Die Frau: Opfer der Dialektik. Das Thema der Anerkennung bei Simone de Beauvoir

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Hessische Landeszentrale für politische Bildung Mechtild M. Jansen, Ingeborg Nordmann, Angelika Röming (Hrsg.) Man wird nicht als Frau geboren Simone de Beauvoir zum 100. Geburtstag POLIS 52 Analysen – Meinungen – Debatten

Transcript of Die Frau: Opfer der Dialektik. Das Thema der Anerkennung bei Simone de Beauvoir

Hessische Landeszentrale für politische Bildung

Mechtild M. Jansen, Ingeborg Nordmann, Angelika Röming (Hrsg.)

Man wird nicht als Frau geborenSimone de Beauvoir zum 100. Geburtstag

POLIS 52Analysen – Meinungen – Debatten

POLIS soll ein Forum für Analysen, Mei­nungen und Debatten aus der Ar beit der Hessischen Landes zentrale für politische Bildung (HLZ) sein. POLIS möchte zum demokratischen Diskurs in Hessen bei­tragen, d.h. Anregun gen dazu geben, wie heute möglichst umfassend Demo­kratie bei uns ver wirklicht werden kann. Der Name PO LIS erinnert an die große geschichtli che Tradition dieses Problems, das sich unter veränderten gesellschaft­li chen Bedingungen immer wieder neu stellt.

Politische Bildung hat den Auftrag, mit ihren bescheidenen Mitteln dazu einen Beitrag zu leisten, indem sie das demo­kratische Bewusstsein der Bür gerinnen und Bürger gegen drohende Gefahren stärkt und für neue Heraus forderungen sensibilisiert. POLIS soll kein behäbiges Publikationsorgan für ausgereifte aka­demische Arbeiten sein, sondern ohne große Zeitverzö gerung Materialien für aktuelle Dis kussionen oder Hilfestel­lungen bei konkreten gesellschaftlichen Proble men bieten.

Das schließt auch mit ein, dass Auto rin­nen und Autoren zu Wort kommen, die nicht unbedingt die Meinung der HLZ wi derspiegeln.

Simone de Beauvoir (1908–1986)

Kooperationspartnerinnen:– GabrieleWenner,FrauenreferatderStadtFrankfurt/Main– UteKnie,„Römer9“,EvangelischeStadtakademieFrankfurt/Main– BeateWeißmann,GleichberechtigungsbüroderStadtFrankfurt/Main

mit Unterstützung von– CorneliaGoetheCentrumderUniversitätFrankfurt/Main– GFFZdesFrauenforschungszentrumsderHessischenFachhochschulen– KatholischeErwachsenenbildungFrankfurt/Main

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ManwirdnichtalsFraugeboren SimonedeBeauvoirzum100.Geburtstag

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Inhalt

MechtildM.Jansen,AngelikaRömingVorwort 3

IngeborgNordmannEinleitung 6

BarbaraVinkenLiebeschreiben:SimonedeBeauvoirundTheresavonAvila 9

ClaudiaGatherFrauendaszweiteGeschlecht.DerMythosbeiSimonedeBeauvoir.AnknüpfungspunktefürdiefeministischeempirischeSoziologie 21

BarbaraHahnPrekäreKontinuitäten–oder:vomOrtderFrau 39

SusanneMoserDieFrau:OpferderDialektik.DasThemaderAnerkennungbeiSimonedeBeauvoir 52

PodiumsdiskussionWieaktuellistdasAndereGeschlecht?mitClaudiaGather,BarbaraHahnKätheTrettin(Moderation) 72

Zeittafel 93

Autorinnen 95

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Vorwort MechtildM.Jansen/AngelikaRöming

DasBuchDas andere Geschlecht,das weltweit so große Aufmerk-samkeit hervorgerufen, das pro-voziert hatte – die katholischeKirche setzte es sogar auf denIndex–unddiePersonBeauvoir,die sich in ihremPrivatlebenaufdasExperimenteinerlebenslangoffenenBeziehungzuSartreein-ließ,diesichpolitischexponiertemit ihrerKritik amAlgerienkriegund Vietnamkrieg – ergaben zu-sammen in einzigartiger Weiseein selbstbewusstes und unab-hängiges Engagement, das wiruns nach den Jahren des ehergeringen Interesses an ihremWerk wieder vergegenwärtigenwollten.DabeibeschäftigtenunsdieFragen,warumwirunssolan-geZeitnichtmitihrauseinander-gesetzt haben und welches dieaktuellenDimensionenihrerphi-losophischenAnalyseundpoliti-schenHaltungensind.Aus Anlass des 100. Geburts-tags von Simone de BeauvoirfandeineVeranstaltungderHLZstatt, in deren Mittelpunkt dasBuch stand, das BeauvoirsWelt-ruhm begründet hat und bisheute unvergessen ist: Das an-dere Geschlecht. Im Nachhineinhat Beauvoir mit diesem Buchden Philosophen und Lebens-gefährten Jean Paul Sartre, derimmer als der geistig Führendegalt,überrundet.Nacheinerneu-erenUmfrage inFrankreichwirddas Andere Geschlecht für dieGegenwartalsbedeutenderein-

geschätzt als Sartres HauptwerkDas Sein und das Nichts. Wir setzen damit eine Reihe vonVeranstaltungen zu SimoneWeil,Hannah Arendt und Sophie LaRoche fort, in denen es ebensodarum ging, beispielhaft Frauenvorzustellen, die auf individuelleWeise zum Ausdruck gebrachthaben, was Eigenständigkeit imDenken und Handeln wirklich ist(siehe Polis 47 und 48). Sie sindVorbilder in einemganz eigenenSinn.Nicht indemgängigenderHeroisierung und Idealisierung,sondernweilsieesniedaraufan-gelegt haben, Vorbilder zu seinund dabei zu unnachahmlichenIdeenundHaltungengekommensind, die unsere AufmerksamkeitfesselnundunszueigenemNach-denkenmotivieren.Esistoffensichtlich,dasssichderZugang zu Simone de Beauvoirnur eröffnet, wenn man PersonundWerk inderVielschichtigkeitihrer wechselseitigen BeziehungindenBlicknimmt.DennSimonedeBeauvoirwolltenichtnurmithil-fedesExistentialismuseineneuephilosophische Botschaft formu-lieren, welche die Herausforde-rungenderModerneernstnimmt.SondernsiehatauchinihremLe-bentraditionelleModellewiedieEhe,diezuihrerZeitbeinahenocheine unantastbare Autorität dar-stellte,inFragegestelltunddabeidieWidersprücheundVerletzun-gen,dieindem„Pakt“mitSartre

