Europas Gasangst
Transcript of Europas Gasangst
Roland Götz
Europas Gasangst - unbegründet und gefährlich
(Preprint-Version)
Unzählige Leitartikler und selbst Experten behaupten seit Jahren, der
Kreml könne die „Energiewaffe“ gegen den Westen einsetzen. Von
Energie als Waffe (energy as a weapon) hatte bereits 2006 U.S.-Senator
Dick Lugar gesprochen und die NATO zum Handeln aufgefordert.1
Eine klassische Formulierung fand der Jurist, Publizist und
Universitätsdozent Jörg Himmelreich 2007: „Früher waren es Panzer
und Raketen, heute sind es Öl und Gas: Gezielt nutzt der Kreml seine
Energieressourcen und die Abhängigkeit der Importländer als
Instrument einer neuen Großmachtpolitik.“2 Diese Sichtweise wird bis
heute unverändert vertreten. Claudia Kemfert, die Leiterin der
Energieabteilung des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung,
äußerte im deutschen Fernsehen Anfang April 2014 die Befürchtung
dass wir in eine politisch schwierige Situation kommen, in der Russland Energie als politische Waffe einsetzt. Nicht nur gegen die Ukraine, vielleicht sogar direkt gegen Europa.3
Als Gegenmittel forderte sie eine strategische Gasreserve und ein
deutsches Flüssiggasterminal.
Bei diesen und vielen anderen Äußerungen fällt auf, dass erstens stets
ohne nähere Begründung davon ausgegangen wird, dass die Staaten der
Europäischen Union Russland in einer solchen Auseinandersetzung
1 Dick Lugar sprach am Vorabend der NATO-Tagung 2006 in Riga. Seinen Redetext publizier-te die New York Times, 28.11.2006, <www.nytimes.com/2006/11/28/world/europe/ 28iht-web.1128lugarspeech.3700672.html?>.
2 Jörg Himmelreich: Herrscher der Pipeline. Die EU braucht dringend eine Energieaußen-politik, um sich von Gazprom zu befreien, in: Internationale Politik, 3/2007, S. 56–64, hierS. 56.
3 DasErste.de, 2.4.2014, <www.daserste.de/information/wirtschaft-boerse/plusminus/sendung/ndr/2014/energieversorgung-100.html>.
unterlegen wären und zweitens, auch wenn allgemein von einer
„Energiewaffe“ geredet wird, konkret immer eine Erdgasblockade der
EU durch Russland gemeint ist. Dass man sich auf Erdgas kapriziert,
obwohl in der EU bei Erdöl der Anteil des Imports aus Russland am
Verbrauch (rund ein Drittel)4 höher ist als bei Erdgas (rund ein Viertel)5,
rührt aus einem elementaren Missverständnis: Aus der Tatsache, dass
Europas Erdgasimport aus Russland ausschließlich über Leitungen
erfolgt, wird eine hohe und gefährliche Abhängigkeit abgeleitet. Man
kann oder will nicht erkennen, dass dieses technische Faktum nicht
Dependenz, sondern Interdependenz bewirkt, sodass die „Gaswaffe“
stumpf ist. Ein von Russland bewirkter Lieferstopp hat – ebenso wie
ein von der EU verhängtes Importverbot – unausweichlich
Rückwirkung auf die eigene Wirtschaft, so dass die Erdgasbeziehungen
für keine Seite als politisches Druckmittel geeignet sind.
Weder das Verhalten Russlands in den Erdgaskonflikten mit der
Ukraine in den Jahren 2006, 2009 und im Frühjahr 2014 noch andere
Schritte oder Äußerungen der Moskauer Führung oder Gazproms haben
jemals darauf schließen lassen, dass Russland beabsichtigt, Europa
„den Gashahn abzudrehen“. Die Angst vor der „Energiewaffe“
resultiert daraus, dass sich in der Frage der Energiebeziehungen mit
Russland eine „Erzählung“ verfestigt hat, die auf einer selektiven
Wahrnehmung von Daten und Ereignissen beruht und das bestehende
Weltbild bestätigt.6 Man vermutet hinter jeder Auseinandersetzung
4 Von den rund 600 Mio. t Öl und Ölprodukten, die 2013 in der EU verbraucht wurden,stammten rund 200 Mio. t aus Russland. Angaben für OECD-Europa in IEA: Monthly OilMarket Report, 14.3.2014, S. 28, <omrpublic.iea.org>.
5 Der Erdgasverbrauch betrug 2013 rund 460 Mrd. m³, wovon 125 Mrd. m³ aus Russland im-portiert wurden (Tabelle 3).
6 Roland Götz: Mythen und Fakten. Europas Gasabhängigkeit von Russland, in: OSTEUROPA,6–8/2012, S. 435-458, hier S. 436 f. Auf derartige, den politischen Diskurs prägende Narrati-ve macht der Begriff des "major consensus narrative" (Bruce Sterling) aufmerksam.
zwischen Gazprom und seinen Kunden vorrangig politische Motive.
Dass die „Erzählung vom Gaskrieg“ so populär wurde, liegt nicht nur
daran, dass sie ins Bild von „Russlands Großmachtpolitik“ passt,
sondern sie ist auch eine Folge der – gerade im akademischen Bereich
zu beobachtenden – „Versicherheitlichung“ der Energiedebatte:
Energiefragen werden als außerordentlich, alle Regularien politischen
und ökonomischen Handelns außer Kraft setzend definiert. Neben
einem grundsätzlichen Unverständnis für die Versorgungsfunktion von
Märkten spielt auch die Fehlinterpretation von Energiestatistiken eine
Rolle: Eine numerische Relation wie der Anteil der Erdgasimporte aus
Russland an den gesamten Erdgasimporten einzelner Länder wird ohne
hinreichende Begründung als politische Abhängigkeit gedeutet. Die
Einsichten der politikwissenschaftlichen und ökonomischen Forschung
zur Machtverteilung zwischen interdependenten und sich in ihren
Aktionen gegenseitig „blockierenden“ Partnern werden im medialen
und auch im politischen Diskurs ignoriert. Nicht weil eine reale Gefahr
eines "Gaskriegs" Russlands gegen den Westen besteht, sondern weil
dieses narrative Konstrukt die Aufmerksamkeit der Politik auf
erfundene Probleme lenkt und falsche politische Entscheidungen
provoziert, ist es notwendig, die Konsequenzen dieser hypothetischen
Möglichkeit für die EU, aber auch für Russland, zu erörtern.
Folgen einer Gasblockade für die EU-Länder
Eine Unterbrechung des Erdgashandels mit Russland würde sich in den
einzelnen EU-Ländern sehr unterschiedlich auswirken, denn während
Erdgasimporte aus Russland ein Viertel des Erdgasverbrauchs in der
ganzen EU abdecken, liegt dieser Anteil in einigen
ostmitteleuropäischen EU-Staaten bei bis zu 100 Prozent (Tabelle 1).
