzip
garantieren sollte, berücksichtigt, inwiefern diese den Bürgern die Möglichkeit zur
Entfaltung und Anwendung der beiden moralischen Vermögen in zwei grundlegenden
Fällen verschaffen. Im ersten grundlegenden Fall können Bürger vor allem durch die
gleichen politischen Freiheiten und die Gedankenfreiheit die moralischen Vermögen bei
der Beurteilung der Gerechtigkeit der Grundstruktur und der wichtigen sozialpolitischen
Maßnahmen einsetzen. Im zweiten grundlegenden Fall sorgen vor allem die
Gewissensfreiheit und die Versammlungsfreiheit für die Möglichkeit, die moralischen
Vermögen bei der Ausbildung, Anwendung und Revision einer Konzeption des Guten
einzusetzen. Auch die üblichen negativen Freiheiten, die die physische und psychische
Unversehrtheit der Person vorschreiben, sind garantiert. (Rawls 2001: 44-45).
Der erste Teil des zweiten Prinzips ist das Prinzip der fairen Chancengleichheit. Hier wird
der Zugang zu lukrativen sozialen Ämtern und Positionen reguliert. Es dient dem Zweck,
Ungleichheiten zu eliminieren, die aus sozialen Zufälligkeiten, wie die soziale Herkunft
oder Klassenzugehörigkeit, resultieren. Wie oben gezeigt wurde, sind diese Zufälligkeiten
aus moralischer Hinsicht willkürlich. Faire Chancengleichheit soll nun sicherstellen, dass
Talente und Fähigkeiten sowie die Anstrengungen, diese Talente zu entwickeln und
einzusetzen zum ausschließlichen Kriterium für den Zugang zu Ämtern und Positionen
wird. (Rawls 2001: 43-44). Dass diese Chancen fair sein sollen, macht auf den Unterschied
zur formalen Chancengleichheit aufmerksam. Eine lediglich formale Festsetzung der
Chancengleichheit ignoriert die genannten Zufälligkeiten, die dazu führen können, dass
sich die tatsächlichen Chancen zu Gunsten derer auswirken, die ihre ökonomische Stellung
in politische Vorherrschaft umsetzen können. Durch gleiche Bildungschancen und ein
geregeltes Marktsystem, das eine allzu große Anhäufung von Einkommen und Vermögen
verhindert, soll die formale Chancengleichheit fair werden. (Rawls 2001: 43-44).
Neben den sozialen Zufälligkeiten ist die angeborene ungleiche Verteilung der Talente und
sonstiger physischer und psychischer Voraussetzungen ebenfalls moralisch willkürlich. In
eine Gesellschaft hineingeboren zu werden, in der bestimmte, angeborene Merkmale
besser vermarktbar sind als andere, entzieht sich dem Zutun der Menschen. Das
Differenzprinzip dient nun dem Zweck, die Ungleichheiten zu entschärfen, die den
17
Ursprung in der ungleichen Verteilung der Talente und sonstiger Eigenschaften haben,
indem das Wohlergehen derjenigen, die ökonomisch am schlechtesten abschneiden, an das
Wohlergehen derjenigen gekoppelt ist, die am besten abschneiden. Nach dem
Differenzprinzip sind ökonomische und soziale Ungleichheiten nur dann zulässig sind,
wenn die am schlechtesten Gestellten einer Gesellschaft von den Vorteilen der besser
Gestellten (im Vergleich zu anderen Verteilungsanordnungen am meisten) profitieren. (vgl.
Rawls 2001: 59-60). Anders ausgedrückt: Das Differenzprinzip beinhaltet die Bedingung,
dass eine Abweichung von der ökonomischen Gleichverteilung nur zulässig ist, wenn die
am schlechtesten gestellte Gruppe einer Gesellschaft von einer Ungleichverteilung mehr
profitiert als von der Gleichverteilung (Kersting 2001: 91)
Die Gerechtigkeitsgrundsätze entwickeln zusammengenommen die Tendenz zur
Gleichheit. Zwar kompensieren sie nicht alle unfreiwilligen Ungleichheiten direkt, wie der
„luck egalitarism“ es verlangt, doch die von den Gerechtigkeitsprinzipien geleiteten
gesellschaftlichen Institutionen sorgen für ein Verteilungsschema, das die unfreiwilligen
Ungleichheiten adressiert und zum bestmöglichen Vorteil der am schlechtesten Gestellten
führt. Insbesondere das zweite Prinzip soll den fairen Wert der politischen Freiheiten
gewährleisten. (Schäfer 2015: 41).
Zur Legitimation der Gerechtigkeitsgrundsätze greift Rawls in abstrahierter Weise auf den
Kontraktualismus zurück. Rawls konstruiert den so genannten Urzustand als unhistorisches
und hypothetisches Gedankenexperiment, bei dem Parteien, die die Interessen gleicher und
freier Bürger vertreten sollen, unter Bedingungen selektiver Informationsdefizite eine
Gerechtigkeitskonzeption für die Grundstruktur der Gesellschaft unter mehreren
Alternativen auswählen. Der Urzustand ist so konstruiert, dass er ein faires
Auswahlverfahren in dem Sinne darstellt, dass er einen fairen Standpunkt aus der Sicht
gleicher und freier Bürger etabliert, die sich auf faire Modalitäten der sozialen Kooperation
einigen wollen. Die symmetrisch positionierten Parteien verfügen daher über kein Wissen
bezüglich der oben ausgeführten natürlichen und sozialen Merkmale, wie ihr Geschlecht,
ihre Intelligenz oder ethnische Zugehörigkeit, ihre Konzeption des Guten sowie über die
soziale Stellung, in die diese später gelangen. Sie wissen auch nichts Spezifisches über die
gesellschaftlichen Umstände. Rawls nennt dies metaphorisch den Schleier des
Nichtwissens („veil of ignorance“). Dieser soll verhindern, dass Gerechtigkeitsgrundsätze
aus der Perspektive und den Interessen bestimmter sozialer Positionen heraus beurteilt und
entstandene Verhandlungsvorteile die Auswahl beeinflussen. Darüber hinaus verfügen die
Parteien jedoch über das notwendige Expertenwissen sowie die charakterlichen,
18
motivationalen und moralischen Eigenschaften, um unter diesen Bedingungen eine
rationale Entscheidung zu treffen. Das Argument ist nun, dass sich die Personen in dieser
Situation auf die oben genannten Gerechtigkeitsgrundsätze verständigen würden. (Rawls
2001: 10-12; Schmidt 2009: 236-241).
3.3 Die Grundgüter
Grundgüter sind für Rawls benötigte soziale Bedingungen und Allzweckmittel, von denen
man normalerweise erwarten kann, dass jeder rationale Mensch einen größeren Anteil
einem geringeren vorziehen würde. In TJ schreibt Rawls, dass Grundgüter generell
gebraucht werden, unabhängig davon, was Menschen außerdem wollen. Mit steigender
Menge der Grundgüter verbessern sich die Möglichkeiten, vernünftige Lebenspläne –
unabhängig ihres Inhalts – zu verfolgen. (Rawls 1999a: 79).
Mit der genannten Revision hin zu einer politischen Gerechtigkeitskonzeption bezieht
Rawls in PL Grundgüter lediglich auf eine bestimmte Klasse an Bedürfnissen. Das sind die
Bedürfnisse, die Personen als Bürger haben. (Rawls 1993: 188). Grundgüter sind die
Dinge, die Bürger brauchen, um die beiden moralischen Vermögen – den
Gerechtigkeitssinn und eine Konzeption des Guten – entwickeln und einsetzen zu können
(Rawls 2001: 58). Mit der Bindung der Grundgüter an die Ausbildung und Anwendung der
beiden moralischen Vermögen, aber auch schon der alten Lesart, ist die Annahme
verbunden, dass Bürger zur Förderung ihrer Lebenspläne und Ziele, wie auch immer diese
sich innerhalb des zugelassenen Bereichs gestalten, in etwa dieselben Grundgüter
benötigen. Angesichts des Faktums des vernünftigen Pluralismus bejahen Bürger
unterschiedliche umfassende Lehren und daraus abgeleitete Konzeptionen des Guten. Um
Einigkeit gegenüber der politischen Konzeption zu erwirken, die nicht auf einer
umfassenden Lehre beruht, ist es Rawls Strategie, zwischen allen Konzeptionen des Guten,
trotz ihres unterschiedlichen Inhalts, eine so große Ähnlichkeit zu unterstellen, dass diese
mit demselben Set an Grundgütern verfolgt werden können. (Rawls 1993: 180).
Die Liste der Grundgüter umfasst nach Rawls fünf Arten:
„a. basic rights and liberties, also given by a list;b. freedom of movement and free choice of occupation against a background of diverse opportunities; c. powers and prerogatives of offices and positions of responsibility in the political and economic insitutions of the basic structure; d. Incomeand wealth; and finally, e. the social bases of self respect.“ (Rawls 1993: 181).
