Ennius in den Oden des Horaz. Dichterische Selbstbetrachtung im Spiegel der Ironie

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Ennius in den Oden des Horaz Dichterische Selbstdarstellung in c. 2,20 und c. 4,8 im Spiegel der Ironie Zulassungsarbeit Prof. Dr. Ulrike Auhagen Wintersemester 2012/13 vorgelegt von: Maximilian A. Loeper

Transcript of Ennius in den Oden des Horaz. Dichterische Selbstbetrachtung im Spiegel der Ironie

Ennius in den Oden des Horaz

Dichterische Selbstdarstellung in c. 2,20 und c. 4,8

im Spiegel der Ironie

Zulassungsarbeit

Prof. Dr. Ulrike Auhagen

Wintersemester 2012/13

vorgelegt von:

Maximilian A. Loeper

E-Mail: [email protected]

Studienfächer: Geschichte (HF) / Latein (HF) / Politik(NF) nach WPO 2001Fachsemester: 8 / 8 / 2Matrikelnummer: 2760845

Inhaltsverzeichnis

I. Einleitung................................................2

II. Voraussetzungen..........................................8

II. 1. ridentem dicere verum quid vetat? - Charakter und Gebrauch von

Ironie bei Horaz............................................8

II. 1. a) Definition und Ausdruck...................................8II. 1. b) Leitmotive und Charakter..................................9II. 1. c) Anwendung und Gebrauch................................10

II. 2. ingenio maximus arte rudis – Das Enniusbild bei Horaz

außerhalb der Oden.........................................14

II. 3. Dichterische Selbstdarstellung im Vergleich.........18

II. 3. a) Ennius...............................................18II. 3. b) Horaz...............................................20

II. 4. Intertextualität und ihre Bedeutung bei Horaz.......23

III. Einzelinterpretationen.................................26

III. 1. Daedaleo notior Icaro - Aemulatio als Hybris in c. 2,20...26

1

III. 1. a) Inhalt und vordergründige Intention........................26III. 1. b) Ursprung und Vorläufer des Verwandlungsmotivs..............26III. 1. c) Deutungskontroverse...................................27III. 1. d) Unsterblichkeitsgedanke und Lächerlichkeit...................29III. 1. e) Einzelinterpretation c. 2,20...............................30III. 1. f) Ergebnisse der Einzelinterpretation..........................37

III. 2. Die Ironie des Vergleichs – Gedächtniskultur in c.

4,8........................................................38

III. 2. a) Inhalt und vordergründige Intention........................38III. 2. b) Deutungskontroverse...................................39III. 2. c) c. 4,8 im Spiegel der Ironie...............................40III. 2. d) Einzelinterpretation c. 4,8................................41III. 2. e) Ergebnisse der Einzelinterpretation.........................54

IV. Schlussbetrachtung......................................56

V. Bibliographie............................................61

2

I. Einleitung

dicar, qua violens obstrepit Aufidus

et qua pauper aquae Daunus agrestium

regnavit populorum, ex humili potens

princeps Aeolium carmen ad Italos

deduxisse modos.

(Hor. c.

3,30,10-14)

Szenen der Selbstdarstellung in literarischen Texten sind in

der Regel kurze Abschnitte, in welchen der Autor seinen Lesern

ein bestimmtes Bild seiner Persönlichkeit vorstellt. Die

gegebene Information ist dabei Teil einer Charakterisierung,

welche sich wiederum in ein übergeordnetes Selbstkonzept fügt,

mit dem der Autor eine bestimmte Wahrnehmung seiner Person

durch das Publikum zu evozieren sucht. Dieser Vorgang war in

der römischen Antike umso bedeutender, da die Rezipienten in

Abwesenheit moderner Massenmedien allein auf die Angaben des

Schriftstellers angewiesen waren, wollten sie sich eine

Vorstellung von dessen Person machen.

Auf ähnliche Weise verfährt der augusteische Dichter Horaz

in seinen Oden (oder auch carmina), wie das vorangestellte Zitat

illustriert. Zwar rühmt er sich einerseits, als erster äolische

Lyrik nach sapphischem und alkäischem Vorbild in die

lateinische Dichtung eingeführt zu haben. Indem er aber seine

persönliche Errungenschaft lediglich in der Übertragung

griechischer Dichtkunst ins Lateinische sieht, stellt sich der

Dichter andererseits als sehr bescheiden dar. Es ist sicher,

3

dass Horaz nach 88 Gedichten im zitierten Epilog des Dritten

Odenbuches dennoch von Stolz auf die eigene Leistung erfüllt

ist. Gerade in diesem bedeutenden Moment entwirft er aber auch

ein ernstes und moderates Bild von sich, welches den Stolz

kontrolliert und klar von der Überheblichkeit abgrenzt.

Während es an dieser Stelle im feierlichen Epilog des dritten

Buches auf der Hand zu liegen scheint, wie Horaz von seinem

Publikum verstanden werden möchte, entfaltet sich um die

Deutung anderer Gedichte, die Szenen der Selbstdarstellung

beinhalten, aufgrund gewisser, als widersprüchlich empfundener

Elemente, eine wissenschaftliche Kontroverse1: Die Rede ist

hier vom Epilog des zweiten Buches (c. 2,20) und dem

Mittelstück des vierten und letzten Buches (c. 4,8).

c. 2,20 wurde vor allem aufgrund der drastisch dargestellten

Verwandlung des Dichters in einen Schwan, der sinnbildlichen

Identität des Dichters Pindar, und des anschließenden

Höhenfluges des nun geflügelten Dichters kritisiert. Die

Metamorphose, welche der Dichter am eigenen Leib vorführt,

erzeuge nach Meinung der meisten Kritiker ein Bild, das

entweder durch seine Plastizität lächerlich wirke, oder aber

aufgrund der metaphorischen Gleichsetzung mit Pindar eine

maßlose Art dichterischer Selbstdarstellung reflektiere. Beide

Deutungen führten die Mehrzahl der Wissenschaftler zu der

Auffassung, dass die Ode - wenn nicht sogar gänzlich

unhorazisch - als qualitativ minderwertig zu bewerten sei.

1 Um Wiederholungen zu vermeiden, sind an dieser Stelle nur diegrundsätzlichen Kritikpunkte genannt. Eine genaue Wiedergabe derForschungskontroverse zu dem jeweiligen Gedicht geschieht im Rahmen derfolgenden Einzelinterpretationen.

4

Auch die Ode 4,8 musste aufgrund ihres Mittelteils,

welcher der Interpolation verdächtigt wurde, der

Unanwendbarkeit der sogenannten, für alle anderen Oden gültigen

lex Meinekiana sowie historischen Ungenauigkeiten im Zusammenhang

mit Ennius und den von ihm beschriebenen Taten der Scipionen,

ähnliche Kritik entgegen nehmen. Zudem gerät die bei Horaz

sonst sehr intime Widmung der Gedichte im Laufe dieser Ode

völlig verloren, die letztlich in keinem Bezug mehr zu ihrem

eigentlichen Adressaten steht.

Obgleich eine einheitliche Interpretation der Gedichte

umstritten ist, kann es als sicher betrachtet werden, dass

Horaz in beiden Werken intertextuelle Verbindungen zu einem

dichterischen Vorgänger, dem vorklassischen Poeten Ennius,

konstruiert hat2. So ist es in der wissenschaftlichen

Auseinandersetzung allgemein anerkannt, dass Horaz in c. 2,20

sowohl mit der Thematik als auch der Metaphorik des Gedichtes

auf das berühmte Grabepigramm des Ennius anspielt3. Auch lassen

sich inhaltliche Parallelen zum heute nur noch fragmentarisch

erhaltenen Annalenproömiums des Vorklassikers aufzeigen. In c.

4,8 findet sich in dem umstrittenen Mittelteil sogar ein

direkter Verweis auf die Dichtung des Ennius (v. 20 Calabrae

Pierides).

In Anbetracht der Aporie konventioneller Deutungsansätze im

Kontext der angesprochenen Gedichte auf der einen und den

nachweislichen literarischen Bezügen zu Ennius auf der anderen

Seite, scheint es zur Lösung des Interpretationsdilemmas2 Während an dieser Stelle nur erste Verweise gegeben werden, um in dieProblematik einzuführen, folgt eine eingehende Untersuchung derintertextuellen Bezüge im Hauptteil der Arbeit.3 Enn. frg. var. 17 (V).

5

sinnvoll, eine wichtige Dimension der horazischen Dichtung

einzubeziehen: Die Ironie. Dabei gilt es zunächst, sich einer,

nach Meinung des Verfassers, erkenntnishemmenden

interpretatorischen Auffassung entgegenstellen, wie sie unter

anderem der mit der Ehrendoktorwürde der Universität Oxford

ausgezeichnete Altphilologe Felix Jacoby ausgedrückt hat:

„Den Humor, meine Herren, verbannen Sie bitte ad inferos; ob Horaz Humor

gehabt hat, weiß ich nicht - das Eine nur weiß ich, dass Horaz die

humoristischen Erklärungen seiner Gedichte mit Backpfeifen beantwortet

hätte!“ 4

Nun ist die „überragende Rolle“ von Ironie in der

Sermonendichtung (Satiren, Episteln) des Horaz schon länger

erforscht und anerkannt5. Auch innerhalb der Oden sind

humoristische und ironische Tendenzen nachweisbar, wie die

Arbeiten von Antony und Connor darlegen6. Humor, dessen

modifizierter Standpunkt die Ironie ist, bei der Interpretation

von horazischen Texten einfach so zu ignorieren, erscheint also

äußerst fahrlässig. Wie schon seine Sermonendichtung

eindrücklich belegt, besaß der Dichter einen sehr feinfühligen

Sinn für das Komische. Die Komik findet, wie der Tübinger

Altphilologe Ernst Zinn eingeworfen hat, bei Horaz im Ernst

nicht ihr Gegenteil, sondern ihre Verklärung7. So schließen

sich die verschiedenen Stimmungslagen, die heute in der Regel

4 Zitiert nach: Zinn 1960, 49.5 Sack 1965, 165.6 Antony 1976, Connor 1987.7 Zinn 1960, 49.

6

als konträr empfunden werden, in seinen Werken nicht

gegenseitig aus.

Demnach sollte sich die Horazinterpretation nicht von der

scheinbaren Ausweglosigkeit konventioneller Deutungsmuster

beschränken lassen oder sich gar gezwungen sehen, horazische

Verse aufgrund gewisser Unstimmigkeiten, seien diese

sentimentaler Art oder nicht, aus dem Werk zu verbannen8.

Stattdessen erscheint es sinnvoller, die Fähigkeit zu Witz und

Ironie, die Horaz schon in anderen Teilbereichen seines Werkes

so deutlich bewiesen hat, nicht an die Grenzen des

literarischen Genres der jeweiligen Texte zu binden, sondern

sie vielmehr über ihren Verfasser zu definieren und sich bei

der Analyse der diskutierten Oden einer ironischen Lesart nicht

zu verschließen.

Ausgehend von dieser Prämisse und der oben erläuterten

Intertextualität lässt sich die These formulieren, dass die

Gedichte nicht, wie es auf unbefriedigende Weise versucht

worden ist, als Selbstdarstellung des Horaz, sondern vielmehr

als ironische Darstellung des Ennius durch Horaz zu

interpretieren sind.

Für eine solche Annahme spricht neben den bestehenden

Widersprüchlichkeiten und Bezügen zu Ennius in den Gedichten

sowie der Wahrnehmung des Horaz als Autor, welchem das

Stilmittel der Ironie durchaus vertraut ist, noch ein weiterer

Beweggrund. Dieser scheint in der Art und Weise zu liegen, in

welcher sich beide Dichter selbst darzustellen pflegten. Dabei8 So schlägt es beispielsweise Fuchs für c. 2,20 vor, Fuchs 1962, 152ff.Kiessling hält die diskutierten Verse in c. 4,8 für eine Interpolationeines „Ignoranten etwa des vierten Jahrhunderts“, Kiessling / Heinze 1955,432.

7

weicht das Bild, mit dem Horaz offenbar wahrgenommen werden

wollte, stark von dem seines vorklassischen Kollegen ab.

Während Horaz in seinen Werken vor allem eine (selbst-)

mäßigende Haltung propagierte, scheint der poetische Anspruch

des Ennius, welcher sich selbst auch als alter Homerus

apostrophierte, alles andere als bescheiden gewesen zu sein.

Diese Diskrepanz der dichterischen Selbstdarstellung böte

Horaz, der den Selbstvergleich (aemulatio) mit großen Vorbildern

als reine Überheblichkeit bewertete, eine ausreichende

Motivation, Ennius auf ironische Weise für dessen überzogenes

Selbstkonzept zu kritisieren.

Sofern sich die Ergebnisse einer solchen Interpretation

mit hinreichenden Argumenten stützen lassen, könnten sie als

Beitrag zu einem besseren Verständnis der problematisierten

Oden behilflich sein und gleichzeitig einen neue Aspekte im

Verhältnis des Horaz zu Ennius beleuchten. Dass diese

Interpretation den Texten nicht nur oktroyiert, sondern auch

anhand begründeter Argumente vertreten werden kann, gilt es im

Rahmen dieser Arbeit zu prüfen.

Dazu ist es notwendig, einige Grundvoraussetzungen zu klären,

auf welche dann in der Auswertung der diskutierten Gedichte

zurückgegriffen wird: Zunächst erscheint es im Sinne der

Fragestellung sinnvoll, den Charakter und die Verwendung von

Humor und Ironie bei Horaz im Allgemeinen – also auch außerhalb

der Oden – zu beleuchten. Dabei ist es besonders wichtig, den

Zweck und das Ziel der angewendeten Ironie herauszustellen.

Des Weiteren ist es nötig, die Meinung zu herauszustellen,

welche Horaz über seinen Vorgänger Ennius und dessen Dichtung

8

vertrat. Als einzige Quelle können dafür solche Stellen aus dem

horazischen Werk dienen, in welchen sich der Dichter auf

direkte oder indirekte Weise zu Ennius und oder dessen Dichtung

äußert. Diese gilt es also zu sichten und zu analysieren, um

schließlich den Versuch zu unternehmen, ein Gesamtbild der von

Horaz vertretenen Meinung zu rekonstruieren.

Da es sich bei den Einzelinterpretationen der

thematisierten Oden um problematische Szenen der

Selbstdarstellung handelt, ist es ebenso bedeutend, weitere

horazische Passagen, denen eine ähnliche Motivation zu Grunde

liegt, zu untersuchen. Gleichsam wird sich die Arbeit auch

Schlüsselszenen aus dem ennianischen Oeuvre widmen, um einen

wirksamen Vergleich der Selbstdarstellung beider Dichter zu

ermöglichen. Dabei wird der Fokus vor allem auf der Suche nach

Unterschieden in der Art der Selbstdarstellung beider Dichter

liegen. Gelingt es, hier eine deutliche Diskrepanz

herauszuarbeiten, kann diese als Motivation für eine mögliche

Karikierung des Ennius in den daraufhin zu besprechenden Oden

bewertet werden.

Als letzte Voraussetzung wird die Arbeit einen kurzen

Überblick über die Theorie leisten, welche in der heutigen

Sprachwissenschaft die Beziehung von Texten zueinander

untersucht und definiert. Hierbei ist es wichtig, auf die Frage

einzugehen, welche Voraussetzungen für eine tatsächliche

Intertextualität erfüllt werden müssen und welche Bedeutung ihr

bei Horaz zukommt.

Im Hauptteil wendet sich die Untersuchung der

Einzelinterpretation der Oden c. 2,20 und c. 4,8 zu. Unter

Einbeziehung der erarbeiteten Voraussetzungen wird versucht,

9

nach einer zusammenfassenden Darstellung des Inhalts sowie der

jeweiligen Forschungskontroverse, die Gültigkeit einer

ironischen Interpretation anhand der Fragestellung zu

überprüfen. Aufgrund der Menge an bereits vorhandenen

Interpretationen zu den Gedichten, wird der Schwerpunkt dieser

Arbeit darauf liegen, die widersprüchlichen und ironischen

Tendenzen jeweils herauszustellen und zu erklären. Auf andere

Aspekte, die im Rahmen dieser Untersuchung außer Acht gelassen

werden, verweist der Autor am Rande.

Abschließend werden die Ergebnisse der Untersuchung in

einem Fazit zusammengefasst und besprochen.

Neben der Legitimität einer ironischen Interpretation der

Gedichte geht diese Arbeit noch von einer weiteren Prämisse

aus: Da Horaz jede der behandelten Oden einem römischen

Zeitgenossen, höchstwahrscheinlich sogar einem ihm persönlich

eng vertrauten Individuum, mittels direkter Anrede widmet, ist

davon auszugehen, dass das lyrische Subjekt dieser Gedichte mit

dem Dichter selbst gleichgesetzt ist. Auch in Anbetracht des

intimen Vortrags innerhalb eines befreundeten Lesezirkels würde

die Extraktion der Person Horaz aus seinen Gedichten

befremdlich wirken. Freilich muss an den Umstand erinnert

werden, dass sich das in seinem Werk dargestellte Bild dieser

Person aus einer in höchstem Maße durchdachten und komplexen

Konstruktion ergibt. Der Rückschluss auf das tatsächliche Wesen

und den Charakter des Dichters würde daher, sowie aufgrund der

fragmentarischen Überlieferung von gesicherten Informationen,

zu autobiographistischen Deutungsansätzen einladen, denen schon

die antiken Interpretatoren oft verfielen. Denn auch wenn der

10

Poet sich mit der von ihm kreierten Figur durchaus

identifiziert haben mag und möglicherweise auch wollte, dass

dies von seinem Publikum so verstanden würde, so bleibt doch

immer noch das Problem der möglichen – und oftmals wohl auch

wahrscheinlichen – Diskrepanz zwischen Dichter und Figur

bestehen.

Ohne genaue Kenntnis der Persönlichkeit und der Biographie

des Horaz ist eine Überprüfung dieser Abweichung unmöglich. Der

moderne Wissenschaftler kann somit auf diese Weise keine

sicheren Informationen über die tatsächliche Person des

Dichters gewinnen. Was sich hingegen aus den Versen vermuten

lässt, ist die Art und Weise, in der Horaz auftrat, in welcher

er gerne von der breiten Öffentlichkeit wahrgenommen und in

welcher Beziehung zu Anderen er verstanden werden wollte. Und

eben das ist bei der Untersuchung des Verhältnisses zu Ennius

die vielleicht viel interessantere Erkenntnis.

Alle in dieser Arbeit verwendeten Zitate und Stellenangaben aus

dem horazischen Werk folgen der kritischen Edition von

Shackleton Bailey9. Für Textstellen aus den Annalen des Ennius

wird die Ausgabe von Skutsch verwendet10. Die übrigen

Enniusstellen werden nach der immer noch relevanten Edition von

Vahlen wiedergegeben11.

9 Q. Horatius Flaccus: Opera, edit. D. R. Shackleton Bailey, Berlin / NewYork 20084.10 The Annals of Quintus Ennius, edit. O. Skutsch, Oxford 1985.11 Ennianae poesis reliquiae, edit. J. Vahlen, Leipzig 1903.

11

II. Voraussetzungen

II. 1. ridentem dicere verum quid vetat? - Charakter und Gebrauch von

Ironie bei Horaz

II. 1. a) Definition und Ausdruck

Wenn wir davon ausgehen wollen, dass Horaz das Verhältnis,

welches er zu seinem Vorgänger Ennius besaß, in ironischen

Zügen darstellte, dann ist es unentbehrlich, zunächst den

Versuch einer Definition von Ironie zu unternehmen. Daraus

ergibt sich die Möglichkeit, das Ironieverständnis des Horaz

genauer zu bestimmen und dessen allgemeinen Umgang mit diesem

Stilmittel zu erläutern.

12

Dabei stellt sich zunächst das Problem, dass für eine

grundsätzliche Unterscheidung zwischen Ernst und Komik in

literarischen Texten keine objektiven Kriterien existieren. Die

äußerliche Ausdrucksform beider Lesarten kann oft die gleiche

sein. Das fällt beispielsweise, wie Heinz Antony in seiner

Untersuchung des Humors in der augusteischen Dichtung

konstatiert, bei der Beobachtung auf, dass auf den ersten Blick

schwere und leidvolle Texte (z. B. Elegie) auch genauso gut mit

einem leisen Anflug von Ironie gelesen werden können12. Die

Form einer komischen Aussage, als welche die Ironie ja nun zu

verstehen ist, sei letztlich das Ergebnis der Spannung zwischen

dem dichtenden Subjekt auf der einen, und dem Objekt dieser

Dichtung auf der anderen Seite13.

Auch der Begriff „Ironie“ bringt gewisse Schwierigkeiten

mit sich, da er keine eindeutige etymologische Herleitung

zulässt. Das Wort geht über das lateinische ironia zurück auf

das Substantiv είρων mit der Bedeutung „Sager“ (derjenige, der

etwas nur meint, ohne es zu sagen) oder „Frager“. Die Ableitung

des Substantivs είρων ist aber umstritten und man geht in der

Regel von einem unbekannten Grundwort aus14. Deswegen ist die

Suche nach Belegstellen des Wortes notwendig, um die

Bedeutungsentwicklung des Begriffes in der Antike

herauszustellen. Daraus ergibt sich, dass Ironie in ihrer

ursprünglichen Bedeutung als Spott verstanden wurde, bei dem

die Rede selbst nicht mit dem Sinn der Rede übereinstimmt, also

das Gesagte nicht mit dem Gemeinten15.

12 Antony 1976, 1.13 ders., 5.14 Frisk, H.: Griechisches etymologisches Wörterbuch, Heidelberg 1960.15 Vgl. Sack 1965, 10; Für eine genaue Untersuchung der Belegstellen zuείρων siehe: ders., 8ff.