Mechtild M. Jansen, Angelika Röming

Vorwort

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undindenLiebesbeziehungenzudemamerikanischenSchriftstellerNelsonAlgrenunddemfranzösi-schenLinksintellektuellenClaudeLanzmann (Regisseur des FilmsShoah)zubewältigenwaren,nichtverschwiegen.SichdenRealitätendes Lebens unvoreingenommenund aufmerksam zu stellen, undzwar ohne beschönigende Ges-ten,dieseHaltungprägtnichtnurihr autobiographisches Werk. Eszeichnet auch die spätere SchriftüberdasAlter unddieAufzeich-nungen der letzten Gesprächemit Sartre in der Zeremonie des Abschiedsaus.Simone de Beauvoir, die „Toch-ter aus gutem Hause“, wie derTiteldeserstenBandesihrerMe-moirenheißt, studierte Literatur,MathematikundPhilosophie.DieNamender drei Besten desAb-schlussexamens sind Simone deBeauvoir,SimoneWeilundMau-riceMerleau-Ponty,derspäteralsPhänomenologebekanntwurde.Mit SimoneWeil ist eine charak-teristische Kontroverse überlie-fert, inderWeil,die sozialistischengagiertwar,1935indieFabrikgingundamspanischenBürger-kireg teilnahm, darauf bestand,dass„einzigdieRevolutionzähle,weilsieallenzuessengebenwür-de“.Beauvoirantworteteihr,dassdie individuelle Sinnfindung fürdasmenschlicheDaseinVorranghabe (zit. nach: Claude Francis,Fernande Gontier: Simone de Beauvoir. Die Biographie, Wein-heim-Berlin1986).DieseEpisodezeigt, dass Beauvoirs ErkenntnisgesellschaftlicherundpolitischerZusammenhänge keineswegs

vonAnfangselbstverständlichdawar, sondern sich erst überBrü-cheundgeschichtlicheErfahrun-genvollzog.1929lerntesieSartrekennen.MantrafsichimCafédeFlore,eineil-lustreGesellschaft:Camus,Picas-so, Giacometti und der spätereAutorderTraurigen TropenClau-deLévy-Strauss.BevorsichBeau-voir1943entschloß, freieSchrift-stellerin zu werden, arbeitete sieals Philosophielehrerin in Mar-seille,RouenundParis.Schreibenwurde zur wichtigsten Existenz-möglichkeit,gegendenKrieg,dieBesatzung,dieTrennungvonSar-tre, der in Kriegsgefangenschaftgeriet. In einemBrief schlugSar-tre eine vertrackte Rollenteilungvor:SiesollteihreBeobachtungenvomPariserAlltagunterdemEin-fluss des Krieges und der Besat-zung aufschreiben, während erdas Gedankengebäude von Das Sein und das Nichts zuentwerfenbegann.ImAnderen Geschlecht,dassieinden40erJahrenschriebunddas1949 erschien, kündigte sich einÜbergang Beauvoirs an: nebender subtilen Beschreibung vonMachtverhältnissen bis in die in-timen Gefühlsäußerungen hin-ein,durchdiederManndieFrauunterdrückt, gängelt und ideali-siert,wurdeeinegesellschaftlichePerspektive entworfen, zunächstdurch die einfacheAdaption dersozialistischenTheorie, inderdieherrschendeAsymmetriederGe-schlechter in ein Verhältnis derFreiheit und Gleichheit verwan-delt werden sollte. Da Beauvoirzunächst der Meinung war, dass

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Vorwort MechtildM.Jansen/AngelikaRöming

sich mit der sozialistischen Um-gestaltunggesellschaftlicherVer-hältnisse auch die Situation derFrauen verbessern würde, bliebsie in Distanz zum Feminismus.Die gemeinsammit Sartre unter-nommenenReisen indie Sowjet-union und nach China führtendann zudifferenzierterenAuffas-sungenundzueinerAnnäherungandieFrauenbewegung.Das Bemerkenswerte an Beau-voirsDenkhaltungist,dassfürsieindividuelleundgesellschaftlichePerspektive niemals identischwerden. Ihre Memoiren könnenals Manifestation existentialisti-scher Grundsätze gelesen wer-den,aber sieerscheinen ineinercharakteristischen Umwandlung:verändert durch die konkrete Er-fahrung und Situation, durch diesinnlicheDichteundVielfaltlitera-rischerBilder.Bis zu ihrem Tod am 14. April1986 gilt für Beauvoir, dass sienur schreibend die Herausforde-rungen, die sie getroffen hatten,auffangen konnte: das SterbenderMutter und das Sterben vonSartre,derSkandaldesAlternsineiner Gesellschaft, die KrankheitundTodausgrenzt.Uns beschäftigen weiterhin dieFragen, warum wir uns so langenichtmit ihr auseinandergesetzthabenundwelchesdieaktuellenDimensionen ihrer philosophi-schen Analyse und politischenHaltungen sind. Das wird unsnochweiterhinbeschäftigen.

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Ingeborg Nordmann

Einleitung

Es gibt Sätze, die Geschichtemachen und sich tief ins kultu-relle Gedächtnis einprägen. Einsolcher Satz ist zum Beispiel dervonGalileoGalilei„Undsiedrehtsich doch“, mit dem er der wis-senschaftlichenWahrheit gegen-über dem religiösen Dogma eintriumphalesundunauslöschlichesZeichensetzte.OderderSatzvonRené Descartes: „Cogito, ergosum“–ichdenke,alsobinich,derdieGewissheitdermenschlichenSubjektivität überantwortete unddamitdiePhilosophiederModer-nebegründete.AuchSimonedeBeauvoirs Satz „Man wird nichtalsFraugeboren,manwirddazugemacht“hatdieQualitätdesEin-prägsamenundUnvergesslichen.ErhatderFrauenbewegungneueBewegungsräume imDenken er-öffnet. Vor allem aber lässt sichdieserSatznichteinfürallemalinein Theoriegehäuse einsperren,sondern er lädt ein zu einerDis-kussionmitoffenemEnde.Während dieser Satz im öffentli-chen Bewusstsein ein vagabun-dierendes Eigenleben führt undimmer wieder auf das BuchDas andere Geschlecht aufmerksammacht,sindSimonedeBeauvoirsandere Schriften, ihre Romaneund philosophischen Essays,mehroderwenigerindieverbor-genenSchichtendesöffentlichenGedächtnisses abgesunken, wosie einer erneuten Entdeckungharren.