Es ist kaum zu übersehen, dass diese Liste der Grundgüter eng mit dem Inhalt der beiden
19
Gerechtigkeitsgrundsätze verbunden ist. Diese bilden die Verteilungsregeln für die
Grundgüter. Die Rechte und Freiheiten, die in den Kategorien (a) und (b) abgebildet
werden, sollen gleich verteilt werden, für die Zugangsrechte gelten gleiche Chancen und
die Einkommen und Vermögen sind dem Differenzprinzip unterworfen. (Schmidt 2009:
242).11
Die politischen und bürgerlichen Freiheiten unter (a) und (b) sind, wie oben (S.18-19)
gezeigt wurde, notwendig, um den Gerechtigkeitssinn zu entwickeln und auszuüben sowie
eine Konzeption des Guten zu vertreten, zu revidieren und rational durchzusetzen. Die
Freiheit des Ortswechsels und der Berufswahl sind Voraussetzung zur Durchsetzung eines,
mit einer Konzeption verbundenen, Lebensplans. Ein fairer Anteil an der politischen und
wirtschaftlichen Macht hängt offensichtlich mit den beiden moralischen Vermögen
zusammenhängt, da die politische Macht die Macht der Bürger ist, die über ihre Belange
gemeinsam entscheiden. Rawls führt dies in diesem Kontext jedoch nicht explizit aus.
Einkommen und Vermögen sind nützliche Allzweckmittel, die zur Förderung diverser, im
Rahmen des Rechten liegende Konzeption des Guten gebraucht werden. (Rawls 2001: 58-
59; 169) Doch auch der Gerechtigkeitssinn dürfte gestärkt werden, wenn der erhaltene
Anteil an Einkommen und Vermögen als gerecht empfunden wird. 12
Grundgüter werden von den Institutionen der gesellschaftlichen Grundstruktur
bereitgestellt. Die Ungleichheiten, die in ihrem Rahmen von den Gerechtigkeitsprinzipien
reguliert werden, beziehen sich auf die Lebensaussichten der Bürger, die mithilfe der
Grundgüterausstattung bemessen wird. (Rawls 2001: 55).
Die Grundgüter geben an, welche Ansprüche an die Gesellschaft bei Gerechtigkeitsfragen
Gültigkeit besitzen und wie konkurrierende Ansprüche zu beurteilen und zu gewichten
sind. Solche Ansprüche sind gültig, die sich auf Grundgüter beziehen. (Rawls 1993: 180).
Grundgütern kommen zudem die Funktion zu, eine öffentliche und objektive Grundlage
für interpersonelle Vergleiche zu liefern. Durch die Verwendung der Grundgüter wird der
Anforderung der Praktikabilität Rechnung getragen, indem sie auf einfachen und leicht
zugänglichen Informationen beruhen. (Rawls 1993: 181-182).
Die Maßgabe, den Vergleich auf objektiven Merkmalen der Lebensbedingungen zu
basieren, ist in TJ eingebettet in Rawls Kritik am Utilitarismus, der das Nutzenprinzip, je
11 In der eben ausgewiesenen Stelle in Schmidt 2009 wird Macht zu den ungleichen Grundgütern gerechnet. Während es wahr ist, dass Menschen im Ergebnis unterschiedliche politische und wirtschaftliche Positionen besetzen, ist die faire Chance, in diese Positionen zu gelangen, für alle Menschen gleich.
12 Die sozialen Grundlagen der Selbstachtung müssen hier nicht explizit ausgeführt werden, da sie auch in der Kritik von Amartya Sen nachrangig sind. In TJ findet sich ihre Erklärung im Abschnitt 67 auf S.386-391.
20
nach Verständnis mithilfe diverser subjektiver Metriken (z.B. Bedürfnisbefriedigung,
Glück, Wohlergehen) operationalisiert. Rawls schreibt: „The main idea [of classical
utiliarianism] is that society is rightly ordered, and therefore just, when its major
institutions are arranged so as to achieve the greatest net balance of satisfaction summed
over all the individuals belonging to it. “ (Rawls 1999a: 20; Ergänzung des Verfassers).
Man gelangt zum Nutzenprinzip, indem man die Entscheidungsregel, nach der Individuen
ihre Bedürfnispräferenzen in die für ihr Wohl nützlichste Ordnung bringen, mithilfe der
Vorstellung des unparteiischen Beobachters auf die Gesellschaft überträgt. Das
Nutzenprinzip bzw. Nutzensummenprinzip lautet nach Rawls: „[A] society is properly
arranged when its institutions maximize the net balance of satisfaction“ (Rawls 1999a: 21).
Neben der allgemeinen Kritik, dass im Utilitarismus Fragen der Verteilung von
Befriedigung vernachlässigt würden und durch die Maximierung des Nutzens als
vorrangiges Prinzip unannehmbare „Trade-Offs“ zwischen den Rechte und Freiheiten
einiger Menschen und dem Gesamtwohl der Gesellschaft zugelassen würde, ist vor allem
Rawls' praktischer Einwand gegen das Nutzenprinzip zu nennen, wonach Nutzen
Messprobleme aufwirft und dadurch interpersonell schwer vergleichbar ist. Man bräuchte
ein kardinales Maß von Nutzeneinheiten und müsste im Stande sein, die Nutzenfunktionen
verschiedener Menschen zu vergleichen. (Rawls 1999a: 78). Die Konstruktion einer Metrik
zum Vergleich sozialer Positionen vereinfacht sich mit der Anwendung der Grundgüter
erheblich. Durch den lexikografischen Vorrang der gleichen Grundrechte und Freiheiten
muss nur noch ein Vergleich sozialer Positionen im Hinblick auf ungleich verteilte Güter
getroffen werden. (vgl. Rawls 1999a: 80). Eine weitere Vereinfachung kommt dadurch
hinzu, dass Rawls soziale Positionen auf zwei wesentliche Positionen reduziert. Einmal
haben Menschen die Position gleicher Bürgerrechte und zudem einen (ungleichen) Platz in
der Einkommensverteilung. (Rawls 1999a: 82).
Dabei werden die am schlechtesten Gestellten einer Gesellschaft definiert als diejenigen,
die bezüglich sozialer, natürlicher und sonstiger unglücklicher Zufälligkeiten am
schlechtesten dastehen und deren Aussichten auf Grundgüter dementsprechend am
geringsten sind. (Dabei wird angenommen, dass sich diese Zufälligkeiten in einem Bereich
befinden, in dem die Menschen kooperationsfähig sind.). (Rawls 1999a: 83-84). Das
Differenzprinzip verlangt nun, dass die Verteilung der Grundgüter der besser Gestellten die
Grundgüteraussicht der am schlechtesten Gestellten erhöht. Das verlangt keine genaue
Messung all jener, die nicht der am schlechtesten gestellten Gruppe angehören. (Rawls
1999a: 80). Diese wird dann zugegebenermaßen intuitiv bestimmt, indem man sich in die
21
Lage schlecht gestellter Menschen hineinversetzt und von ihrem Standpunkt aus beurteilt,
was sie mindestens benötigen. (Rawls 1999a: 84).
4. Amartya Sens Kritik an der Grundgütermetrik und der Capability Ansatz
Nachdem nun die Grundgüter im Kontext der Gerechtigkeitskonzeption von John Rawls
vorgestellt sind, widmet sich dieses Kapitel einerseits der Kritik, die Amartya Sen an der
Grundgütermetrik übt (4.1), und andererseits der Skizzierung des CA (4.2), der als Antwort
sowohl auf Metriken verstanden werden kann, die sowohl auf Wohlergehen (welfare) als
auch auf Ressourcen beruhen. Zu letzteren gehören nach Sen auch Grundgüter im
rawls'schen Sinne. Dieses Vorgehen bildet in gewisser Weise die historische Entwicklung
des CA ab, an dessen Anfang die Kritik an verschiedenen Metriken – hier beschränkt auf
die Grundgüter – stand. Doch die Trennung zwischen der Kritik an Rawls und der
Darstellung des CA ist nicht konsequent, da zur Kritik teilweise das Vokabular des CA
benötigt wird und daher zum Teil schon in (4.1) eingeführt wird.
Die Darstellung des CA in dieser Arbeit ist weitestgehend auf ihre Grundlagen in der
Lesart von Amartya Sen beschränkt. Es ist jedoch anzumerken, dass der CA von
verschiedenen Wissenschaftlern auf eine Reihe von Forschungsfeldern und Themen
angewendet und zu diesem Zweck in verschiedener Weise erweitert worden ist. Die
vielfältigen Anwendungen und Erweiterungen zeigen, wie brauchbar die Perspektive des
CA zu sein scheint und welche Prominenz der Ansatz (und ihr Begründer) inzwischen hat.
Neben diesem Potenzial und weiterer Vorzüge sind jedoch auch eine Reihe
ernstzunehmender Kritikpunkte angeführt worden, die auf diverse Mängel des CA
aufmerksam machen. Auf einige dieser Vorzüge und Kritikpunkte wird in diesem Kapitel
sowie in der Diskussion genauer eingegangen, vor allem, wenn sie mit dem Disput
zwischen Rawls und Sen zusammenhängen. Was dieses Kapitel außerdem herausstellen
möchte, ist der unterschiedliche Zugang von Rawls und Sen zum Thema Gerechtigkeit,
was in der späteren Diskussion um die Angemessenheit der Kritik eine nicht unbedeutende
Rolle spielt.