Tabelle 1: Erdgasimporte aus Russland 2012
Anteil amGasver-brauch
(%)
Anteil am Primär-energie-verbrauch
(%)Anteil am
Gasimport (%)Menge
(Mrd. m³)
Estland 100 10 100 0,6
Finnland 100 9 100 3,6
Lettland 100 26 100 1,4
Litauen 100 36 100 3,2
Bulgarien 89 11 100 2,4
Slowakei 84 21 79 4,3
Ungarn 72 23 100 7,1
Slowenien 60 6 60 0,5
Österreich 60 13 70 5,3
Polen 59 8 80 9,6
Tschechien 57 9 64 4,6
Griechenland 56 8 55 2,4
Deutschland 37 8 43 31,4
Italien 29 10 32 21,2
Rumänien 24 8 100 3,3
Luxemburg 24 6 24 0,3
Frankreich 16 2 16 7,3
EU28* 24 6 36 113,5
* Einschließlich der Werte für die Niederlande und Belgien sowie Reexporten nach Kaliningrad und Serbien.Quelle: Eigene Berechnung auf Grundlage von Eurogas Statistical Report 2013, S. 2 und S. 6, <http://www.eurogas.org/statistics/>, mit 1Mrd. m³ = 10,8 TWh = 0,84 mtoe.
Dabei sind die aus Russland importierten Mengen in den Ländern, die
ausschließlich oder mit hohem Anteil an ihrem Gasverbrauch aus
Russland beliefert werden, verhältnismäßig gering. Sie lassen sich
daher, wenn nur ein Land betroffen ist, durch Lieferungen aus
benachbarten Staaten ersetzen. Gefährlich wäre allerdings eine
umfassende Gasblockade. Ein vollständiger Ausfall der Erdgasimporte
aus Russland könnte in den meisten EU-Ländern aus den vorhandenen
Erdgasspeichern je nach Jahreszeit rein rechnerisch für zwei bis drei
Monate überbrückt werden.7 Dafür sind diese Speicher allerdings nicht
angelegt worden, denn sie dienen der sicheren Belieferung im Winter
und müssen in der zweiten Jahreshälfte gefüllt werden. Als wirksamer
Schutz vor einer Erdgasblockade kommen sie daher praktisch nicht in
Frage. Vom Vorhalten einer strategischen Erdgasreserve analog zu den
Erdöl-Pflichtvorräten wurde in der EU wegen der hohen Kosten und
technischer Schwierigkeiten bislang abgesehen.
Innerhalb der EU könnten nur die Niederlande mit ihrem Groningen-
Erdgasfeld relevante zusätzliche Erdgasmengen fördern und auf den
Markt bringen. Kurzfristig ließen sich zwar die Erdgasimporte aus
Norwegen, Afrika und dem Nahen Osten in die EU ausweiten,
allerdings nur in kleinem Umfang, da die Transportmöglichkeiten
begrenzt sowie die freien Lieferkapazitäten der Exporteure gering sind.
Auf der Empfängerseite sieht es nur auf den ersten Blick besser aus:
Das LNG-Terminal in Swinemünde (Polen) soll 2015 in Betrieb gehen.
Das Baltikum wird bald keine „Energieinsel“ mehr sein: Ende 2014
wird im Hafen von Klaipėda in Litauen ein schwimmendes LNG-
Terminal mit dem Namen „Unabhängigkeit“, eröffnet werden. Zwei
weitere Regasifizierungsterminals sollen in Estland und Finnland
entstehen. Die in den EU-Staaten bereits vorhandenen 21 Terminals, in
denen per Schiff angeliefertes verflüssigtes Erdgas (liquified natural
gas, LNG) regasifiziert werden kann, verfügen zwar über reichlich freie
Kapazitäten, da die LNG-Produzenten gegenwärtig lieber nach Asien
7 Den aktuellen Stand der Gasspeicher meldet Gas Infrastructure Europe (GIE), <http://transparency.gie.eu/>.
liefern, wo der Preis für Flüssiggas um die Hälfte höher liegt als in
Europa (aus diesem Grund ist auch ein deutsches LNG-
Empfangsterminal, das bei Wilhelmshaven entstehen sollte, nicht über
Planungen hinaus gekommen).8 Doch erst nach mindestens fünf Jahren
Bauzeit ständen genügend neue LNG-Tanker zur Verfügung, um
Russlands Erdgaslieferungen voll ersetzen zu können.9 Da LNG nach
Europa nur dann umgelenkt werden würde, wenn hier ebenso hohe
Preise wie in Südostasien bezahlt würden, würde die Gasrechnung für
die hiesigen Verbraucher erheblich ansteigen.
Bei der Verteilung des Erdgases innerhalb Europas helfen die seit dem
Erdgaskonflikt zwischen der Ukraine und Russland im Jahr 2009
installierten Verbindungsleitungen (Interkonnektoren) zwischen den
EU-Staaten. Über derartige, allerdings gering dimensionierte
Erdgasleitungen ist Polen mit Tschechien, die Slowakei mit Ungarn und
Deutschland mit Italien, Polen und Tschechien verbunden worden. Die
Erdgasnetze Estlands und Finnlands werden durch die
Unterwasserpipeline Balticconnector verknüpft werden. Polen, die
Slowakei, Tschechien und Ungarn können durch Umkehr der
Fließrichtung (reverse flow) in den aus Russland kommenden
Erdgasexportleitungen in gewissem Umfang versorgt werden.
Alle diese Maßnahmen zusammengenommen würden jedoch schwere
Auswirkungen einer vollständigen Unterbrechung von Russlands
Erdgaslieferungen auf die europäischen Volkswirtschaften nicht
verhindern können. Ein sich über Monate erstreckender Lieferausfall
hätte Einschränkungen der Industrieproduktion sowie der Beheizung
8 Nils-Viktor Sorge: Die blinde Liebe für Wilhelmshaven. Manger Magazin online, 27.3.2014,<www.manager-magazin.de/unternehmen/energie/lng-terminal-wilhelmshaven-als-waffe-ge-gen-russland-und-putin-a-960658.html>.
9 Henning Sietz: Das Märchen vom schnellen Flüssiggas. FAZ, 8.4.2014, S. T1.
von Wohnungen, öffentlichen Gebäuden, Büros und Geschäften zur
Folge. Zwar könnten bestehende Kohlekraftwerke zusätzliche Wärme
und Strom erzeugen, doch würde auch damit der Ausfall der
Erdgaslieferungen nicht voll kompensiert werden können. Das ist aber
nur die eine Seite der Medaille.
Rückwirkungen einer Gasblockade auf Russlands Gazprom
Während in der sicherheitspolitischen Diskussion lange eine
asymmetrische Abhängigkeit Europas von Russlands Erdgaslieferungen
behauptet wurde („Wir müssen frieren“, „Gazprom kann uns
erpressen“), wird inzwischen konzediert, dass Europa und Russland im
Bereich Erdgas gleichermaßen (symmetrisch) voneinander abhängig
sind. Tatsächlich wären die Schäden, die eine Gasblockade hervorrufen
würde, auf Seiten Russlands ebenso gravierend wie bei den Abnehmern
von Erdgas aus Russland. Russlands amtliche Statistik publiziert zwar
keine Angaben über den Wert der Erdgasausfuhren aus Russland in die
EU, doch lässt sich abschätzen, dass diese 2013 47 Milliarden USD
betrugen und neun Prozent der Erlöse aus Warenexporten ausmachten
(Tabelle 2).