Stellt man Simone de BeauvoirindenKontext zweierberühmterzeitgenössischer Philosophinnen,von Simone Weil und HannahArendt, dann wird eine überra-schendeGemeinsamkeitdeutlich.Siehatebensowiediebeidenan-deren das Problem der FreiheitindenMittelpunkt ihresDenkensgestellt, wenn auch ganz andersreflektiert. Angesichts der allesbeherrschenden Erfahrung je-ner Zeit, der extremenUnterdrü-ckungdurchdenNationalsozialis-mus und der Verheerungen desKriegeswurdefüralledreiFrauendie Frage unabweisbar, wie vielFreiheitdereinzelneunddieein-zelnefürsichselbstinsolchenSi-tuationennochverteidigenkann.Für Sartre war die Antwort klar:DerMensch ist immer frei.DochSimonedeBeauvoirsahdasdiffe-renzierter:„Ichstelltemichgegeneinige seiner Ideen ... Inder ers-ten Fassung von L’Etre et le Ne-ant“ sprach er über die Freiheit,als ob sie bei jedem Menschengleichtotalsei.Odermindestensso, als ob es immermöglich sei,seineFreiheit auszuüben. Ichda-gegenbestandaufderTatsache,dassesSituationengibt,indenendie Freiheit nicht ausgeübt wer-denkann“(zit.nachClaudeFran-cis,Simone de Beauvoir. Die Bio-graphie, Weinheim-Berlin1986,S.278).EineungelösteFragebisheuteundsiestellteinenderwi-derständigen Gedankengänge

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Einleitung IngeborgNordmann

bei Simone de Beauvoir dar, dersie dazu drängt, die geheimenVerstecke der Macht und Unter-drückung bis in die feinsten kul-turellen Verästelungen aufzuspü-ren, um das Terrain der Freiheiterweitert denken zu können, sokonkretundsituativwiemöglich.UndandererseitsistihreNeigungzuselbstsicherenFormulierungenund zu einemmoralischen Rigo-rismusunübersehbar,sodassderEindruckentsteht,dassesinihrenTextennichtumFragen,sonderneher umAntworten geht. In die-senZusammenhanggehört auchBeauvoirseigentümlicheFernezubestimmten Problemen des 20.Jahrhunderts,diedenExistentia-lismus überhaupt kennzeichnetundvieleihrerDenkfigurenmehrins19.alsins20.Jahrhundertver-weist.Im Mittelpunkt der Dokumenta-tionstehtdasAndere Geschlecht.Barbara Vinkens Vortrag Liebe schreiben. Simone de Beauvoir und Theresa von Aviala und diePodiumsdiskussionWie aktuell ist das Andere Geschlecht? habensichmitverschiedenenDimensio-nendesMythischen inBeauvoirsWerkauseinandergesetzt.Einmalhat Beauvoir ein eigenes Kapiteldem weiblichen Mythos gewid-met. Dessen Bedeutung für dieheutigeAlltagsrealitätvonPaaren,die inderPodiumsdiskussion im-merwiederumrissenwurde,gehtClaudiaGather ineinemeigenenBeitraggenauernach.AberBeau-voir hat nicht nur über weiblicheMythen reflektiert. Mythisieren-de Tendenzen zeigen sich auchin bestimmten philosophischen

Haltungen. In dem existentialisti-schenRahmenvonImmanenzundTranszendenz(dieFrauverkörpertdieImmanenz,derManndieTran-szendenz)werdenhistorischeDif-ferenzierungenleichtzuAkziden-tien einer immer gleichbleiben-denSituation,alshättedasEwig-weiblichehinterdemRückenderAutorinwiederumdieBühnederDarstellung erobert. So prägenzwei widerstreitende Argumen-tationen Beauvoirs Darstellung:die schonungslose und subtileDekonstruktiontraditionellerOp-positionen: zwischenKörper undGeist,SensualismusundIntellekt,in denen das Frauenbild im Ho-rizont männlicher Vorstellungengefangengehaltenwird, und zu-gleich wird eine mit misogynenZügen behaftete Perspektiveentworfen, in der nach BeauvoirFrauen die Freiheit der Existenznur jenseits der Geschlechter-differenz als Menschen erringenkönnen, wobei das MenschseinhäufigwieeineKopiedesmänn-lichenOriginalsaussieht.DassbestimmtehistorischeReali-täten unter dem Blickwinkel desSchemas „Immanenz–Transzen-denz“ gar nicht mehr wahrge-nommenwerden,stehtimMittel-punkt der Kritik in der Podiums-diskussion. Barbara Hahn spitztdieseEinschätzung zuder Thesezu, dass Beauvoirs Frauenbildwesentlich orientiert ist an derSituation der Frau im 19. Jahr-hundert. Wenn auch BeauvoirsAufmerksamkeit für die konkretehistorische Stofffülle, die sie zi-tiert,durchausüberdiesesSche-ma hinausgehende Einsichten

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hervorbringt, markiert das struk-turelle Grundmuster von Imma-nenzundTranszendenzdennocheine Grenze. Dies wird ebensodeutlichanBeauvoirsDarstellungderModerne und der fehlendenReflexion des Traditionsbruchs,der durch die totalitären Regimebewirkt worden ist. Wie Barba-ra Hahn in der Podiumsdiskus-sionundinihremBeitragPrekäre Kontinuitäten – oder vom Ort der „Frau“amBeispielvonMargareteSusman und Alice Rühle-Gersteldeutlich macht, zeigt sich dieseGrenzeinderIgnoranzBeauvoirsgegenüber philosophischen Au-torinnen der Weimarer Zeit, dieweit hellsichtiger auf die Brücheund Widersprüche aufmerksamgemachthaben.Susanne Moser entwickelt überden Weg der Lektüre HegelsdurchBeauvoirdreiKonzeptevonAlterität,unterdenendieFreund-schaft die einzige ist, in der je-der„fürdenandereneinandererbleibt“.Über Simone de Beauvoir heutenachdenken,sodasResümeederTagung,heißtdenwidersprüchli-chenLinienihresDenkensfolgen,aberzugleichauchoffenbleibenfürdasnichtnachlassendeEnga-gementBeauvoirsfürdieFreiheit,von dem eine unwiderstehlicheAnziehungskraft ausgeht. Das istbis heute so geblieben, wie wirbeiallerKritikanderphilosophi-schen Argumentation Beauvoirsgespürt haben. Ihr öffentlichespolitisches Auftreten für die Un-abhängigkeitAlgeriens, ihre Teil-nahme – gemeinsam mit Sartre– am Russel-Tribunal und nicht

zuletztihreinden70erJahrenbe-ginnendeaktiveTeilnahmeanderFrauenbewegungzeigendieein-zigartige Unabhängigkeit Beau-voirs als Schriftstellerin undpoli-tischHandelnde.ZuRechtwurdesiedasGewissenFrankreichsundEuropasgenannt.