22
4.1. Die Kritik von Amartya Sen an der Grundgütermetrik
Auch wenn Sen stets würdigt und hervorhebt, wie viel er dem Beitrag von John Rawls zur
politischen Philosophie verdankt und wie sehr sein eigenes politisch-philosophisches
Verständnis von Rawls beeinflusst ist, sieht er dennoch Anlass dazu, verschiedene Aspekte
der rawls'schen Gerechtigkeitskonzeption zu kritisieren. (Sen 2009: 52-86). Hier ist im
Speziellen seine Kritik an der Grundgütermetrik von Interesse, die er erstmals in „Equality
of What“ (1980) formulierte. Sen spricht sich zwar gegen Grundgüter aus, doch seine
Kritik bezieht sich insgesamt auf Metriken, die auf Mitteln beruhen, wie Einkommen,
Gebrauchsgütern oder Ressourcen. Er diskriminiert manchmal nicht explizit zwischen
diesen Formen, da er offensichtlich die Gültigkeit seiner Kritik auch für diese anderen
Formen beansprucht. (Sen 1990). Darüber hinaus distanziert er sich (wie Rawls) von
subjektiven Metriken, die in diesem Zusammenhang jedoch nachrangig sind. (Sen 1980).
Sen kritisiert, dass durch die Fokussierung auf Grundgüter weitreichende Unterschiede
zwischen Menschen unbeachtet bleiben. „The primary goods approach seems to take little
note of the diversity of human beings.“ (Sen 1980: 215). Grundgüter wären für Sen nur
dann ein geeignetes Maß, wenn Menschen sehr ähnlich wären. (Sen 1980: 215). Doch
Menschen haben nach Sen sehr unterschiedliche Bedürfnisse, die von körperlichen bzw.
persönlichen, geographischen und soziale Umständen und Eigenschaften beeinflusst
werden und sich nicht auf einige schwerwiegende Fälle beschränken lassen. (Sen 2009:
255-256, 261).
Zu den persönlichen Merkmalen gehört etwa der gesundheitliche Zustand, die Anfälligkeit
für Krankheiten, das Alter, das Geschlecht und die Körpergröße eines Menschen. Ein
kranker Mensch etwa oder eine körperlich oder geistig behinderte Person hätten mitunter
größere Schwierigkeiten, mit dem selben Anteil an Mitteln denselben Vorteil zu erreichen,
weil ein erhöhter Anteil für die medizinische Versorgung oder sonstiger Kompensations-
leistungen aufgewendet werden muss oder weil bestimmte Mittel erst gar nicht, oder nicht
adäquat, genutzt werden können. „To argue that resources should be devoted to remove or
substantially reduce the handicap of the cripple despite there being no primary good
deprivation, the case must rest on the interpretation of needs in the form of basic
capabilities.“ (Lehning 1990: 207).
Über diese Härtefälle hinaus variieren jedoch etwa auch die Stoffwechsel- und
Ernährungsanforderungen je nach Körpergröße, Geschlecht und Alter und Beruf oder
Zustand einer Person. Eine schwangere Frau, ein Kind oder ein körperlich hart arbeitender
23
Mensch haben spezifische, erhöhte Anforderungen. Klimatische oder sonstige
geographischen Faktoren der Umwelt haben ebenso wie soziale und kulturelle Faktoren –
etwa die Mittel, die notwendig sind, um in der Öffentlichkeit ohne Scham aufzutreten und
am gesellschaftlichen Leben teilnehmen zu können, Praktiken der Diskriminierung,
Geschlechterrollen, die Qualität der medizinischen Versorgung, des Erziehungswesens oder
die Kriminalitätsbekämpfung – Einfluss auf menschliche Unterschiede, die berücksichtigt
werden müssen, wenn interpersonelle Vorteile verglichen werden. (Sen 1985: 25-26; Sen
2009: 255-256; Robeyns 2005: 99)
Sens Argument ist, dass diese Unterschiede von der regulierten institutionellen
Grundstruktur ignoriert werden, solange diese lediglich Grundgüter verteilt. „Judging
advantage purely in terms of primary goods leads to a partially blind morality.“ (Sen 1980:
216). Statt sich lediglich auf instrumentelle Mittel zu konzentrieren, die einer Person zur
Verfügung steht, muss nach Sen berücksichtigt werden, was unterschiedliche Menschen
mit diesen Mitteln anfangen können bzw. wie gut sie diese nutzen können. Die
Verknüpfung zwischen den Mitteln und den Personen, die über diese Mittel verfügen,
bleibe bei Rawls aus. „Indeed it can be argued that there is, in fact, an element of
“fetishism“ in the Rawlsian framework. Rawls takes primary goods as the embodiment of
advantage, rather than taking advantage to be a relationship between persons and goods.“
(Sen 1980: 216).
Die genannten Ungleichheiten sorgen für ungleiche Fähigkeiten in der Umwandlung der
zur Verfügung stehenden Mittel in Befähigungen, also in effektive Möglichkeiten, die
Handlungen zu vollziehen oder die Zustände zu erreichen, die man um ihrer selbst Willen
wertschätzt. (Sen 2009: 261). Diese Befähigungen sind für Sen Ausdruck der Freiheit einer
Person – dazu gleich mehr. Er erkennt an, dass für Rawls Freiheit ein Wert von
außerordentlicher Bedeutung ist – eine Einsicht, die Sen teilt. Doch er bemängelt, dass die
Grundgüterperspektive nur die Mittel zur Freiheit und nicht das tatsächliche Ausmaß der
Freiheit eines Menschen abbildet. Er fragt: „But if we are interested in freedom, is it
adequate to concentrate on the means to freedom, rather than on the extent of the freedom
that a person actually has?“ (Sen 1990: 115). Die Informationsgrundlage zum Vergleich
interpersoneller Vorteile sollte sich nach Sen daher direkt auf Befähigungen beziehen und
nicht indirekt auf die Güterausstattung. Sonst laufe man Gefahr, eine gewisse Willkür
zuzulassen, die ungerechtfertigte Ungleichheiten billigen würde. (Sen 1990: 111-112).
„Sen's point is that, if “justice as fairness“ requires that we neutrilize (or at least mitigate)
undeserved disadvantages incurred through the “natural lottery“, then Rawls's primary
24
goods are not up to the task: they will insitutionalize the consequences of a host of morally
arbitrary facts about people (disability, gender, health etc.).“ (Nelson 2008: 106).
Sen hält zudem Rawls' Strategie, den Umgang mit besonderen Härtefällen auf der
Gesetzgebungs- und Anwendungsebene seiner Theorie zu klären und zunächst eine
Gerechtigkeitskonzeption zu entwerfen, die für normale, voll kooperationsfähige Bürger
akzeptabel ist, für verfehlt. Denn die Korrekturmaßnahmen fänden erst statt, wenn der
Aufbau der institutionellen Grundstruktur bereits abgeschlossen ist. Auf die Prägung der
Institutionen hätten besondere Bedürfnisse keinen Einfluss mehr, sondern es werden
Grundgüter durch Institutionen verteilt, die auf „normale“ Menschen ausgelegt sind.
Gerade angesichts der vielfältigen und unterschiedlichen Ungleichheiten, die sich nicht auf
diese Sonderfälle beschränken, wirkt Rawls' Strategie in Sens Augen verfehlt. Daher sollte
der Informationsschwerpunkt auf Funktionsweisen und Befähigungen verlagert werden,
die responsiv gegenüber diesen Ungleichheiten sind. (Sen 2009: 289-290). „In focusing on
the enhancement of justice through institutional and other changes, the approach here does
not, therefore, relegate the issue of conversion and capabilities into something of second-
category status, to be brought up and considered later.“ (Sen 2009: 262).
Hier tritt ein gewichtiger methodischer Unterschied zwischen Rawls und Sen zu tage, was
die Herangehensweise an das Thema Gerechtigkeit betrifft. Dies wird an dieser Stelle
erwähnt, weil es der späteren Beurteilung der Kontroverse zwischen den beiden einigen
Aufschluss geben wird.
Rawls bewegt sich im Rahmen einer idealen Theorie, die von der Wirklichkeit abstrahiert,
während Sen einen nicht-idealen, komparativen Zugang zur Gerechtigkeit hat. Zudem
stützt sich Rawls vorwiegend auf die Gerechtigkeit von Institutionen, die für Sen für sich
genommen noch nicht hinreichend Aufschluss über das tatsächliche Verhalten der
Menschen, die tatsächliche Verteilung und die Lebensbedingungen der Menschen geben.
Er bezweifelt in diesem Zusammenhang, dass das tatsächliche menschliche Verhalten auf
der Grundlage gerechter institutioneller Arrangements in dem von Rawls unterstellten
Ausmaß regulieren würde (Sen 2009: 79-80). „[W]e could say that Sen's main
disagreement with Rawls lies in the thesis that fairness should also properly apply to
persons whereas Rawls' principles only apply to institutions. And this is exactly why the
capability thesis reproaches the resourcist approach à la Rawls.“ (Maffettone 2011: 123).
Sen nennt den Zugang von Rawls transzendentalen Institutionalismus („transcendental
institutionalism“) und seinen eigenen Ansatz den auf Verwirklichung konzentrierten
Vergleich („realization-focused comparativism“) (Sen 2009: 5-8). Er widmet diesem
25
Unterschied viele Seiten und argumentiert vehement gegen den transzendentalen
Institutionalismus. In der Hauptsache geht es dabei darum, dass Sen es für weder
notwendig noch sonderlich hilfreich hält, eine vollkommen gerechte und ideale
Gesellschaft zu entwerfen, die von den gesellschaftlichen Realitäten abstrahiert. Denn ein
solches Vorgehen könne wenig Aufschluss über die Gerechtigkeit tatsächlicher
Gesellschaften geben. Einem Vergleich zwischen dem gesellschaftlichen Ideal und ihrer
Abweichung in realen Gesellschaften sind nach Sen unüberwindbare methodologische
Steine in den Weg gelegt. (Sen 2009: 96-113) Diese These ist problematisch. In der Tat
wird man Rawls die Absicht und den Anspruch unterstellen dürfen, dass seine
Gerechtigkeitstheorie einen gewissen praktischen Nutzen hat. Dennoch ist für Sens Zugang
die gesellschaftliche und persönliche Idealisierung keine brauchbare Strategie. Ihm geht es
in der Hauptsache darum, krasse und offenkundige Ungerechtigkeiten und soziale
Missstände, wie Hunger, Armut, medizinische Unterversorgung, Analphabetentum und
dergleichen zu verringern. (Sen 2009: 75-87).