Tabelle 2: Anteile von Energieträgern am Wert des Warenexports Russlands 2013
Exportinsgesamt
Export indie GUS
Export nachTürkei, Asien,
USA
Export in dieEU
%Mrd.USD
%MrdUSD
%Mrd.USD
%Mrd.USD
Steinkohle 2,2 12 0,2 1 0,9 5 1,1 6
Rohöl + Ölprodukte 53,7 282 3,5 18 5,2 27 45,0 237
Flüssiggas (LNG) 1,0 5 0,0 0 1,0 5 0,0 0
Erdgas per Pipeline* 12,8 67 2,8 15 1,0 5 9,0 47
Energieträger insg. 69,8 367 6,5 34 8,1 43 55,1 290
Anmerkungen: Der gesamte Warenexport (ohne Dienstleistungsexporte) Russlands betrug 2013 526 Mrd. US-$. Er schließt Exportsteuern und Zölle ein. *Aufteilung der Exportanteile aufdie Regionen berechnet aus den Daten der Zollstatistik der Russischen Föderation und Angaben Gazproms, wonach der Exportpreis im „fernen Ausland“ 2013 um 43% höher war als im „nahen Ausland“. Summendifferenzen beruhen auf Rundung.Quellen: Zollstatistik der Russischen Föderation, <www.customs.ru/>, Gazprom Rechenschaftsbericht 2013, <http://www.gazprom.ru/>. Clingendael International Energy Program (CIEP): <www.clingendaelenergy.com/media/fact_sheets>. VDI Jahresbericht 2013, S. 21, <www.verein-kohlenimporteure.de/>.
Aus dieser gering erscheinenden Ziffer folgt keine Unverwundbarkeit
Russlands, denn für Gazprom, dem einzigen zum Export von Erdgas
berechtigten Erdgasproduzenten Russlands, wäre ein Ausfall seiner
Lieferungen nach Westen ein schweres betriebswirtschaftliches und
finanzielles Desaster. Das größte Unternehmen Russlands verlöre ein
Drittel seines Umsatzes. Es müsste nicht nur seine Erdgasförderung
(2013: 487 Mrd. m³) um 30 Prozent herunterfahren und viele
Förderanlagen stilllegen, sondern auch große Investitionsprojekte wie
die auf der nördlichen Halbinsel Jamal kürzen oder vollständig
suspendieren.10
Da Gazprom mit einem Lieferstopp die mit den europäischen
Erdgasfirmen abgeschlossenen Langfristverträge brechen würde,
würden es vor internationalen Schiedsgerichten verklagt werden, wobei
es um Schadenersatzforderungen in Milliardenhöhe ginge. Gazprom
würde seinen Ruf als verlässlicher Lieferant, den es von der
10 Gazprom erzielte 2013 einen Umsatz von 5250 Mrd. Rubel (umgerechnet 165 Mrd. USD),<http://www.gazprom.com/investors/reports/2013/>). Bei einer Gasblockade der EU-Länderwürden nicht nur die Exporte in die EU (2013: 125 Mrd. m²) sondern auch ein Teil der Liefe-rungen in die Türkei ausfallen, die über Rumänien und Bulgarien erfolgen. Außerdem wärenGaslieferungen in die Schweiz und die Gasversorgung Kaliningrads, die über Litauen er-folgt, betroffen.
sowjetischen Erdgasindustrie übernommen und seither bewahrt hat
(denn die „Gaskriege“ 2006 und 2009 mit der Ukraine waren keine
Aktionen gegenüber Gazproms europäischen Kunden) aufs Spiel
setzen.
In Folge eines länger anhaltenden „Gaskriegs“ würde Gazprom den
europäischen Absatzmarkt größtenteils verlieren, denn viele seine
bisherigen Kunden würden sich auf Flüssiggas umorientieren. Die
hohen Investitionen in die Pipelinesysteme Jamal-Europa, Nord Stream
und South Stream, die Gazprom in den vergangenen 15 Jahren getätigt
hat, sowie in die für diese Exportpipelines gebauten
Versorgungsleitungen in Russland wären weitgehend entwertet. Das
Unternehmen wäre dadurch zum Erdgasversorger des wenig profitablen
russländischen Binnenmarkts und des problematischen Kunden China
degradiert. Während Gazprom im Handel mit seinen Abnehmern in der
EU zu seinem Vorteil je nach Land differenzierte Lieferverträge
abschließen kann, ist es nicht nur dem Staat in Russland, sondern auch
Gazproms östlichem Hauptkunden China möglich – der billiges Erdgas
vornehmlich aus Kasachstan und Turkmenistan bezieht –, den Preis zu
diktieren. Erst nach mehreren Jahren ließen sich die Absatzverluste im
Westen durch vermehrte Lieferungen Richtung Osten (per Pipelines
nach China, per Flüssiggastankern nach Südkorea und Japan)
wenigstens der Menge nach teilweise ausgleichen.
Die „Ölwaffe“
Einen „Gaskrieg“ könnten sowohl die EU wie auch Russland
zumindest für einige Wochen aushalten. Weder ein Lieferstopp noch ein
Import-Embargo würden daher raschen politischen Erfolg versprechen.
Auf längere Sicht wären die Schäden auf beiden Seiten beträchtlich,
jedoch nicht so „lebensbedrohlich“, dass die Erreichung politischer
Ziele garantiert wäre. Daher kommt ein „Gaskrieg“ weder für Russland
als politisches Druckmittel noch für die EU bzw. den Westen als
geeignetes Sanktionsinstrument in Frage. Die unselige Gaskrieg-
Diskussion verstellt den Blick auf das wirksamste ökonomische
Druckmittel, das dem Westen gegenüber Russland zur Verfügung
stünde: ein Embargo auf Ölimporte. Wie schon gegen den Iran und
gegen Syrien könnte die EU zusammen mit den USA entweder in
Reaktion auf eine (allerdings höchst unwahrscheinliche) Gasblockade
oder als scharfe wirtschaftliche Sanktion ein solches Ölembargo gegen
Russland verhängen. Mit einem Ölembargo würde Russland weit
stärker getroffen als mit einem Gasembargo, denn 44 Prozent der
Einnahmen des föderalen Staatsbudgets Russlands stammen aus der
Besteuerung der Ölförderung sowie der Zölle auf den Export von
Rohöl und Ölprodukten – verglichen mit nur sechs Prozent aus Steuern
auf die Erdgasförderung und den Zöllen auf den Erdgasexport (Daten
für 2013).11
Der Export von Rohöl und Ölprodukten aus Russland nach Europa, der
2013 rund 200 Millionen Tonnen betrug – davon 150 Mio. t Rohöl und
50 Mio. t Schweröl und Diesel12 – und 45 Prozent des Werts des
Warenexports Russlands ausmachte, kann durch Sperrung der
europäischen Häfen für Öltanker aus Russland sowie der Ölpipelines
durch Belarus/Polen und die Ukraine (nördlicher und südlicher Zweig
der Ölpipeline Družba) unterbrochen werden. Dann wären die
Einnahmeverluste – rund 240 Mrd. US-Dollar pro Jahr bzw. 20 Mrd.
US-Dollar pro Monat – für Russland erheblich größer als bei einem11 Ščetnaja palata Rossijskoj Federacii: Operativny doklad o chode izpolnenija federal’nogo
bjudžeta za janvar’–dekabr’ 2013 goda, <www.ach.gov.ru/ru/expert/operative/>.12 IEA: Monthly Oil Market Report, [Fn. 4].
Gasembargo, bei dem für Russland „nur“ rund vier Mrd. US-Dollar pro
Monat auf dem Spiel stehen (Tabelle 2). Da Russlands
Wirtschaftswachstum eng an die Einnahmen aus dem Ölgeschäft
gekoppelt ist, wäre ein schwerer und anhaltender Wirtschaftseinbruch
die Folge. Weder die Rüstungsprogramme noch die notwendigen
Infrastrukturmaßnahmen oder die Rentenzahlungen wären noch aus den
laufenden Staatseinnahmen Russlands finanzierbar. Auch viele
Wirtschaftssektoren außerhalb der Ölwirtschaft wären betroffen.
Russland würde in die schwerste ökonomische Krise seit dem
Zusammenbruch der Sowjetunion geraten.