13

Um den Gebrauch von Ironie schließlich zu signalisieren,

verfügt die direkt vorgeführte Rede über die Mittel der

sogenannten actio, wie beispielsweise der Veränderung der

Tonlage oder –höhe oder der Auffälligen Gestaltung von Mimik

und Gestik des Sprechers. Bei literarischen Texten hingegen ist

zum Erkennen der Ironie eine Form sprachlicher Unstimmigkeit

als Ironiesignal notwendig16. Dabei lässt sich die Ironie nach

Jean Paul durch den „Ernst des Scheines“ noch weiter steigern.

Der Widerspruch, der durch die Präsentation von Ironie in

ernster Art und Weise entsteht wird, erzeugt und oder verstärkt

wiederum das komische Moment17. Der Würzburger Altphilologe

Volker Sack bemerkte in seiner Dissertation weitergehend, dass

der Ironiker, welcher im Gegensatz zum Nichtironiker

feinfühliger und hellhöriger sei, daher auch selbst auf

bewusste Weise im Widerspruch zu seiner Zeit lebe, in sich

schwankend zwischen echter Empfindung und kritischem

Verstand18. Somit kann Ironie in einem literarischen Kunstwerk

auch als Ausdruck einer ironischen geistigen Einstellung

aufgefasst werden. Eine weitere Grundvoraussetzung für das

Verständnis von Ironie in der augusteischen Epoche ist

sicherlich auch die Einbezugnahme des eher nüchternen

Lebensgefühls dieser Zeit sowie die Akzeptanz der Realität des

Todes als letzter Konsequenz19.

Bei der Differenzierung zwischen Ironie und Humor in

literarischen Texten gestaltet sich letzterer als Modifizierung

des ironischen Standpunktes und umgekehrt. Humor impliziere, so

16 Paul, J.: Vorschule der Ästhetik, hrsg. v. Miller, N., Bd. 5, München1963.17 Ders., § 38.18 Vgl. Sack 1965, 14.19 Antony 1976, 7.

14

Sack, eine freie, reine, wohl kritisierende aber gleichsam

liebevolle und heitere Betrachtung der endlichen Schwächen. Im

Gegensatz zur Ironie sei er von milder, gelassener,

versöhnlicher und oder sentimentaler Art20.

II. 1. b) Leitmotive und Charakter

Das angesprochene, nüchterne Lebensgefühl und die feinfühlige

Wahrnehmung zeigen sich auch in der Dichtung des Horaz. Und

wenn wir Ironie, wie oben erwähnt, als eine Ausdrucksform der

persönlichen Gesinnung des Dichters verstehen, dann scheint es

wichtig, entscheidende Faktoren dieser Geisteshaltung, die für

die horazische Komik mitbestimmend sind, in Grundzügen

herauszustellen: Der Poet konstruiert von sich ein beherrschtes

Bild, in dem er stets Kontrolle und Skepsis gegenüber den

Dingen behält. Horaz erscheint nicht „leidenschaftslos, aber

als Herr seiner Leidenschaft“21. Dabei folgt die dem

horazischen Oeuvre zugrunde liegende Philosophie dem

Eklektizismus ihres Verfassers. Horaz bekennt sich weder

eindeutig zur philosophischen Schule der Stoa, noch zum

Epikureismus22. Besonders bestimmend für sein Werk sind Staat

und Politik. Vom Republikaner wandelt er sich zum Freund und

Befürworter der augusteischen Reformpolitik. Dennoch bleibt

sein Verhältnis zur Gesellschaft vor allem von moralischen

Erwägungen geprägt. Das otium ernennt Horaz als Lebensziel,

wozu er sich dementsprechend stabile politische Verhältnisse

20 Sack 1965, 25.21 Schanz-Hosius, II, 146.22 Gewisse Präferenzen für die Philosophie Epikurs könnten durch dieAdressaten (Maecenas) und das Kernpublikum, welche als dem Epikureismusverbunden galten, bedingt sein, vgl. Antony 1976, 14.

15

wünscht. Im Gegenzug kann seine Dichtung, wie es der

Heidelberger Altphilologe Viktor Pöschl vorgeschlagen hat,

teilweise als Konzession an die Forderungen des Regimes

gedeutet werden, von dem sich Horaz diese Stabilität erhofft23.

Als Leitmotive der horazischen Geisteshaltung, auf welche

wir nur durch sein Werk schließen können, sind daher vor allem

Skepsis, Distanziertheit und Autarkie festzuhalten24. Auch kann

in seiner Dichtung oftmals das Gefühl des Schwankens zwischen

sittlichem Ernst25 und dem – teils sogar derben - Ausdruck

reiner Lebensfreude26 ausgemacht werden. Es scheint, als

bestimmten dieses Schwanken und die daraus resultierende

Ausweglosigkeit stets die Erscheinungsformen des Komischen bei

Horaz27. Dabei gibt sich der Poet selbst, welchen der ehemalige

Rektor der Universität Heidelberg und Mitherausgeber des

Gnomons, Karl Meister, als „einzigen Humoristen unter den

Römern“ apostrophiert hat, unvollkommen und als ein mit

Widersprüchen behafteter Mensch, der aber dennoch über sich

selbst zu lachen vermag28.

II. 1. c) Anwendung und Gebrauch

Kommen wir von den allgemeinen Gesichtszügen der horazischen

Ironie auf ihre tatsächliche Verwendung, so ist zu allererst

ihre überragende Rolle für die Sermonendichtung des Horaz23 Vgl. Pöschl, V.: Horaz und die Politik, Heidelberg 1963, 154.24 Vgl. Antony 1976, 17.25 epist. 1,2,40: sapere aude; epist. 1,1,52: vilius argentum est auro, virtutibus aurum.26 So z. B. in c. 2,11,21ff.: quis devium scortum eliciet domo Lyden? eburna dic age cumlyra maturet, in comptum Lacaenae more comam religata nodum.27 Beispielhaft in c. 4,12,27f.: misce stultitiam consiliis brevem: dulce est desipere inloco.28 Meister, K.: Die Tugenden der Römer, in: Oppermann, H. (Hrsg.): Wege derForschung, Bd. 34, Darmstadt 1967, 18f.

16

(Satiren und Episteln) anzumerken29. Die ständige Möglichkeit einer

ironischen Interpretation ist hier oft sogar Voraussetzung für

das Verständnis der Texte. Selbst in auf den ersten Blick

ernsthaften Passagen lässt der Dichter immer wieder Anzeichen

von Ironie anklingen und erzeugt auf diese Weise eine

spielerisch-unverbindliche Atmosphäre30. In den Episteln ist das

Stilmittel der Ironie noch vielseitiger vertreten als in den

Satiren. Auch erscheint die Ironie hier reifer und profunder,

was V. Sack zum einen auf die Gattung, zum anderen auf das

fortgeschrittene Alter des Horaz zurückführt31.

Als Funktionen von Ironie können nach Sack für die

Sermonendichtung, folgende Aspekte festgehalten werden:

Mittel der Diskussion (zur Ablehnung fremder, bzw.

Bekräftigung eigener Standpunkte; zur persönlichen

Aufforderung, Mahnung und Zurechtweisung).

Mittel der Selbstaussage (alle Arten der Selbstironie,

soweit sie primär die Selbstdarstellung des Dichters

bezwecken).

Mittel der dichterischen Gestalt (zur Auflockerung und

Ausgestaltung einer Aussage; als Legitimation des

Gedichts, wenn die Ironie das Wesen desselben ausmacht und

so Dichtung und Ironie eins sind) 32.

Der Fragestellung dieser Arbeit folgend, ist es interessant zu

beobachten, dass Horaz sowohl bereits in seiner frühen

Satirendichtung als auch in den, auf die ersten drei Odenbücher29 Vgl. Sack 1965, 165.30 Vgl. Sack 1965, 165.31 ders., 168.32 ders., 165ff.

17

folgenden Episteln Ironie in Szenen der Selbstdarstellung

anwendet. So dient die Ironie zum Beispiel in sat. 1,6 zur

Veranschaulichung seiner inneren Freiheit und Unabhängigkeit.

In sat. 1,9 nutzt Horaz das Stilmittel zur indirekten Andeutung

und gleichzeitigen Verhüllung seiner tatsächlichen Meinung im

Gespräch mit einem aufdringlichen Schwätzer. Als dieser sich

trotz seiner offensichtlich mangelhaften, beziehungsweise

völlig fehlgerichteten Qualitäten nicht davon abbringen lässt,

in den Dichterkreis des Maecenas gelangen zu wollen, gibt Horaz

die abweisenden Versuche auf und wehrt sich stattdessen durch

den Gebrauch von Ironie, indem er dem Schwätzer Mut zuspricht:

> velis tantummodo : quae tua virtus, (54)

expugnabis ; et est qui vinci possit, eoque

55

difficilis aditus primos habet. < > haud mihi dero :

muneribus servos corrumpam ; non hodie si

exclusus fuero, desistam ; tempora quaeram

occuram in triviis, deducam. nil sine magno

vita labore dedit mortalibus. < 60

Dass der Aufdringliche die horazische Ironie nicht erkennt,

sondern vielmehr mit ernsthafter Selbstsicherheit formuliert,

er werde Maecenas mit Hilfe seiner, offensichtlich unzumutbaren

Art für sich gewinnen, steigert die Komik noch weiter33.

Allerdings tritt Horaz für einen konstruktiven Humor ein34. Der

Witz dürfe nicht zur bloßen Posse verkommen und sollte demnach

33 Für eine ausführliche Untersuchung der genannten Stellen vgl. Sack 1965,63-68 bzw. 75-81.34 Vgl. Antony 1976, 20.

18

eine aufrechte Gesinnung zum Ausdruck bringen, wie aus dem, in

der Kapitelüberschrift zitierten Ausschnitt der ersten Satire

deutlich wird (ridentem dicere verum quid vetat?, sat. 1,1,23ff.).

Gleichzeitig dient Horaz, wenn er die Wahrheit (verum) sagt,

das Lachen (ridere) als eine Art verschleierndes Zwischenmedium.

Indem er etwas Wahres auf heitere Weise vorträgt, umgeht der

Autor die unmittelbare Konfrontation mit seinem Adressaten.

Dies führt auch dazu, dass, wie G. A. Seeck einwirft, die

Ironie die Aggressivität der horazischen Satire überdeckt und

dadurch als mildernder Faktor wirkt35.

In den Epoden, welche Horaz nach den Satiren

veröffentlichte, findet sich Ironie häufig gepaart mit einer

äußerst schmählichen, derben Komik. So beispielsweise in epod.

8,11ff., welche E. Zinn als eines der schlimmsten

Schmähgedichte antiker Dichtung bezeichnet36:

esto beata, funus atque imagines

(11)

ducant triumphales tuum

nec sit marita quae rotundioribus

onusta bacis ambulet.

quid, quod libelli Stoici inter Sericos 15

iacere pulvillos amant :

inlitterati num minus nervi rigent

minusve languet fascinum?

Aus der Kombination einer fast schon aggressiv anmutenden

Unmittelbarkeit mit der präzisen Beobachtung der alltäglichen35 Vgl. Seeck 1991, 535f.36 Zinn 1960, 50.

19

Widersprüchlichkeiten einer prätentiösen, augusteischen

Gesellschaft generiert Horaz eine beißende Ironie37.

In den Oden schließlich scheint sich eine Milderung des

Temperaments in Scherz und Humor des Autors vollzogen zu haben.

In Horazens lyrischer Dichtung kommt es zur Berührung und

gegenseitigen Durchdringung, ja sogar zur zeitweiligen Einheit

der Sphären von Ernsthaftigkeit und Heiterkeit38. Als für diese

Verbindung paradigmatisch erscheint besonders folgende Stelle

in c. 2,16:

laetus in praesens animus quod ultra est

25

oderit curare et amara lento

temperet risu : nihil est ab omni

parte beatum.

Als Leitmotiv des Lustigen scheinen Horaz nun pragmatischere,

lebensphilosophische Gründe vorzuliegen. Das Heitere (risus)

soll die Bitterkeit des Lebens ertragbar machen und sich mit

dem Schicksal, ungerührt (lentus) vom Zustand der persönlichen

Existenz, abfinden helfen39.

Als weitere Ausdrucksform der Ironie in den Oden stellt

sich bei Horaz die sogenannte recusatio dar. Das ablehnende

Gedicht widerspricht schon wegen seiner Existenz seinem Inhalt,

in dem der Dichter die Verfassung solcher Poesie zurückweist,

da er sich dafür nicht (mehr) imstande fühlt. Der durchaus37 Ein noch derberer Gebrauch von Ironie findet sich in epod. 12.38 Vgl. Zinn 1960, 51.39 lentus charakterisiert in der Regel eine Person, die von etwas ihrWidrigem ungerührt bleibt, vgl. Zinn 1960, 52; siehe auch Ovid am. 3,6,60.

20

provozierte Widerspruch erzeugt oft ein ironisches Moment, wie

es Horaz beispielsweise in c. 4,2 vorführt: Nachdem er

gravitätischem Ton verkündet, Iullus Antonius solle aufgrund

seiner höheren, dichterischen Qualifikation (v. 33 maiore poeta

plectro) die Lobeshymne auf Augustus schreiben, fährt Horaz

genau damit fort. Tatsächlich kommt Horaz seiner Empfehlung an

Antonius schon zuvor, indem er den augusteischen Sieg über die

Sygamber (v. 33-36) sowie die deswegen veranlassten

Feierlichkeiten (v. 41-44) selbst beschreibt. Die Ironie wirkt

umso stärker, als der Horaz anschließend das kleine, von ihm

geopferte Kalb mit der von seinem Dichterkollegen

durchgeführten Hekatombe vergleicht (v. 53-56). Auch deutet

diese Ironie, wie C. Martindale kommentiert, in Verbindung mit

der, hinsichtlich Komplexität und Umfang, pindarischen

Verkleidung des Gedichts, eigentlich das Gegenteil seiner

Eigenschaften an: Nämlich die horazische Vorliebe für

Simplizität40.

Horaz verwendet also in seinen unterschiedlichen Werken

unterschiedliche Arten und Leitmotive von Witz und Ironie.

Natürlich an die Bedingungen und Konventionen der jeweiligen

Gattung geknüpft, treten in seinen Texten sowohl

zurechtweisende und kritische, als auch derbe und schmähende,

sowohl gutmütige und selbstironische wie auch

lebensphilosophische Tendenzen in der Erscheinungsform des

Komischen auf. Es ist dabei m. E. nicht auszuschließen, dass

Horaz auch in den Oden Ironie als Mittel zur - wenn auch

spielerischen oder augenzwinkernden - Kritik einsetzt. Dies

40 Vgl. Martindale 1993, 14f. Weitere Beispiele für die ironische Anwendungder recusatio in den Oden sieht Martindale in c. 1,6 und c. 4,1; siehe ebd.

21

gilt es, in den folgenden Einzelinterpretationen zu c. 2,20 und

c. 4,8 begründet herauszustellen.

II. 2. ingenio maximus arte rudis – Das Enniusbild bei Horaz

außerhalb der Oden

Im Sinne der Fragestellung erscheint es grundlegend, die

Meinung herauszustellen, welche Horaz über seinen Vorgänger

Ennius vertrat. Dazu werden zuerst solche Horaz-Stellen in den

Blick genommen, aus denen sich eine negative Beurteilung

erkennen lässt. Anschließend werden Textpassagen mit positiver

Aussage untersucht. Dabei gilt es stets zu prüfen, was genau

Horaz an der Dichtung des Ennius lobt, beziehungsweise tadelt

und in welchem Kontext die jeweiligen Textstellen stehen.

Deutliche, direkte Kritik an der künstlerischen Fähigkeit

des Ennius äußert Horaz in seiner ars poetica (259ff.):

nobilibus trimetris apparet rarus et Enni

(259)

in scaenam missos cum magno pondere versus 260

aut operae celeris nimium curaque carentis

aut ignoratae premit artis crimine turpi.

Während er über Struktur und Vorteile der Dichtung in

iambischem Versmaß reflektiert, bemängelt Horaz, dass dieses in

der schwerfälligen trimetrischen Dichtung (v. 260 cum magno

22

pondere versus) des Ennius nur selten zu finden sei. Als Gründe

dafür sieht er entweder eine überhastete Arbeitsweise oder

künstlerische Unkenntnis (v. 262 ignoratae … artis). Ähnliche

Kritik zeigt sich auch in serm. 1,10,54f. Hier legt Horaz die

Kritik an der ennianischen Verskunst Lucilius in den Mund, der

diese Verse wohl belächeln würde41. Besonders interessant für

die Beurteilung des Ennius erscheint epist. 2,1,50ff.:

Ennius, et sapiens et fortis et alter Homerus, 50

ut critici dicunt, +leviter+ curare videtur

quo promissa cadant et somnia Pythagorea.

Die auf den ersten Blick als überschwängliches Lob erscheinende

Passage erweist sich bei genauerem Hinsehen als eine deutliche

Distanzierung von Ennius42. Durch die Feststellung, die

wiedergegebenen Apostrophierungen des Ennius (sapiens et fortis et

alter Homerus, v.50) seien Meinung gewisser critici43, impliziert

Horaz, dass sich sein persönlicher Standpunkt davon abhebe.

Dazu kommt, dass Horaz sich gerade in diesem Teil der Epistel

gegen die herrschende Vorliebe des Volkes und eben jener

Kritiker wendet, nur die alten Dichter zu würdigen, während die

Zeitgenössischen abgewertet würden44. So halte die Dichtung des

Ennius, trotz der ihm zugestandenen Auszeichnungen, einer

professionellen und zeitgemäßen Kritik – eben der des Horaz –

nicht stand.41 Näheres siehe Prinzen 1998, 108f.42 Vgl. Prinzen 1998, 25243 ut critici dicunt, zur näheren Bestimmung der critici siehe Brink 1982, 97, Anm.51. Brink schlägt den Kreis der Grammatiker um Varro zur Identifikation dercritici vor, so auch schon Suerbaum 1968, 99, Anm. 315.44 Vgl. Suerbaum 1968, 99.

23

Auch lässt sich aus den Versen eine gewisse Beanstandung

der Selbstdarstellung des Ennius deuten. Obgleich der

anscheinend großen, seinen Nachruhm betreffenden

Selbstgewissheit des Ennius (leviter curare videtur, v.51)45, lässt es

Horaz eben offen, ob dieser seinem somnium Pythagoreum46 gerecht

wird.

Neben der Tadelung findet sich im Werk des Horaz jedoch

auch eine gewisse Anerkennung des Ennius. So würdigt Horaz in

ars 55ff. die geistige Begabung des Ennius, indem er dessen

sprachschöpferische Kraft hervorhebt47.

Eine weitere, deutliche Auszeichnung des Ennius ist in serm.

1,4,42ff. zu lesen. An dieser Stelle zitiert Horaz Verse aus

den annales, um ein Beispiel für vorbildliche Dichtung zu

geben48. Selbst bei der Auflösung des Metrums durch Umstellung

der Wörter bliebe die Begabung des wahren Poeten noch zu

erkennen (disiecti membra poetae, v.62). Horaz geht sogar noch

weiter, indem er – zumindest für seine Satirendichtung - auf

die Auszeichnung des poeta verzichtet. Diese stehe allein

demjenigen zu, der seiner gottbegnadeten Begabung (ingenium)

auch durch angemessene Sprache (verba) und Inhalt (res) Ausdruck

verleihen könne49. Ein solcher Dichter sei weder in der Gattung

der Komödie noch der Satire zu finden. Stattdessen werden die

45 Zur Deutungskontroverse dieser Stelle siehe Prinzen 1998, 253f.46 Gemeint ist die bereits erwähnte Traumszene Proömium der annales desEnnius, in welcher die Metempsychose der Seele Homers in die des Enniusdargestellt wird.47 ars 55ff.: Ego cur, adquirere pauca, si possum, inuideor, cum lingua Catonis et Enni sermonempatrium ditauerit et noua rerum nomina protulerit?48 Hor. serm. 1,4,60f. = Enn. ann. 225 (Sk): postquam discordia taetra belli ferratospostes portasque refregit.49 putes hunc esse poetam. ingenium cui sit, cui mens divinior atque os magna sonaturum (serm.1,4,42ff.) und weiter: acer spiritus ac vis […] verbis […] rebus inest (v. 46f.).

24

Enniusverse als paradigmatisch für das Werk eines wahren poeta

angeführt. Selbst wenn es an dieser Stelle, wie der klassische

Philologe Herbert Prinzen in seiner Untersuchung der antiken

Enniusrezeption bemerkt, primär darum gehe, den hohen Stil des

Epos im Kontrast zum niedrigen Stil von Komödie und Satire zu

charakterisieren, die Dichtungsgattung also Vorrang vor einem

bestimmten Dichter habe50, so muss doch auch Werner Suerbaum

recht gegeben werden, der in der Zitation eine „unleugbare

Auszeichnung für Ennius“ sieht, wenn Horaz gerade aus den

Annalen ein Beispiel für ein wahres poema zitieren würde51.

Ein weiteres wichtiges Zeugnis für die Beurteilung des

Ennius ist die epist. 1,19. Zwar erscheint die Behauptung

Horazens, Ennius habe nur in betrunkenem Zustand gedichtet,

zunächst als Beleidigung und Abwertung des vorklassischen

Dichters. Bei differenzierterer Analyse wird jedoch vielmehr

eine Würdigung deutlich. Frei nach dem Spruch des

Komödiendichters Kratinos, dass wahre Dichtung nur in

Verbindung mit ausreichendem Weinkonsum entstehen könne, weist

Horaz zu Beginn allen nüchternen Wassertrinkern (v. 3 aquae

potoribus; v. 9 siccis) die öffentlichen Tätigkeiten auf dem Forum

zu. Für die Liebhaber des Weines sieht er die Dichtung vor52.