4.2 Der Capability Ansatz
Den Verzerrungen im Vergleich des interpersonellen Vorteils, die von den Grundgütern
(und vom Wohlergehen) als Informationsschwerpunkt ausgehen, will Sen durch den CA
begegnen. Statt also lediglich auf die Verteilung der zur Verfügung stehenden Mittel
einerseits oder auf das generierte Glück, Vergnügen oder die Bedürfnisbefriedigung durch
diese Mittel andererseits zu achten, fokussiert sich Sen auf das, was die Mittel den
Menschen ermöglichen, zu tun oder zu sein. Das bezieht sich auf ein erstes wichtiges
Element des CA – so genannte Funktionsweisen („functionings“). „Living may be seen as
consisting of a set of interrelated 'functionings', consisting of beings and doings.“ (Sen
1995: 39). Sen betrachtet Funktionsweisen als konstitutiv für das menschliche Sein. Sie
drücken Erreichtes aus und beziehen sich auf erfüllte Seinszustände („beings“) und
vollzogene Aktivitäten („doings“). „A functioning is an achievement of a person: what he
or she manages to do or be. It reflects […] a part of the 'state' of that person.“ (Sen 1985:
7). Funktionsweisen bzw. ihre Kombinationen können sind sehr divers. Sen nennt als
Beispiele elementarer Funktionsweisen unter anderem, adäquat ernährt zu sein, in gutem
gesundheitlichen Zustand zu sein oder einen frühzeitigen Tod abzuwenden. Daneben gibt
es komplexere Funktionsweisen, wie die Beteiligung am Leben der Gemeinschaft oder
glücklich zu sein. (Sen 1995: 39; 2009: 233). Wie oben gezeigt wurde, hängt das
26
Erreichen angestrebter Funktionsweisen von persönlichen und sozialen Umständen ab, die
beeinflussen, wie gut eine Person die gegebenen Mittel umsetzen kann. Wie divers und
komplementär Funktionsweisen sein können, demonstriert Sen am Beispiel des
Fahrradfahrens: Der Besitz eines Fahrrads ist die notwendige Bedingung, um Fahrrad zu
fahren. Doch das Fahrrad selbst ist lediglich das Mittel. Darüber hinaus sind die Fähigkeit,
das Fahrrad zu bedienen, die Entschlussfähigkeit, die zur Entscheidung führt, das Fahrrad
zu fahren sowie die gesundheitlichen Voraussetzungen zum Radfahren Beispiele für
Funktionsweisen, die man erreicht haben muss, um beurteilen zu können, welchen
tatsächlichen Nutzen eine Person von einem Fahrrad hat. (Graf 2011: 19).
Erreichte Funktionsweisen bilden ein zentrales Element des CA. Darauf basiert Sen die
Vorstellung von Befähigung („Capability“).
„Closely related to the notion of functionings ist that of the capability to function. It represents the various combinations of functionings (beings or doings) that the person can achieve. Capability is, thus, a set of vectors of functionings, reflecting the person's freedom to lead one type of life or an- other.“ (Sen: 1995: 39-40).
Die Funktionsweisen und die Befähigung einer Person müssen voneinander unterschieden
werden. Erstere drücken verschiedene Aspekte der tatsächlichen Lebensbedingungen eines
Menschen aus, während letzteres die Möglichkeit widerspiegelt, Funktionsweisen zu
erreichen. (Sen 1995:40). Darüber hinaus ist die Befähigung, Funktionsweisen zu
erreichen, streng genommen zu unterscheiden von Befähigungs-Sets. Befähigungs-Sets
(„capability sets“) drücken die verschiedenen Kombinationen an verfügbaren
Funktionsweisen aus, unter denen eine Person wählen kann. Diese terminologische
Unterscheidung wird jedoch nicht konsequent angewandt und der Begriff der Befähigung
umfasst inzwischen beide Bedeutungen. (Sen 2009: 233; Graf 2011: 20).
Die Befähigung, zwischen verschiedenen Kombinationen von Funktionsweisen zu wählen,
bringt, wie gesagt, für Sen tatsächliche Freiheit zum Ausdruck. (Sen 1990: 114).
„Capability is primarily a reflection of the freedom to achieve valuable functionings.“ (Sen
1995: 49). Die Erweiterung von Funktionsweisen um den Aspekt der Befähigung eröffnet
die Möglichkeit, mehr relevante Informationen bei der Beurteilung von Vorteilen und
Wohlergehen zu verwerten. Dies kann veranschaulicht werden anhand eines Beispiels, das
Sen des öfteren gebraucht. Zwei ähnlich unterernährte Menschen sind bezüglich der
Funktionsweise, adäquat ernährt zu sein, mitunter in etwa gleich. Wenn jedoch die eine
Person freiwillig fastet oder in einen Hungerstreik tritt, die andere Person jedoch unter
Armutsbedingungen Hunger leidet, unterscheidet sich die Befähigung der jeweiligen
27
Personen, wohlgenährt zu sein. Die eine Person besitzt die Freiheit wohlgenährt zu sein,
verzichtet jedoch bewusst darauf, während die andere Person erst gar nicht im Besitz dieser
Freiheit ist. (Sen 2009: 237). Es gibt also gute normative und analytische Gründe, über die
Verwirklichung von Funktionsweisen hinauszugehen und die Befähigung zu betrachten.
Sen versteht tatsächliche Wahl- und Handlungsfreiheit als intrinsisch wertvoll. „Choosing
may itself be a valuable part of living, and a life of genuine choice with serious options
may be seen to be – for that reason – richer“ (Sen 1995: 41). Je nach Untersuchungs-
schwerpunkt oder auf Grund einer mangelhaften Informations- und Datenlage – Sen betont
selbst, dass dies eine häufige Schwierigkeit darstellt – ist es jedoch auch möglich, lediglich
die erreichten Funktionsweisen zu untersuchen, da sich die gewählten Funktionsweisen
einer Person unter den zur Verfügung stehenden Optionen befinden. (Sen 1995: 50-52).
„[I]f choosing is seen as a part of living, and 'doing x' is distiguished from 'choosing to do
x and doing it', then even the achievement of well-being must be seen as beeing influenced
by the freedom reflected in the capability set.“ (Sen 1995: 52).
Ein integraler Bestandteil bei der Anwendung des CA ist die sorgsame Auswahl und
Gewichtung der für den Untersuchungsgegenstand jeweils relevanten Funktionsweisen und
Befähigungen. Denn offensichtlich ist eine Vielzahl an Funktionsweisen und Befähigungen
irrelevant für bestimmte Untersuchungen oder schlicht trivial, etwa die Befähigung,
zwischen zwei Sorten Waschpulver zu wählen. Dann gibt es unterschiedlich grundlegende
Funktionsweisen, wie „Laufen können“ im Vergleich zu „Marathon laufen zu können“.
(Sen 1995: 44-45). Viele Funktionsweisen und Befähigungen sind außerdem auf Grund
ihrer Verschiedenartigkeit inkommensurabel, wie Sen offen eingesteht. „Capabilities are
clearly non-commensurable since they are irreducibly diverse, but that does not tell us
much at all about how difficult – or easy – it would be to judge and compare different
capability combinations.“ (Sen: 2009: 240). Dennoch gibt es für Sen in vielen Fällen keine
einfache und unstrittige Übereinstimmung, wie Funktionsweisen ausgewählt und wie
Gewichtungen praktisch vorgenommen werden sollen. Unvollständigkeit („incomplete-
ness“) in der Gewichtung ist ein Umstand, der bei Untersuchungen oftmals unumgänglich
ist. (Sen 1995: 48-49).
Sen hat sich daher stets geweigert, eine Liste relevanter Funktionsweisen und
Befähigungen als objektiv richtig zu charakterisieren und aufzustellen. Die von ihm
genannten Funktionsweisen sind also vor allem als Beispiele zu begreifen. „Sens
Reserviertheit gegenüber der Vervollständigung des Fähigkeitenansatzes […] hat vor allem
auch mit dem Pluralismus an faktisch vorhandenen ethischen Positionen zu tun. Es scheint
28
so zu sein, dass sich Wertfragen vielfach nicht endgültig entscheiden lassen […].“ (Graf
2011: 24).
Sen betont insbesondere die Rolle öffentlicher Diskussion und demokratischer Beteiligung
beim Auswahlprozess relevanter Funktionsweisen und Befähigungen.
„The problem is not with listing important capabilities, but insisting on one predetermined canonical list of capabilities, chosen by theorists without any general social discussion or public reasoning. Tohave such a fixed list, emanating entirely from pure theory, is to deny the possibility of fruitfulpublic participation on what should be included and why.“ (Sen 2004: 77).