Die EU könnte hingegen einen Ausfall der Importe von Rohöl und
Ölprodukten aus Russland, die ein Drittel ihrer Gesamtimporte
ausmachen,13 rechnerisch bis zu neun Monate durch Einsatz ihrer
strategischen Ölreserven ausgleichen, die der Menge ihres gesamten
Ölimports in drei Monaten entsprechen (praktisch würden diese
Reserven jedoch nicht vollständig entleert werden). Parallel dazu
könnte zusätzliches Rohöl aus einer Vielzahl von Ländern bezogen
werden, die über freie Produktionskapazitäten (spare capacity)
verfügen.14 Ob es zu einem den Westen schädigenden Preisanstieg auf
dem Weltölmarkt kommen würde, wie in einer Studie der Moskauer
Akademie für Volkswirtschaft und Staatsdienst behauptet wird, ist
ungewiss.15 Wenn nicht nur die EU, sondern auch die USA einen Teil
ihrer strategischen Ölreserven freigeben, das über freie
Produktionskapazitäten verfügende Saudi-Arabien seine Ölförderung
ausweitet und Russland, wie zu erwarten wäre, das nicht mehr in13 Ebenda.14 Die freie Förderkapazität der OPEC-Länder (ohne den Iran) veranschlagt die EIA für 2015
auf 175 Mio. t, <http://www.eia.gov/forecasts/steo/report/global_oil.cfm>.15 Petr Kaznačeev: Analiz mer davlenija na Rossiju v sfere ėksporta nefti i gaza. Vesti,
21.4.2014, <www.vestifinance.ru/articles/41998?>.
Europa absetzbare Erdöl wenigstens teilweise an „befreundete“ Länder
wie China verkaufen würde, müsste das Ölangebot auf dem Weltmarkt
nicht abnehmen und der Ölpreis nicht steigen.
Ein jahrelanger „Ölkrieg“ mit Russland würde in Europa vor allem den
Verkehrssektor treffen, in dem über 60 Prozent der Ölprodukte
verbraucht werden.16 Dessen Probleme wären aber lösbar, indem ein
Umstieg auf sparsamere Motoren („Drei-Liter-Auto“) und auf die
Elektromobilität vorgenommen würde. Damit würde eine Entwicklung
beschleunigt, die aus Umweltschutzgründen ohnehin unumgänglich ist
und bislang von der europäischen Automobilbranche nur zaghaft
angegangen worden war.
Russland kann hingegen weder bei Erdgas noch bei Erdöl für die
nächsten Jahre die „chinesische Karte“ ausspielen. Die Fertigstellung
einer Erdgasleitung aus den bislang ausschließlich Europa beliefernden
westsibirischen Fördergebieten in Richtung China (Altaj-Pipeline,
Kapazität 30 Mrd. m³) wird nicht vor 2018 erwartet. Ab 2020 wird Gas
aus Ostsibirien über die geplante Gasleitung Power of Siberia (sila
Sibiri, Kapazität 38 Mrd. m³) nach China transportiert werden können,
wovon die Gasversorgung der EU freilich nicht betroffen ist. Die aus
Westsibirien Richtung Osten gebaute Ölpipeline (ESPO) wird erst 2016
die Kapazität von 50 Millionen Tonnen und bis 2025 von 80 Millionen
Tonnen erreichen. Der Pipelinetransport von Gas und Öl Richtung
Osten wird somit, sollte es zu einem Ölembargo kommen, auf
absehbare Zeit nur rund ein Viertel der Erdgasausfuhren und die Hälfte
der Rohölexporte in die EU ersetzen können. Auf lange Sicht wird ein
16 European Commission: Energy Markets in the European Union in 2011, Brüssel 2012, S. 14,<http://ec.europa.eu/energy/observatory/annual_reports/annual_reports_en.htm>. – IEA: 2009Energy Balance for European Union 27, <www.iea.org/stats/balancetable.asp?COUNTRY_CODE=30>.
"Ölkrieg" zwischen Russland und dem Westen die schon im Gange
befindliche Orientierung der Erdöl- und Erdgaswirtschaft Russlands auf
China und den südostasiatischen Raum allerdings beschleunigen.
Russland wird dann erst recht ein „Rohstoffanhängsel“ sein, nicht mehr
jedoch des Westens, sondern der bald größten Volkswirtschaft der Welt,
der Volksrepublik China. Von Russland als einem machtvollen und
eigenständigen eurasischen Pol der Weltwirtschaft, den sich Russlands
Machtelite vorstellt, wird dann nicht mehr die Rede sein.
Der Erdgassektor der EU: kein struktureller Wandel in Sicht
Anstatt ein Ölembargo zu erörtern, kreist die öffentliche Diskussion in
der EU um die Möglichkeiten für den Verzicht auf Erdgas aus
Russland. Einzelne Vorschläge wie die Erlaubnis zur Erdgasgewinnung
durch Fracking, der LNG-Import aus den USA oder der Bau weiterer
Flüssiggasterminals werden in die Debatte geworfen, ohne dass ihre
Realisierbarkeit und die quantitativen Auswirkungen hinreichend
untersucht werden. Dabei zeigt bereits ein Blick auf die Erdgasbilanz
der EU für 2013, dass ein Verzicht auf Russlands Erdgas nicht leicht
fiele (Tabelle 3).
Der Erdgasverbrauch in den EU-Staaten lag nach jahrelangem Anstieg
2010 bei 500 Mrd. m³, ging zwischen 2011 und 2013 jedoch auf 462
Mrd. m³ zurück, weil sowohl subventionierte erneuerbare Energien als
auch preisgünstige Kohle Marktanteile bei der Elektrizitätserzeugung
hinzugewannen. Russland lieferte 2013 rund 125 Mrd. m³ Erdgas in die
EU-Staaten, wodurch 27 Prozent des Erdgasverbrauchs der EU gedeckt
wurde. Russlands Anteil an den Erdgasimporten der EU betrug 41
Prozent.
Tabelle 3: Erdgas in der EU 2013
Aufkommen davon Import aus:Förderung Import Russland Norwegen Algerien Katar andere*
Mrd. m³ 156 306 125 106 37 18 20Anteile an:Erdgas-verbrauch (%)
34 66 27 23 8 4 4
Import (%) 41 35 12 6 6* Hauptsächlich LNG-Lieferungen aus Afrika, einschließlich sämtlicher Nettoexporte.Quelle: Pressemitteilung von Eurogas, 18.3.2014, <www.eurogas.org/media-centre/ press-releases/>.
Der Erdgasverbrauch in der EU wird nach Prognosen der
Internationalen Energieagentur (IEA) und des Verbandes der
Erdgasproduzenten und -händler Europas Eurogas bis 2035 um rund
ein halbes Prozent pro Jahr ansteigen.17 Einen besonders starken
Anstieg erwartet Eurogas für den Gasverbrauch in der
Elektrizitätserzeugung, während der Gaseinsatz in Privathaushalten
abnehmen und der in der Industrie konstant bleiben wird.