Dabei ordnet er Ennius (und auch Homer) zu der Gruppe der

Weintrinker. Interessant wird es, wenn Horaz darauf beklagt,

dass in Folge seines Edikts nun viele moderne Dichterlinge und

Poetaster diese Verordnung zu wörtlich genommen hätten. Durch

50 Prinzen 1998, 249.51 Suerbaum 1968, 229.52 Prinzen 1998, 250, weist darauf hin, dass sich in der Aufteilung in Wein-und Wassertrinker auch die bereits erläuterte Unterschied zwischenkallimacheischen Kunstprinzip (ars) auf der einen, und dem dionysischen(ingenium) auf der anderen Seite offenbare.

25

unablässigen Alkoholkonsum glaubten sie, wahre Dichter werden

zu können. Dadurch könne aber nach Horaz mangelndes ingenium

nicht kompensiert werden53.

Nachdem Horaz nun aber neben Pater Ennius (v. 7) auch vinosus

Homer (v. 6) als exempla für weintrinkende Dichter genannt hat,

und sich selbst durch seinen Erlass ja auch mit dieser Gruppe

identifiziert, fällt es schwer, an eine Karikierung oder gar

Verurteilung der Dichter aufgrund ihres Weinkonsums zu denken.

Vielmehr scheint hier ein Unterschied zwischen Horaz und den

genannten exempla auf der einen und den ständig betrunkenen

Dichterlingen auf der anderen Seite betont zu werden. Es muss

also, wie W. Suerbaum bemerkt, zwischen zwei Gruppen von

Weintrinkern unterschieden werden54. Dabei verstehen die

modernen imitatores das horazische Gebot wortwörtlich als Dichten

im Zustand der „Betrunkenheit statt Trunkenheit“55. Dagegen

sollen Homer, Ennius und schließlich Horaz selbst einen

Dichtertypus darstellen, der sich vom (maßvollen) Weingenuss

inspirieren und zu dichterischem Enthusiasmus hinreißen

ließe56. Dabei müsse „Wein“ hier vielmehr als Metapher für das

ingenium des Dichters verstanden werden57. Fast scheint es, als

trete hier - wie auch schon in serm. 1,4 - die sonst für Horaz

so wichtige ars hinter die Bedeutung des ingenium zurück. Daraus

lässt sich folgern, dass die durch Wein (= ingenium)

inspirierte Dichtung des Ennius in gewisser Hinsicht einen

Vorbildcharakter für Horaz besitze58.53 Vgl. Prinzen 1998, 252.54 Suerbaum 1968, 232.55 Vgl. ebd.56 Prinzen 1998, 251.57 Vgl. Suerbaum 1968, 233.58 Vgl. Suerbaum 1968, 236. Zudem zählt sich Horaz in seinen Oden (besondersc. 2,19 und c. 3,25) selbst zu den Anhängern des Bacchus / Libers. Seine

26

Eine weitere Parallele zu Ennius findet sich in dem in der

Epistel vertretenen Anspruch des Horaz, ein alter Archilochus zu

sein59. Ennius auf der anderen Seite steht für die Einführung

des Versmaßes des Hexameters in die römische Literatur und die

Ablösung des Saturniers, welchen sowohl er wie auch Horaz

verachtete60.

Es stellt sich also nach Analyse der relevanten

Horazstellen ein Enniusbild heraus, das den Dichter zwar als

einen, mit göttlicher Begabung (ingenium) gesegneten Poeten

charakterisiert, der aber über mangelhafte künstlerisch-

dichterische Fertigkeiten (ars) wie zum Beispiel Metrik

verfügt. Obwohl die in der Überschrift zitierte Aussage über

den Dichter Ennius nicht von Horaz, sondern von dem etwas

jüngeren Ovid stammt61, hat also auch Horaz dem vorklassischen

Dichter gegenüber eine ähnlich ambivalente Meinung vertreten.

An einer Stelle billigt Horaz Ennius zumindest indirekt die

Auszeichnung des poeta zu62, während der Kunstbegriff, den er in

seiner ars poetica postuliert jedoch von einem sowohl durch

ingenium als auch durch ars sich auszeichnenden Dichter

ausgeht63.

Mit der Aufteilung der Voraussetzungen für einen

erfolgreichen Dichter in ingenium und ars gibt Horaz auch den

eigene Meinung im Bezug auf die richtige Kunstauffassung ist zwischen denbeiden Extrempositionen zu finden, vgl. ars, 410ff. So bedingen sich für ihnnatura (= ingenium) und ars des Dichters gegenseitig, beziehungsweise sindfüreinander unverzichtbar.59 So postuliert Horaz in epist. 1,19,23ff., er habe als Erster die durchArchilochus bekannten, parischen Iamben in lateinischer Sprache gebildetund somit nach Rom gebracht.60 Siehe Enn. ann. 206f. (Sk): versibus quos olim Faunei vatesque canebant sowie Hor.epist. 2,1,157f.: horridus ille […] numerus Saturnius.61 Ov. trist. 2, 424.62 Vgl. serm. 1,4,42ff.63 ars, 410ff.

27

Kontrast zwischen zwei verschiedenen Kunstauffassungen wieder:

Auf der einen Seite steht die dionysisch geprägte Vorstellung

vom Dichten im göttlichen Rausch, welcher dem ingenium des

Künstlers freien Gestaltungsraum lasse64. Auf der anderen Seite

vertritt das strenge Kunstprinzip des alexandrinischen Dichters

und Gelehrten Kallimachos die Auffassung, dass die ars des

Dichters bestimmend sei für sein Schaffen65.

Auch von der Selbstdarstellung des Ennius scheint sich

Horaz distanzieren zu wollen. Für ihn ist, wie H. Prinzen

kommentiert, Ennius kein alter Homerus66. Trotzdem muss Ennius von

Bedeutung für die Dichtung des Horaz gewesen zu sein, da er

gerade in solchen Passagen des Augusteers Erwähnung findet, in

denen dieser über seine eigene Dichtung reflektiert67.

II. 3. Dichterische Selbstdarstellung im Vergleich

II. 3. a) Ennius

Auf der Suche nach Szenen der Selbstdarstellung im Werk des

vorklassischen Dichters rückt gleich zu Beginn des Epos Annales

ein interessantes Beispiel in Augenschein. Im somnum Ennii

begegnet dem träumenden Dichter das Bild Homers und erklärt ihm

unter Einbeziehung der pythagoreischen Lehre von der

64 Bei Horaz am deutlichsten vertreten durch die „Weintrinker“ in epist.1,19.65 Vgl. Prinzen 1998, 250.66 Prinzen 1998, 255.67 Vgl. Suerbaum 1968, 227.

28

Seelenwanderung (metempsychose), dass seine, Homers, Seele in

den römischen Dichter übergegangen sei68.

Lässt man nun einmal die Implikationen und Assoziationen

des metempsychose-Motivs außer Acht, so stellt doch die

Tatsache, dass Ennius sich in der Einleitung seines

historischen Epos nicht etwa bloß als Nachfolger Homers sondern

als dieser selbst (homer redivivus) sieht, eine geradezu vor

Selbstbewusstsein strotzende, literarische Selbstauffassung

dar. Dies wird noch dadurch verstärkt, dass es sowohl vor, als

auch nach Ennius kein Dichter gewagt hat, die gleiche Aussage

über sich selbst zu machen69. Bei der Frage nach der genauen

Intention des Dichters hinter einer solchen Selbstaussage

stehen viele Antwortmöglichkeiten offen70. Wichtig für diese

Untersuchung ist jedoch allein das in diesen Versen

ausgedrückte, dichterische Selbstbewusstsein des Ennius. Sowohl

für den eigenen dichterischen Anspruch, als auch die

Erwartungen des Publikums hätte Ennius mit der Gleichsetzung

seiner Person und der Person des Homers, welcher zu seiner Zeit

als größter Dichter überhaupt galt, den Maßstab nicht höher

anlegen können71.

Ein weiteres Fragment, das einen Einblick auf die

Selbstdarstellung des Ennius und das damit verbundene

Selbstbewusstsein des Dichters gewährt, ist das sogenannte

Grabepigramm72:68 Vgl. ann., 2ff.69 Suerbaum 1968, 103.70 Für eine ausführliche Auswertung der Szene siehe: ebd., 46-113.71 Wie schon die Handlung des Traumes vermuten lässt, bestand in der Antikenoch kein Zweifel an der Historizität der Person Homers.72 Zwar besteht für dieses Fragment der von Dahlmann geäußerte Verdacht,dass es evtl. von Varro fingiert worden ist. Die Mehrheit der Forscher aufdiesem Gebiet hält jedoch die Echtheit der Stelle für wahrscheinlich, vgl.hierzu Suerbaum 1968, 169, Anm. 515.

29

Nemo me lacrimis decoret nec funera fletu

Faxit. Cur? Volito vivos per ora virum.73

Das im elegischen Distichon verfasste Epigramm zeigt einen

klaren Aufbau. Der für den Leser auf den ersten Blick paradoxen

Aussage des ersten Verses, welche durch das darauffolgende Cur

noch einmal unterstrichen wird, folgt die pointierte Auflösung.

Auch hier wird der Rezipient Zeuge eines ausgeprägten,

dichterischen Selbstbewusstseins. Ennius geht davon aus, dass

nach seinem Tod seine Dichtung fortbestehen wird, indem sie

weiterhin von vielen Menschen rezipiert wird74. In dieser

Überlegung wird die Trauer um den Verstorbenen letztlich

obsolet, da dieser ja durch seinen dichterischen Ruhm

literarische Unsterblichkeit erlangt75.

Deutet man, wie vielfach angenommen, das Grabepigramm als

Reaktion auf das von Gellius überlieferte Elogium seines

(Ennius) Vorgängers Naevius, dann wird die getroffene

Selbstaussage umso provokanter und umso selbstbewusster.

Immortales mortales si foret fas flere,

flerent divae Camenae Naevium poetam.76

73 Enn. frg. var. 17 (V).74 Sprichwörtlich: „von Mund zu Mund geht“. Das fliegende „Ich“ istzweifelsfrei mit der Dichtung des Ennius gleichzusetzen, volito vivos per oravirum.75 Vgl. Suerbaum 1968, 169.76 Gell. noct. att., 1,24,2.

30

Das ennianische Grabepigramm stellt somit die Steigerung der

überlieferten Selbstaussage des Naevius dar. Während Naevius

geradezu erwartet, dass sogar die Götter seinen Tod beklagen

würden, erklärt Ennius diesen Wunsch für unwichtig. Er

verdankt, seiner Meinung nach, die Unsterblichkeit allein

seiner Dichtung. Zwar lässt sich eine direkte Beziehung

zwischen den beiden Fragmenten nicht einwandfrei beweisen77.

Die Aufnahme und Verarbeitung des gleichen Motivs bei Ennius

legen doch zumindest einen gewissen intertextuellen Bezug der

beiden Texte in den Bereich des Wahrscheinlichen78.

Auch an dieser Stelle entwirft der Dichter also ein sehr

selbstbewusstes Bild von sich, das - wie es der anschließende

Vergleich illustrieren wird - dem horazischen Selbstkonzept

sehr fern scheint.

II. 3. b) Horaz

Um ein mögliches Bild von dem, in den Oden formulierten,

literarischen Selbstbewusstsein des Dichters Horaz zu

rekonstruieren, widmet sich die Untersuchung einer Stelle aus

der gemeinsam publizierten Edition der ersten drei Bücher und

einer Stelle aus dem vierten Buch. Beide Texte können zu diesem

Zwecke äußerst exemplarisch wahrgenommen werden. Zudem ist es

durch den längeren zeitlichen Abstand zwischen der Publikation

der ersten drei Bücher und des vierten Buches möglich, eine

profundere und weiter reichende Vorstellung von der

Selbstdarstellung des Horaz zu erhalten.77 So wäre es sicherlich auch möglich, dass Ennius sich hier nicht direktauf Naevius bezieht, sondern schlichtweg eine gängige Formulierungpointiert.78 Vgl. Suerbaum 1968, 168, Anm. 514.

31

Exegi monumentum aere perennius

regalique situ pyramidum altius,

quod non imber edax, non aquilo impotens

possit diruere aut innumerabilis

annorum series et fuga temporum.

5

non omnis moriar multaque pars mei

vitabit Libitinam : usque ego postera

crescam laude recens, dum Capitollium

scandet cum tacita virgine pontifex :

dicar, qua violens obstrepit Aufidus 10

et qua pauper aquae Daunus agrestium

regnavit populorum, ex humili potens

princeps Aeolium carmen ad Italos

deduxisse modos. sume superbiam

quaesitam meritis et mihi Delphica

15

lauro cinge volens, Melpomene, comam.

Im berühmten Epilog des dritten Odenbuches (c. 3,30) zeichnet

Horaz das Ergebnis und den Verdienst seiner bisherigen Dichtung

nach. Mit Sicherheit ist das Gedicht, wie Adolph Kiessling in

seinem Kommentar verzeichnet, als Gegenstück zum Anfangsstück

c. 1,1 zu deuten, wie auch das gleiche, asklepiadische Versmaß

nahe legt79. War die Haltung des Dichters zu Beginn seines

Werkes in der Ansprache an Maecenas noch von Bescheidenheit und

Erwartung geprägt, so sprechen aus den Versen des Epilogs nun

Selbstsicherheit und Stolz. Seine Dichtung wird zum Monument,

79 Vgl. Kiessling / Heinze 1955, 382. Dieses Metrum findet sich neben c. 1,1und c. 3,30 bei Horaz sonst nur in c. 4,8, siehe unten.

32

das materielle Denkmäler in ihrer Qualität zur Immortalisierung

des jeweiligen Empfängers bei weitem übertrifft (v. 2 perennius;

v. 3 altius). Aufgrund der nachhaltigen Wirkung seines Werkes

erreicht der Dichter also selbst Unsterblichkeit.

Und dennoch klingen auch in diesen stolzen Zeilen des

Selbstlobes gewisse Aspekte der von Horaz so gewohnten moderatio

an. Zum einen zeigt sich diese (selbst-)mäßigende Haltung in

der Erkenntnis des Dichters, dass nur ein Teil von ihm –

gemeint ist natürlich seine Dichtung – dem Tod entgehen wird

(v. 6f. non omnis moriar multaque par mei vitabit Libitinam). Hält man

diese Aussage dem besprochenen Grabepigramm des Ennius

entgegen, dessen Werk Horaz in seinem Epilog mit Sicherheit

verarbeitet hat80, so stellt sich doch ein großer Unterschied

in der Deutlichkeit der Formulierung heraus. Zwar postulieren

beide Dichter ihren Anspruch auf die Unsterblichkeit durch ihre

Dichtung. Horaz schlägt jedoch eine deutlich zurückhaltendere

Tonlage an. Während bei Ennius das Lebendige (volito vivus) im

Vordergrund steht, fokussiert Horaz zunächst den Tod (moriar;

Libitinam), dem er sich – trotz seiner Leistung – auch nur

teilweise (pars mei) entziehen kann.

Zum anderen zeigt sich die Bescheidenheit des Dichters in der

schlichten Darstellung seiner persönlichen Leistung. In etwas

mehr als einem Vers fasst Horaz das Programm der von ihm bis

dahin abgefassten 88 Gedichte auf knappe Weise zusammen (v.

13f. princeps Aeolium carmen ad Italos deduxisse modos). Die Darstellung

wirkt umso genügsamer, als dass sich der Dichter bloß als

verknüpfendes Medium zwischen griechischer Lyrik und römischer

80 Hierzu vor allem: Suerbaum 1968, 165ff.

33

Ausführung versteht. Seinen persönlichen Verdienst zeigt er als

bloße Zusammenführung schon vorhandener Elemente.

Trotzdem verbleibt Horaz im letzten Stück seiner drei

Gedichtbände natürlich in der stolzen Stimmung einer gewissen

Selbstzufriedenheit (v. 14f. superbiam quaesitam). Dabei scheint

der Dichter allerdings immer noch eine Legitimation für seine

Auszeichnung zu benötigen, wie meritis (v. 15) andeutet. Den

Preis, als poeta laureatus die Unsterblichkeit zu erlangen81, habe

er sich erst durch seine dichterischen Leistungen verdient.

Als zweite Stelle zur Untersuchung der Selbstdarstellung

des Horaz soll c. 4,2 in den Blick genommen werden. In dieser

Ode, bei der sich die Analyse auf die Verse 27-32 konzentriert,

setzt sich Horaz mit der Bedeutung der Dichtung für die

Unsterblichkeit des Besungenen auseinander. Nachdem Horaz die

Kunst seines griechischen Vorbildes Pindar, des Dircaeus cygnus

(v. 25), in den höchsten Tönen gelobt hat, kontrastiert er

dieses Bild mit einer Beschreibung seiner eigenen Arbeit:

ego apis Matinae

(27)

more modoque,

grata carpentis thyma per laborem

plurimum, circa nemus uvidique

30

Tiburis ripas operosa parvos

carmina fingo.

81 Die Bezeichnung des poeta laureatus ist im Übrigen eine Erfindung des Horazselbst, die sich an die Tradition des römischen Triumphators anlehnt, vgl.Kiessling / Heinze 1955, 385.

34

Im Gegensatz zu Pindar, der elegant und mühelos zugleich

Gedichte von ungekannter Qualität verfasst82, zeigt sich Horaz

als Dichter, der in akribischer Kleinstarbeit mühevoll neue

Gesänge formt. Das Tierbild der Biene ist dem Augusteer dabei

von mehrfachem Nutzen: Einerseits gelingt es ihm durch den

Vergleich seiner Kunst mit der angestrengten Arbeitsweise (v.

31 operosa) des Insektes, die im starken Kontrast mit der

vorangegangenen Beschreibung Pindars steht, den großen Respekt

vor seinem Vorgänger auszudrücken. Zudem zeigt der Bezug zur

Arbeitsweise aber auch die bereits in c. 3,30 angeklungene

Bescheidenheit des Dichters auf. Dies wird schon an der

Selbstcharakterisierung deutlich (v. 31 parvos = parvus). Den

qualitativen Unterschied zur Dichtkunst Pindars kann Horaz

seiner Meinung nach nur durch scharfe Disziplin und große

Sorgfalt in seiner Vorgehensweise ausgleichen. Gleichzeitig

dient die Biene Horaz aber auch als passendes Bild, um das von

ihm vertretene, kallimacheische Kunstprinzip zu verkörpern.

Neben der beschriebenen Arbeitsweise bildet die Biene - schon

aufgrund ihres Äußeren - die „Kleinheit der Form“ ab, der sich

Horaz mit seiner Dichtung verschrieben hat83.

Rufen wir uns an dieser Stelle noch einmal die thematisch

ähnliche Passage des Annalen-Proömiums bei Ennius ins

Gedächtnis – denn in beiden Stellen nehmen die Dichter Bezug

auf das Verhältnis zu einem, aus ihrer Sicht wichtigen Vorbild

–, so offenbart sich doch eine klare Diskrepanz in der

Ausgestaltung dieses Verhältnisses. Während Horaz nur mit82 vgl. c. 4,2,10-12: seu per audacis nova dithyrambos verba devolvit numerisque fertur legesolutis.83 Vgl. Warmuth 1992, 92. Auch ist der Vergleich zwischen Dichter und Bienenicht allzu ungewöhnlich, für Vorläufer siehe ders., 191, Anm. 370.

35

großer Mühe dem poetischen Niveau Pindars nahekommen kann84,

zeigt sich hingegen Ennius als der wiedergeborene Homer, dessen

Seele und implizit auch dessen literarische Fähigkeit in ihn

übergegangen sind. Die vor Selbstüberzeugung strotzende

Selbstdarstellung des Ennius scheint der des Horaz also

deutlich zu widersprechen. Zwar kennt die Letztere ebenfalls

den Stolz über und die Zufriedenheit mit dem Geleisteten, ist

aber zu jedem Zeitpunkt in einer bescheidenen Stimmung der

(Selbst-)Mäßigung gehalten.

II. 4. Intertextualität und ihre Bedeutung bei Horaz

Aufgrund der Tatsache, dass sich die These, die dieser

Untersuchung zu Grunde liegt, auf die Beziehungen

unterschiedlicher Texte zueinander konzentriert, erscheint es

unbedingt notwendig, Grundzüge der sog.

Intertextualitätstheorie darzustellen. Auch muss überprüft

werden, ob sich diese der modernen Philologie entstammende

Methodik überhaupt auf das Werk des Horaz adaptieren lässt.

Die Intertextualitätstheorie widmet sich der Untersuchung

des Verhältnisses von Texten zu anderen Texten und macht

Aussagen über dieses Verhältnis. Dabei sei jeder Text als

mosaique de citations zu verstehen, wie Julia Kristeva, eine der

Begründerinnen der Theorie, bemerkt85. Demnach besteht jeder

84 Die Vorstellung mit seinem Vorläufer in qualitativer Hinsichtgleichzuziehen oder diesen gar zu übertreffen, stellt sich für Horaz alsschiere Hybris dar, vgl. c. 4,2,1-4.85 Kristeva, J.: Σημειωτική. Recherches pour une sémanalyse, Paris 1969,85ff.