Wenn die Verantwortung der Wahl der relevanten Funktionsweisen auf den demokratischen
Prozess übertragen wird, bedarf es zusätzlicher, reiflicher Überlegungen, wie solch ein
Prozess gestaltet werden könnte. Bei Sen finden sich diese Überlegungen jedoch nicht. „In
Sen's case, it is not at all clear how these processes of public reasoning and democracy are
going to take place, and how we can make sure that minimal conditions of fair
representation are guaranteed.“ (Robeyns 2005: 106).
Während sich manche Funktionsweisen und Befähigung sicherlich als mehr oder minder
universell charakterisieren lassen, da sie sich auf menschliche Grundbedürfnissen
beziehen, muss für andere eine Konvention gefunden werden. (Robeyns 2000:16). Gerade
vor diesem Hintergrund und unter Berücksichtigung des eben geschilderten Skeptizismus
bezüglich des Pluralismus ethischer Positionen kommt der Idee, dass die Betroffenen selbst
an dem Auswahlprozess von für sie bedeutsamen Funktionsweisen und Befähigungen
beteiligt sein sollten, einige Plausibilität zu.
Eine wichtige Unterscheidung in diesem Zusammenhang ist zwischen Befähigungen und
Grundbefähigungen bzw. Grundvermögen („Basic Capabilities“) zu treffen. In Sens
Artikel, „Equality of What“ (1980), der den Anfangspunkt des CA kennzeichnet, bezieht
sich Sen auf Grundvermögen. Diese Unterscheidung kann irreführend sein, da Sen hier
noch nicht ausreichend zwischen Grundvermögen und Befähigungen diskriminiert. Er
charakterisiert zwar Grundvermögen als Fähigkeit einer Person, grundlegende Dinge zu
tun, aber auch die Teilnahme am sozialen Leben der Gemeinschaft zählt er hierzu. (Sen
1980: 218). Im inzwischen konventionellen Sprachgebrauch werden Grundvermögen als
Teilmenge aller Befähigungen betrachtet und beziehen sich auf jene Befähigungen, die zur
Existenzsicherung benötigt werden. In Untersuchungen zu Armut und Deprivation
erweisen sich Grundvermögen daher als besonders relevant. (Robeyns 2000: 8). Sie sind
nach Sen in der Lage, die Dringlichkeit („Urgency“) einer Person besser zu erfassen als
andere Metriken. (Sen 1980: 218). Geht man über die Grundvermögen hinaus, wird jedoch
die oben geschilderte Notwendigkeit zur Auswahl relevanter Funktionsweisen verstärkt
29
zum Gegenstand der Diskussion.
Wo kann nun der Wert der Gleichheit innerhalb des CA verortet werden? Nachdem Sen die
Debatte mit der Kritik begonnen hat, dass der Gleichheitsanspruch durch Zugrundelegen
verschiedener anderer Metriken nicht eingelöst wird, scheint diese Frage nicht unerheblich.
Bezüglich der Grundvermögen fordert Sen Gleichheit („Basic Capability Equality“). Diese
Gleichheit kann in dem Sinne interpretiert werden, dass alle Menschen gleich sein sollen in
der Befähigung, (wenigstens) in ausreichendem Maße ihre lebensnotwendigen
Funktionsweisen zu erreichen und dürfte sich auf die intrinsische Gleichwertigkeit aller
Menschen beziehen, die es verbietet, einigen Menschen dieses soziale Minimum
vorzuenthalten. Dieser Gedanke ist mit dem Suffizienz-Kriterium durchaus zu vereinbaren.
Betrachtet man das gesamte Befähigungs-Set der Menschen, ist weniger eindeutig, worin
die Gleichheit zwischen Menschen bestehen soll. Formal könnte man zwar sagen,
Menschen sollten gleich sein in der Befähigung, Funktionsweisen zu erreichen, die sie
wertschätzen. Doch ob diese Gleichheit tatsächlich eingelöst werden kann ist fraglich, da
Gleichheit in den Befähigungen in hohem Maße davon abhängt, wie einfach oder schwer
der Lebensstil einer Person bzw. ihre Vorstellung vom guten Leben zu verwirklichen ist.13
Was im CA zu fehlen scheint, ist zum einen der gesellschaftliche Bezug, der wenigstens
grob das Spektrum eingrenzt, was vernünftige Konzeptionen des Guten sind und zum
anderen eine rationale Personenkonzeption, der von der Fähigkeit der Menschen ausgeht,
die Zwecke ihren Mitteln anzupassen. Beide Elemente sind jedoch eher einer Idealtheorie
zuzuordnen – Rawls' Theorie enthält beide. Der komparative Zugang zur Gerechtigkeit,
den Sen wählt, macht es jedoch schwierig, diese Annahmen a priori zu treffen.
Dies ist dennoch kein Grund, den CA abzulehnen. Man sollte bedenken, dass er zunächst
als normativer Rahmen, als Informationsschwerpunkt zu betrachten ist, auf den weitere
Elemente aufgebaut werden müssen, um zu einer vollständigen Gerechtigkeitstheorie zu
werden. (Graf 2011: 22-23). Dazu gehört auch die Entscheidung, welche Verteilungsregeln
in welchen Fällen angemessen sind.
13 Wie der CA mit der Problematik der „expensive-tastes“ umgeht, siehe: Robeyns 2000: 10-11
30
5. Die Debatte der beiden Ansätze
Da nun die Gerechtigkeitskonzeption von John Rawls, die Kritik der darin verwendeten
Grundgütermetrik durch Amarty Sen sowie der CA vorgestellt sind, werden im Folgenden
ausgewählte, als zentral erachtete Argumente diskutiert. Diese sollen Aufschluss darüber
geben, inwiefern Sens Kritik berechtigt und sein Gegenvorschlag zufriedenstellend ist. Um
die Diskussion adäquat führen zu können, wird zunächst das Vorgehen geschildert und
methodische Vorbehalte geäußert.
5.1 Einleitende Bemerkungen zum Vorgehen und methodologische Vorbehalte
Da in dieser Arbeit der CA lediglich in ihren Grundzügen dargestellt wurde, beschränkt
sich die Diskussion auf grundlegende Argumente. Außer Acht gelassen werden demnach
weitgehend die Argumente für und gegen konkrete Versionen des CA. Zunächst wird die
Kritik und Reaktion von John Rawls auf die Kritik des CA dargestellt und diskutiert. Das
umfasst insbesondere zwei Punkte. Erstens der Vorwurf an Sen, der CA würde eine
umfassende moralische Lehre voraussetzen und zweitens, der CA wäre nicht abwendbar,
indem das so genannte Öffentlichkeitkriterium („publicity criterion“) nicht erfüllt würde
(5.2). Anschließend wird wiedergegeben, wie Rawls versucht zu zeigen, dass seine
Gerechtigkeitskonzeption zentrale Befähigungen durchaus berücksichtigt. Er interpretiert
dabei die moralischen Vermögen als Befähigungen und möchte demonstrieren, dass der
Umgang mit Behinderungen in seine Gerechtigkeitskonzeption integriert werden kann
(5.3).
Zwei Aspekte erschweren die Debatte. Zum einen muss bedacht werden, dass der CA in
der Form von Amartya Sen keine vollständige Gerechtigkeitstheorie ist. Einige Vor- und
Nachteile des Ansatzes würden sich vermutlich erst zeigen, wenn weitere Anforderungen
einer Gerechtigkeitstheorie mit der Befähigungsperspektive interagieren würden. (Arneson
2010: 103). Zu Beginn dieser Arbeit wurde Elizabeth Anderson mit den Worten zitiert: „A
theory of distributive justice must specify two things: a metric and a rule.“ (Anderson
2010: 81; siehe S. 4). Der CA spezifiziert lediglich eine Metrik, legt aber in seiner Grund-
form keine Verteilungsregel(n) fest. (Sen 2010: 248). Man könnte nun darauf reagieren,
indem man nur Metrik und Metrik gegenüberstellt. Diese Vorgehensweise würde jedoch
den Kontext der Gerechtigkeitstheorie ignorieren, in welchem die Grundgüter stehen und
aus welchem sie nicht getrennt werden sollten. Auch wenn es bisweilen so anmuten kann,
31
als würde Sen versuchen, durch die Kritik der Grundgüter die gesamte
Gerechtigkeitstheorie von Rawls in Frage zu stellen, fordert er lediglich eine Revision
bezüglich der Metrik. Das soll nicht heißen, dass Sens Kritik bei der Grundgütermetrik
stehen bleibt. Im Gegenteil äußert er eine Reihe zusätzlicher Kritikpunkte an Rawls'
Gerechtigkeitstheorie. (Sen 2009: 52-74). Doch diese sind für die Zwecke dieser Arbeit nur
insoweit relevant, wie sie zur Diskussion und Beurteilung der beiden Metriken beitragen.
Zum anderen erschweren die Unterschiede des transzendentalen und komparativen Zugang
zum Thema Gerechtigkeit die Diskussion. So könnte man die Gültigkeit der Kritik an der
Grundgütermetrik insgesamt in Frage stellen, da die Güter spezifiziert sind auf ideale
gesellschaftliche Verhältnisse und ideale Personen. Warum also Rawls in diesem Punkt
kritisieren, wo die Grundgüter innerhalb seiner Theorie doch konsistent sind? Wie oben
gezeigt wurde, sagt selbst Sen, dass Grundgüter geeignet sein könnten, wenn Menschen
ähnlich wären. (Sen 1980: 215). Seine Kritik ist jedoch, dass allgegenwärtige Unterschiede
zwischen Menschen durch die Grundgütermetrik nicht berücksichtigt werden. Treffender
wäre jedoch zu sagen, dass sie in Rawls' Idealtheorie nicht berücksichtigt werden. Denn in
der wohlgeordneten Gesellschaft kann von diesen Unterschieden abstrahiert werden, da sie
unter idealen Bedingungen keinen Einfluss auf den Status der Menschen als Bürger haben.