Für die eigene Erdgasförderung in der EU zeichnen sich zwei
gegenläufige Entwicklungen ab: Bis 2035 ist ein Rückgang des in der
EU auf klassische Weise aus konventionellen Vorkommen gewonnenen
Erdgases auf 30 Prozent der 2013 gewonnenen Menge zu erwarten.18 Die
Förderung aus nichtkonventionellen Vorkommen (darunter Schiefergas)
wird dagegen erheblich zunehmen.19 Nach 2020 kann sie den Rückgang
der Gasgewinnung aus konventionellen Lagerstätten ausgleichen und die17 IEA: World Energy Outlook 2013, Paris 2013, S. 124 f. und S. 592. – Eurogas: Long-term
Outlook for Gas to 2035, Brüssel 2013, S.3, <www.eurogas.org/media-centre/publications/>.18 Angaben nach Eurogas: Long-Term Outlook 2007-2030, Brüssel 2010, <www.eurogas.org/
media-centre/publications/>. – Eurogas: Long-term Outlook for Gas to 2035, [Fn. 17]. Dortwird implizit eine exponentielle Rate des Förderrückgangs von -6% pro Jahr angenommen.
19 Erdgas, das sich in permeablen (porösen) Lagerstätten gesammelt hat, bildet konventionelleVorkommen. Zu den nichtkonventionellen Vorkommen gehören Gas aus sehr undurchlässi-gem Gestein (Schiefergas, tight gas) sowie Kohlegas (Flözgas, Grubengas), Aquifergas undGashydrat.
Gesamtförderung bei rund 120 Mrd. m³ stabilisieren. Eine Wiederholung
des amerikanischen Schiefergas-Booms ist in Europa aufgrund höherer
Förderkosten, Platzknappheit und einer häufig mangelnden Akzeptanz in
der Öffentlichkeit allerdings unwahrscheinlich.20 Wegen des
ansteigenden Erdgasbedarfs wird der Importbedarf der EU-Länder bis
2035 gegenüber 2013 um rund ein Drittel ansteigen (Tabelle 4).
Tab. 4: Erdgas in der EU, Prognose 2015–2035 (Mrd. m³)
2015 2020 2025 2030 2035
Verbrauch 463 482 501 509 518
Förderung aus konventionellen Vorkommen
154 112 84 63 46
Förderung aus nichtkonventionellen Vorkommen
1 11 38 57 76
Förderung insgesamt 155 123 122 120 122
Import 308 358 379 390 396
davon aus:
Norwegen, Afrika, Katar 180 200 200 200 200
USA 0 10 10 10 10
Aserbaidschan 0 10 10 20 30
Russland 128 138 159 160 156
Anteil Russlands am Import (%)
42 39 42 41 39
Anteil Russlands am Verbrauch (%)
28 29 32 31 30
Anmerkungen: Bei der Förderung wird wegen der unsicheren Datenlage keine Einspeisung von Biogas berücksichtigt. Die Verteilungder Importe außer aus Russland sind eigene Schätzungen. Der Import aus Russland ergibt sich aus der Differenz des Verbrauchs zum gesamten Import.Quellen: Eurogas: Long-Term Outlook 2007-2030, Brüssel 2010, <www.eurogas.org/media-centre/publications/>.– Eurogas: Long-termOutlook for Gas to 2035, Brüssel 2013, <www.eurogas.org/media-centre/publications/>. – Christian Growitsch et al.: Unkonventionelles 20 Christian Growitsch et al.: Unkonventionelles Erdgas in Europa. Effekte auf Versorgung,
Nachfrage und Preise bis 2035. Köln 2013, S. 11, <www.ewi.uni-koeln.de/>.
Erdgas in Europa. Effekte auf Versorgung, Nachfrage und Preise bis 2035. Köln 2013, <www.ewi.uni-koeln.de/>.
Weil zwei Drittel des Erdgases in der EU für industrielle Prozesswärme
und Heizung und nur ein Drittel zur Stromerzeugung verwendet wird,
können zur Stromerzeugung eingesetzte Wind- und Sonnenenergie
Erdgas vorerst nicht ersetzen.21 Dies könnte erst in fernerer Zukunft
möglich werden, wenn die Herstellung von Methan aus „Grünstrom“
per Elektrolyse („power to gas“) im großtechnischen Maßstab gelingen
sollte und dieses Verfahren nicht mehr nur als temporäres
Speichermittel für die fluktuierende Wind- und Sonnenenergie
verwendet wird.22 Auch die hohen Erwartungen an die Einspeisung von
Biogas in das europäische Gasnetz haben sich nicht erfüllt.23 Deswegen
ist die Hoffnung, eine „Energiewende“ hin zu den erneuerbaren
Energien könne die Abhängigkeit von Russlands Erdgas deutlich
mildern, vorerst unbegründet.
Wenn schon die EU insgesamt nicht durch einen von Russland vom
Zaun gebrochenen „Gaskrieg“ bedroht ist, so sind doch Maßnahmen
sinnvoll, welche die Flexibilität des Erdgasmarkts in der EU erhöhen.24
Dies unternimmt die EU-Kommission mit der Festlegung von
Prioritäten für den Ausbau der Energieinfrastruktur, darunter für
Erdgas.25 Für eine außerhalb der EU wirkende Energieaußenpolitik, die
21 Energy Markets in the European Union [Fn. 16], S. 13, –2009 Energy Balance [Fn. 16]. 22 Im ersten Schritt wird per Elektrolyse aus Wasser (H2O) Wasserstoff (H2) gewonnen. Dieser
kann durch Zufügen von Kohlendioxyd (CO2) in Methan (CH4) transformiert werden, dasdie Eigenschaften von Erdgas besitzt.
23 Floris van Voreest: Perspectives for Biogas in Europe. Oxford (UK) 2012, S. 25–27, <ww-w.oxfordenergy.org/2012/12/perspectives-for-biogas-in-europe/>.
24 Andreas Goldthau, Oliver Geden: Europas Energieversorgungssicherheit. Ein Plädoyer füreinen pragmatischen Ansatz, in: IPG, 4/2007, S. 58–63. – Oliver Geden, Susanne Dröge: In-tegration der europäischen Energiemärkte. Notwendige Voraussetzung für eine effektive EU-Energieaußenpolitik, Berlin 2010 [= SWP-Studie 3/2010].
25 Europäische Kommission: Energieinfrastrukturprioritäten bis 2020 und danach. Ein Konzeptfür ein integriertes europäisches Energienetz. Brüssel 2010, [= KOM(2010) 677].
auf die Lenkung der Erdgasversorgung zielt, gibt es jedoch kaum
Spielraum.
Welche Alternativen zum Erdgas aus Russland hat die EU? Zunächst
fällt der Blick auf Norwegen, das 2013 106 Milliarden Kubikmeter
Erdgas in die EU exportierte. Damit ist dessen Exportkapazität
Richtung Europa allerdings fast vollständig ausgeschöpft, da
Norwegens Pipelines mit Maximalkapazität arbeiteten. Weitere
Pipelines aus Norwegen sind nicht geplant, da hierfür keine neuen
Erdgasfelder zur Erschließung anstehen. Aus Afrika kamen 2013 rund
40 Mrd. m³ per Pipelines (Algerien, Marokko, Tunesien, Libyen) sowie
rund 20 Mrd. m³ per LNG (Algerien, Nigeria). Politische Instabilität
und steigender Inlandsverbrauch lassen aus Afrika keine vermehrten
Erdgasimporte in die EU erwarten. Aus dem Nahen Osten lieferte Katar
2013 per LNG 18 Mrd. m³. Höhere Importe aus Katar wären möglich,
setzen allerdings Nachfrage zu dem in Asien erzielbaren, viel höheren
Preisniveau voraus, was den Einsatz von Erdgas in der EU bei vielen
industriellen Anwendungen und zur Stromerzeugung gegenüber der
Kohle unrentabel machen würde. Das Volumen der Erdgaslieferungen
aller dieser „traditionellen“ Belieferer Europas, das 2013 rund 180 Mrd.
m³ betrug, dürfte daher in Zukunft nicht höher als 200 Mrd. m³ liegen.