36

Text aus einem Bündel verschiedener Zitate, er ist ein

Kreuzungspunkt anderer Texte und Ausgangspunkt für deren

Permutation und Transformation (Umstellung und Umwandlung) unter

dem Einfluss seiner ideologischen Voraussetzungen. Dabei

umfasst der Begriff „Text“ nicht nur geschriebene Texte,

sondern kulturelle Phänomene überhaupt, insofern sie Elemente

einer Struktur sind. Ein solcher „Text“ ist somit nie eindeutig

definiert und fest umrissen sondern offen für Interpretationen,

von denen keine ultimative Geltung beanspruchen kann. Bedeutung

kann damit nicht mehr von einem Autor bzw. Schöpfer in einen

Text hineingelegt werden, sondern wird erst von der

Interpretation hervorgebracht, wobei der Interpret seinen

eigenen Text natürlich genauso wenig kontrollieren kann wie der

Verfasser des Ausgangstextes. Auf diese Weise gestaltet sich

der Prozess der Semiose prinzipiell unendlich, ein Standpunkt

außerhalb des Textes wird unmöglich. Eine erste, wichtige

Systematisierung ihrer Begrifflichkeit erfuhr die

Intertextualitätstheorie schließlich durch Gérard Genette.

Zudem gab dieser die von Kristeva geforderte Universalität von

Intertextualität auf und legte stattdessen verschiedene

Kategorien für diese fest86.

Nun bliebe in unserem Fall einzuwenden, dass gerade die

lateinische Literatur nach Genette quasi von Natur aus eine

Literatur zweiter Stufe sei, da sie einerseits mit der

griechischen Literatur verwandt sei, oder aber sich stark an

diese anlehne. Die Klassische Philologie beschäftige sich also

ohnehin schon mit der Analyse des Verhältnisses dieser Texte86 Genette, G.: Palimpseste. Die Literatur auf zweiter Stufe, Frankfurt amMain 1993.

37

untereinander. Dennoch bietet die moderne

Intertextualitätstheorie eine neue, systematische Methodik zum

Verständnis von Texten. Besonders entscheidend ist hier die

klare Definition des Unterschiedes von Intertextualität von

Texten und Textgruppen87 und Allusion, die schon von antiken

Philologen intensiv untersucht worden ist. Während sich bei der

Allusion eine Anspielung auf der privaten Ebene des Verfassers

entwickle, sei hingegen die Intertextualität öffentlicher

Natur, weil sie auch dem Publikum zugänglich ist88.

Intertextualität kann also nur dort bestehen, wo die

Rezipienten diese auch erkennen.

Folglich ist die Bedeutung der Intertextualität als

„unverzichtbarer, ja sogar sinnstiftender Bestandteil eines

literarischen Textes“89 auch für das horazische Opus sehr groß.

Zum einen gibt Horaz selbst an, Werke und Gattungen aus der

griechischen Dichtung ins Lateinische übertragen zu haben90. Er

stellt auch negative Bezüge zu anderen Autoren her, indem er an

der mangelhaften formalen Qualität älterer römischer Dichter

Kritik übt91. Zum anderen ist für das zeitgenössische Publikum,

an welches sich die Dichtung des Horaz primär richtete,

anzunehmen, dass intertextuelle Phänomene erkannt worden sind.

Dafür spricht zunächst das Faktum, dass die Texte üblicherweise

in Lesezirkeln präsentiert und diskutiert wurden, dessen

Mitglieder wohl genaue Kenntnis der griechischen und87 Vgl. Breuer 2009, 45.88 Vgl. Fowler, D.: On the Shoulders of Giants. Intertextuality andClassical Studies, in: Materiali e discussioni per l'analisi dei testiclassici, 1997, Issue 39, S. 13-34.89 So Breuer 2009, 46.90 Zum Beispiel in c. 3,30,13f.: princeps Aeolium carmen ad Italos deduxisse modos;epist. 1,19,23ff.: Parios ego primus iambos ostendi Latio, numeros animosque secutusArchilochi, non res et agentia uerba Lycamben.91 So in sat. 1,4,8ff.; sat. 1,10,56ff.; epist. 2,1,64ff.

38

lateinischen Literatur besaßen92. Des Weiteren scheint auch der

rege Austausch und die Freundschaft mit anderen Dichtern als

Basis der horazischen Dichtung gedient zu haben93. Abgesehen

von diesem eher exklusiven Kernpublikum ist aber auch zu

beachten, dass es zur Schulpraxis der augusteischen Zeit

gehörte, längere Passagen der Literatur auswendig lernen zu

lassen, wie D. Gall bemerkt94. Somit könnte auch einer

breiteren Gruppe von Rezipienten die Identifikation

intertextueller Bezüge in der Dichtung des Horaz gewesen sein.

Wir können abschließend also davon ausgehen, dass Horaz in

seiner literarischen Produktion gezielt Bezüge zu anderen

Autoren hergestellt hat und dass zumindest ein Teil seines

Publikums diese Bezüge auch erkannte und das horazische Werk

vor diesem Hintergrund beurteilt hat. Es muss sich jedoch um

spezifische und prägnante Bezüge handeln, damit von einer

tatsächlichen Intertextualität gesprochen werden kann95. Im

Verlauf der folgenden Untersuchung sollen derartige

Zusammenhänge zwischen den Texten des Ennius und denen des

Horaz herausgestellt werden. Gleichzeitig ist es für die

Bestätigung der These unerlässlich, zu zeigen, dass diese

Zusammenhänge von Horaz gezielt konstruiert worden sind.

92 Das belegt vor allem die häufige Widmung und Apostrophierunghochgestellter Persönlichkeiten und Kunstkenner, bei denen ein solchesWissen wohl vorausgesetzt werden darf. So z. B. Augustus (epist. 2,1),Maecenas (c. 1,1; sat. 1,1 ; epist. 1,1), Asinius Pollio (sat. 1,10,85; c. 2,1)und Tibull (c. 1,3; epist. 1,4).93 Vgl. sat. 1,5,39f.; sat. 1,10,81ff.94 Vgl. Gall, D.: Die Literatur in der Zeit des Augustus, Darmstadt 2006,24.95 Pfister, M.: Konzepte der Intertextualität, in: Broich, V. u. Pfister, M.(Hrsg.): Intertextualität. Formen, Funktionen, anglistische Fallstudien,(Konzepte der Sprach- und Literaturwissenschaft 35), Tübingen 1985, 1-30,15ff.

39

III. Einzelinterpretationen

III. 1. Daedaleo notior Icaro - Aemulatio als Hybris in c. 2,20

III. 1. a) Inhalt und vordergründige Intention

Der Gedanke der Unsterblichkeit durch literarischen Nachruhm

tritt in c. 2,20 auf interessante Weise in Erscheinung. Horaz

benutzt hier das Motiv der Metamorphose zur Verkündung seines

Anspruches auf ewigen Ruhm. In dem Gedicht verwandelt sich die

Person des Dichters vor ihrem Tod in einen Schwan, der

daraufhin die Welt bis hin zu entfernten Gebieten überfliegt,

während deren Bewohner ihn kennenlernen. Deswegen, so verordnet

der Dichter, sei es unnötig, nach dem Ende seiner menschlichen,

irdischen Existenz, um ihn zu trauern.

Als Intention des Gedichts wurde in der Forschung vor

allem die Erklärung des Dichters gesehen, dass er sich des

unvergänglichen Ruhmes, welchen er durch seine Dichtung

erwerbe, auch nach seinem Tod gewiss sei96. Schon in

spätantiken Horaz-Scholien, welche fälschlicherweise dem

römischen Grammatiker Helenius Acro zugeschrieben wurden,96 So vor allem Kiessling 1955, 244, sowie Nisbet 1978, 332. Eine ähnlicheAuffassung vertreten auch Abel 1961, 83f. und Schwinge 1965, 459.

40

deutete man die Verwandlung in einen Schwan als Zeichen für

dichterische Immortalität, aufgrund dessen wohlklingender

Stimme und seiner Verbindung zum Gott Apoll97.

III. 1. b) Ursprung und Vorläufer des Verwandlungsmotivs

Es ist ebenso festgestellt worden, dass sich Horaz mit dem

verwendeten Motiv der Metamorphose in einen Vogel in eine lange

dichterische Tradition stellt98. So hatten bereits die

archaischen griechischen Dichter Alkman99 und Theognis100 zur

Darstellung literarischen Ruhmes auf eine ähnliche Flug-

Metaphorik zurückgegriffen. Pindar charakterisierte zum einen

seine Dichtung als „geflügeltes Werk“101, zum anderen versah er

aber auch den in seinen Hymnen gepriesenen Personen gerne

Flügel102 und stellte bisweilen sogar sich selbst als Vogelwesen

dar103.

Als erster lateinischer Vertreter, der sich zu gleichem

Zwecke des Vogelmotivs bedient, gilt schließlich Quintus

Ennius104. In seinem bereits besprochenen Grabepigramm knüpft97 Vgl. Pseudo-Acro, 2,20: „Allegoricos significat se in cygni figuram mutandum et carminasua totum orbem impletura; unde et se immortalem futurum promittit. Avis enim, in quam setransfigurandum dicit, canora est, ut poetae merito conveniat, et Apollin consecrata”.98 Vgl. Nisbet 1978, 334.99 Alkman 148 = Aristides, orat. 28,54. Auch wenn Alkman das Fliegen nichtdirekt erwähnt, so wird doch aus dem Kontext deutlich, dass hier einähnlicher Anspruch wie bei Horaz postuliert wird, Näheres vgl. Nisbet 1978,332f.100 Theognis, frg. 237-254. Theognis behauptet, dass er seinem GeliebtemKyrnos durch seine Lobpreisungen „Flügel“ (πτέρα) verliehen und ihn somitunvergesslich gemacht habe.101 Pindar, isth. 5,63: πτερόεντα […] ύμνον, siehe auch: Pindar, nem. 7,22.102 Pindar, pyth. 8,33f.103 Als Adler, Pindar, nem. 3,80f.; als Biene, Pindar, pyth. 10,53f.Allerdings bemerkt Nisbet, dass oft nicht eindeutig geklärt ist, ob andieser Stelle der Dichter oder der im Lied Gepriesene gemeint sind, vgl.Nisbet 1978, 334f.104 Vgl. Schwinge 1965, 440.

41

der vorklassische Dichter an seine griechischen Vorläufer an,

indem auch er mit der Metapher des Vogelfluges auf

Unsterblichkeit verweisen will105. Jedoch unterscheidet sich

Ennius von seinen Vorgängern, da er, so E. R. Schwinge in

seiner Interpretation, das Motiv erstmals auf seinen

persönlichen dichterischen Anspruch beziehe106.

In einer weiteren, ebenfalls bereits angesprochenen Stelle

seines Werkes, dem Proömium des historischen Epos annales,

beschreibt Ennius zum Zwecke der Postulierung seines

dichterischen Anspruchs den Übergang der Seele Homers in seine

eigene Person107. Eine Art Zwischenstation für diese

Metempsychose soll dabei ein Pfau gewesen sein. Auch hier

spielen zum einen die Verwandlung in einen Vogel, zum anderen

die Demonstration literarischer Verbundenheit mit einem für den

Autor wichtigen, als dichterisches Vorbild empfundenen

Vorgänger, eine entscheidende Rolle für die Charakterisierung

des dichterischen Selbstverständnisses. Dass nun für Horaz vor

allem die genannten Enniusstellen als Prätexte aufgefasst

werden müssen, ist in der wissenschaftlichen Diskussion

weitgehend akzeptiert108.

III. 1. c) Deutungskontroverse

Bei der inhaltlichen Betrachtung der Ode 2,20 hat gerade die

Deutung der Metamorphose, welcher schon aufgrund ihrer Stellung

in der Mitte des Gedichts eine zentrale Bedeutung zukommt, eine

105 Ennius, frg. var. 17 (V): nemo me lacrimis decoret nec funera fletu faxit. cur? volito vivosper ora virum.106 Vgl. Schwinge 1965, 441.107 Vgl. Ennius, ann. 2-8 (Sk).108 Vgl. Kiessling 1955, 244, sowie auch Nisbet 1978, 336.

42

Kontroverse ausgelöst. Die bizarre, detailliert beschriebene

Verwandlung des Dichters in einen Schwan wird als paradox zum

durchaus ernsthaften Thema des Gedichtes, eben der Postulierung

ewigen Nachruhmes, empfunden.

Zudem schwingen auch in der Wortwahl des Horaz gewisse

Widersprüchlichkeiten mit der stolzen Aussage über das

dichterische Selbstbewusstsein an. Schon T. E. Page äußerte

deswegen in seiner Horaz-Edition Kritik und sprach dem Gedicht

die Qualität des restlichen horazischen Oeuvres ab109. In der

Folge kritisierte besonders E. Fraenkel den angesprochenen

inhaltlichen Widerspruch110. Hinzu komme außerdem die

Lächerlichkeit einer bildhaften Darstellung der Verwandlung des

den Römern als plump und kahlköpfig bekannten Horaz in den

edlen Körper eines Schwans111. H. Fuchs ging sogar soweit, der

dritten Strophe, in welcher die Metamorphose beschrieben wird,

die Echtheit abzusprechen und sie aus dem Gedicht zu

verbannen112.

Im Gegensatz dazu fasst W. R. Johnson das Gedicht als

horazischen Scherz auf. Zum einen weise die, aus dem Fehlen

jeglicher, sonst von Horaz so gewohnten moderatio und die aus

der Überspannung des Verwandlungsmotivs resultierende,

offensichtliche Prahlerei des Gedichts auf eine apotropäische

Parodie früherer Dichter hin, die ihren Nachruhm auf eben

109 Horatii Flacci Carminum Libri IV, edit. T. E. Page, London 1895, 295:„the whole ode […] clearly bears the stamp of having been writtencarelessly or before Horace’s powers had reached maturity”.110 Fraenkel, E.: Horace, Oxford 1957, 301: „the lofty idea of thetransfigured vates leaves no room fort he crude zoological precision inresidunt cruribus pelles“.111 Ebd.112 Fuchs, H.: „O Nun, o Unsterblichkeit, bist du ganz mein“. ΑΝΤΙΔΩΡΟΝ, in:Edgar Salin zum 70. Geburtstag, Tübingen 1962, 149-166, 152ff.

43

solche Weise darstellten113. Zum anderen könne die in c. 2,20

dargestellte Extravaganz als Kontrastfolie zum stolzen decorum

in c. 3,30 funktionieren und somit das stolze aber dennoch

maßvolle Aufzeigen der dichterischen Verdienste dort, durch

ironische Präsentation des Gegenteils hier, unterstreichen114.

Auch der britische Horazkommentator Robin G. M. Nisbet

gesteht, zumindest in dem inhaltlichen Widerspruch einen

„ironischen Unterton der Selbstschmälerung“ zu erkennen115. Als

Basis der Metamorphose identifiziert Peter Connor nicht etwa

eine selbstzufriedene Aussage über die persönlichen

dichterischen Errungenschaften, wie es an solch prominenter

Stelle im Epilog des zweiten Buches durchaus zu erwarten wäre.

Stattdessen provoziere der schiefe Ton des Humors eine

säuerliche Atmosphäre sowie eine aggressive Wahrnehmung der

dichterischen Ziele und Sehnsüchte116. Weitergehend erkennt

David A. West in c. 2,20 das Bemühen des Horaz, das Risiko

eines anmaßenden Vergleiches mit Pindar, welchen Horaz selbst

in c. 4,2,1-4 als Hybris charakterisieren wird, durch das

Stilmittel der Ironie zu vermeiden, bzw. erträglich zu

machen117. Einen ähnlichen Gedanken verfolgt der Latinist Mario

113 „But Horace evades all “so to speaks“ and all transitions – what wassimile in Theognis, Ennius and Vergil is here stark metaphor“, Johnson, W.R.: The boastful bird. Notes on horatian modesty, in: CJ 61, 1966, 272-275,273.114 Vgl. Johnson 1966, 275.115 Vgl. Nisbet 1978, 337; Humor in c. 2,20 vermuteten auch schon Oesterlen,T.: Komik und Humor bei Horaz, Stuttgart 1886, 35ff.; Connelly, C. Enemiesof promise, London 1951, 51; MacKay, L. A.: Horace airborne. Exercise onOdes 2,20, in: Arion 3, no. 4, 1964, 125.116 „It seems rather to be an aggressive sense of the poet’s aims or desiresand a sourness is hinted at by the wryness of the humour”, Connor, P.:Horace’s lyric poetry. The force of humour, Berwick 1987, 7.117 Vgl. West 1998, 145, so auch Günther, der in der Verwandlung eine„heimliche Ironie“ des Dichters bemerkt, vgl. Günther, H.-C.: Pindar,Kallimachos und Horaz, in SIFC, Serie 17, 1999, 145-161, 160.

44

Erasmo von der University of Georgia. Allerdings versucht

Erasmo zusätzlich die enge Verbindung des Verwandlungsmotivs

zum Annalen-Proömium des Ennius herauszustellen. Während Ennius

durch das Mittel der Seelenwanderung (metempsychose) die

tatsächliche Identität Homers annehme, verwandele sich Horaz

bloß in die symbolische Identität Pindars. So scheine es, als

ob Horaz und Pindar in Bezug auf die Nachwelt auch gemeinsam

fortexistieren könnten, Ennius sich jedoch als Homer darstelle

und somit auch seinen Platz in der Erinnerung der Nachwelt

einnehmen würde118 119.

III. 1. d) Unsterblichkeitsgedanke und Lächerlichkeit

Im Rahmen der Suche nach ironischen Tendenzen im Verhältnis

zwischen Horaz und Ennius innerhalb der Oden müssen die in c.

2,20 bestehenden inhaltlichen und interpretatorischen

Widersprüche einen geeigneten Ansatzpunkt für unsere

Untersuchung darstellen. Es ergibt sich daraus die folgende

Fragestellung: Lässt sich aus der Verbindung zwischen dem

durchaus ernsthaften und sublimen Thema des Gedichts von der

Unsterblichkeit durch literarischen Ruhm auf der einen Seite,

welches wiederum eng mit der bekannten Ennius-Vorlage verknüpft

ist, und den „selbstschmälernden“ Tendenzen der Verse, mit

denen sich der Dichter der Lächerlichkeit preiszugeben scheint,

auf der anderen Seite, der Schluss ziehen, Horaz habe mittels

der intertextuellen Bezüge anstatt einer Huldigung des Ennius

118 Vgl. Erasmo 2006, 373.119 Besonderen Fokus auf die Metapher des Schwans legt Warmuth, derbesonders einen autobiographischen Aspekt der Verwandlung herauszustellenversucht, vgl. Wahrmuth, G.: Autobiographische Tierbilder bei Horaz,Hildesheim 1992, 88.

45

vielmehr eine ironische Wiedergabe seines literarischen

Vorläufers und dessen dichterischen Selbstverständnisses

bezwecken wollen?

Aufgrund der zahlreichen bereits existierenden

Untersuchungen des Gedichts, wird sich die folgende

Interpretation vordergründig der Suche nach den beschriebenen

ironischen Tendenzen im Zusammenhang mit den Prätexten widmen.

Auf andere Aspekte der Ode kann in diesem Fall nur verwiesen

werden.

III. 1. e) Einzelinterpretation c. 2,20

Die Ode bildet den Abschluss des zweiten Odenbuches. Sie

besteht aus 24 Versen aufgeteilt in sechs Strophen. Als Versmaß

verwendet Horaz die alkäische Strophe. Betrachtet man den

eingangs beschriebenen Inhalt des Gedichtes, so lässt es sich

in Einleitung (Strophe I und II), Mittelteil (Strophe III, IV

und V) und Schluss (Strophe VI) gliedern120. Das Gedicht ist

Horazens Freund und Unterstützer Maecenas gewidmet:

Non usitata nec tenui ferar

penna biformis per liquidum aethera

vates neque in terris morabor

longius invidiaque maior

urbis relinquam. non ego pauperum 5

120 Vgl. Abel 1961, 90.

46

sanguis parentum, non ego quem vocas,

dilecte Maecenas, obibo

nec Stygia cohibebor unda.

In der Einleitung wird zunächst das Motiv der Unsterblichkeit

des Dichters vorgestellt (neque … morabor, v.3; non … obibo nec

Stygia cohibebor unda, v.6ff.). In der Art und Weise der

Immortalität (ferar penna … per liquidum aethera, v.1ff.) wird der

erste Bezug zum Grabepigramm des Ennius deutlich121.

Nemo me lacrimis decoret nec funera fletu

faxit. cur? volito vivos per ora virum.122

Im Gegensatz zu Ennius entzieht sich Horaz jedoch der den

Menschen zugänglichen Sphäre, während er allerdings für sie

sichtbar bleibt (und hörbar wie die folgende Metapher des

Schwans andeutet). Außerdem wird aus der Verwendung des Futurs

deutlich, dass der Dichter eine Erwartung beschreibt. Ennius

hingegen sieht seinen Erfolg aufgrund des Präsensgebrauches

bereits als Faktum an.

Horaz charakterisiert sich selbst als biformis vates (v.2f.).

E. R. Schwinge interpretiert biformis nicht als äußerliche

Doppelgestalt des Dichters, oder als Vorahnung auf die folgende

Metamorphose, sondern als die innerliche Zweiheit in „irdisches121 Jedoch übernimmt Horaz, anders als Vergil in Verg. georg. 3,9, nur dieinhaltliche Thematik, nicht die Sprache der Ennius-Vorlage. Zudem meintSchwinge in per liquidum aethera eine Intertextualität zu Euripides, fr. 911 N²zu erkennen, vgl. Schwinge 1965, 441. Das Motiv der tragenden Schwinge alsSymbol für den Nachruhm erinnert auch an Theognis, fr. 237-254. DieseMetaphorik findet sich bei Horaz zum gleichen Zweck auch in c. 2,2,7f. undc. 3,2,21-21.122 Enn. fr. var. 17 (V).