Aus dem Gesagten kann abgeleitet werden, dass der eigentliche Kern des Disputs im
transzendentalen gegenüber dem komparativen Zugang zu verorten ist, denn, um es noch
einmal klar zu machen: Grundgüter beanspruchen, auf Rawls' Personenkonzeption zu
passen, bei der von den genannten Unterschieden abstrahiert wurde. Was Sen also
eigentlich kritisiert, ist die Tatsache, dass Rawls innerhalb einer idealen Theorie operiert
und in diesem Zuge Personen derart homogen beschreibt. Wie man zu idealen Theorien im
Allgemeinen steht, dürfte einen entscheidenden Einfluss darauf haben, ob man Sens Kritik
von vornherein als berechtigt oder unberechtigt einschätzt.
Erschwerend sind also zum einen die Unvollständigkeit des CA gegenüber der
Vollständigkeit der TJ und zum anderen der transzendentale gegenüber dem komparativen
Zugang. Diese beiden Vorbehalte begleiten die folgende Diskussion. Ingrid Robeyns fasst
das gegenwärtige Problem zusammen:
„[I]t is far from straightforward to compare justice as fairness and the capability approach. […]Rawls and Sen are trying to answer different questions. Rawls wants to investigate the verypossibility of unanimous agreement on principles oj justice for a democratic society which ischaracterized by radical pluralism in visions of the good life. This leads him to engage in an exerciseof hypothetical ideal theory, and leads him to place several questions of justice and moralityoutside the scope of his work. Sen, in contrast, is much more concerned with developing non-idealtheory on justice, with greater direct relevance for pressing issues of injustice.“ (Robeyns 2008: 411).
32
5.2 Rawls' Kritik am Capability Ansatz
Rawls erste Reaktion auf Sens Kritik lautet, der CA würde eine umfassende Lehre
voraussetzen. Wie gezeigt wurde, betont Rawls vor allem in seinen späteren Schriften, dass
eine politische Konzeption gefunden werden soll, in der möglichst keine kontroversen, aus
umfassenden Lehren abgeleiteten, Prinzipien die Grundstruktur regulieren. Den CA
interpretierend schreibt er:
„Now, one may easily suppose that the idea of primary goods must be mistaken. For they are notwhat, from within anyone's comprehensive doctrine, can be taken as ultimately important: they arenot, in general, anyone's idea of the basic values of human life. Therefore, to focus on primarygoods, one may object, is to work for the most part in the wrong space – in the space of institutional features and material things and not in the space of basic moral values. In reply, an index ofprimary goods is not intended as an approximation of what is ultimately important as specified byany particular comprehensive doctrine with its account of moral values.“ (Rawls 1988: 259).
Rawls unterstellt hier dem CA, dass dieser den Informationsschwerpunkt auf umfassende
moralische Lehren lege. Er entgegnet, die Grundgüter hätten nicht zum Zweck, sich dem
anzunähern, was den Menschen aus der Sicht umfassender Lehren letztendlich wichtig ist.
Eric Nelson kommentiert diese Textstelle mit den prägnanten Worten: „This is a poor
response.“ (Nelson 2008: 108). Er und andere, wie Ingrid Robeyns folgen Sen in dessen
Einschätzung, dass Rawls' Reaktion auf einer Fehlinterpretation des CA und der
eigentlichen Kritik von Sen beruht. (Robeyns 2008: 405-406; Nelson 2008: 108; Sen 1990:
117-121). Zwar bemängelt Sen an anderer Stelle auch, dass die Beschränkung einer
Konzeption der Gerechtigkeit auf den politischen Bereich viele Fragen der Gerechtigkeit
ausschließt, die außerhalb des Politischen zu verorten sind, wodurch Rawls' Konzeption zu
eng gefasst sei, doch der Einwand auf Rawls' Kritik liegt woanders. (Sen 1995: 77).
Die Kritik am Grundgüteransatz ist nicht, dass Grundgüter bestimmte Konzeptionen des
Guten bevorzugen würde, sondern dass Unterschiede in den Möglichkeiten bestehen,
Konzeptionen des Guten unabhängig ihres Inhalts zu fördern.14 Diese Unterschiede in den
Möglichkeiten werden verursacht von der ungleichen Fähigkeit der Menschen, diese Güter
zu nutzen. (Nelson 2008: 108). „[G]iven variable conversion rates of primary goods into
achievements, a disadvantaged person may get less from primary goods than others no
matter what comprehensive doctrine he or she holds.“ (Sen 1990: 118). Man müsse zwei
Quellen an Unterschieden in der Mittel-Zweck-Beziehung zwischen Menschen beachten.
14 Andere haben die Kritik vorgebracht, Grundgüter wären zur Förderung individualistischer Konzeptionen des Guten besser geeignet. Grundgüter wären in diesem Sinne nicht indifferent bezüglich verschiedenen Konzeptionen des Guten. (vgl. Schwartz 1973; Nagel 1973)
33
Die eine Quelle, auf die Rawls nach Sen besonders eingeht, ist die Variation der
Konzeptionen des Guten („inter-end variation“). Die andere Quelle, die Rawls übersehe, ist
die Variation zwischen Menschen in der Umsetzungskapazität der Güter („interindividual
variation“). (Sen 1990: 120).
Was Rawls außerdem übersehe, ist Sens Unterscheidung zwischen Funktionsweisen und
Befähigungen, also dem tatsächlich Erreichtem gegenüber der Freiheit, Funktionsweisen
zu erreichen. (Sen 1990: 117). „Capability reflects a person's freedom to choose between
alternative lives (functioning combinations), and its value need not be derived from one
particular “comprehensive doctrine“ demanding one specific way of living.“ (Sen 1990:
118).
Sens Gegenargumente wirken überzeugend. Es wurde sogar im Kontext der Frage, wie
staatliche Neutralität am besten gewährleistet werden könnte, schon argumentiert, dass
Befähigungen das Potenzial hätten, das liberale Neutralitätskriterium zu verwirklichen.
(Lehning 1990: 208). Diese Behauptung kann hier nicht im Detail beurteilt werden, da das
Konzept der Neutralität komplex und umstritten ist und auch Rawls den Begriff meidet.
(Rawls 1993: 190-195). Es soll lediglich zum Ausdruck gebracht werden, dass solch eine
Einschätzung im Einklang mit Sens Argument steht, der CA würde keine umfassende
Lehre voraussetzen.
Doch man muss auch anmerken, dass Sens Position etwas bequem ist. Da er sich weigert,
eine Liste relevanter Funktionsweisen zu konkretisieren, kann er sich von vornherein dem
Vorwurf entziehen, sich auf eine umfassende Lehre zu stützen. Um dies abschließend
beurteilen zu können, müsste man verschiedene konkretisierte Versionen des CA daraufhin
untersuchen. Dies muss jedoch an anderer Stelle erfolgen. Doch selbst wenn man darauf
beharrt, dass bei einer Konkretisierung der Liste zwangsläufig auf umfassende Lehren
zurückgegriffen werden muss, könnte man ebenso Rawls unterstellen, er sei nicht frei von
bestimmten umfassenden Lehren, etwa in der Bestimmung des Personenideals. Allgemein
kann man sich fragen, inwiefern es überhaupt möglich ist, eine Gerechtigkeitstheorie
vollkommen unabhängig von umfassenden Lehren zu gestalten. „I am […] doubting
whether it is possible to construct a theory of justice that is truely and completely
independent of any comprehensive ideas.“ ( Robeyns 2008: 406).
Zusammenfassend kann gesagt werden: Rawls Vorwurf kann von Sen überzeugend
entkräftet werden. In den theoretischen Grundlagen des CA scheint durch die
Unterscheidung zwischen Funktionsweisen und Befähigungen keine umfassende Lehre
vorausgesetzt zu werden. Problematisch wird es, wenn der CA konkretisiert wird. Doch
34
dieses Problem kann auch Rawls' Gerechtigkeitstheorie offenbar nicht umgehen.
Nun zum zweiten Einwand, den Rawls gegenüber dem CA zum Ausdruck gebracht hat. Er
argumentiert, dass eine Gerechtigkeitskonzeption einen öffentlichen Standard für
interpersonelle Vergleiche benötigt. Menschen müssen beurteilen können, ob der
Gerechtigkeit Genüge getan wird. Zu diesem Zweck müssen die Informationen, auf die
sich die Beurteilung stützt, leicht zugänglich und verifizierbar sein. Nur wenn alle die
Gerechtigkeitskonzeption beurteilen können und verstehen, können die Gerechtigkeits-
prinzipien eine stabile Unterstützung durch die Bürger erfahren.
„[C]onsider primary goods […]. One of their main features is that they are workable. A citizen's share of these goods is openly observable and make possible the required comparisons between citizens […]. This can be done without appealing to such unworkable ideas as a people's overall utility, or to Sen's basic capabilities for various functionings (as he calls them).“ (Rawls 1999b: 13).