Erdgasimporte aus dem Kaspischen Raum, die nicht über Pipelines
durch Russland in die EU kommen, sind erst nach Errichtung der
Infrastruktur des sogenannten Südlichen Erdgaskorridors möglich.
Dessen Herzstück, die Nabucco-Pipeline, die von Aserbaidschan über
die Türkei und den Balkan bis Österreich führen sollte, musste jedoch
2013 aufgegeben werden, weil die vorgesehenen Lieferländer
Aserbaidschan und Turkmenistan, die beide nicht in dem Nabucco-
Konsortium vertreten waren, kein Interesse an der ihnen zugemessenen
Rolle als bloßer Lieferanten zeigten und das Haupttransitland Türkei
eine selbständige Rolle als Erdgas-Umschlagplatz („gas hub“)
bevorzugt. Als Ersatz für Nabucco haben Aserbaidschan und die Türkei
den Bau einer Pipeline vereinbart, die von der türkischen Ostgrenze zu
Georgien bis zur Westgrenze der Türkei führt. 2015 soll der Bau der
TANAP (Trans Anatolien Natural Gas Pipeline)26 beginnen, die ab 2018
oder 2019 an die bereits bestehende SCP (South Caucasus Pipeline)
anschließen und 16 Mrd. m³ aus dem aserbaidschanischen Erdgasfeld
Shah Deniz in die Türkei transportieren soll.27 Davon sind 10 Mrd. m³
für den Export in die EU bestimmt, wofür die TAP (Trans Adriatic
Pipeline) über Griechenland und Albanien nach Italien gebaut werden
soll.28 Für die Zeit nach 2020 ist eine Erweiterung der SCP und TANAP
von Aserbaidschan bis zur türkisch-griechischen Grenze im Gespräch.
Erdgaslieferungen aus anderen Ländern des Kaspischen Raums
(Turkmenistan, Kasachstan und Usbekistan) Richtung Europa sind
nicht zu erwarten, da deren Exportpotential mit den zurückgehenden
Lieferungen nach Russland und den steigenden Lieferungen nach
China ausgeschöpft ist und keine Aussichten für den Bau von
Unterwasserpipelines oder Anlagen für den Transport von Flüssiggas
zur Überwindung des Kaspischen Meers bestehen.29 Für sie bestehen
auch deswegen keine Chancen, weil sich Turkmenistan und Kasachstan
in ihrer Energieexportpolitik außer auf Russland in Richtung China
orientieren, das sich im Unterschied zur EU nicht in ihre inneren
26 <www.tanap.com/en/>.27 <http://en.ann.az/eco-construction-of-azeri-turkish-gas-link-to-start-apr-2015-t6239.html>.28 <www.trans-adriatic-pipeline.com/de/home/>.29 Simon Pirani: Marktmacht. Erdgas in Zentralasien und im Kaspiraum, in: OE 7/2013, S. 45–60.
Verhältnisse einmischt.30 Entsprechendes gilt für den Iran.
Auch aus den USA wird die EU keine größeren Erdgasmengen
importieren können, die den Bezug aus Russland ersetzen könnten. Die
„Schiefergasrevolution“ hat die USA zwar fast vollständig von
Erdgasimporten unabhängig gemacht und ihr sogar die Möglichkeit
eröffnet, Erdgas in Form von LNG auf den Weltmarkt zu bringen. Die
massive Ausweitung der Förderung von Schiefergas – daneben auch
Tight Gas und Kohleflözgas – wurde durch Förderkosten ermöglicht,
die so niedrig liegen, dass die zurückgehende Förderung
konventionellen Erdgases mehr als kompensiert werden konnte und in
den USA Erdgas Kohle als Brennstoff verdrängt hat.31 Da die USA
bislang LNG-Importeur war, wurden zwar 20 LNG-Empfangsterminals
gebaut, aber bis 2014 noch keine LNG-Exportanlagen. Nach der
Umbau von drei Empfangsterminals in Exportterminals wird bis 2018
der Export von LNG in Höhe von 30 Mrd. m³ Erdgas erwartet. Da
jedoch die LNG-Preise in Asien um die Hälfte höher sind als in Europa,
wird Flüssiggas aus den USA vor allem dorthin verschifft werden. Die
Erdgasexporte aus den USA in EU-Länder werden, wenn dort nicht
ebensolche Preise bezahlt werden, daher keinen großen Umfang
annehmen.32
Für die Umorientierung der Erdgasimporte der EU-Länder bestehen
somit nur geringe Möglichkeiten. Außerdem werden bei diesen nur auf
die Verfügbarkeit von Erdgas abstellenden Überlegungen die
kommerziellen Aspekte des Erdgashandels außer Acht gelassen. Die
30 Martha Brill Olcott: Turkmenistan. Real Energy Giant or Eternal Potential? Cambridge2013, <http://belfercenter.ksg.harvard.edu/project/68/geopolitics_of_energy_project.html>.
31 Kirsten Westphal: Die große Unsicherheit. Die Folgen des Schiefergas-Booms für die EUund Russland, in: OSTEUROPA, 7/2013, S. 29-44.
32 Growitsch, Unkonventionelles Erdgas [Fn. 20] S. 11.
europäischen Importeure sind durch die mit Gazprom abgeschlossenen
langfristigen Verträge, die in der Regel über 25 Jahre laufen, zur
Abnahme der darin fixierten Mengen verpflichtet, so dass eine
Umorientierung auf Erdgas aus anderen Ländern nur im Umfang des
Auslaufens dieser Verträge in Frage kommt. Auch ist der Preisaspekt
von Bedeutung. So lange Erdgas aus Russland am jeweiligen Standort
billiger angeboten wird als LNG aus Katar oder den USA werden vor
allem Importeure in Deutschland und Österreich diese günstige
Bezugsquelle beibehalten wollen. Auch wenn aus anderen Ländern
vermehrt Erdgas importiert werden wird, sind ab 2020 dennoch
Erdgasimporte aus Russland in Höhe von 140–160 Mrd. m³
erforderlich. Diese sind auch möglich, weil Russlands Erdgasförderung
noch bis 2030 ansteigen und sich dann auf hohem Niveau stabilisieren
wird.33
Die Perspektiven der Erdgaswirtschaft der Ukraine34
Die "Erzählung vom Gaskrieg“ ist eine Interpretation, die vor allem aus
den Erdgaskrisen zwischen der Ukraine und Russland in den Jahren
2006 und 2009 stammt. Die Preispolitik, die Gazprom seit Anfang der
2000er Jahre verfolgt – für Erdgaslieferungen an die ehemaligen
Sowjetrepubliken wird die „europäische Preisformel“ (die in Europa in
langfristigen Lieferverträgen übliche Orientierung des Gasexportpreises
an den Preisen und der Verfügbarkeit der konkurrierenden
Energieträger) angewendet –, wurde als politischer Schritt des Kremls
interpretiert. Übersehen wird dabei, dass nur das Abgehen von dieser
Preisformel und damit die Subventionierung der Kunden als politisch
33 Dies sieht der Entwurf der Energiestrategie Russlands bis 2035 vor, <http://minenergo.gov.ru/documents/razrabotka/17481.html>.