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Liebeschreiben:SimonedeBeauvoirundTheresavonAvila BarbaraVinken

Barbara Vinken

Liebe schreiben: Simone de Beauvoir und Theresa von AvilaVor kurzem wurde der Platz vorder Kirche St.Germain des Présbeim Café Les deux Magots, indem beide viel geschrieben ha-ben, nach Simone de Beauvoirund Jean Paul Sartre benannt.Durch diese NamensgebungeinesprominentenOrtes–früherdasBohème-undIntellektuellen-viertel, heute eine der Hauptat-traktionendesTourismus–istdasPaar endgültig Teil des MythosvonParisgeworden.Simone de Beauvoir hat viele,sehr lesenswerte Romane ge-schrieben. Ihr überdauernderRuhm aber verdankt sich ihrerSumma, dem Anderen Ge-schlecht. Das 1949 erschieneneWerkmachtedie41-JährigeüberNacht berühmt. Seine Kühnheit,seine Unerschrockenheit, denWitz, mit dem sie sich über dasMännlichkeitsgehabe ihrer Zeit-genossen amüsiert, verdankt eseiner Nachkriegszeit, über diesich die Restauration der fünfzi-gerJahrenochnichtwieMehltaugelegt hatte. Diese Souveräni-tät verdankt Beauvoir aber nichtnur dem Zeitgeist; sie wusste,dass sie dazugehörte. Schließ-lich war sie nicht nur eine Toch-ter aus gutem Hause, wie ihreAutobiographiebetiteltist,1son-dern Spitze der französischenLeistungselite: Beim mythischenPhilosophie-Concours der ÉcoleNormalemachtesie(nachSartre)

den zweiten Platz. In FrankreichglaubteundglaubtmanandieseInstitution.Ich las das Andere Geschlecht1976, mit sechzehn Jahren, undklapptedie711Seitenderdeut-schen Übersetzung mit der fel-senfestenEntscheidungzu,finan-ziellaufeigenenFüßenzustehenund,komme,waswolle,einenBe-rufzufinden,dermicherfülltundunabhängig macht. Die Fesselnder Liebe, so schien es mir da-mals,wärendannleichterzutra-gen, die Katastrophen des Erosnicht ganz so zerstörend, denMännernwäremannichtaufGe-deihundVerderbausgeliefert.Das Andere Geschlecht, imreinsten Geist einer fortschritts-orientiertenAufklärunggeschrie-ben, versucht, das weiblicheGeschlecht aus seiner, mit Kantzu reden, selbst-, jedenfalls mit-verschuldeten Unmündigkeit zubefreien.DieNaturistnichtdafürverantwortlich,dassderManndassich entwerfende und auf diesesEntwerfen hin überschreitende,selbstbewussteundbeherrschen-de Subjekt und die Frau ihremSein für den Mann und die Gat-tungunterworfenist.Eskannnichtschaden, den kulturalistischenBeauvoirschen Lehrsatz, manwerde nicht zur Frau geboren,sonderndazugemacht,inZeiten,woHormonewiederfröhlicheUr-stände feiern und die Erhaltung

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undVerbesserungderRassenochalsGrundfüreinenSeitensprungmiteinembesonderstestosteron-strotzenden Mann während derfruchtbarenTageherhaltenmuss,inErinnerungzurufen.Das Andere Geschlecht ist das,was die Postmoderne spätereinengrandrécitnennenwürde.Es fängt,wie allegrands récits,mit Adam und Eva an und führtin eine strahlende Utopie. ImÜbergang vom Mutter- zum Va-terrecht wird derMann Subjekt.ErerschöpftsichnichtinderWie-derholungderErhaltungdesLe-bens,sondernbegründetdasLe-ben,indemeresaufeineandereZukunfthinüberschreitet.DieserSchritt, der dem Leben die Be-rechtigung zum Leben vorzieht,wird offensichtlich in Jagd undKrieg; indem das Leben riskiertwird, wird der Geist gegen dasLeben bejaht. „Der schlimmsteFluch,deraufderFraulastet,ist,dass sie von den kriegerischenUnternehmungen ausgeschlos-sen ist; nicht indem er sein Le-ben hergibt, sondern indem ereswagt,erhebtderMenschsichüber das Tier; deshalb genießtinnerhalb der Menschheit dashöchste Ansehen nicht das Ge-schlecht, das gebiert, sonderndastötendeGeschlecht.“2

Um die Emanzipation der Frau,umdasHeraustretenausderIm-manenz, wie das im damaligenexistentialistischen Jargon hieß,mussesgehen;dieFrausollend-lich Subjekt so werden, wie derMann es schon geworden ist.Daswirdman,glaubteBeauvoir,durchArbeit,abernichtdurchir-

gendeineArbeit, sonderndurchArbeit,dieüberdiebloßeRepro-duktion des Lebens hinausgeht.DieschlimmsteFesselaufdiesemWegistfürdieFraudieEhe–dasAusgehaltenwerdendurcheinenMann, der Verzicht auf Arbeit,aufSelbstständigkeit,aufSelbst-bestimmung. Die modernenFrauen sah Beauvoir zersplittertzwischen der Konzentration aufden Beruf und der Möglichkeit,zu heiraten, die einen aller wei-teren Anstrengungen enthebtundaußerdemnoch fürdenge-sellschaftlichen Aufstieg sorgenkönnte. Die andere Fessel, diedieFraudaranhindert,sowiederMannSubjekt zuwerden, ist dieMutterschaft,durch„diedieFrauan ihrenKörpergebundenbliebwiedasTier,“dasSubjektderArtuntergeordnet wird. Besondersverheerend ist das Kinderkrie-gen in vaterrechtlichen, unddasheißt in allen modernen Gesell-schaften,indenendieMutterzurAmmeundErzieherin,dieKinderzum Eigentum des Vaters wer-den.HistorischsiehtBeauvoirdasbürgerliche19. Jahrhundert unddenCodeNapoléonalsreinstenAusdruck einer solchen vater-rechtlichen Gesellschaft, die bisin ihre Gegenwart bestimmendgebliebenist.Die erotische Liebe – und dashatBeauvoirnichtnurgefordert,sonderngelebt–sollfreiwerden;sie soll nicht an wirtschaftlicheFormen,StichwortEhealsVersor-gungsinstitution,gekoppeltsein.Sie soll auch nicht Sinn, Zweckund einziger Inhalt des Lebenssein, sondern wie beim Mann