47

und überirdisches Ich“123. Anders als Ennius, der sein Fortleben

für selbsterklärend hält, versuche Horaz, so Schwinge, seine

Unsterblichkeit durch die Aufteilung seines Wesens in einen

vergänglichen (körperlichen) und einen unvergänglichen

(geistigen) Teil zu erklären124. Voraussetzung dafür sei der

Status des vates, welcher ein klar definiertes Bild des

augusteischen Dichters impliziere125. Eine Unterstützung der

Verbindung der ersten beiden Strophen findet sich im

Enjambement von Vers 4 zu Vers 5.

iam iam residunt cruribus asperae

(9)

pelles et album mutor in alitem 10

superne, nascunturque leves

per digitos umerosque plumae.

iam Daedaleo notior Icaro

visam gementis litora Bosphori

Syrtisque Gaetulas canorus 15

ales Hyberboreosque campos;

me Colchus et qui dissimulat metum

Marsae cohortis Dacus et ultimi

noscent Geloni, me peritus

discet Hiber Rhodanique potor. 20

123 Schwinge 1965, 442. Gestützt wird diese These dadurch, dass Horaz seinSelbst auch an anderer Stelle als aus vielen Teilen zusammengesetztversteht, vgl. c. 3,30,6f (multa pars mei). Ähnlich auch Ovid, amor. 1,15,41f.124 Vgl. Schwinge 1965, 442.125 Zum vates-Ideal in augusteeischer Zeit vgl. ders.: Zur Kunsttheorie desHoraz, in: Philologus 107, 75-96, 87ff.

48

Der Mittelteil des Gedichtes ist durch das Motiv der

Schwanenmetamorphose gekennzeichnet. Im Kontrast zur „Höhenlage

des Stils“ der ersten beiden Strophen126 folgt nun die bildliche

Beschreibung der Verwandlung des Dichters in einen Schwan

(album mutor in alitem, v.10)127. Der Bruch zum Anfang der Ode

zeichnet sich auch durch einen Tempuswechsel in ein von der

Anadiplosis iam iam (v.9) noch verstärktes Präsens ab128. Kritik

erfuhr das Gedicht vor allem aufgrund der dritten Strophe, in

welcher die Verwandlung des Körpers eindringlich beschrieben

wird (residunt cruribus asperae, v.9; nascunturque leves per digitos

umerosque plumae, v.11f)129. Es war die als unschön empfundene

Detailliertheit dieser Beschreibung, die Wissenschaftler wie H.

Fuchs zu der Aussage veranlasste, die dritte Strophe stelle

eine „Verunzierung“ des horazischen Werkes dar130. Auch die

bildliche Vorstellung, wie sich Horazens Körpers, der den

Zeitgenossen als füllig und kahlköpfig bekannt war, in die

grazile Gestalt eines Schwanes verwandelt, muss den Rezipienten

grotesk anmuten.

Um dieses Problem zu lösen, haben sich diverse

Interpretatoren des Gedichts auf das oben erwähnte biformis

berufen. Der anschließende Schwanenflug beziehe sich, wie Hans

Peter Syndikus kommentiert, nicht mehr auf die persona des

Horaz, sondern allein auf seine Dichtung. Dies ließe sich durch

den Gebrauch der Verben noscere (v.19) und discere (v.20) im

folgenden Mittelteil des Gedichts stützen, mit denen die126 Abel 1961, 84.127 Dass der albus ales als Schwan zu identifizieren ist, wird im Zusammenhangmit dem folgenden canorus (v.15) sowie der mit dem Schwan assoziiertenBedeutung als Vogel Apollos offensichtlich.128 So auch durch iam (v.13).129 Siehe Anm. 18 u. Anm. 19, S. 3.130 Vgl. Schwinge 1965, 447, Anm. 3.

49

Wahrnehmung des Flugs durch die Menschen beschrieben wird, die

offensichtlich eine literarische Auseinandersetzung dieser

Menschen mit Horaz andeuten131.

Jedoch ergibt sich aus diesem Erklärungsversuch m. E. ein

Widerspruch mit den Angaben, die Horaz in der zweiten Strophe

zu seiner Person macht. Mit dem Verweis auf seine niedrige

Abstammung (pauperum sanguis parentum, v.5f.) und die enge

Freundschaft zu Maecenas (quem vocas, dilecte Maecenas, v.7)

zeichnet Horaz zwei für seine Selbstdarstellung äußerst

wichtige Punkte seines Lebenslaufes nach, die er an markanten

Stellen seiner Dichtung immer wieder hervorhebt132. Horaz

spricht hier also sehr wohl von seinem physischen Selbst. Dies

lässt sich auch durch ego (v.6) unterstreichen. Insofern muss

auch biformis (v.2) wortwörtlich im Sinne einer tatsächlichen

Doppelgestalt zwischen Sänger und Schwan verstanden werden.

Eine transzendente innerliche Zweiheit, wie Schwinge und

Syndikus sie vorschlagen, wäre mit den Charaktermerkmalen,

welche Horaz von sich zeigt, nicht vereinbar. Zusätzlich stände

eine solche Deutung in krassem Kontrast zu der detaillierten

Beschreibung der physischen Verwandlung in der dritten Strophe.

Der Widerspruch zwischen dem Inhalt und der Thematik des

Gedichts lässt sich auf diese Weise also nicht lösen.

In der vierten Strophe charakterisiert sich der Dichter

als Daedaleo notior Icaro (v.13). Inhaltlich fungiert diese

Beschreibung als vorgezogene Folge des anschließend

beschriebenen Höhenfluges des verwandelten Dichters zu vielen

entfernt gelegenen Völkern und Gegenden. Diese scheinen131 Vgl. Syndikus 1972, 488f.132 Über seine niedrige Abstammung spricht Horaz auch in sat. 1,6,6 u. 45f.;c. 3,30,12; epist. 1,20,20. Maecenas wird apostrophiert in sat. 1,1; c. 1,1;epist. 1,1.

50

stellvertretend für die vier Himmelsrichtungen zu stehen, so

dass Horaz schließlich den gesamten orbis terrarum überfliegt133.

Bei der Interpretation der Selbstzuschreibung Horazens,

bekannter als Ikarus zu sein, fällt jedoch folgende

Widersprüchlichkeit auf: Zunächst benutzt der Dichter die

mythologische Figur des Ikarus hier als Metapher, um sich

selbst darzustellen. Fasst man notior Icaro als einen in der hohen

Dichtung der Zeit des Horaz äußerst gängigen ablativus comparativus

auf134, so ergibt sich für das Subjekt (in diesem Fall Horaz)

eine Übersteigerung des Objekts Icaro in der Eigenschaft notior,

die auch schon beim Objekt vorhanden gewesen ist. Nun sind aber

maßlose Selbstüberschätzung und das daraus folgende Scheitern

die Eigenschaften, welche den mythologischen Ikarus bekannt

gemacht haben. Es bestünde natürlich die Möglichkeit, dass

Horaz bloß den zukünftigen Bekanntheitsgrad seiner Person

andeuten will und dabei die inhaltliche Bedeutung des Mythos

außer Acht lässt135. Dem ist jedoch einzuwenden, dass jeder

sonstige Bezug zum Ikarusmythos, den Horaz innerhalb der Oden

herstellt, mit einer deutlich negativen Konnotation versehen

ist136. Zudem bliebe die Frage, warum Horaz - ginge es ihm

einzig um den Ruhm - gerade diesen Mythos zum Vergleich gewählt

hat.

133 Vgl. Schwinge 1965, 457. Dabei steht hyperboreosque campos (v.16) fürNorden, Syrtisque Gaetulas (v.15) für Süden, Hiber Rhodanique (v.20) für Westen undColchus et … Dacus et … Geloni (v.17ff.) für Osten.134 Vgl. Nisbet 1978, 344, siehe auch c. 1,24,13; c. 3,9,8; Ov. trist. 3,4,21.Daher muss auch von der durch Bentley vorgeschlagenen Konjektur tutiorabgesehen werden, weil Ikarus in einem solchen Fall bereits als tutusgegolten hätte, was in Anbetracht seines Schicksals jedoch wenig Sinnergäbe.135 So Breuer 2009, 77, Anm. 38.136 c. 1,3,34f.; c. 4,2,1-4. Diese Stellen werden im Folgenden noch genauererläutert.

51

Es ist also durchaus anzunehmen, dass sich Horaz auch in

c. 2,20 nicht allein auf den Bekanntheitsgrad des Ikarus

bezieht, sondern ebenso auf dessen Hybris anspielt, die

letztlich für sein Schicksal verantwortlich war. Das impliziert

jedoch für die eigentliche Aussage des Horaz, dass auch er für

sein Scheitern bekannt sein wird und dass die Ausmaße dieses

Scheiterns das Schicksal des Ikarus sogar noch übertreffen

werden. Wir stoßen hier auf einen weiteren inhaltlichen Punkt,

der mit der Thematik des Gedichts von der Verkündung des

eigenen Nachruhmes nach genauerer Beurteilung nicht vereinbar

ist. Besinnen wir uns zurück auf die Fragestellung und

versuchen die angesprochenen Stellen ironisch zu deuten, lassen

sich die Widersprüchlichkeiten aufheben, wie in der Folge

gezeigt werden soll.

In der ansonsten sehr gründlichen Interpretation von Schwinge

wird die Frage nach der Verwendung des Ikarusmythos leider

vernachlässigt, bzw. nur unbefriedigend beantwortet137. Nisbet

bemerkt in seinem Kommentar immerhin den „schwierigen Umstand“,

dass Ikarus mehr für seinen Fall als für seinen Flug berühmt

gewesen sei, was ihn einen ironischen Unterton des Gedichts

feststellen lässt138. Hinzu komme, dass notus auch häufig in der

Bedeutung von „berüchtigt“ gebraucht werde. Dennoch müsse der

Vers insgesamt als ernsthaft aufgefasst werden, was dem137 So sieht Schwinge in notior eine Abgrenzung des Horaz von Ikarus unddessen Scheitern. Horaz sei bekannter, weil er nicht wie Ikarus als Mensch,sondern wie Pindar als „göttlich begnadeter vates“ fliege, für den dieNaturgesetze ihre Gültigkeit verloren hätten, Schwinge 1965, 451. Zwarfasst Breuer in seiner Analyse mythologischer Motive in den Oden dieVerwendung des Ikarusmythos in c. 1,3,34f. und c. 4,2,1-4 als Verweis aufdie menschliche und oder dichterische Hybris auf. In c. 2,20 spiele dieinhaltliche Bedeutung und der damit verknüpfte Symbolcharakter des Ikarusjedoch keine Rolle, vgl. Breuer 2009, 74ff.138 Nisbet 1978, 344, „Horace is wryly aware of the danger of appealing tothe general judgement of mankind”.

52

Gedanken an eine Ironie dichterischer Selbstdarstellung

widerspräche139.

Dagegen muss jedoch angebracht werden, dass Horaz später

in c. 4,2,1-4 das gleiche Motiv benutzt hat, um den Versuch,

auf literarischer Ebene Pindar gleichzukommen, als vergebliches

Unternehmen darzustellen140:

Pindarum quisquis studet aemulari,

Iulle, ceratis ope Daedalea

nititur pinnis, vitreo daturus

nomina ponto. (4)

Die Hybris des Ikarus wird hier deutlich mit der Gefahr

dichterischer Selbstüberschätzung in Verbindung gebracht141.

Zwar wurde in der Vergangenheit unter anderem von Fraenkel

eingewendet, dass Horaz mit dem angewendeten Vergleich freilich

das Risiko der Pindarnachahmung hervorhebe, im Grunde aber auf

deren zumindest ruhmreiches Ergebnis ziele; Ikarus sei ja

gerade durch seinen Sturz berühmt geworden142. Dem ist aber

entgegenzuhalten, dass, auch wenn Ikarus durch sein

spektakuläres Ende zu Nachruhm gelangt ist, Horaz aber doch

unmöglich vorschlagen kann, jeder Beliebige (quisquis, v.1)

könne, ungeachtet seiner poetischen Fähigkeiten, durch eine

auch noch so misslungene imitatio Pindars zu Geltung gelangen143.

139 Ebd.140 Die einzige weitere Stelle, in dem das Ikarus-Motiv bei Horaz nocherwähnt wird, findet sich in c. 1,3,34f. Auch hier steht Ikarusstellvertretend für die Gefahr menschlicher Hybris.141 In c. 1,3,34f.142 Vgl. Fraenkel 1957, 510, Anm. 4.143 Vgl. Perret, J.: Horace, Paris 1959, 173f.

53

Der Fokus liegt also klar auf der Vergeblichkeit eines solchen

Versuches.

Eine ebenso negative Konnotation erfährt der Vergleich mit

dem Mythos aber auch schon im ersten Odenbuch in c. 1,3,34ff.:

expertus vacuum Daedalus aera

pinnis non homini datis;

35

perrupit Acheronta Herculeus labor.

nil mortalibus ardui est :

caelum ipsum petimus stultitia neque

per nostrum patimur scelus

iracunda Iovem ponere fulmina 40

Anders als in c. 4,2,1-4 geht Horaz in dieser Passage nicht auf

die Gefahr dichterischer Überheblichkeit im Speziellen ein,

sondern kritisiert den menschlichen Hang zur Hybris im

Allgemeinen. Die deutliche Kritik zeigt sich vor allem in v. 38

(caelum ipsum petimus stultitia). Horaz lässt auch an dieser Stelle

keinen Zweifel an dem für ihn äußerst negativen Symbolcharakter

des Mythos144.

Dieses Verständnis erlaubt auch eine Erklärung des

Vergleiches in c. 2,20. Der Dichter ist deswegen bekannter,

oder vielmehr - nach Nisbet - berüchtigter als Ikarus, da er genau

das tut, was er zu Beginn von c. 4,2 als waghalsigen Größenwahn

definiert hat: Horaz apostrophiert sich durch die Annahme der

144 Auch wenn hier der Vater Daedalus als Negativbeispiel genannt wird, soist dies für die Konnotation des Ikarus gleichbedeutend – schließlich ister es, der das Werk seines Vaters ausführt.

54

„symbolischen Identität“ Pindars145 - dem Schwan - als dieser

selbst. Die Metamorphose des Horaz wird zur aemulatio mit Pindar

und muss daher als (selbst-)ironische Charakterisierung zu

großer dichterischer Ansprüche verstanden werden. Horaz stellt

sich mit Pindar auf eine Stufe, nur um wenige Zeilen später mit

dem Verweis auf Ikarus zu beweisen, dass er mit diesem Vorhaben

seine dichterischen Fähigkeiten überschätzt und deswegen

scheitern wird.

Verstärkt wird die ironische Tendenz des Gedichts noch

durch die andere, oben angesprochene Widersprüchlichkeit des

Gedichts: Die beinahe naturalistisch anmutende Schilderung der

Verwandlung, die den Vergleich mit Pindar schließlich zur

Lächerlichkeit werden lässt. Meiner Meinung nach ist diese

Lächerlichkeit von Horaz durchaus intendiert. Nimmt man nun

hinzu, dass im Poömium der annales des Ennius sowohl das Motiv

der Verwandlung in einen Vogel, als auch die literarische

Gleichstellung mit einem anderen großen Dichter, nämlich Homer,

stattfindet, dann entwickelt sich die angenommene Deutung der

Selbstironie des Horaz hin zu einer Parodie der dichterischen

Selbstdarstellung des Ennius.

In der bereits behandelten Enniusstelle, die so zentral

für dessen poetisches Selbstbewusstsein zu sein scheint,

fungiert ein Pfau als eine Art Zwischenstation der

Metempsychose der Seele Homers in Ennius. Ennius formuliert

damit gleich zu Beginn seines Werkes seinen dichterischen

Anspruch, als alter Homerus zu dichten146. Dabei ist das

145 Vgl. Erasmo 2006, 373.146 Vgl. Enn. ann. **ii - **ix (Sk), somno leni placidoque revinctus / visus Homerusadesse poeta / etsi praeterea tamen esse Acherusia templa Ennius aeternis exponit versibus edens,quo neque permanent animae neque corpora nostra sed quaedam simulacra modis pallentia miris.unde sibi exortam semper florentis Homeri commemorat speciem lacrumas salsas coepisse et rerum

55

Verhältnis Ennius – Homer sicherlich mit dem Verhältnis Horaz –

Pindar vergleichbar. Wir finden jeweils einen jüngeren Dichter,

der sich selbst in der Nachfolge des älteren Dichters sieht,

was auch am jeweiligen Werk offensichtlich wird: Die mit dem

Namen Homers in Verbindung gebrachten Texte stehen zu allererst

für die Gattung des Epos, an welcher sich auch Ennius in seinen

annales versuchte.

Für Horaz auf der anderen Seite fungiert Pindar, der in

seinen Epinikia bei Wettkämpfen erfolgreichen Sportlern durch

Lobeshymnen zu ewigem Ruhm zu verhelfen suchte, zugleich als

archaischer Vorgänger und großes Vorbild147. Die horazischen

Oden können sehr oft als in dieser Tradition stehend aufgefasst

werden148. Aber anders als Ennius, der sich wie gesagt in seinem

Epos als alter Homerus apostrophiert, gibt Horaz sogar offen zu,

dass es für ihn, wie auch für alle anderen Dichter, unmöglich

sei, mit der eigenen Dichtung die Qualität Pindars zu

erreichen, geschweige denn, sie zu übertreffen.

Wenn wir nun auf unsere Argumentation zurückkommen, dann

lässt sich genau an dieser Stelle die Motivation finden, mit

welcher der Horaz die ennianische Selbstdarstellung parodiert:

Sie ergibt sich aus dem starkem Kontrast zu der eigenen

moderatio, in dem die prahlerische Selbstdarstellung des Ennius

zu stehen scheint. Horaz parodiert diese Prahlerei in c. 2,20,

während er genau die Szene, in welcher sie deutlich wird,

anhand seiner Person nachahmt. Aufgrund der zur Lächerlichkeit

naturam expandere dictis. / O pietas animi / memini me fiere pavom.147 Natürlich dienten Horaz auch Alkaios und Sappho als literarischeVorbilder für die Oden, was auch an der Wahl des Metrums der meistenGedichte deutlich wird, vgl. Fuhrmann 1999, 224.148 So evoziert beispielsweise c. 1,12,1f. gezielt die zweite Olympische OdePindars, vgl. Holzberg 2009, 122.

56

provozierten Metamorphose sowie der durch den Vergleich mit

Ikarus in der imitatio bereits implizierte Hinweis auf die

Vergeblichkeit des Unterfangens, bewegt sich der Ton des

Gedichts zu jedem Zeitpunkt in einer Sphäre der Ironie – auch

wenn dieser ein durchaus mahnender Charakter innewohnt.

Mit dem Schluss des Gedichts wird ein erneuter Bezug zu

Ennius hergestellt:

absint inani funere neniae (21)

luctusque turpes et querimoniae;

compesce clamorem ac sepulcri

mitte supervacuos honores.

In der sechsten Strophe der Ode finden wir den ersten Teil des

ennianischen Grabepigramms inhaltlich wiedergegeben. Ebenso wie

Ennius fordert auch Horaz, dass bei seinem Begräbnis nicht

getrauert werden solle. Weil das Grab leer sei, erscheinen auch

Klagerufe verkehrt (v. 22 turpes) und sinnlos (v. 24 supervacuos).

In Anbetracht der herausgestellten parodistischen Intention des

Mittelteils des Gedichts scheint die Intertextualität zum

Ennius-Epigramm die Ironie noch zu steigern. Es wirkt fast so,

als karikiere Horaz sogar noch im letzten Moment des Gedichts

die dichterische Selbstauffassung des Ennius, indem er ihn auch

in seinem ultimativen Wunsch imitiert.

III. 1. f) Ergebnisse der Einzelinterpretation

57

Nach der eingehenden Untersuchung der Ode 2,20 ist die anfangs

aufgestellte These nicht auszuschließen. Es scheint in

Anbetracht der Ergebnisse der vorangegangenen Argumentation

sogar glaubhaft, dass Horaz, anstatt der stolzen Formulierung

seines Nachruhmes, mit der beschriebenen Metamorphose das

dichterische Selbstverständnis seines Vorgängers parodiert.

Ausschlaggebend für diese Interpretation waren folgende Punkte:

Zum einen wird durch die starke Intertextualität des

Gedichts mit dem Werk des Ennius (Grabepigramm und

Annalen-Proömium) die Dichtung des Ennius fühlbar in den

Deutungszusammenhang der Ode 2,20 gerückt.

Die zu Beginn der Untersuchung herausgestellte Ambivalenz

des Enniusbildes im horazischen Opus lassen eine Deutung

der Ode im Kontext einer kritischen Reflektion des Ennius

und der von ihm vertretenen Kunstauffassung als denkbar

erscheinen.

Zum anderen erzeugt die drastische Beschreibung der

Metamorphose des Dichters eine ironische Atmosphäre, die

mit dem ursprünglich angenommenen Thema der

Unsterblichkeit durch literarischen Ruhm im Widerspruch

steht.

Entscheidend für die These scheint der allegorische

Vergleich mit dem Ikarusmythos zu sein. Dieser

symbolisiert im horazischen Werk stets das durch

Selbstüberhöhung hervorgerufene Scheitern des Menschen –

und speziell des Dichters, wie sich in c. 4,2 zeigt. In

diesem Motiv scheint der Schlüssel zu einer ironischen

Auslegung des Gedichts zu liegen. In einer solchen stellt

58

Ennius für Horaz das Negativbeispiel für zu große

dichterische Ansprüche, beziehungsweise maßlose

Selbstüberhöhung, dar. Horaz entwickelt eine Parodie

seines Vorgängers, indem er in der Ode durch die

Metamorphose in einen Schwan eine aemulatio mit Pindar

vorführt und so die Vorgehensweise des Ennius, der das

Gleiche mit Homer tat, persifliert. Durch den Vergleich

mit Ikarus, der gewissermaßen als Pointe des Gedichts

fungiert, weist er gleichzeitig auf den anmaßenden,

hybriden Charakter einer solchen aemulatio hin. Wenn Ikarus

einem Meer seinen Namen gegeben hat149, so könnte man

analog für Ennius verstehen, dass auch er sein

persönliches Ziel verfehlt habe, wie ein alter Homerus zu

dichten150. Oder anders gesagt, habe gerade sein überhöhter

dichterischer Anspruch zu seinem Scheitern geführt. Und

nach Horaz, so scheint es, werde er vor allem für diesen

verfehlten Selbstanspruch in die Geschichte eingehen.