34 Diese Überlegungen setzen den Fortbestand der Ukraine in ihren bisherigen Grenzen voraus.
motiviert gelten kann. Einen solchen Rabatt erhält etwa Belarus, seit
Präsident Lukašenka sich 2011 bereit erklärt hat, das Land in die
Eurasische Union zu führen. Auch die Ukraine erhielt 2010 einen
Rabatt – als Gegenleistung für die Verlängerung des
Stationierungsvertrags für Russlands Flotte auf der Krim für die Zeit ab
2018 – sowie erneut zum Jahresanfang 2014 zur Unterstützung Viktor
Janukovyčs. Gazprom wird vom russischen Staat für den Verzicht auf
Einnahmen wie im Falle des Ukraine-Rabatts 2010 direkt durch Erlass
der Exportsteuer oder generell durch niedrige Besteuerung
entschädigt.35 Von derartigen „politischen“ Rabatten sind
Preisnachlässe zu unterscheiden, die Gazprom Armenien, Belarus und
Moldova als Gegenleistung für die teilweise bzw. gänzlich erfolgte
Übereignung ihrer Gastransportsysteme gewährte.
Die Zurücknahme der der Ukraine gewährten Rabatte ist zwar ein
politischer Schritt der Moskauer Regierung, aber deswegen noch längst
keine Erpressung. Für die Ukraine gilt nämlich ab April 2014erstmals
der volle Gaspreis, der auf dem Ende Januar 2009 zwischen der
damaligen Ministerpräsidentin Julia Tymošenko und dem damaligen
Ministerpräsidenten Vladimir Putin abgeschlossenen Vertrag beruht,
der bis 2019 läuft.36 Tymošenko hatte damals eigenmächtig einen hohen
Basispreis von 450 USD pro 1000 m³ vereinbart, der schrittweise in
Kraft treten sollte, worauf sie unter Janukovič wegen angeblicher
Kompetenzüberschreitung ins Gefängnis geworfen wurde.
35 Karel Svoboda: Business as Usual? Gazprom's Pricing Policy Toward the Commonwealth ofIndependent States, in: Problems of Post-Communism, 6/2011, S. 21-35, hier S. 34.
36 Die von Julia Tymošenko mit der russischen Regierung geführten Verhandlungen und ihrenachträgliche Legitimierung durch das ukrainische Kabinett sind dokumentiert in dem vomukrainischen Justizministerium in Auftrag gegebenen Rechtsgutachten der US-amerikani-schen Anwaltskanzlei Skaden, Arps, Slate, Meagher & Flom LLP: The Tymoshenko Case.Kiev 2012, <www.minjust.gov.ua/file/24353>.
Selbst die durch Subventionen verminderten Gasrechnungen für 2013
und im ersten Vierteljahr 2014 hat das ukrainische Staatsunternehmen
Naftohaz Ukraïny nicht vollständig bezahlt und bis Ende März 2014
Schulden im Umfang von 2,2 Mrd. US-Dollar angehäuft. Seit April
2014 verlangt Gazprom den auf dem Vertrag von 2009 beruhenden
Gaspreis (485 USD pro 1000 m³), den die Ukraine nicht akzeptieren
und vor einem Arbitragegericht anfechten will. Gazprom hat für diesen
Fall angekündigt, wie in dem Vertrag vorgesehen ab Juni nur noch
gegen Vorauskasse zu liefern bzw. bei Nichtbezahlung die
Gaslieferungen an das Land einzustellen. Dann droht das aus den
Gaskrisen 2006 und 2009 bekannte Szenario: Die Ukraine entnimmt
Erdgas aus den Transitlieferungen an EU-Länder und Gazprom
unterbricht den Erdgastransit über das Territorium der Ukraine, der die
Hälfte der Erdgaslieferungen aus Russland in EU-Staaten und die
Türkei ausmacht. Eine derartige Entwicklung kann allerdings
verhindert werden, wenn die Ukraine die ihr vom IWF gewährten
Kredite (Gesamtsumme 17 Mrd. USD) auch zur Zahlung ihrer
Schulden bei Gazprom verwendet.
Eine langfristige Sicherung des Gastransits durch die Ukraine kann nur
durch eine Reorganisation des Erdgassektors der Ukraine gelingen.
Dazu hat Kommissionspräsident Jośe Manuel Barroso in seinem
Antwortbrief auf ein Schreiben Putins vom 10. April 2014 trilaterale
Gespräche zwischen der Ukraine, Russland und der EUangeregt.In
diesen soll es auch um das Erdgastransitsystem der Ukraine
(Gasfernleitungen, Gasspeicher, Kompressorstationen) gehen, dessen
Übernahme durch ein multinationales Gastransportkonsortium bereits
im Juni 2002 von Leonid Kučma, Vladimir Putin sowie Gerhard
Schröder anvisiert worden war.37
Die Führung der Ukraine würde am liebsten so schnell wie möglich auf
Erdgas aus Russland ganz verzichten und sich damit auch das leidige
Problem der Bezahlung der gegenüber Gazprom bestehenden Schulden
vom Hals schaffen. Doch dafür gibt es kurzfristig keine Aussichten. In
der Ukraine wurden 2013 rund 50 Mrd. m³ Erdgas verbraucht. Davon
stammten rund 20 Mrd. m³ aus eigener Förderung, während 28 Mrd. m³
aus Russland sowie zwei Mrd. m³ aus Polen und Ungarn importiert
wurden. Die Erdgasimporte aus Polen und Ungarn können geringfügig
erhöht werden, so weit die vorhandenen Interkonnektoren mit der
Ukraine dies erlauben. Zusätzlich wird eine ungenutzte Erdgasleitung
zwischen dem slowakischen Vojany und dem ukrainischen Užgorod
instand gesetzt und für die umgekehrte Fließrichtung eingerichtet. Die
Erdgasimporte der Ukraine aus Polen, Ungarn und der Slowakei
könnten damit bis 2015 auf 10 Mrd. m³ erhöht werden. Erhebliche freie
Gastransportkapazitäten bestehen in dem durch die Slowakei führenden
Pipelinesystem mit seiner Gesamtkapazität von über 100 Mrd. m³,
durch das 2013 nur 53 Mrd. m³ Erdgas Richtung Westen strömten.38 Ob
eine der vier Leitungen zum Gastransport in West-Ost-Richtung ohne
Zustimmung Gazproms benutzt werden kann, ist umstritten.39
37 Brief Präsident Vladimir Putins vom 10.04.2014 an 18 Regierungschefs der EU, <http://en.i-tar-tass.com/russia/727287>. Antworten des Kommissionspräsidenten José Barroso an Präsi-dent Putin vom 17.04.2014, <http://europa.eu/rapid/press-release_STATEMENT-14-132_en.htm> sowie vom 21.05.2014, <http://europa.eu/rapid/press-release_MEMO-14-370_en.htm?locale=en>. Katerina Malygina: The Struggle Over Ukraine's Gas Transit Pi-peline Network Through the Lenses of Securitisation Theory, in: Andreas Heinrich, HeikoPleines (Hg.): Export Pipelines from the CIS Region. Geopolitics, Securitization, andPolitical Decision-Making. Stuttgart 2014, S. 277-308, hier S. 295 ff.
38 IEA: European gas trade flows, <www.iea.org/gtf/index.asp>.39 Andrew Higgins: Kiev Struggles to Break Russia's Grip on Gas Flow, in: The New York
Times, 5.05.2014, <http://nytimes.newspaperdirect.com/epaper/viewer.aspx>. – Georg Zach-mann, Dmytro Naumenko: Evaluating the options to diversify gas supply in Ukraine. Berlin,Kyiv 2014 (Policy Paper Series 1/2014), S. 9, <www.beratergruppe-ukraine.de/index.php?con-tent=publications/policypapers>.