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nur einen Teil des Lebens aus-machen,dassonstderArbeitge-widmet wird.Mehr noch als derMannverbautsichdieFrauheu-te, meint Beauvoir, den Weg zueiner „bejahten Existenz“ selbst:aus Bequemlichkeit, aus AngstvorderHerausforderung,weilsiesichinderRollederAnderenge-fällt,weilsieAngsthat,dannnichtmehrFrauzusein.Und wie soll die Zukunft aus-sehen, wenn die Frau zu selbst-bestimmter Existenz gefundenhat? Der Unterschied zwischenMännern und Frauen wird nichtaufgehoben werden, die Liebewirdnicht aussterben –beruhigtuns Beauvoir –, aber die Ver-sklavung der einen Hälfte desmenschlichenGeschlechteswirdaufhören,damitbeide „rückhalt-losgeschwisterlich“imReichderFreiheit zueinander finden kön-nen,indemLiebeden„Charaktereiner freien Überschreitung undnicht mehr einer Selbstaufgabebekäme“.3

DasAndere Geschlecht hat Mo-mente, die heute noch genausoaktuellwiefrühersindundande-re,dieüberholtwirken.Wir sindimGanzenskeptischergewordenundhabendieGespaltenheitdesSubjekts und seine grundsätzli-che Unverfügbarkeit akzeptiert;wir glauben nicht mehr an dieFreiheit des Subjektes, selbst-bestimmt, selbstbeherrscht, wirwissen, dass es, um es saloppzu sagen, immer anders kommt,alsmandenkt,unddassdieGe-schichte,diewirzumachenglau-ben, dann ganz anderswird, alswir uns das gedacht haben.Der

Optimismus des Existentialis-mus, der Glaube an die Selbst-bestimmtheit des Subjektes undirgendwelcheReichederFreiheitist eingebrochen. Authentizi-tät suchen wir im Verhältnis derGeschlechter nicht mehr, son-dernerfreuenunshöchstensge-schwisterlichanderKomödie,diedaseinedemandernGeschlechtvorspielt.NichtnurzurFrau,wis-sen wir mittlerweile, sondernauch zum Mann wird man ge-macht.DerGlaubeandenMannalsMenschen ist uns fremd; dieBewunderung für das Männlich/Menschliche geht uns ab; denhomo faber finden wir in seinerSelbstermächtigung aufgebla-sen und ein bisschen lächerlich.MögenwirbeiFrauenaufSchrittund Tritt Penisneid feststellen,dann ist bei den Männern dieKastrationsangst nicht wenigerbeeindruckend.DasTrauma,dasMenstruation und Geschlecht-lichkeit für Simone de BeauvoirundvielleichtauchfürdieFrauenihrerGenerationbedeutethabenmüssen, können wir, glaube ich,nicht mehr nachvollziehen. IhreSchilderungen von Hochzeits-nächtenwirkenwieauseineran-derenZeit.IhreEinschätzungderSchwangerschaft als eine Unter-werfung des selbstbestimmtenIndividiums unter die Gattungteilenwirnichtunbedingt.SchondieFrauenbewegungdesfrühen20. Jahrhunderts sah das KindalsProjektundalsOpfer,dasallemännlichenOpferundSelbstent-würfeindenSchattenstellt,undnicht als blinden Dienst an derGattung. Interessanter mag unsdie Interpretation der Schwan-

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gerschaft erscheinen, die Kris-teva gibt; die SchwangerschaftwirdalsSymbolfürdieWahrheitdes Subjektes gelesen, die imphallischen Subjekt verstellt ist:alsinderSpaltungandenAnde-renliebendentäußertenZustanddesSubjektes.4

Auf jeden Fall ist die sexuel-le Emanzipation entschiedenschneller fortgeschritten als dieökonomische. Haben sich dieZeiten seit den 57 Jahren nachErscheinen des Anderen Ge-schlechtsgeändert?Doch,die Zeitenhaben sichge-ändert. In einer Pariser Bäckereisagte ein jungesMädchen, vomBäckernach seinemArbeitspen-sumbefragt, lachend: „Waswol-len Sie, ich muss viel arbeiten.Ichhabenoch immerkeinenge-funden, der mich aushält.“ DerMärchenprinz ist hier zum Zitatgeworden, auf den keine mehrernsthaft hofft, sondern lieberarbeitet.Oder vielleicht doch nicht. Kürz-lich bestätigten Studentinnen,die, als besonders begabt gel-tend, Teilnehmerinnen eines Eli-tementoringprogramms waren,die clichés ihrer Großväter, nachdenen à la Rousseau eine Intel-lektuelleZwitterwesenundMann-weibist.DieMentorinwarichundganzoffensichtlichgalt ich ihnenentweder als Frau oder als Pro-fessorin.KurzerhandwurdenPro-fessorinnen generell gegen jedeempirischeEvidenzzuWesener-klärt,diejedenfallseinsnichtsind,Frauen,unddievonGlücksagenkönnen, wenn sie wenigstenseinenMannabbekommenhaben;

aneinKind,garanGeliebte,magmanschongarnichtmehrdenken.Frauen,diesoüberandereerfolg-reiche Frauen denken, glauben,siemüsstendenPreisihrer„Weib-lichkeit“ für eine Karriere zahlen;sie leugnen, dass Frauen erfolg-reich sein können, und rächensich an denen, die es geschaffthaben, sagenwir esderEinfach-heit halber, durch Kastration:Du bist keine Frau. Noch immerscheintzugelten,dassmannichtganzFrauoderebennurFrauseinkann.UnddassesnichtzuletztdieFrauensind,diesichanihremkas-trierten Sein festklammern – nurFrau und vor allen Dingen FrauzuseinundallenanderenFrauen,die das nicht sind, das Frauseinabzusprechen. Die letzten Um-fragen unter Studenten zeigten,daßdieKarriereorientiertheitweithinter Partnerschaft, Familie undFreundschaften rangiert. DieseErgebnisse waren nicht einemneuen Verhalten der männlichenStudenten zum Beruf zu verdan-ken; sie verdankten sich demmassiven, mittlerweile bei über50ProzentliegendenAnteilweib-licherStudenten,die,family first,selbstredendalswirklicheFrauenbereit waren, für Mann und Kin-deralleshintenanzustellen,unddie,wiegehabt,nichteinenBerufsuchten,densieumseinerselbstwillenwollten,sonderneinen,dersichdadurchauszeichnet,dasseres erlaubt, Mann und Kinder zuhaben.UndimMannimmernochden Ernährer suchen. Beauvoirwürde von ihnen sagen, dass siesich inderLiebeverleugnenundnicht bejahen, dass sie im Käfigihres Narzissmus gefangen sind,