III. 2. Die Ironie des Vergleichs – Gedächtniskultur in c. 4,8

III. 2. a) Inhalt und vordergründige Intention

Für einen weiteren Beleg der Ironisierung Horazens seines

Verhältnisses zu Ennius wendet sich die Untersuchung der

Interpretation der donarem pateras-Ode (c. 4,8) zu. Auch dieses149 Vgl. c. 4,2,3f.150 Was auch mit der herausgestellten Distanzierung des Horaz von derpreisenden Apostrophierung des Ennius übereinstimmt. Vgl. „ut critici dicunt“, S.5f.

59

Gedicht, welches sich an zentraler Position innerhalb des

vierten Odenbuches befindet151, setzt den Gedanken fort, dass

Dichtung die Taten verdienter Menschen verewigt und auf diese

Weise auch die Besungenen unsterblich macht. Im Unterschied zu

c. 2,20 konzentriert sich Horaz hier aber auf die Wirkung der

Poesie auf ihr Objekt und nicht, wie zuvor, auf das dichtende

Subjekt. Der bekannte Horazforscher Eduard Fraenkel

kommentiert, dass der Anspruch, lyrische Dichtung könne

menschlichen Errungenschaften Unsterblichkeit verleihen, in c.

4,8 überhaupt zum ersten Mal in der römischen Literatur in

Erscheinung tritt152. Das im Gedicht angesprochene Objekt

scheint zunächst ein gewisser Censorinus zu sein, den die

neuere Forschung mit Vorbehalten als C. Marcius Censorinus,

Konsul des Jahres 8 v. Chr., identifiziert153.

Der Inhalt des Gedichtes stellt sich wie folgt dar: Horaz

würde seine Gefährten (sodales), zu denen der Dichter Censorinus

anscheinend zählt, gerne reich beschenken. Da aber Letzterer

wohl weder Bedarf an materiellen Kunstwerken habe, noch Horaz

imstande sei, solche zu beschaffen, bietet er ihm Lieder

151 Zur Struktur des vierten Odenbuches kürzlich Holzberg 2009, 177.152 Vgl. Fraenkel 1957, 423. Holzberg hingegen verweist auf c. 3,25, wo Horazdie Apotheose des Augustus durch seine Dichtung ankündigt, vgl. Holzberg2009, 179. Zudem scheint durch die fast vollständige Übereinstimmung von c.3,25,20 und c. 4,8,33 (viridi tempora pampino) ein gewollter Zusammenhangzwischen den Gedichten zu bestehen - vorausgesetzt c. 4,8,33 stellt keineInterpolation dar, wovon Kiessling in seinem Kommentar ausgeht, vgl.Kiessling / Heinze 1955, 435.153 Zur Wahl stehen dabei entweder L. Marcius Censorinus (cos. 39 v. Chr.)oder der erwähnte G. Marcius Censorinus (cos. 8 v. Chr.). Für den Letzterenspricht sich vor allem Harrison 1990, 32ff. aus. Diese Auslegung ist jedochkeinesfalls eindeutig, wie Thomas resumiert: „As Harrison and others havenoted, the younger Censorinus would be more appropriate in view of theother youthful addresses of the book. […] On the other hand, if […] theTorquatus of 4,7 is an elderly man, […] then it might be that the centraltriad of the book (7-9) concerns itself with older addresses, Thomas 2011,187f.

60

(carmina) an, an denen Censorinus ohnehin großen Gefallen

finde. Zudem könnten, so fährt der Dichter fort, materielle

Güter (incisa notis marmora) den von einem Mann erworbenen Ruhm

nicht deutlicher anzeigen (non clarius indicant) als die Dichtung.

Zur Unterstützung dieser These benutzt Horaz als exemplum nobile

die Figur des Scipio Africanus, dessen Taten dank der Dichtung

des Ennius auf ewig in Erinnerung bleiben würden. Abschließend

nennt er weitere Beispiele aus dem griechisch-römischen Mythos,

die ebenso durch die Fähigkeit machtvoller Sänger (potentes vates)

Unsterblichkeit erlangt hätten und unterstreicht so die

Überlegenheit der Dichtung über stoffliche Güter, wenn es um

die Erzeugung von Nachruhm oder sogar um die Apotheose des

Besungenen geht, wie die letzteren Beispiele (Herakles, Kastor

und Pollux) nahe legen. Im Kommentar von Kiessling und Heinze

wird das Gedicht daher als „Verherrlichung der Poesie als

Ruhmeskünderin, die dem Besungenen Unsterblichkeit, ja selbst

Göttlichkeit zu verleihen vermag“ apostrophiert154.

III. 2. b) Deutungskontroverse

Im Laufe der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dem

Gedicht hat sich, wie bei dem schon besprochenen c. 2,20, eine

Forschungskontroverse entwickelt. Der Ausgangspunkt des

Streites ist die Versanzahl 34. Das Gedicht widerspricht damit

als Einziges der Odensammlung der sogenannten lex Meinekiana.

Dieses von Meineke und Lachmann aufgestellte Gesetz geht von

der Teilbarkeit der Gesamtverszahl einer jeden Ode durch die

Zahl Vier aus155. Zur Lösung dieser Unregelmäßigkeit schlugen154 Kiessling / Heinze 1955, 428.155 Vgl. Lachmann 1876, 84-86.

61

spätere Interpreten die Tilgung von zwei, beziehungsweise sechs

Versen vor, die angeblich Ergebnis einer Interpolation seien.

Vor allem die Passage im Mittelteil des Gedichtes, in der die

Taten des Scipio Africanus und das Verdienst der ennianischen

Dichtung behandelt werden (vv. 15b – 19a), wurde oft als

nachträgliche Veränderung des Textes gedeutet156.

Bereits A. Elter argumentierte jedoch dagegen, die lex

Meinekiana sei für c. 4,8 nicht zwingend anwendbar, weil das

Gedicht in seiner Form und Gestalt sowie seinem Inhalt nicht

rein lyrisch sei157. Außerdem fügt R. Thomas in seinem kürzlich

erschienenen Kommentar des vierten Odenbuches hinzu, dass der

in der Regel vorgeschlagenen Tilgung der der Verse 15b – 19a

widersprochen werden müsse, da die Ode auf diese Weise viel von

ihrer pindarischen Ausstrahlung verlöre. Zudem würde der

anschließend hergestellte Bezug zu Ennius schwer

verständlich158.

Entschließt man sich zur Beibehaltung der Verse, so ergibt

sich jedoch ein weiteres Problem: Horaz schreibt in Vers 17

Scipio Africanus die Niederbrennung Karthagos zu, die

allerdings von dem jüngeren Scipio Aemilianus befehligt wurde.

Außerdem ereignete sich die Zerstörung der Stadt erst im Jahr

146 v. Chr., Ennius aber, der die Tat nach Horaz in seiner

Dichtung verewigte, starb bereits 169 v. Chr.159. Der Vorschlag,

Horaz hätte an dieser Stelle neben dem älteren auch den

jüngeren Scipio – der später ebenfalls den Beinamen Africanus

erhielt – als Beispiel anführen wollen, gerät durch das

156 Für genauere Angaben zu den jeweils zu Tilgung vorgeschlagenen Verse undLiteratur, siehe Thomas 2011, 186.157 Vgl. Elter 1907. So später auch Putnam 1986, 147, Anm. 1.158 Vgl. Thomas 2011, 186.159 Putnam 1986, 150, Anm. 6.

62

folgende eius (v. 18) sowie den expliziten Hinweis auf Ennius

fraglich160.

III. 2. c) c. 4,8 im Spiegel der Ironie

Anstatt eine Tilgung gewisser Verse vorzuziehen, versucht diese

Untersuchung der von Elter aufgestellten These zu folgen, dass

das Gedicht durchaus in seiner Ganzheit genuin und horazisch

sei. M. E. scheint es möglich, die bei dieser Auffassung

auftretenden Probleme zu vermeiden, indem der Versuch

unternommen wird, die oben dargestellten Widersprüchlichkeiten

durch eine ironische Interpretation des Gedichts aufzulösen.

Von grundsätzlicher Bedeutung ist dabei die Annahme, dass Horaz

die Widersprüchlichkeit des Gedichts selbst intendiert hat.

Dazu geben uns vor allem zwei Gesichtspunkte Anlass:

Erstens lässt der von Horaz angestrebte Vergleich zwischen

stofflichem und literarischem Gedenken nicht eindeutig auf eine

Höherstellung des Letzteren schließen. Durch die negative

Komparation (non clarius indicant quam) ergibt sich beim wörtlichen

Verständnis der Verse vielmehr eine Gleichstellung der

verglichenen Objekte. Zweitens scheint, abgesehen von den

bereits angesprochenen Problemen, ein Umstand verdächtig, der

bisher nur von P. R. Hardie gewürdigt worden ist. Gemäß der

Überlieferung wurde die posthume Ehrung des Ennius, der im

Gedicht als Vertreter der Dichtung präsentiert wird, in

materieller Form, durch eine Statue auf dem Scipionengrab,

gesichert. Der Nachruhm des Dichters wurde also durch genau

diese Art der Gedächtniskultur verkörpert, welcher die

160 Vgl. Kiessling / Heinze 1955, 432.

63

ennianische Dichtung in c. 4,8 entgegengestellt wird161. Könnte

diese Tatsache162, die schon der literarischen Postulierung des

Ennius in Bezug auf seine dichterische Unsterblichkeit163

widerspräche, Horaz Anlass dazu gegeben haben, seinen Vorgänger

auf geschickte und unterschwellige Weise zu parodieren?

Die Untersuchung wird sich daher auch mit der Frage

auseinandersetzen, ob die scheinbare Diskrepanz zwischen

ideeller und reeller Selbstdarstellung des Ennius als Grundlage

für die horazische Motivation zur Ironisierung des Gedichts

fungieren kann. Dabei schließt die Analyse an die Ergebnisse

der Einzelinterpretation des bereits besprochenen c. 2,20 an.

Natürlich gilt es hier zu beachten, dass Horaz das vierte

Odenbuch mehrere Jahre nach der Veröffentlichung der ersten

drei Bücher herausgegeben hat. Der chronologische Abstand

erlaubt uns zu prüfen, ob sich an dem Verhältnis, welches Horaz

zu Ennius hatte, mit fortgeschrittenem Alter und höherer Reife

des Dichters eine Entwicklung oder Veränderung feststellen

lässt.

III. 2. d) Einzelinterpretation c. 4,8

Während das Gedicht aufgrund seiner 34 Verse der lex Meinekiana

widerspricht, findet sich mit dem asklepiadeischen Versmaß auch

ein bei Horaz äußerst seltenes Metrum, das er sonst nur in c.

1,1 und c. 3,30 verwendet – also in den beiden, die erste

161 Vgl. Hardie 1993, 135.162 Wie glaubhaft die antiken Quellen über die Ennius-Statue auf demScipionengrabmahl sind, wird im Rahmen der anschließendenEinzelinterpretation geprüft werden.163 Vgl. Nemo me lacrimis decoret nec funera fletu faxit. Cur? Volito vivos per ora virum, frg.var. 17 V.

64

Odenedition einrahmenden Gedichte. c. 4,8 stellt nun genau die

Mitte des vierten Buches dar. Dabei entsteht durch den

Rhythmus, bei dem der gleiche metrische Vers für das gesamte

Gedicht wiederholt wird, eine gravitätische Atmosphäre. Des

Weiteren evoziert der Asklepiadeus durch seine

dodekasyllabische Ordnung, d. h. durch eine natürliche Pause

nach der sechsten von zwölf Silben und damit zwei metrisch

identischen Vershälften, eine geradlinige Direktheit, wie

Putnam ausführt164.

Neben dem Versmaß lässt sich mit Sicherheit eine weitere

Parallele zu den beiden früheren Gedichten ausmachen. So

reflektiert Horaz in c. 1,1 und c. 3,30 über den Wert seiner

Dichtung für sich selbst; in c. 4,8 steht die Bedeutung für

diejenigen im Vordergrund, die von seiner Dichtung behandelt

werden.

Versucht man unter Beibehaltung aller Verse, die Ode

einzuteilen, so bietet sich eine inhaltliche Aufteilung in

Einleitung (v. 1 – 12), Hauptteil (v. 13 – 20) und Schluss (v.

20b [neque] – 34) an.

Donarem pateras grataque commodus,

Censorine, meis aera sodalibus,

donarem tripodas, praemia fortium

Graiorum, neque tu pessuma munerum

ferres, divite me scilicet artium 5

quas aut Parrhasius protulit aut Scopas,

hic saxo, liquidis ille coloribus

sollers nunc hominem ponere, nunc deum:

164 Vgl. Putnam 1986, 149.

65

sed non haec mihi vis, nec tibi talium

res est aut animus deliciarum egens : 10

gaudes carminibus ; carmina possumus

donare, et pretium dicere muneri.

Im ersten Teil des Gedichts schlägt Horaz Censorinus, einem

seiner Gefährten (v2. meis sodalibus), lyrische Gedichte (v. 11

carmina) als würdige Geschenkgabe vor, da er weder in Lage

wäre, ihm materielle Ehrungen (v. 3 tripodas; praemia) Kunstwerke

(v. 5 artium), wie sie bildende Künstler kreieren, zu schenken.

Noch habe Censorinus an solchen Dingen Bedarf oder größere

Freude als an Gedichten.

Es fällt auf, dass die Einleitung sehr ebenmäßig gegliedert

erscheint. Wir finden sechs Distichen, die bis auf die Ausnahme

ferres (v. 5) in sich abgeschlossen sind165. Es herrscht eine

insgesamt heitere Tonlage vor, die zum einen durch die

Vorstellung erzeugt wird, der Dichter Horaz hätte tatsächlich

originale Werke der genannten Künstler zu verschenken, zum

anderen durch die abschließende, scherzhafte Selbstironie (v.

11f.)166.

Dabei bereitet Horaz schon in der Einleitung des Gedichts

den im Mittelteil folgenden Vergleich von literarischem und

materiellem Gedenken vor, auf welchen wir uns anschließend

konzentrieren werden. Bevor zum direkten Vergleich übergeht,

erzeugt der Dichter einen Dualismus der Künste167. Indem er

zunächst die Auszeichnungen griechischer Athleten (v. 3f.

165 Vgl. Kiessling / Heinze 1955, 429.166 Vgl. ebd.167 Vgl. Putnam 1986, 148.

66

praemia fortium Graiorum), dann Skulpturen und Bilder (v. 5ff.

artium […] saxo, […] coloribus) berühmter römischer Künstler als

kostbare Geschenke anführt, schafft Horaz eine Ebene der

konkreten, physisch erfahrbaren Kunst. Dieser Kunst kommt

aufgrund ihrer hohen materiellen Kosten und ihrer komplizierten

Herstellung – Faktoren, die dem Dichter ihre Beschaffung

unmöglich machen – ein besonderer Wert zu. Ganz im Gegenteil

dazu scheint die Dichtung (v. 11 carmina) auf leichtem Wege zu

verschenken zu sein, da sie keinen Wert im materiellen Sinne

besitzt. Ihre Erfahrung, welche für den Beschenkten trotzdem

gewinnbringend sein kann, ist abstrakt und spirituell.

Besonders interessant scheint die nähere Betrachtung der

beiden exempla nobilia, die Horaz in seiner Argumentation nennt:

Parrhasius war nach Plinius dem Älteren ein äußerst begabter

Maler aus Ephesus Ende des fünften Jahrhunderts v. Chr..

Plinius schreibt, dass er bekannt dafür gewesen sei, als Erster

in der Malerei Proportion (symmetria), Gesichtsausdruck (argutiae

vultus) und Eleganz der Haare (elegantia capilli) ausgedrückt zu

haben. Gleichzeitig habe er unter Zeitgenossen jedoch als

arrogant und selbstsüchtig gegolten168. Scopas wiederum wird von

Plinius als aus Paros stammender Bildhauer und Architekt der

vierten Jahrhunderts v. Chr. genannt169. Viele seiner Werke

gelangten wohl auch nach Rom, wie sein Apollo Citharoedus im

palatinischen Apollo-Tempel. Dieser war Horaz mit Sicherheit

bekannt170.

168 Plin. maior, N. H. 35,67ff.: Parrhasius Ephesi natus et ipse multa contulit. primussymmetrian picturae dedit, primus argutias voltus, elegantiam capilli, venustatem oris, confessioneartificum in liniis extremis palmam adeptus. haec est picturae summa suptilitas. […] ostendebatnamque varium: iracundum iniustum inconstantem.169 Plin. maior, N. H. 36, 25ff.170 Vgl. Thomas 2011, 188f.

67

Bei der Frage, warum Horaz in seinem Gedicht genau diese

beiden Künstler anführt, lässt sich sicherlich zunächst

festhalten, dass Beide hervorragende Vertreter der

herausgestellten, physisch-konkreten Kunstgattungen waren.

Nehmen wir aber die anschließende Referenz zu Ennius vorweg (v.

20), die sowohl wegen ihrer Position als auch ihrer Bedeutung

zweifelsfrei im Zentrum des Gedichts steht, so lassen sich

zumindest zwischen der Figur des Parrhasius und Ennius ein paar

vorsichtige Parallelen ziehen: Auch Ennius schuf in der von ihm

betriebenen Kunst als Erster etwas Neues. Mit der Einführung

des Hexameters als neuem Versmaß des römischen Epos galt der

vorklassische Dichter in Rom lange Zeit als Archeget.

Gleichzeitig fällt die arrogante, selbstüberhebliche

Einstellung ins Auge, die Plinius dem Parrhasius attestiert. In

Verbindung mit den aus der Analyse von c. 2,20 gewonnenen

Erkenntnissen, scheint es denkbar, dass Horaz in c. 4,8 über

die Figur des Parrhasius aber auch indirekt auf die

kritisierte, überladene Selbstdarstellung des Ennius anspielt.

Auch deckt sich das gespaltene Bild des berühmten Malers mit

der ambivalenten Meinung, die Horaz über Ennius vertritt, in

der sich Lob und Kritik vereinen.

Neben Ennius, auf den später noch zurückzukommen ist,

spüren wir in der Ode aber noch den Bezug zu einem anderen

Vorgänger Horazens: Wie S. J. Harrison kommentiert, strahlt

Pindar schon aufgrund der Thematik des Ruhmes, der einem

verdienten Menschen durch Poesie verliehen wird, in c. 4,8 –

wie schon in c. 2,20 – eine konstante Präsenz aus171. Eine

deutliche Verbindung zum griechischen Dichter findet sich

171 Vgl. Harrison 1990, 35.

68

bereits in den ersten Zeilen des Gedichts, die stark an die

Erste Isthmische Ode Pindars erinnern172.

Auch wenn sich die Ode in Stimmung und Vokabular durchaus

an die preisende, widmende Lyrik Pindars annähert, so ist doch

zu beobachten, dass sich Horaz im Laufe des Gedichtes

sukzessive von seinem Adressaten, Censorinus, entfernt. Obwohl

dieser noch im Anfangsteil der Ode noch direkt angesprochen

wird, da er für seine anscheinenden Verdienste als sodalis

belohnt werden soll, kommt der Grund, mit dem er sich die

Widmung tatsächlich verdient hat, im Gedicht nicht zur Sprache

- stattdessen folgt der Exkurs über die exempla nobilia. Die

Distanz wächst bis zu dem Punkt, an dem die Verben der Zweiten

Person nur noch in einer allgemeinen Funktion verwendet werden

und sich nicht mehr direkt auf Censorinus beziehen (vgl. v.

21f.). Die anscheinende pindarische Aura des Gedichts wirkt

zwar zunächst nach außen hin, aufgrund der Form und des

Vokabulars der Ode. Inhaltlich besitzt das Gedicht jedoch durch

die völlige Vernachlässigung des Adressaten nur geringe

Ähnlichkeit mit der Dichtung des griechischen Vorläufers.

Zusammen mit den eingangs erwähnten Schwierigkeiten, den

Adressaten überhaupt genau zu identifizieren, ergibt sich ein

fragwürdiges Bild der Widmung. In unserer Interpretation wollen

wir jedoch darauf verweisen, dass der mangelnde Bezug zum

Adressaten eventuell als Indiz aufgefasst werden kann, dass der

Dichter die Ode eigentlich, oder vielleicht auch zusätzlich, an

seinen Vorgänger Ennius richtet, zu dem im folgenden Hauptteil

ein deutlicher Bezug hergestellt wird.

172 Vgl. c. 4,8,1–4: donarem pateras […] tripodas u. Pindar Isthm. 1,19f.: καίτριπόδεσσιν εχόσμησαν δόμον καί λεβήτεσσιν φιάλαισί τε χρυσου.

69

non incisa notis marmora publicis,

per quae spiritus et vita redit bonis

post mortem ducibus, [non celeres fugae

15

reiectaeque retrorsum Hannibalis minae,

non incendia Karthaginis impiae

eius qui domita nomen ab Africa

lucratus rediit] clarius indicant

laudes quam Calabrae Pierides ;

20a

Hatte der Dichter bereits im ersten Teil des Gedichts eine

Unterscheidung von physisch-konkreter und literarisch-

abstrakter Kunst zur Ehrung eines verdienten Menschen

eingeleitet und jeweils mit Beispielen belegt (v. 3 tripodas; v.

5ff. artium […] saxo, […] coloribus versus carmina v.11f.), so

gestaltet er diese Differenzierung im Mittelteil weiter aus.