Dieses Öffentlichkeitskriterium, so Rawls' Argument, könne der CA nicht erfüllen, da nicht
alle notwendigen Information zugänglich seien und nicht sinnvoll angewendet werden
könnten. (Rawls 1999b: 13) Auch Thomas Pogge wendet ein, dass eine Einigung in den
folgenden vier Punkten schwierig ist: „ […] on the list of valuable capabilities, on how to
measure achievements with respect to each listed capability, on the relative weights of
achievements in regard to different listed capabilities, and on the relative value of diverse
overall endowments in respect to overall capability achievement.“ (Pogge 2010: 49-50).
Dieser Einwand ist schwerwiegend – er betrifft die Praktikabilität und Legitimität des CA.
In der Tat ist das Öffentlichkeitskriterium für eine demokratische Gesellschaft wichtig.
Wenn Bürger nicht feststellen können, welche Ansprüche sie auf der Grundlage der
Gesetze und Prinzipien der Gesellschaft legitimerweise stellen dürfen, spricht das für ein
erst zu nehmendes Demokratiedefizit. Das liberale Legitimitätsprinzip, das Rawls
formuliert, würde verletzt. (Arneson 2010: 115).
Wie gezeigt wurde, ist Sen durchaus bewusst, dass der Informationsanspruch für die
Messung interpersoneller Vergleiche oftmals die Grenzen des Möglichen überschreiten. Es
hängt vom Untersuchungsgegenstand ab, welche Informationen benötigt werden und
verfügbar gemacht werden können. Doch vor allem dann, wenn man sich auf
Grundvermögen bezieht, dürfte die Auswahl relevanter Informationen vergleichsweise
unproblematisch sein, da sich die entscheidenden Funktionsweisen auf existenzielle
Bedürfnisse der Menschen beziehen. (Anderson 2010: 83). Doch darüber hinaus scheint
der Einwand durchaus legitim, dürfte aber entscheidend vom Untersuchungsgegenstand
abhängen.
35
Dennoch spricht das noch nicht für die Grundgüter. Denn eine Informationsbasis, die
relevante Informationen für die genaue Messung interpersoneller Vergleiche der
Einfachheit halber ausblendet, wirkt ebenso unangebracht, sobald man real existierende
Gesellschaften untersucht. Darüber hinaus wurden auch Zweifel geäußert, ob der
Grundgüteransatz das Öffentlichkeitskriterium erfüllen kann.
„[I]t is not entirely obvious to me that the publicity criterion is met by the social primary goods
approach. There is a big difference between a formal guarantee of rights and opportunities, and an
effective guarantee. For example, it is far from straightforward to assess publicly whether a certain
basic structure meets the fair equality of opportunity principle, as it is difficult to estimate the
influence of social norms, prejudice and stereotypes.“ (Robeyns: 2008: 409).
Das Problem tritt dann auf, wenn die ideal-theoretische Annahme gelüftet wird, dass
Bürger zu jeder Zeit in Einklang mit den Gerechtigkeitsprinzipien handeln. (Robeyns
2008: 409).
Beide Argumente gegen den CA führen nicht zu eindeutigen Gründen, ihn zurückzuweisen.
Während der erste Einwand offenbar auf einer Fehlinterpretation von Rawls beruht, ist der
zweite Einwand offenbar auch problematisch für die Grundgütermetrik. [Übergangssatz]
5.3 Rawls' Interpretation der zwei moralischen Vermögen als Befähigungen
Um der Kritik zu begegnen, die Liste der Grundgüter sei zu unflexibel und die Grundgüter
selbst würden zur Messung interpersoneller Vorteile herangezogen, geht Rawls in seinem
letzten Werk, „Justice as Fairness. A Restatement“ (2001) detaillierter als bisher auf Sens
Kritik ein. Dies kann als Versuch verstanden werden zu zeigen, dass wichtige
Befähigungen in seiner Gerechtigkeitstheorie integriert sind. Die Darstellung dieses
Versuchs gibt auch Anlass, in den Raum zu stellen, dass der Grundgüteransatz und der
Befähigungsansatz das Potenzial fruchtbarer Synergien haben. Dies erfolgt im Anschluss
an Rawls' Interpretation der zwei moralischen Vermögen als Befähigungen.
In Reaktion auf Sens Kritik schreibt er: „In reply, it should be stressed that the account of
primary goods does take into account, and does not abstract from, basic capabilities:
namely, the capabilities of citizens as free and equal persons in virtue of their two moral
powers.“ (Rawls 2001: 169). Die beiden moralischen Vermögen ermöglichen es den
Bürgern, ein Leben lang an sozialer Kooperation teilzunehmen und ihren Status als freie
36
und gleiche Bürger zu bewahren. Die Rechte und Freiheiten werden genau zu diesem
Zweck den Bedürfnissen und Befähigungen der Menschen angepasst, freie und gleiche
Bürger zu sein. Die Grundgüter sind die unabdingbare Bedingung, um die beiden
moralischen Vermögen adäquat anzuwenden. (Rawls 2001: 169). Er argumentiert weiter,
dass die Unterschiede in den moralischen Vermögen der Bürger nicht zu einer
unterschiedlichen Grundgüterausstattung führen, sondern die Grundstruktur, in welcher
reine Hintergrund-Verfahrensgerechtigkeit gesichert ist, den Bürgern die Allzweckmittel
zur Verfügung stellt, die sie benötigen, um ihre Grundvermögen zu schulen. (Rawls 2001:
170-171). Im Resultat sind die Vermögen der Bürger unterschiedlich. „In justice as
fairness, adjusting to these differences in capabilites proceeds by way of an ongoing social
process of pure background procedural justice in which qualifications suitable for
particular offices and positions play a distributive role.“ (Rawls 2001: 171). Doch diese
Unterschiede würden den Status freier und gleicher Bürger nicht beeinträchtigen. Alle, die
sich oberhalb des Minimums der Kooperationsfähigkeit befänden, könnten kraft ihrer
moralischen Vermögen ihre Rechte, Freiheiten, Chancen und Allzweckmittel in
ausreichendem Maße nutzen. Darüber hinaus liegt es an den Bürgern selbst, zu
entscheiden, welchen Plänen und Zielen sie nachgehen möchten. Für die Messung der
Unterschiede oberhalb des Minimums sieht Rawls weder den Bedarf noch die praktische
Möglichkeit. „Important here is the use of the conception of the citizen as a cooperating
member of society over a complete life, which enables us to ignore differences in
capabilities and endowments above the minimum.“ (Rawls 2001: 175).
Ausgeklammert werden die Fälle, in denen Menschen nicht zur sozialen Kooperation im
Stande sind. Sie sind für Rawls offenbar keine Angelegenheit einer politischen
Gerechtigkeitskonzeption, sondern der Fürsorge und Nächstenliebe. Hier trifft er nun
jedoch eine Unterscheidung zwischen Menschen, die trotz aller Bemühungen niemals im
Stande sein können, an der sozialen Kooperation teilzunehmen und Menschen, die durch
Krankheiten und Unfälle zeitweise das Minimum der Kooperationsfähigkeit
unterschreiten. Für letztere könnte die Theorie in den Stufen der Konkretisierung der
Gesellschaft erweitert werden und entsprechende Anpassungen an der Grundgüterliste
vorgenommen werden. (Rawls 2001: 172-174). 15
Rawls' Antwort auf Sens Kritik ist auf der theoretischen Ebene sicherlich angemessen.
Wenn gefragt wird, welche Befähigungen besonders wichtig sind, nennt Rawls die
15 Er selbst hat diese Erweiterung nicht systematisch durchgeführt. Andere haben diesen Versuch unternommen. Siehe dazu Norman Daniels (Daniels 1990; 2011).
37
moralischen Vermögen, die den Status der freien und gleichen Bürger sichern sollen. Doch
die Beschränkung auf eine Idealtheorie lässt mehrere Fragen unbeantwortet. Wie kann
adäquat mit den Fällen umgegangen werden, die dauerhaft nicht dazu in der Lage sind, an
sozialer Kooperation teilzunehmen? Wie lässt sich sinnvoll unterscheiden, ob und wann ein
Mensch dauerhaft oder nur zeitweise das Kooperationsminimum unterschreitet? Sind die
moralischen Vermögen im wirklichen Leben ausreichend, um soziale Kooperation unter
freien und gleichen Bürgern zu ermöglichen oder bedarf es weiterer Vermögen und
Befähigungen? Wie lassen sich die moralischen Vermögen operationalisieren? Wird durch
die moralischen Vermögen tatsächlich das Verhalten der Bürger in dem Maße beeinflusst,
um eine dauerhaft Stabilität zu erreichen? Die Antworten auf diese und weitere Fragen
konnte man sicherlich nicht von Rawls selbst verlangen. Man würde ihm Unrecht tun, dies
von ihm zu erwarten. Dennoch müssen diese Fragen adressiert werden, wenn man
Gesellschaften unter tatsächlichen Bedingungen betrachtet. Für diese Aufgabe wirft der CA
einen ergänzenden Blick auf die tatsächlichen Lebensbedingungen der Menschen und kann
so realistischer die Resultate politischer, ökonomischer und sozialer Arrangements
beurteilen. Um jedoch auch Institutionen selbst und weitere gesellschaftliche Implikationen
angemessen untersuchen zu können, benötigt der CA eine gerechtigkeitstheoretische
Fundierung. (Robeyns 2008: 411-412). Man kann sich einfach nicht mit Verweisen
zufriedengeben, dass politische und soziale Faktoren die Befähigung der Menschen
beeinflussen, sondern muss detaillierter untersuchen, wie sich unterschiedliche
institutionelle Designs auf die Befähigungen der Bürger auswirken. Möglicherweise finden
sich Wege, den Grundgüteransatz und den CA in ein sich gegenseitig ergänzendes
Verhältnis zu stellen. (Robeyns 2008: 411-412). Eine vielversprechende Interaktions-
möglichkeit der beiden Ansätze könnte darin bestehen, den CA auf Menschen
anzuwenden, denen es an Grundvermögen mangelt und die daher im rawlsschen Sinne
unterhalb des Minimums der Kooperationsfähigkeit sind. Wie gezeigt wurde, sind
Grundvermögen eher konsensfähig als komplette Listen an Funktionsweisen. Dringende
Bedürfnisse lassen sich eher offenlegen. Diese Stärke könnte die Schwäche der politischen
Konzeption, die „normale“ Bürger voraussetzt, kompensieren. Solch ein Vorgehen bedarf
natürlich weiterer Ausarbeitung, aber eine Idee die in diese Richtung könnte in etwa so
aussehen:
„We can draw an imaginary line that separates the 'normally cooperating members of society'(Rawls) on one side from Persons who are not so lucky, on the other side. Above this line, peoplecan well be treated by liberal political theories à la Rawls. Underneath this line, however, it is not so. People living clearly underneath the line are doing so in conditions of 'urgency', and therefore,deserve special attention, and for them liberal neutrality is not enough.“ (Maffettone 2011: 129).