Die Erdgasförderung in den bestehenden Feldern der Ukraine wird bis
2025 auf zehn Mrd. m³ zurückgehen. Sehr fraglich ist, ob die Pläne der
Erdgasförderung aus dem Schwarzen Meer weiter verfolgt werden
können, weil die dafür vorgesehenen Lagerstätten nach der Annexion
der Krim von Russland beansprucht werden. Unter Einsatz von
erheblichen Investitionen könnte die Förderung unkonventionellen
Erdgases dann zehn Mrd. m³ erreichen und damit die Eigenförderung
insgesamt 20 Mrd. m³ betragen. Rund 20 Mrd. m³ Erdgas könnten
durch Umkehr der Fließrichtung aus westlichen Ländern bezogen
werden. Im günstigsten Fall könnte dann ab 2025 auf Erdgas aus
Russland verzichtet werden (Tabelle 5).
Tabelle 5: Erdgasbilanz der Ukraine (Mrd. m³): Szenario einer mittelfristigenEinstellung der Importe aus Russland
2013 2014 2015 2025
Verbrauch 50 45 45 40
Förderung konventionell onshore 20 20 20 10
Förderung nichtkonventionell onshore 0 0 0 10
Förderung offshore 0 0 0 0
Förderung insgesamt 20 20 20 20
Import 30 25 25 20
Import aus Polen, Ungarn, Slowakei 2 5 10 20
Import aus Russland 28 20 15 0
Quellen: Angaben des Energieexperten des Razumkov-Zentrums in Kiev VladimirOmel’čenko, zitiert von Ol’ga Samofalova: Ukrainskaja mečta, in: Vzgljad, 5.11.2013,<www.vz.ru/economy/2013/11/5/658187.html>. – Simon Pirani et al.: What theUkraine crisis means for gas markets. Oxford (UK) 2014, <www.oxfordenergy.org/author/simon-pirani/>. – Georg Zachmann, Dmytro Naumenko: Evaluating the optionsto diversify gas supply in Ukraine. Berlin, Kyiv 2014 (Policy Paper Series 1/2014),<www.beratergruppe-ukraine.de/index.php?content=publications/policypapers> undeigene Schätzungen und Berechnungen.
Warum die Gaskriegsdebatte, nicht aber die Abhängigkeit von
Russlands Erdgas gefährlich ist
Wenn in der zweiten Hälfte des 21. Jahrhunderts in Europa erneuerbare
Energien zur Hauptquelle der Energieerzeugung geworden sind, wird
mit Hilfe von Strom aus Wind- und Sonnenenergie aus Wasser und
Kohlendioxyd hergestelltes Methan („power to gas“) das Hauptmedium
für Speicherung und Transport von Energie sein und auch importiertes
Erdgas weitgehend ersetzt haben. Russlands Erdgas wird dann seine
bisherige Bedeutung für den europäischen Energiemarkt eingebüßt
haben. Deswegen rentieren sich die großen Investitionen in die
Erschließung der Erdgasfelder auf Jamal und den Bau der South Stream
Pipeline nur, wenn in den bis dahin verbleibenden Jahrzehnten der
Erdgasexport nach Westen so erfolgt, wie von Gazprom und Russlands
Regierung geplant.40 Russland hat daher großes Interesse, den
europäischen Erdgasmarkt nicht vorher zu verlieren und wird daher
keinen Gasboykott Europas riskieren und auch mit diesem Instrument
nicht drohen.
Umgekehrt stellt ein Gasembargo der EU gegenüber Russland wegen
der schwerwiegenden Rückwirkungen kein geeignetes
Sanktionsinstrument dar. Der Erdgastransport über Pipelines, aber auch
die Verschiffung von verflüssigtem Erdgas (LNG) setzt hohe
Investitionen voraus, die „irreversible Kosten“ (sunk costs) bedeuten.
Aus institutionenökonomischer Sicht sind beide Seiten durch ihre
Investitionen in die Gastransportinfrastruktur „eingesperrt“ (locked in).
In der Sprache der Theorie der internationalen Beziehungen liegt auf
dem Erdgasgebiet, wo die Schäden eines Gasboykotts für Russland und
40 Tatiana Mitrova: The Geopolitics of Russian Natural Gas. Cambridge M.A. 2014, S. 84 ff.,<http://belfercenter.ksg.harvard.edu/project/68/ geopolitics_of_energy_project.html>.
die EU gleichermaßen beträchtlich wären, gegenseitige
„Verwundbarkeit“ und symmetrische Interdependenz vor.41 Dieser
Umstand, und nicht die illusorische Möglichkeit des Verzichts auf
Erdgas aus Russland konstituiert Europas Energiesicherheit bei Erdgas.
Die in der EU genährte Angst vor einem Gaskrieg ist nicht nur
abwegig, sondern auch gefährlich. Sie vermittelt Russlands Staatsspitze
den Eindruck, die Europäer würden, weil sie Angst vor einem
„Abdrehen des Gashahns“ haben, vor ernsthaften
Wirtschaftssanktionen auch dann zurückschrecken, wenn etwa
russländische Truppen nach dem Modell der Krim in weitere Gebiete
der Ukraine oder andere Gebiete ihrer „näheren Nachbarschaft“
einmarschieren würden.
Die als Reaktion auf Russlands Machtpolitik konzipierte
Energieaußenpolitik der gegenwärtigen EU-Spitze beruht auf dem
schlichten Grundgedanken, die Energiebezüge aus Russland zu
verringern, wobei konkret Erdgas gemeint ist. Gas aus Russland soll
möglichst durch Gasimporte über den "Südlichen Gaskorridor" und aus
den USA ersetzt werden.42 Um die privaten Erdgasfirmen auf diese Idee
verpflichten zu können, sollen sie unter dem Dach einer
„Energieunion“ organisiert werden, in der die EU-Kommission die
Vertragsverhandlungen mit außereuropäischen Energielieferanten
kontrolliert. Im gleichen Sinne äußerte sich auch der polnischen
Ministerpräsidenten Donald Tusk.43 Diese Pläne verstoßen nicht nur
massiv gegen marktwirtschaftliche Grundsätze, sie gehen auch von
41 Götz, Mythen und Fakten, [Fn. 6], S. 439 f. 42 Europäischer Rat: Remarks by President Herman Van Rompuy following the European Coun-
cil. Brüssel, 21.3.2014, <www.european-council.europa.eu/the-president/press-releases?>.43 Donald Tusk: A united Europe can end Russia’s energy stranglehold. Financial Times,
21.4.2014.
falschen Annahmen über das Potential alternativer Gaslieferanten aus.
Statt sie weiter zu verfolgen, sollte der Westen vielmehr deutlich
machen, dass er bei gegebenem Anlass seine schärfste nichtmilitärische
Waffe, das Ölembargo, einsetzen wird. Es wird umso weniger
angewandt werden müssen, je glaubhafter die Bereitschaft zu seiner
Anwendung ist. Diese ist allerdings keineswegs selbstverständlich,
denn Wirtschaftssanktionen der EU, darunter Embargen, erfordern
einen einstimmigen Beschluss im Rat für auswärtige Angelegenheiten
der EU, der von den Außenministern der EU-Mitgliedsstaaten gebildet
wird. Durch die Bereitschaft zur Verhängung eines Ölembargos − und
nicht durch die Propagierung eines undurchführbaren und daher
unglaubhaften Verzichts auf Gas aus Russland − kann die EU ihre
Fähigkeit zu einer gemeinsamen Energieaußenpolitik unter Beweis
stellen.