Dabei spricht Horaz der literarisch-abstrakten Kunstebene auf

den ersten Blick eine höhere Qualität bei der Verbreitung und

Erhaltung des Ruhmes des jeweils Geehrten zu, was aufgrund

seiner eigenen Profession nicht verwunderlich scheint.

Zu diesem Zweck vergleicht der Dichter öffentliche, mit

Inschriften versehene Grabmähler (v. 13 incisa notis marmora publicis)

mit der Dichtung des Ennius, wie durch die Allusion Calabrae

Pierides (v. 20) unmissverständlich klar wird. Zum einen wird

damit die auf den Heimatort des aus Rudiae in Kalabrien

stammenden Dichters angespielt173, zum anderen auf dessen

173 Vgl. Thomas 2011, 192. Ähnlich geht Horaz auch in c. 4,6,27 vor, wo ermit Daunia Camena auf seine eigene Dichtung anspielt, in c. 2,1,38 mit Ceaeneniae auf die des Simonides, vgl. Kiessling / Heinze 1955, 422.

70

Verbundenheit mit der griechisch-hellenistischen Dichtung174.

Noch deutlicher wird der Bezug zu Ennius durch den Verweis auf

die Taten des Scipio Africanus (v. 15b – 19a), deren

effektivere Verkündung (v. 19f. clarius indicant laudes) Horaz als

Vergleichspunkt dient. Ennius hatte sowohl in seinem Epos

Annales als auch in einem weiteren Gedicht Scipios Ruhm

verkündet175.

Bei näherer Beobachtung dieses Vergleichs ergibt sich durch die

negative Art der Komparation jedoch keine Favorisierung eines

der beiden verglichenen Objekte. Bei wörtlicher Auslegung von

‚non […] clarius indicant laudes quam’ wird vielmehr eine

Gleichstellung von Grabmählern und der ennianischen Poesie

erreicht. Während schon Lachmann in der Gleichstellung beider

Objekte eine gewisse Herabwürdigung der Dichtkunst des Ennius

wahrnahm176, hielten spätere Forscher diese Interpretation für

eher abwegig177.

Das Problem des negativen Vergleichs wird aber noch

deutlicher, wenn man die prominenteste Stelle innerhalb der

Oden betrachtet, an denen Horaz über das Ergebnis der eigenen

Dichtung reflektiert:

Exegi monumentum aere perennius (1)

regalique situ pyramidum altius

174 Diese Verbundenheit sagte man Ennius unter anderem aufgrund einer durchGellius 17,17,1 überlieferten, angeblichen Selbstaussage des Dichters nach:Quintus Ennius tria corda habere sese dicebat, quod loqui Graece et Osce et Latine sciret.175 Kiessling / Heinze 1955, 433.176 Vgl. Lachmann 1876, 98f.177 Stellvertretend vor allem: Suerbaum 1968, 186, Anm. 555.

71

Zu Beginn des berühmten c. 3,30 geht der Dichter einen

ähnlichen Vergleich zwischen materieller und literarischer

Gedächtniskultur ein. Allerdings ist er hier, anders als in c.

4,8, wo er über das eigene Werk reflektiert, weitaus

deutlicher. Seine Dichtung wird zum Monument, das sowohl

eiserne wie auch steinerne Kunstwerke in Dauer und Größe

übertrifft. Auch hier findet sich der vergleichende Komparativ

(v. 1 perennius; v. 2 altius), jedoch in positiver Form. Somit wird

die Dichtung eindeutig höher als die materiellen Güter

bewertet.

Auch im später veröffentlichten vierten Odenbuch weicht

Horaz von dieser Einstellung nicht zurück, wie sich in c.

4,2,17ff. bestätigt:

sive quos Elea domum reducit (17)

palma caelestis pugilemve equomve

dicit et centum potiore signis

munere donat 20

An dieser Stelle wird das Verhältnis des Wertes von materiellem

und literarischem Andenken mit großer Klarheit zu Gunsten des

Letzteren entschieden. Das Werk des Dichters beschenke den

Besungenen reicher als hundert Statuen. Dabei spricht Horaz an

dieser Stelle nicht von seiner eigenen Dichtung, sondern von

der seines großen Vorbildes Pindar. Das horazische Werturteil

scheint also nicht nur für ihn selbst zu gelten. Er räumt auch

dem Werk anderer Poeten die gleiche Wirkung ein.

72

Der Gedanke, dass durch Dichtung eher als durch stoffliche

Güter oder Bauwerke die Unsterblichkeit der jeweils gefeierten

Person garantiert werde, findet sich nicht nur bei Horaz. Auch

andere Dichter der augusteischen Zeit maßen ihrer Kunst einen

ähnlichen Wert zu. Eine besonders deutliche Parallele zu dem

untersuchten Vergleich zeigt sich in der Properz-Elegie 3,2,17-

26:

fortunata, meo si qua es celebrata libello!

(17)

carmina erunt formae tot monumenta tuae.

nam neque Pyramidum sumptus ad sidera ducti,

nec Iovis Elei caelum imitate domus, 20

nec Mausoleo dives fortuna sepulchre

mortis ab extrema condicione vacant.

aut illis flamma au timber subducet honores,

annorum aut ictu, pondere victa, ruent.

at non ingenio quaesitum nomen ab aevo

25

excidet: ingenio stat sine morte decus.

Zwar ist mittlerweile weitgehend akzeptiert, dass Properz, wie

sich schon am Vokabular des Gedichts zeigt (v. 18 monumenta;

v. 19 Pyramidum), mit seiner Elegie wohl eine offensichtliche

Nachahmung von Horazens c. 3,30 unternommen hat178. Allerdings

führt der Elegiker die von Horaz im Epilog des dritten

Odenbuches formulierte Auffassung, lyrische Dichtung mache den

Dichter unsterblich, weiter aus. Unsterblichkeit erhält neben

dem Dichter selbst (v. 25f.) vor allem die von ihm besungene178 Vgl. Kiessling / Heinze 1955, 383.

73

Person, in diesem Fall seine Geliebte (v. 17 si qua es celebrata).

Dabei gilt es als gesichert, dass das properzische Gedicht vor

der Herausgabe des vierten Band der Oden erschienen ist, in dem

sich diese Überzeugung erstmals auch bei Horaz zeigt (siehe

oben zu c. 4,2)179. Da die Elegie wohl eher der Lyrik als dem

Epos zuzuordnen ist, scheint es durchaus möglich, dass Properz

Horaz mit der spezifischen Postulierung des Anspruches der

gemeinsamen Kunstgattung, sie mache nicht nur den Dichter,

sondern darüber hinaus auch den Gepriesenen unsterblich, zuvor

kam, wie Suerbaum annimmt180.

Indes ist dieser Anspruch innerhalb der römischen Literatur

kein Novum. Denn es war gerade Ennius, der bereits lange zuvor

in dem bereits angesprochenen Grabepigramm behauptet hatte,

dass ihn seine Dichtung unsterblich mache. Weiterhin wird aus

der von Otto Skutsch unternommenen Rekonstruktion des Proömiums

des 16. Annalenbuches deutlich, dass der Gedanke, stoffliche

Monumente seien der Dichtung hinsichtlich der Sicherung des

Nachruhmes einer Person unterlegen, ebenfalls schon bei dem

vorklassischen Dichter auftaucht181. Suerbaum vermutet in den

von Skutsch zusammengestellten Annalenfragmenten sogar einen

möglichen Prätext für Horazens c. 3,30182. Der einzige

Unterschied ist, dass Ennius sich mit seinem Anspruch auf die

dichterische Gattung des Epos, nicht der Lyrik, bezieht.

Kehren wir nun zu c. 4,8 zurück, überrascht es umso mehr,

dass Horaz im Zusammenhang mit Ennius plötzlich die

Deutlichkeit in der Unterscheidung der Objekte vermissen lässt,179 Suerbaum 1968, 194, Anm. 573.180 Vgl. Suerbaum 1968, 197.181 Skutsch 1985, 564.182 Suerbaum 1968, 165ff.

74

die wir bei ihm an anderer Stelle so deutlich gefunden haben.

In Anbetracht der plötzlichen Zurückhaltung, was die eindeutige

Positionierung der Dichtung des Ennius angeht, scheint es

durchaus legitim, anzunehmen, dass Horaz seine eigene Kunst

anders bewertet als die seines Vorgängers. Und bezieht man

wiederum die von Horaz im Allgemeinen vertretene (und wie in c.

3,30 klar postulierte) Auffassung von der Überlegenheit des

Poetischen gegenüber dem Materiellen mit ein, dann resultiert

aus ihrer Missachtung in dieser Ode eine bewusste Abwertung der

ennianischen Dichtung.

Nun stellt sich natürlich die Frage, mit welcher

Motivation Horaz zu einem solchen Urteil gelangen könnte. Es

scheint, als ließe sich aus der eingangs geschilderten

Problematik im Kontext der Scipio-Passage (v. 15b – 19a) eine

Antwort gewinnen. Zwar ist es bekannt, dass Ennius in seinen

Annalen über den älteren Publius Cornelius Scipio Africanus

(235 – 183 v. Chr.) schrieb, der vor allem dafür berühmt war,

Hannibal in der Schlacht von Zama 202 v. Chr. besiegt und somit

die karthagische Bedrohung zurückgeworfen zu haben (v. 16

reiectaeque retrorsum Hannibalis minae). Es ist hingegen unmöglich,

dass Ennius – wie Horaz andeutet (v. 17 incendia Karthaginis impiae)

– auch über die Zerstörung Karthagos dichtete. Diese wurde von

dem jüngeren Publius Cornelius Scipio Aemilianus (185 – 129 v.

Chr.) befehligt und ereignete sich erst 23 Jahre nach dem Tod

des Dichters. Es ist jedoch ausgeschlossen, dass in der Passage

die Taten von verschiedenen Personen beschrieben werden, wie

aus den Versen 18-19 hervorgeht (eius qui domita nomen ab Africa

lucratus rediit).

75

Diese offensichtlichen, chronologischen Unmöglichkeiten lassen

nur zwei mögliche Erklärungen zu183: Entweder sind die

diskutierten Verse tatsächlich, wie Kiessling und Heinze

meinen, auf die Interpolation eines „Ignoranten etwa des

vierten Jahrhunderts“ zurückzuführen184. Oder aber der Autor

hatte bewusst gar keine historische Korrektheit im Sinn. Wir

wollen prüfen, ob die besagten Probleme als vorsätzliches,

ironisches Spiel verstanden werden können. Es bestünde die

Möglichkeit, dass Horaz mit einer Widersprüchlichkeit innerhalb

seines Gedichts auf eine andere im Zusammenhang mit den

Scipionen und Ennius anspielen wollte.

Anlass dazu gibt uns eine Statue des Ennius, die auf dem

Grabmahl der Scipionen in Rom vermutet wurde. Die antiken

Autoren, die die Existenz der Statue belegen, lassen sich in

zwei Gruppen einteilen: Die Älteren, Cicero185 und Livius186,

scheinen das Dichterbildnis eher für ein Gerücht zu halten

(putatur; dicuntur). Spätere Quellen, darunter Ovid187, Valerius

183 Dass sich Horaz als aufgeklärter Römer wohlmöglich selbst geirrt habenkönnte, erscheint bereits recht unwahrscheinlich. Die Vorstellung aber,dass niemand den Dichter auf ein derart blamables Versehen aufmerksamgemacht habe, macht diese Option zur völligen Absurdität und kann daher andieser Stelle wohl mit Recht außer Acht gelassen werden.184 Kiessling / Heinze 1955, 432.185 Cic. Arch. 22: Carus fuit Africano superiori noster Ennius, itaque etiam in sepulcro Scipionumputatur is esse constitutus ex marmore.186 Liv. XXXVIII 56: Vtrobique monumenta ostenduntur et statuae; nam et Liternimonumentum monumentoque statua superimposita fuit, quam tempestate deiectam nuper uidimusipsi, et Romae extra portam Capenam in Scipionum monumento tres statuae sunt, quarum duae P. EtL. Scipionum dicuntur esse, tertia poetae Q. Ennii.187 Ov. ars am. III 409f. : Ennius emeruit, Calabris in montibus ortus, Contiguus poni, Scipiomagne, tibi.

76

Maximus188, Plinius der Ältere189 und Hieronymus190 sind trotz des

größeren zeitlichen Abstandes zuversichtlicher und gehen

teilweise sogar von einer Bestattung des Dichters in der

Familiengruft aus (Contiguus poni), obwohl oder gerade weil sie

sich auf Cicero und Livius beziehen191. Plinius und Hieronymus

geben sogar an, dass die Ehrung des Dichters in Form einer

Statue noch auf den persönlichen Befehl des Scipio Africanus

erfolgt sei, der etwa 14 Jahre vor Ennius gestorben war.

Das Grabmahl an der Via Appia gilt heute als Beispiel für

den im 2. Jahrhundert v. Chr. einsetzenden Trend, Grabbauten zu

architektonisch aufwendigen Anlagen zu gestalten. Die

wirtschaftliche Prosperität, die nach Ende des Zweiten

Punischen Krieges aufkam, änderte das Erscheinungsbild der

aufblühenden Städte hin zu einer neuen Monumentalität192. Als

einfache, in den Felsen getriebene Kammerfolge existierte die

Scipionengruft wohl schon im 3. Jahrhundert v. Chr. Nach dem

Sieg im Zweiten Punischen Krieg, an dem die Scipionen

bekanntlich großen Anteil trugen, wurde eine großzügige Fassade

geschaffen. Aus dem anstehenden Fels arbeitete man dazu ein

188 Val. Max. VIII 14,1: Superior Africanus Enni poetae effigiem in monumentis Corneliaegentis conlocari uoluit, quod ingenio eius opera sua inlustrata iudicaret, non quidem ignarus, quamdiu Romanum imperium floreret et Africa Italiae pedibus esset subiecta totiusque terrarum orbissummum columen arx Capitolina possideret, eorum extingui memoriam non posse, si tamenlitterarum quoque illis lumen accessisset, magni aestimans, uir Homerico quam rudi atque inpolitopraeconio dignior.189 Plin. N. H. VII, 114 : Prior Africanus Q. Ennii statuam sepulcro suo inponi iussitclarumque illud nomen, immo vero spolium ex tertia orbis parte raptum, in cinere supremo cumpoetae titulo legi.190 Hieron. chron. a. Abr. 1849 = Ol. 153,1, p. 140 H = 168 v. Chr. : Enniuspoeta septuagenario maior articulari morbo perit sepultusque in Scipionis monumento via Appiaintra primum ab urbe miliarum. quidam ossa eius Rudiam ex Ianiculo translata adfirmant.191 Dass Ennius im Grab der Scipionen nicht nur eine Statue besessen,sondern dort auch beigesetzt worden sein soll, kann jedoch ausgeschlossenwerden, da nur Angehörige derselben gens in einem gemeinsamen Familiengrabbestattet werden durften, vgl. Cic. log. 2,55.192 Vgl. Hesberg 1992, 22.

77

Podium heraus, worüber sich wahrscheinlich eine aus Quadern

gestaltete Halbsäulenfront ionischer oder korinthischer Ordnung

befand. Diese in das Felsmassiv getriebene und von großen

Leerflächen an den Seiten gerahmte Architektur muss sich den

aus Rom über die Via Appia kommenden Passanten eindrucksvoll

dargeboten haben. Der Prunk wurde noch gesteigert durch die

Bemalung der Podienfläche mit Szenen aus kriegerischen Erfolgen

der Familie. Welche Bedeutung ihr im Aufbau zugemessen wurde,

lässt sich an ihrer stetigen Erneuerung erkennen. Statuen zur

Ehrung der Verstorbenen hatten ihren Platz in Nischen zwischen

den Säulen. Sowohl erzählende Bilder als auch preisende

Inschriften kündeten von den Taten der Familie. Zudem führten

einzelne Ehrenstatuen ihre prominenten Mitglieder und, wie die

Quellen behaupten, Ennius als einen befreundeten Dichter vor,

ähnlich wie es in einem öffentlichen Bau oder auf dem Forum

geschehen konnte193.

Abb. 1: Rekonstruktion der Fassade des Grabmahls der Scipionen nach Coarelli 2000.

193 Vgl. Hesberg 1992, 22f.

78

Wirkliche Hinweise auf eine Statue des Ennius, wie sie die

Quellen beschreiben, konnten bei den Grabungen und

Sanierungsmaßnahmen im 19. und 20. Jahrhundert jedoch nicht

gefunden werden. Einzige Ausnahme bildete der Fund eines

hellenistischen Porträtkopfes des späten 2. Jahrhunderts v.

Chr., der offensichtlich einmal Teil einer Statue gewesen

war194. Dieser, jetzt im vatikanischen Museum auf dem Sarkophag

des L. Cornelius Scipio Barbatus stehende Kopf mit Lorbeerkranz

wird aber in der Regel nicht als Abbild des Ennius gesehen,

weil er aus Tuffstein und nicht, wie in den Quellen behauptet,

aus Marmor ist195.

Zwar ist also, wie es scheint, kein gesicherter Beweis für

die Verbindung des Dichters mit dem Grabmahl der Scipionen

vorhanden. Trotzdem spiegeln allein die Vermutungen von Cicero

und Livius wieder, dass die Existenz der besagten Statue wohl

ein Gerücht war, welches weite Verbreitung innerhalb der

römischen Gesellschaft besaß. Wenn schon diese beiden,

bedeutenden Autoren der Anekdote über den Dichter soviel Wert

beimessen, dass sie in ihrem Werk Erwähnung findet, so kann im

Kontext der Ennius-Statue zumindest von einer sicherlich

vorhandenen Assoziation vieler Zeitgenossen des Horaz

ausgegangen werden. Auch die Möglichkeit, dass Ennius eventuell

selbst gar keinen Einfluss auf die Aufstellung der Statue

besessen haben könnte, da dies natürlich auch erst nach seinem

Tod passiert sein könnte, spielt in sofern keine Rolle, da

194 Amelung 1908, 8 Kat. Nr. 2a, Taf. 1.195 Vgl. Speier 1963, 73f. So auch Dahlmann 1963, 81, Anm. 2, der diePräsenz einer Ennius-Statue im Grab der Scipionen für eine „bloße Vermutungder ciceronisch-augusteischen Zeit“ hält. Dagegen sind sowohl Hardie 1993,135 als auch Coarelli 1972, 70f. der Meinung, dass den Vermutungen durchausGlauben zu schenken ist.

79

Horaz sich in seiner Anspielung allein auf das Gerücht bezieht,

dass eine solche Statue des Dichters existiert haben mag, die

im Widerspruch mit der Selbstdarstellung des Ennius stände.

Der Augusteer Horaz provoziert im Mittelteil des Gedichts durch

die Anspielung auf Ennius und die inkorrekte Wiedergabe der

historischen Begebenheiten im Zusammenhang mit Scipio Africanus

diese Assoziationen bei seinem Publikum. So müssen die Verse 15

– 19 beim römischen Leser doch ein Moment der Irritation

ausgelöst haben, das zur anschließenden Erinnerung an die dem

Ennius nachgesagte Statue geführt haben mag. Hinzu kommt, dass

nach Kiessling mit incisa marmora neben Ehrendenkmälern und

Weihungen eben speziell auch beschriftete Bildsäulen und

Statuen gemeint sein können196. Des Weiteren könnte auch das

Material Vorstellungen von der angeblichen Ennius-Statue

geweckt haben, die ja laut Cicero ex marmore bestand.

Diesem Gedanken ausgesetzt, wird der Rezipient im

Schlussteil noch einmal mit dem übergreifenden Thema der Ode

konfrontiert, der Überlegenheit der Dichtung gegenüber jeder

Art materieller Güter bei der Sicherung des Nachruhmes einer

verdienten Persönlichkeit. Die suggerierte Gegenüberstellung

dieses Leitgedankens mit der hervorgerufenen Vorstellung von

einer Ennius-Statue widerspricht geradezu diametral dem

Anspruch des vorklassischen Dichters, welcher ebenfalls die

literarische der stofflichen Gedächtniskultur vorzog, wie aus

dem bereits erwähnten Grabepigramm und dem von Skutsch

rekonstruierten Proömium des 16. Annalenbuches deutlich

hervorgeht. Sofern der herausgestellte Widerspruch zwischen

196 Vgl. Kiessling / Heinze 1955, 432.

80

literarischem Anspruch und reellem posthumen Andenken des

Dichters denn tatsächlich vom aufmerksamen Publikum

wahrgenommen worden ist, muss er eine grazile, aber nicht

minder schlagfertige Ironie der Selbstdarstellung des Ennius

generiert haben.

Hinzukommend lässt sich daraus eine weitere Auszeichnung

der Dichtung im Allgemeinen extrahieren: Fast klingt es, als

sei die Dichtung neben der Immortalisierung verdienter

Persönlichkeiten auch dazu in der Lage, historische Fakten den

persönlichen Belangen des Poeten unterzuordnen und sie

dahingehend zu verändern. Horaz tut dies mit Scipio, Ennius –

vorausgesetzt die posthume Ehrung fand nicht gegen seinen

vorherigen Willen statt - vielleicht mit seiner eigenen Person,

wie der von Horaz ironisierte Widerspruch nahelegt.

neque

(20b)

si chartae sileant quod bene feceris,

mercedem tuleris. quid foret Iliae

Mavortisque puer, si taciturnitas

obstaret meritis invida Romuli ?

ereptum Stygiis fluctibus Aeacum

25

virtus et favor et lingua potentium

vatum divitibus consecrat insulis.

[dignum laude virum Musa vetat mori]

caelo Musa beat. sic Iovis interest

optatis epulis impiger Hercules, 30

clarum Tyndaridae sidus ab infimis

81

quassas eripiunt aequoribus ratis,

[ornatus viridi tempora pampino]

Liber vota bonos ducit ad exitus.