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Liebeschreiben:SimonedeBeauvoirundTheresavonAvila BarbaraVinken

indemsiesichgernefürdenan-derenalsObjektherrichten,dasssie die Weltschöpfung andernüberlassen,dass siedieMensch-heitnicht repräsentierenkönnen,sondern narzisstisch immer nurumihreeigenePersonherumkrei-sen.Beauvoir ist, oft gegen denStrich ihrer Philosophie, einegroße Analytikerin der Leiden-schaft.UndeineunbestechlicheBeobachterin der Frauen, de-renAngst,durchErfolgwenigerFrauzusein,währendderErfolgdes Mannes seine Männlichkeitnur bestätigt, deren Heuchelei-en, wenn sie in der Ehe ausge-halten werden und die darausresultierenden oft kindischenKompensations- und Legitima-tionsversuche, deren Zerrissen-heit zwischen Beruf und Weib-lichkeit sie bestechend genaubeschreibt.Heutefühlensichdiejungen Frauen, hört man aller-orten, gleichberechtigt. Emanzi-pationistkeinThemamehr.Manfragtsich,woherdieserOptimis-muskommt.DiewirtschaftlichenVerhältnissehabensich,zumalinDeutschland,nichtgrundsätzlichgeändert und viele junge Frau-en verstehenoft erst,wie ihnengeschieht, wenn es zu spät ist.DeshalbmussmanüberdasAn-dere Geschlecht sagen,wasDe-nis Diderot im 18. Jahrhundertüber Samuel Richardsons Best-sellerClarissagesagthat:LesenSie Beauvoir, lesen Sie sie ohneUnterlass.Welches Ideal nun stellt Beau-voir der weiblichen Frau gegen-über, die sich nicht überschrei-

ten kann, die sich nicht in einerArbeit, einemWerk objektiviert,sondern die nur narzisstisch inihrer eigenen Person kreist undals Bestätigung dieses Narziss-mus Liebewill?Was ist ihr Idealeiner vollkommenen Frau? The-resavonAvila.Das ist inderTathöchsterstaunlich.EinzigThere-sa von Avila, gebenedeit unterden Frauen, istman versucht zusagen, istes inBeauvoirsAugengelungen,dieNormtranszendie-renderSubjektivitätwieeinMannzu erfüllen. Sie stand nicht hin-ter Johannes vom Kreuz5, ihremgeistigen Weggefährten, hinterkeinemMannzurück.„Männer, die wir groß nennen,sindjene,die–aufdieeineoderandereWeise –dasGewichtderWelt auf ihre Schultern genom-men haben: Sie sindmehr oderweniger damit fertig geworden,es ist ihnengeglückt, sieneu zuschaffen, oder sie sind geschei-tert. Aber zunächst haben siediese ungeheure Last auf sichgenommen. Das hat noch keineFrau je getan, noch je tun kön-nen. Um das Universum als seineigenes anzusehen, um sich fürseine Fehler schuldig zu haltenund sich seiner Fortschritte zurühmen, muss man der Kasteder Priviligierten angehören. (...)Im Mann und nicht in der Frauhat sich bis jetzt derMensch ansich verkörpern können. Die In-dividuen nun aber, die uns bei-spielhafterscheinen,diemanmitdem Namen Genie auszeichnet,sindes,diebehauptethaben, inihrer einzelnen Existenz spielesichdasSchicksaldergesamten

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Menschheit ab. Keine Frau hatsichdazufürberechtigtgehalten.(...)EineFrauhättenieeinKafkawerden können: In ihren Zwei-feln und ihrer Unruhe hätte sienie die Angst desMenschen ansich wiederempfunden, der ausdemParadiesvertriebenwordenist.“Undjetztkommtdieabsolu-teAusnahme:„Eigentlichhatnurdie heilige Theresa auf eigeneKosten, in einer völligen Verlas-senheit, die menschliche Seins-bedingungdurchlebt:Wirhabengesehen,warum.Dasiesichjen-seits der irdischen Hierarchienstellte, fühlte sie ebenso wenigwie der heilige Johannes vomKreuz ein beruhigendes DachüberihremHaupt.FürallebeidewaresdieselbeNacht,dasselbeAufleuchtendesLichts,dasselbeNichts des Ansich, dieselbe Er-füllunginGott.Wennessoend-lich für jedes Menschenwesenmöglich sein wird, seinen Stolzjenseits der geschlechtlichenDifferenzierungindieschwierigeGlorie seiner freien Existenz zusetzen, erst dann wird die Frauihre Geschichte, ihre Probleme,ihre Zweifel, ihre Hoffnungenmit denen der Menschheit ver-einigen können. Erst dann wirdsie in ihrem Leben wie in ihrenWerken versuchen können, dieganzeWirklichkeit undnicht nurihrePersonzuenthüllen.Solangesie noch damit zu kämpfen hat,ein Menschenwesen zu werden,kannsienichtschöpferischsein.“6 Die Fleischlichkeit, der Körper,das Geschlecht, muss überwun-den,hintersichgelassenwerden:nicht Mann oder Frau, Mensch.DerMenschzeichnetsichjedoch