38
6. Fazit
In dieser Arbeit wurden zwei prominente Antworten auf die Frage, welche Metrik
angewendet werden soll, um interpersonelle Vorteile zu ermitteln, untersucht und
gegenübergestellt. Zu diesem Zweck wurden zunächst verschiedene Formen der Gleichheit
identifiziert. Das demokratische Gebot der Gleichbehandlung wurde dabei auf die
intrinsische Gleichwertigkeit jedes Menschen zurückgeführt, was sich zunächst in
rechtlicher und formaler politischer Gleichheit ausdrückt. Verteilungsfragen schließen sich
unweigerlich an. Denn um tatsächliche demokratische Gleichheit zu verwirklichen und um
jedem Menschen dadurch eine selbstbestimmte Lebensführung zu ermöglichen, bedarf es
bestimmter sozialer Voraussetzungen. Ein Teilaspekt von Verteilungsfragen ist die Frage,
was verteilt werden soll. John Rawls und Amartya Sen geben darauf sehr verschiedene
Antworten.
John Rawls' Liste der Grundgüter sind für ihn das, was Menschen als Bürger brauchen. Sie
werden von der Grundstruktur der Gesellschaft bereitgestellt und ihre Verteilung hängt
davon ab, wie die Institutionen der Grundstruktur reguliert sind. Eine adäquate Ausstattung
mit Grundgütern ermöglicht es den Bürgern, ihre beiden moralischen Vermögen
auszubilden und anzuwenden. Dazu gehört einerseits die Ausbildung und Anwendung
eines Gerechtigkeitssinns und andererseits die Fähigkeit, eine Konzeption des Guten zu
vertreten, zu revidieren und rational durchzusetzen. Durch die Grundgüter wird in Rawls'
Theorie ein Personenideal verwirklicht, welches soziale Kooperation unter gleichen und
freien Bürgern ermöglicht. Unter den subjektiven Anwendungsbedingungen pluralistischer
Gesellschaften, in der keine Einigung über das Gute erzielt werden kann, muss eine
politische Konzeption der Gerechtigkeit gefunden werden, die Menschen trotz dieser
Differenzen unterstützen können. Grundgüter sind nach Rawls geeignet, unter diesen
Bedingungen interpersonelle Vorteile zu vergleichen, ohne dabei die Konzeptionen des
Guten zu bewerten. Grundgüter sind für Rawls Rechte, Freiheiten, Chancen, Macht,
Allzweckmittel und die sozialen Grundlagen der Selbstachtung.
Amartya Sen hält die Grundgüter für unzureichend, um interpersonelle Vorteile zu
vergleichen. Statt sich auf die Mittel selbst zu konzentrieren, solle man darauf achten, was
Menschen mit einer bestimmten Güterausstattung in der Lage sind, zu tun. Die Beziehung
zwischen den Gütern und den Menschen gehe bei Rawls verloren. Denn Menschen
verfügen über unterschiedliche Fähigkeiten, Grundgüter in ein gutes Leben umzuwandeln.
Persönliche, gesellschaftliche und geographische Faktoren beeinflussen dabei immens, wie
39
brauchbar Güter für Menschen sind. Die letztendliche Güterverteilung nach dem CA würde
Sensibilität für diese Unterschiede verlangen.
Er kommt zu dem Schluss, dass man sich direkt auf die Befähigungen konzentrieren sollte,
relevante Funktionsweisen erreichen zu können. Funktionsweisen sind erreichte Zustände
und vollzogene Handlungen einer Person. Die Befähigung, diese Funktionsweisen zu
erreichen, interpretiert Sen als tatsächliche, positive Freiheit, denn sie erlaubt den
Menschen, zwischen unterschiedlichen Lebensformen zu wählen.
Beide Ansätze eint die Motivation, den Menschen Freiheit über ihre Lebensgestaltung zu
verschaffen und ungerechtfertigte Nachteile zu korrigieren. Dennoch unterscheiden sich
beide Ansätze grundlegend. Ein erster folgenreicher Unterschied wurde in der
Herangehensweise der beiden an das Thema Gerechtigkeit identifiziert. Während Rawls
den Weg der Idealtheorie wählt, um so einen klaren Blick für die Anforderungen einer
politischen Gerechtigkeitskonzeption zu bekommen, konzentriert sich Sen auf tatsächliche
gesellschaftliche Verhältnisse, um die besonders gravierenden sozialen Disparitäten
adäquat adressieren zu können. Der CA ist nicht als vollständige Gerechtigkeitstheorie zu
begreifen, sondern zunächst als normativer Rahmen. Der Unterschied in der
Herangehensweise erschwert die Einschätzung, welche Metrik sich besser eignet, um
interpersonelle Vorteile zu vergleichen. Die Diskussion hält bis heute an und es darf
vermutet werden, dass die Debatte Teil des grundsätzlichen Streits zwischen der
transzendentalen und der komparativen Methode ist.
Als Reaktion auf die Kritik durch Sen formulierten Rawls und andere zwei Argumente
gegen den CA. Der erste Vorwurf lautet, der CA würde eine umfassende Lehre
voraussetzen. Doch wie gezeigt wurde, kann Sen den CA durch Verweis auf die
Unterscheidung zwischen Funktionsweisen und Befähigungen gegen diesen Vorwurf
verteidigen. Zudem wurde in den Raum gestellt, dass es vermutlich keiner Gerechtigkeits-
konzeption gelingen kann, komplett ohne umfassende Lehren auszukommen. Der zweite
Vorwurf lautet, der CA könne das Öffentlichkeitskriterium nicht erfüllen. Dieser Vorwurf
ist fundiert und scheint den CA tatsächlich zu treffen. Die Informationen zur Anwendung
des CA sind umfangreich, schwer zugänglich und umstritten. Eine Ausnahme dürften die
Grundvermögen betreffen, denn sie drücken existentielle Bedürfnisse aus, die vergleichs-
weise leicht erkannt werden können. Wie gezeigt wurde, ist jedoch auch der
Grundgüteransatz nicht frei von seiner eigenen Kritik, wenn die ideal-theoretischen
Bedingungen aufgehoben werden. Zudem wirkt es unangebracht, wie im Falle der
Grundgüter, relevante Informationen zu ignorieren.
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In seinem letzten Werk „Justice as Fairness“ (2001) ging Rawls detaillierter auf Sens Kritik
ein. Er versucht zu zeigen, dass seine Gerechtigkeitstheorie die relevanten Grundvermögen
der Bürger in Form der beiden moralischen Vermögen berücksichtigt. Außerdem möchte er
die Flexibilität der Grundgüterliste anhand der Möglichkeit demonstrieren, innerhalb
seines theoretischen Rahmens mit Krankheiten und Unfällen umzugehen. Auch wenn dies
die wohl profilierteste Reaktion auf den CA ist, kann (oder möchte) sich Rawls von seinem
theoretischen Rahmen nicht lösen. Daher gelingt es ihm nicht, adäquat mit Fällen
umzugehen, die unterhalb des Kooperationsminimums liegen.
Alles in allem ist die Frage, welche Metrik der anderen vorzuziehen wäre, nicht eindeutig
zu beantworten. Der Beitrag von Amartya Sen hat Mängel der Gerechtigkeitskonzeption zu
Tage gebracht und damit deutlich gemacht, dass es nicht nur auf die Güter selbst ankommt,
die Menschen besitzen, sondern darauf, was sie damit erreichen kann. Die Diskussion um
den Vorzug der einen oder anderen Metrik scheint noch lange nicht abgeschlossen.
Möglicherweise kann sie letztlich auch gar nicht abgeschlossen werden, weshalb der
konstruktivste Weg in der Suche nach Kombinationsmöglichkeiten im Rahmen einer
Gerechtigkeitstheorie oder in kombinierten Forschungsdesigns liegen dürfte.
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