Nachdem Horaz den Exkurs zur Dichtung des Ennius abgeschlossen

hat, fasst er noch einmal das Thema der Ode zusammen (v. 20b –

22a). Abschließend ergeht sich das Gedicht in weiteren

Beispielen aus dem römisch-griechischen Sagenkreis, die den

Verdienst der Dichtung für die Unsterblichkeit dieser Figuren

illustrieren. Anders als das vorangegangene Exempel des Scipio

Africanus, sind die mythischen Beispiele jedoch sehr vage und

allgemein gehalten. So werden Romulus, Aiakos, Herakles und die

Söhne des Tyndareos, Kastor und Pollux als durch die Dichtung

bekannte exempla nobilia angeführt, die Gründe für ihre

literarische Erwähnung aber außer Acht gelassen. Mit der

Nennung des Aiakos (v. 25) findet sich mit Sicherheit eine

weitere Allusion zu Pindar, der den Ruhm der Aiakiden besang.

Dabei deuten die Beispiele neben der Unsterblichkeit sogar die

Apotheose ihrer Helden durch die Dichtung an197.

Während aber die eigentlichen Taten der besungenen Helden

übergangen werden, fokussiert Horaz stattdessen die notwendigen

Fähigkeiten des Schöpfers ihres Ruhmes. Die machtvollen Sänger

(v. 26f. potentium vatum) sind es, die für die Verbreitung der

Taten verantwortlich sind. Während diese Dichter gewisse,

notwendige Qualitäten zu besitzen haben (v. 26 virtus; lingua),

ist es an den Helden, sich die Gunst (v. 26 favor) derselben zu

verdienen (v. 28 dignum). Es scheint also fast, als verkehre

Horaz hier die vorgegebenen Machtverhältnisse zwischen

197 Vgl. Putnam 1986, 153.

82

Dichtendem und Bedichtetem. Ersterer ist es, der schon aufgrund

der großen Menge an Menschen, die besondere Taten vollbringen,

gezwungen ist, selektiv zu arbeiten. Erst durch seine Arbeit

wird die Tat des Helden vor dem Vergessen bewahrt und für die

Ewigkeit konserviert (v. 22ff.). Horaz räumt also letztlich

nicht nur der Dichtung – wie in c. 3,30 und c. 4,2 - eine

überlegene Position ein, auch ihr Erzeuger besitzt eine höhere

Gewalt als die Vollbringer der Taten, da der Dichter über ihr

Nachleben entscheidet. Wir finden diesen Gedanken in c. 4,9

fortgesetzt, wenn Horaz erneut die Abhängigkeit der Helden von

ihrem vates sacer bemerkt, der sie als Einziger vor der langen

Nacht des Vergessens schützen könne198.

Es scheint abschließend fast wie eine weitere Ironie, dass

zu Censorinus, dem ursprünglichen Adressaten, auch im

Schlussteil der Ode kein Bezug mehr auszumachen ist und dass

auch dessen Taten in Vergessenheit geraten sind, wie die

angesprochenen Schwierigkeiten bei der historischen Einordnung

dieser Person nahelegen.

III. 2. e) Ergebnisse der Einzelinterpretation

Nach der ausführlichen Untersuchung der donarem-pateras-Ode ist

festzuhalten, dass auch in c. 4,8 gewisse ironische Tendenzen

im Zusammenhang mit Ennius enthalten sind. Auch wenn sie198 c. 4,9,25-28: vixere fortes ante Agamemnona multi; sed omnes inlacrimabiles urgenturignotique longa nocte, carent quia vate sacro.

83

schwerer greifbar und noch graziler als im vorangegangenen c.

2,20 zu sein scheinen, hat diese Arbeit den Versuch

unternommen, die Indizien für die Rechtfertigung einer solchen

Interpretation auf stets begründete Weise herauszustellen.

Zusammenfassend lassen sich folgende Gründe vortragen:

Insgesamt wird die Ode von einer heiteren, humorvollen

Tonlage bestimmt, wie schon Kiessling kommentiert199.

Nichts spricht dafür, dass diese Stimmung im Mittelteil

des Gedichts gebrochen wird, welche vor allem durch die

Vorstellung erzeugt wird, Horaz würde seinen Kameraden

tatsächlich wertvolle Kunstwerke schenken - was er in

scherzhafter Selbstironie verneint.

Die Figur des Parrhasius, die Horaz als Vertreter der

bildenden Künste anführt, lässt vorsichtige Parallelen zu

Ennius erkennen. Während sich die positiven Eigenschaften

des Malers auch beim Dichter in ähnlicher Weise nachweisen

lassen, scheint es, als hätten sich beide auch in ihrer,

von sich selbst überzeugten Darstellung geglichen.

Der eigentliche Adressat, Censorinus, wird im Verlauf der

Ode völlig außer Acht gelassen. Dadurch distanziert sich

das Gedicht von der anfangs scheinbar pindarischen Ehrung

des Besungenen und es deutet sich an, dass Horaz hier wohl

einen profunderen Zweck verfolgt.

Beim Vergleich der Dichtung des Ennius mit stofflichen

Monumenten hinsichtlich ihrer Effektivität bei der

Verbreitung des Nachruhmes des jeweiligen Widmungsträgers

ist Horaz merkwürdig unpräzise, was die Bewertung angeht.

199 Vgl. Kiessling / Heinze 1955, 429.

84

Im Gegensatz zu anderen Stellen, an denen er die eigene

Dichtung (c. 3,30), oder die anderer Poeten (c. 4,2) dem

materiellen Gedächtniskult vorzieht, stellt er in c. 4,8

durch die negative Komparation (non clarius indicant quam)

keines der verglichenen Objekte höher als das andere.

Wenn Horaz - wie auch andere Dichter, was sich aus der

Analyse der Properz-Elegie 3,2 gezeigt hat – von einer

klaren Überlegenheit der Dichtung in dieser Hinsicht

ausgeht, er aber bei Werk des Ennius auf eine derart

eindeutige Positionierung verzichtet, erschließt sich

daraus eine indirekte, „höfliche“ Abwertung der

dichterischen Qualitäten seines Vorgängers.

Vom römischen Leser könnten die Unstimmigkeiten im

Zusammenhang mit Ennius und seiner Ehrung des Scipio

Africanus als Anspielung auf das aus republikanischer Zeit

stammende Gerücht von einer Ennius-Statue im Grabmahl der

Scipionen verstanden worden sein. Diese materielle Ehrung,

ob im Einverständnis des Dichters oder nicht, erzeugt

durch ihre Konstatierung einen starken Widerspruch mit der

Selbstdarstellung des Dichters (Grabepigramm) sowie dem

Anspruch, den er an seine Dichtung stellte (ann. 16), was

wiederum durch das Rahmenthema der Ode gespiegelt wird.

Horaz könnte das ironische Moment dieses Widerspruches

genutzt haben, um, wie schon in c. 2,20, auf indirekte

Weise die Selbstdarstellung des Ennius zu kritisieren.

Hierin fände sich zudem eine Motivation für die

vorangegangene Herabwürdigung seines Werkes.

Wie in den Voraussetzungen der Untersuchung erwähnt worden

ist, kann eine tatsächliche Intertextualität nur dann

85

bestehen, wenn diese sowohl dem Verfasser des Textes als

auch seinen Rezipienten bewusst ist, beziehungsweise von

diesen erkannt wird. In diesem Fall bestünde eine solche

Verbindung des Gedichts wohl zum einen mit den Texten des

Ennius, die den besagten Anspruch von der Überlegenheit

der Dichtung erstmal für die Gattung des Epos verkündeten,

zum anderen mit dem von Cicero und Livius tradierten

Gerücht der Ennius-Statue. Entscheidender wäre jedoch der

wahrscheinliche Umstand, dass ein Großteil der horazischen

Leserschaft sowohl das Werk des Ennius und dessen

Selbstdarstellung als auch das Gerücht seiner posthumen

Ehrung kannte. Die Voraussetzungen für eine eventuelle,

intertextuelle Beziehung wären also durchaus gegeben.

IV. Schlussbetrachtung

86

Nach eingehender Untersuchung und Interpretation der Oden 2,20

und 4,8 kommt die vorliegende Arbeit zu dem Schluss, dass eine

ironische Auslegung der Gedichte gerechtfertigt ist. Zunächst

ließen sich die zur Bestätigung notwendigen

Grundvoraussetzungen allesamt erfüllen:

Die Analyse zur Funktion und Verwendung von Ironie in der

Dichtung des Horaz hat gezeigt, dass dieser in seinem gesamten

Werk unterschiedliche Formen der Komik benutzt, die nicht

zwingend an die jeweilige Gattung gebunden sind. Darunter

findet sich auch die Ironie zum Zwecke der Selbstdarstellung

sowie als Mittel der Kritik. Um den Gebrauch von Witz und

Ironie anzuzeigen, bedient sich der Dichter gewisser, stets

kontextabhängiger Signale200.

Das Bild, welches Horaz von Ennius besaß, war

offensichtlich von einer starken Ambivalenz geprägt. Wie die

Untersuchung sämtlicher Textstellen aus dem horazischen Opus,

in denen es zu einer Erwähnung des Ennius kommt, ergeben hat,

schwankt die Bewertung des vorklassischen Dichters zwischen dem

Lob seiner geistigen Begabung (ingenium) und dem Tadel seiner

anscheinend mangelhaften, dichterischen Fertigkeit (ars). Es

ist ebenfalls aufgefallen, dass Horaz zur Art und Weise der

Selbstdarstellung seines Vorgängers offenbar eine distanzierte

Position einnimmt201.

Dementsprechend ergab der Vergleich der Selbstdarstellung

der Dichter, welcher anhand exemplarischer Textstellen beider

Interpreten durchgeführt wurde, eine starke Diskrepanz in

Anspruch und Formulierung. Wenn Horaz, wie besonders in c.200 Vgl. S. 8ff.201 Vgl. S. 17f.

87

3,30, Stolz und Selbstzufriedenheit aufgrund seiner

literarischen Errungenschaften zeigt, dann verbleibt er doch

stets in einer, durch Mäßigung geprägten Tonlage. Ennius

hingegen wartet mit einer beinahe schon angeberisch wirkenden

Selbstdarstellung auf, die nicht auf Zurückhaltung bedacht

ist202.

Auch die Bedingungen für eine mögliche Intertextualität

der untersuchten Gedichte können als erfüllt angesehen werden.

Es ist, wie die Untersuchung gezeigt hat, einerseits davon

auszugehen, dass Horaz bewusst solche Bezüge konstruiert hat.

Auf der anderen Seite ist im Falle des Ennius auch anzunehmen,

dass derartige Verbindungen aufgrund des hohen

Bekanntheitsgrades seiner Literatur auch vom horazischen

Publikum wahrgenommen wurden203.

Bevor nun die Ergebnisse der Einzelinterpretationen besprochen

werden, scheint es angebracht, sich einmal mit dem thematischen

Hintergrund der untersuchten Gedichte auseinanderzusetzen:

vixere fortes ante Agamemnona

multi; sed omnes inlacrimabiles

urgentur ignotique longa

nocte, carent quia vate sacro. (c.

4,9,25-28)

Auf diese Weise drückte Horaz in den Oden seine Auffassung von

der Fähigkeit des Poeten aus, einer durch seine Dichtung

202 Vgl. S. 18ff.203 Vgl. S. 23ff.

88

gefeierten Person, dank der fortwährenden Rezeption seines

literarischen Werkes durch die Nachwelt, zur Unsterblichkeit zu

verhelfen. Gleichzeitig schenkt die Dichtung auch ihrem

Verfasser ewigen Nachruhm, wie Horaz im berühmten Epilog des

dritten Odenbuches formuliert (c. 3,30). Dieser Gedanke,

welcher ursprünglich in der griechischen Panegyrik entstanden

ist, war der römischen Literatur bis dahin nicht unbekannt.

Bevor Horaz den genannten Anspruch in den Oden erstmals für die

lyrische Dichtung behauptete, hatte bereits Ennius ähnliche

Ambitionen für seine, größtenteils epische Poesie gehegt204.

Beide Dichter verflechten diesen Anspruch in solche

Textpassagen ihrer Werke, die notwendigerweise der

Selbstdarstellung dienen. Aufschlussreich ist dabei die Art, in

welcher der Anspruch formuliert wird. Sowohl Horaz als auch

Ennius greifen in den Szenen der Selbstdarstellung gerne auf

das Mittel des Vergleichs mit, oder Bezugs auf einen früheren

Dichter zurück, welcher in der Regel aufgrund dessen Vorbild-

und oder Vorläuferfunktion eine wichtige Rolle für die eigene

Dichtung einnimmt. Gleichzeitig werden so Ziel und

dichterisches Programm der eigenen Poesie definiert und die

Leistungen des Vorläufers anerkannt sowie geehrt.

Horaz stellt in der Ode 4,2, die sich sowohl mit dem Thema

der literarischen Unsterblichkeit als auch mit dem vom Dichter

vertretenen Kunstprinzip auseinander setzt, einen direkten

Bezug zu seinem großen Vorbild Pindar her. Ähnlich verfährt

Ennius, wenn er sich im Proömium seines Hauptwerkes, dem Epos

annales, in direkter Nachfolge Homers positioniert205.

204 So vor allem in dem ihm zugeschriebenen Grabepigramm, Ennius frg. var. 17(V).205 Enn. ann. **ii - **ix (Sk).

89

Die Bedeutung der Dichtkunst - sowohl für den Ruhm ihres

Dichters, als auch für das durch sie gepriesene Individuum -

stellt auch in den untersuchten Oden das übergeordnete

Leitmotiv dar. Jedoch setzt sich Horaz in c. 2,20 und c. 4,8

auf eine kritische und vor allem ironische Weise mit diesem

Thema auseinander, wie es diese Arbeit zu zeigen versucht hat.

Er stößt bei der Bewertung des Ennius, welcher Vorgänger und in

mancher Hinsicht sicherlich auch Vorbild gewesen ist, auf

Diskrepanzen zwischen dichterischem Anspruch und tatsächlicher

Qualität, beziehungsweise Darstellung des Dichters. Der

Vorklassiker unterscheidet sich in diesen Kategorien zudem von

der persönlichen Auffassung Horazens. Nach der vorangegangenen

Untersuchung scheint es, als habe Horaz in seinen Gedichten

versucht, durch konstruierte Widersprüche auf diese Divergenz

anzuspielen:

Dies vollzieht in Bezug auf den dichterischen Anspruch

seines Vorgängers in c. 2,20. Horaz verbindet hier das von

Ennius wohlbekannte Motiv des Dichterfluges zur Postulierung

poetischer Unsterblichkeit mit der aemulatio an ein persönliches

Vorbild. Auch letzteres erinnert durch die überlieferte

Selbstbezeichnung des Ennius als alter Homerus an den

Vorklassiker. Gleichzeitig wird spätestens, so hat es die

Untersuchung gezeigt, an dieser zweiten Anspielung deutlich,

dass Horaz das Gedicht nicht wirklich auf sich selbst bezieht,

sondern eine ironische, den angeblichen dichterischen Anspruch

des Ennius imitierende Tonlage anstimmt. Denn eine derartige

Selbstdarstellung ist dem augusteischen Dichter ansonsten sehr

fremd und wird an anderer Stelle sogar von ihm verurteilt (c.

90

4,2). Der anschließend in der Ode angebrachte Vergleich mit dem

Ikarusmythos lässt die Ironie nur noch weiter zum Vorschein

treten: Durch seinen Flug bekannter als der gefallene

Dädalussohn zu sein, kann in diesem Sinne nur auf noch größere

Ausmaße des eigenen Scheiterns verweisen. In Verbindung mit der

starken Intertextualität des Gedichts entsteht so eine

indirekte Kritik an Ennius206.

In c. 4,8 lässt sich eine Auseinandersetzung mit den

anscheinenden Unterschieden in Darstellung und Selbstdarstellung

des Ennius erkennen. Ausgehend von der Fragestellung und im

Rückgriff auf die erarbeiteten Voraussetzungen erscheint hier

die von Horaz ungewohnte Undeutlichkeit bei der vergleichenden

Bewertung der Dichtung und materieller Güter hinsichtlich ihrer

Bedeutung für den Nachruhm ihres Besitzers als verdächtig. Im

Vergleich mit anderen Textstellen, die eine klare Favorisierung

eigener und fremder Dichtkunst belegen, setzt Horaz die

Dichtung des Ennius bei wörtlicher Auslegung der Ode auf eine

Stufe mit den stofflichen Andenken. Außerdem wäre es möglich,

dass Horaz durch die fehlerhafte Wiedergabe Taten der

Scipionen, die von Ennius bedichtet worden waren, auf ein bei

seinem römischen Publikum bekanntes Gerücht einer Statue des

vorklassischen Dichters in der Familiengruft der Scipionen

anspielen wollte. Hierin fände sich eine weitere Abweichung der

ennianischen Selbstdarstellung und den tatsächlichen Umständen

im Umgang mit seinem Nachruhm – denkt man nur an das berühmte

Grabepigramm des Dichters. Diese Divergenz gäbe Horaz

zusätzliche Motivation zur Kritik seines Vorgängers207.

206 Vgl. S. 37f.207 Vgl. S. 54f.

91

Die von Horaz angewandte Ironie, in deren Spiegel sich ein von

Überheblichkeit verzerrtes Bild des Ennius zeigt, gestaltet die

Kritik weniger direkt und entwickelt den Eindruck einer

sozusagen „augenzwinkernden“ Zurechtweisung. Es ist darauf zu

verweisen, dass Horaz sicherlich nicht die Parodie oder gar

Bloßstellung des Ennius vor Augen hatte. Denn die horazische

Komik ist, wie wir herausgestellt haben, stets konstruktiv und

darf nicht zur bloßen Posse verkommen208. Vielmehr scheint es

ihm darum zu gehen, auf pointierte und dem Dichterkollegen

gegenüber respektvolle Weise seine persönliche Kritik an dessen

Selbstdarstellung und Ansprüchen auszudrücken (ridentem dicere

verum). Horaz kreiert somit eine feinfühlige Art der

Beurteilung seines Vorgängers, die zu keinem Zeitpunkt die

Grenzen der gegenseitigen Anerkennung verletzt und überhaupt

auch nur vom aufmerksamen Rezipienten wahrgenommen wird.

Die Tatsache, dass er dieses Kunststück in c. 2,20 anhand

seiner eigenen Person vorführt, ermöglicht Horaz einerseits die

indirekte Kritik des Vorgängers, andererseits deutet diese Art

der Darstellung auch Horazens eigene Verwundbarkeit gegenüber

der reizvollen Selbstbehauptung allzu überladener, poetischer

Ansprüche an. So wie Ikarus die dem Menschen vorenthaltene

Möglichkeit des Vogelfluges reizte, ergibt die horazische

Allusion, dass es auch für den Poeten schwer sei, sich den

Sehnsüchten und Wunschvorstellungen von dichterischer

Untersterblichkeit in angebrachter Weise zu entziehen.

Dass Horaz schließlich dennoch in der Lage ist, diese

Ansprüche für sich selbst zu formulieren, zeigt er zum

Abschluss der ersten drei Odenbücher eindrucksvoll in c. 3,30.

208 Vgl. S. 12.

92

Zwar offenbart der augusteische Dichter hier in ernsthaftem und

feierlichem Ton den Stolz und die Zufriedenheit mit seinen

literarischen Errungenschaften. Doch im Gegensatz zu den

besprochenen Selbstansprüchen des Ennius oder dem Epilog des

zweiten Odenbuches schlägt Horaz eine sehr nüchterne, moderate

Tonlage an, die sich in jeder Zeile des Gedichtes äußert. Die

Vermutung, dass Horaz auch in c. 3,30 auf einen ennianischen

Prätext zurückgriffen hat, verbietet jedoch m. E. keineswegs

eine ironische Interpretation der intertextuellen Referenzen an

anderer Stelle. Vielmehr deckt sich die unterschiedliche

Behandlung der Dichtung des Ennius mit der ambivalenten

Meinung, die Horaz über ihn vertreten hat.

Abschließend scheint es fast wie eine Ironie des

Schicksals, dass es der doch so von seinem Nachruhm überzeugte

Ennius war, der letztlich aus der Rezeption verdrängt worden

ist. Zwar passierte dies nicht durch Horaz, sondern durch die

Aeneis Vergils, womit die annales als römisches Nationalepos

abgelöst wurden. Das Werk des Ennius ging schon kurze Zeit

später zu großen Teilen verloren und ist heute nur noch

fragmentarisch überliefert.

Es könnte zudem als Anzeichen für den, wie D. West

kommentiert, zarten und bedachten Humor des Horaz209 verstanden

werden, dass eine ironische Interpretation des Gedichts in der

Forschung auch bis heute nur von wenigen Wissenschaftlern

ernsthaft in Erwägung gezogen wurde. Dabei handelt es sich doch

um den Dichter, welchen E. Zinn als einen der „ganz seltenen,

echten Ironiker der europäischen Geistesgeschichte“

apostrophiert hat210.209 West 1998, 145.210 Zinn 1960, 53.

93

Der Verfasser der vorliegenden Untersuchung möchte abschließend

darauf verweisen, dass er die dargelegte Interpretation

keineswegs als einzige Deutungsmöglichkeit des Gedichtes

erachtet. Der Sinn der Arbeit soll vielmehr darin bestehen,

neue Perspektiven in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung

mit den Oden des Horaz zu unterstützen und eventuell auch zu

erweitern. Ausgehend von den Ergebnissen dieser Untersuchung

wäre es ausblickend interessant, mögliche Bezüge zu Ennius in

anderen Oden des Horaz zu prüfen und im Hinblick auf ihre

Bewertung des Vorklassikers zu analysieren.

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