dadurchaus,dassallesdas,wasklassisch dem Weiblichen zuge-ordnetwird,dasFleisch,dasGe-schlecht, die Emotion, die Sen-sualität, aus ihm ausgegrenzt, inihmüberwundenwirdzugunstendessen, was eben üblicherwei-se dem Männlichen zugeordnetwird:derIntellekt,dasUniversaleund nicht das Partikuläre. Beau-voirsDiskurs ist indiesemSinneklarmisogyn.Aber kommen wir zu TheresavonAvila.WirkennensieausderSkulpturBerninis,dieihreVerzü-ckungdarstellt: eineNonne, diemit offenem Mund vor Genussekstatisch faststirbt,den ihrderCherubimbereitet,dermiteinemPfeil lieblich über ihr steht. Siezeigtuns,schreibtBeauvoir,„dieHeilige indenAusbrücheneinererschütternden Wollust ver-zückt.“ Ihr Körper verschwindet,istnichtsalseinFaltenwurf –einnackter Fuß.Die Szenegeht aufeine Selbstbeschreibung derEntrücktheit in der Gottesliebezurück, die wegen ihrer offen-sichtlichen Erotik in der Nach-welt immer Stein des Anstoßesgebliebenist.Eshandeltsichumden Moment der sogenanntenTransverberation, der innerenStigmatisierung ihres Herzens,dienichtnachaußentrat.Ich zitiere die Stelle nach derschlechtenÜbersetzungimzwei-ten Geschlecht.„Der Engel hielt in seinenHänden ein langes goldenesSchwert. Von Zeit zu Zeit stießer es inmeinHerz und stieß zubis inmeine Eingeweide.Wenner das Schwert wieder heraus-

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zog,wares,alswolleermirmei-ne Eingeweide herausreißen,und ich wurde dadurch ganz ingöttlicher Liebe entflammt. (...)Ichbinsicher,dassderSchmerzbis zum Grunde meiner Einge-weidedringtundesscheintmir,alsobdieseauseinanderreißen,wennmeingeistigerGemahldasSchwertwiederherauszieht,mitdemermichdurchbohrthat.“7

TheresavonAvilawurde1515voneinem Vater, dessen Familie be-reits vom Judentum zum Chris-tentumkonvertiertwar,undeinerMutter aus altkastilischem Adelgeboren. Sie wurde 1622 heiliggesprochen, 1965 zur PatroninderspanischenSchriftstellerund1970 zur ersten weiblichen Kir-chenlehrerin ernannt. Von Avilawar sowohl eine überragendeSchriftstellerin, die in KlassikernwieDas innere SchlossoderVon der Liebe Gottes, den Weg zuGott als Geschichte einer Liebebeschriebenhat.Alsvielleichtdiegrößte Mystikerin war sie aberaucheinederwichtigstenInstitu-tionsgründer und als solche parlaforcedeschosesGeschäftsfrauundManagerin.Siegründeteal-lein 16 Klöster der reformiertenoder barfüßigen Karmeliterin-nen; zusammen mit JohannesvomKreuzkamsiegaraufzwei-unddreißigNeugründungen.Mitnur geringer Übertreibung kannmansagen,TheresavonAvilaistdieGegenreformation.In der französischen Tradition istTheresavonAvilaeinefesteGrö-ße.Dasganze19.JahrhundertvonJulesMichelet8an,demvielleichteinflussreichsten Historiker, über

Gustave Flaubert, der sie immerwiedergelesenhatundinihrwohlexemplarisch das Phänomen derBrautChristiverkörpertsah.Flau-bertwarsiewichtigfürdieDarstel-lung seiner – perversen – BräuteChristi, Madame Bovary, Félicité.Micheletbautaufsieseineperversmystisch-bürgerliche KonzeptionderEheauf:Siewird ihmZeugindafür,dasseineFraunichtsals li-ebenkannund ihreBestimmungim Liebesopfer für andere liegt;diemystische Liebe überführt erStückfürStückindiebürgerlicheEhe, Stigmatisierung durch denKoitus eingeschlossen. Qua Na-tur istdieFrauheilig,dieGebär-muttertrittandieStelledesHerzJesu: Wie Christus, so liebt dieFrau,jetztnichtmehrquaGnade,sondern qua Natur, verblutend,bis zum Tode.Michelet verbanntdie sich liebend opfernde Ehe-frau und Mutter in den heiligenRaum,die ihrHeim ist,damitdieMänner in der wirklichen WeltWissenschaften, Aufklärung undFortschrittweiterbringenkönnen.Lacan schließlich setzt BerninisVerzückungderHeiligenTheresaals Cover auf sein Buch Encore,9umdasGeheimnisdesweiblichenBegehrens zu illustrieren. ClaireBretecher widmet Theresa derGroßen, in eigenartiger Zärtlich-keit, einDenkmal alsEilige Heili-ge.10

Das laizistische Frankreich, wieessich inderzweitenHälftedes19.Jahrhundertsherausbildet,istdurch seinen Kampf gegen dasKatholischegeprägt,dessenEin-fallstordieFrauensind,diedes-halbcoutequecouteumdesAll-

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gemeinwohls willen dem Schoßder Kirche entrissen und für dieSachedesFortschrittsundderRe-publikmobilisiertodersagenwir,zumindest neutralisiert werdenmüssen.EinenFeind imInneren,einSpioninjederEhe,imDienstenicht der Nation, sondern einerfremdenMacht,konntemansichnicht erlauben. Eine männliche,aufgeklärte, wissenschaftlicheRepublik, in der mit der natürli-chenHeterosexualitätdieHierar-chie der Geschlechter bestätigtwird,stehtgegenPerversionundVerweiblichungeinerzehrenden,unfruchtbaren Leidenschaft, de-ren Inbegriff die Mystikerinnensind.InderFigurderBernadette,der die Madonna in der GrottezuLourdeserschien, suchtensiedaslaizistischeFrankreichinmas-sivem Volksglauben heim. Aufder Rückseite der wissenschaft-lichen Bestrebungen ist das 19.Jahrhundert zurecht das golde-ne Jahrhundert Marias genanntworden.DieMystikerinwird derlaizistischenRepublik zurBedro-hungparexcellenceallesMänn-lichen;siestelltdienatürlicheGe-schlechterordnung in Frage.Diefruchtbare, bürgerliche Ehefrau,casé, wieman im Französischenso schon sagt, Hausfrau, undnicht mehr die herrenlose BrautChristi istneues Ideal.DieVisio-nenunddiekörperlichenPhäno-mene der Braut Christi werdennichtmehr als Gnadengeschenkanerkannt, sondern als Patholo-gie diagnostiziert: Alles Hysteri-kerinnen. Nicht Gott, nichts alsihrGeschlechtsprichtaus ihnen.Unddasbraucht zu seinerErfül-lung eigentlich den Mann, den

eigentlichenMann.BeauvoirhältdieMystikerinnenganz indieserlaizistischen Tradition für im Lie-beswahnBefangene,Frustrierte:„Ihre Gefühlsergüsse sind Ab-klatschderGefühleirdischerLie-bender.“ Der psychiatrische undspäter der psychoanalytischeDiskurs wird deshalb politischeminent wichtig. Charcot, Inha-ber des ersten psychiatrischenLehrstuhls an der Salpetrière,11erkennt die Posen der Hysteri-kerinnen in denen der Heiligen.Grund für das, was jetzt nichtmehr als geistige Mütterlichkeitakzeptiert, sondern als Sterilitätgebrandmarktwird,istentwederein Trauma oder, wie schon beiEmileZola,unbefriedigteSexua-lität. Ein Mann, Kinder erfüllendie eigentliche Bestimmung derFrauundwerdenschonallesrich-ten–findenunsereStudentinnenheute ja auch wieder. Diese lai-zistischen Bestrebungen sehensich als ein Nachholen der Re-formation für Frankreich, derenEigentlichesMicheletetwainderReform der Familie sieht. DerenletztesZielistes,patriarchalischeMännlichkeit in heterosexueller,fruchtbarer Sexualität, nationalfranzösisch,gegeneinhysterisch,verzehrendes, verweiblichendes,internationalistisches,kurzkatho-lisches Begehren zu befestigen,dasdie„natürliche“OrdnungderGeschlechter zersetzt: die Pries-ter, Schwarzröcke, also Frauen,oderwieHugososchönsagt:„nihomme, ni femme, prêtre.“ We-derMannnochFrau,Priester.Simone de Beauvoirs Anderes Geschlecht führt diese antiweib-

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liche,misogyneRhetorik,diedaslaizistische Frankreich auszeich-net, weiter. Wie diese stellt sieeine intime Beziehung zwischenFrau und Kirche dar, die demMännlichen feindlich und über-diesreaktionärsei.JetztstehtdieKirche, die immerhin nach derAussage Beauvoirs die einzigeInstitution ist, anderenRändernFrauen produziert worden sind,diedenausersehenstenMännerngleichwertig sind, auch gegendie Emanzipation, weil sie derweiblichsten aller KrankheitenVorschubleistet:dempassiv-nar-zisstischenWartenaufdeneinen,durch den man erwählt wird.„Somedayhe’llcomealong,theman I love“, dessen schlimmsterAusdruck der Liebeswahn ist.Die Religion braucht „richtige“Frauen, um die Erhaltung derOrdnung zu garantieren: passiv-narzisstisch statt aktiv müssensie sein. Denn von Gott erwar-tet die Frau nur,meint Beauvoir,wassieauchvomMannwill:„dieApotheose ihres Narzissmus.“12SiekommtausihrerIchheitnichtheraus, und man hat manchmaldas Gefühl, dass sie darin ge-fangenkreistwie ineinemSpie-gelkabinett und daher das vonBeauvoirgesteckte Ziel nicht er-reichen kann: „sich aktiv in diemenschliche Gemeinschaft zuprojizieren.“13 Fragt sich aber,welche Ordnung da nun reak-tionär durch die Kirche erhaltenwerdensoll.DenMännernistderhingeopferte Christus in Beau-voirsPerspektivejedenfallskeineErbauung.Wennsiesichihmhin-geben, verweiblichen sie: sieheBernhard von Clairvaux, in des-

senBrüsteunterdem liebendenKussGottesMilcheinschießt.Je-denfalls,soscheintes,wirddurchdieKircheBeauvoirzufolgenichtdie übliche Geschlechterhierar-chiebefestigt:„Er,Gott,beseitigtdas Vorrecht des Penis. Ein auf-richtigerGlaubebefreitdasMäd-chen von jedem Peniskomplex.SieistnichtMannundnichtWeib,sondern ein Geschöpf Gottes.Deshalbfindetmanbeivielenbe-deutenden weiblichen HeiligeneinedurchausmännlicheFestig-keit:DieheiligeBrigitta,diehei-lige Katharina von Siena erklär-ten selbstherrlich, sie regiertendieWelt.SieerkanntenkeinerleimännlicheAutoritätan:Katharinasprangsogarmit ihrenBeichtvä-ternziemlichgrobum.“14Frauenwerden durch diese Beziehungzu Gott selbstbewusst wie dieMänner: „Die erstaunliche Ge-schichtederheiligenTheresavonAvila ist ähnlich zu erklären wiedie der Heiligen Katharina: ausdemVertrauen aufGott schöpftsie ein starkes Selbstvertrauen;dadurch,dasssiedieTugenden,dieihremStandentsprechenaufshöchsteentfaltet,sichertsiesichdie Anerkennung ihrer Seelsor-gerundderchristlichenWelt:sokannsiesichüberdasgewöhnli-cheNiveaueinerOrdensschwes-ter erheben: sie gründet Klös-ter, verwaltet sie, macht Reisen,unternimmt und erreicht Dingemit männlichem Abenteurer-geist; die Gesellschaft legt ihrnichts in denWeg; auch Schrei-ben bedeutet keine Vermes-senheit für sie: Ihre Beichtväterhaltensieselbstdazuan.Siebe-kundetinglanzvollerWeise,dass

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eine Frau sohochwie einMannaufsteigen kann,wenn ihr durcheinen erstaunlichen Zufall die-selben Möglichkeiten gebotenwerden.“15Einzig gläubigen Frauen gelingtes,ihreWeiblichkeithintersichzulassen undmännlich zu werden.„KatharinavonSiena,diehl.The-resavonAvilasind,erhabenüberalle physiologischen Bedingun-gen, einfach Heiligenseelen; ihrWeltlebenundihrmystischesDa-sein,ihreHandlungenundSchrif-tenhabensieaufHöhengeführt,dienurwenigeMännerjemalser-reichthaben.“16Gleichzeitigwer-denjedochgeradediegläubigenFrauen von der Krankheit, dieWeiblichkeitbeiBeauvoirzuseinscheint,aufsschrecklichsteinderMystikergriffen.Alle-außerThe-resa, bei deren sexuellen Erfah-rungenessichnichtumsexuelleSublimationhandelt:„SosuchtineinereinzigenBewegungdiehei-ligeTheresasichmitGottzuver-einigenunderlebtdieseVereini-gunginihremKörper.SieistnichtdieSklavinihrerNervenundihrerHormone:Manmussvielmehr inihrdie Intensität einesGlaubensbewundern,der siebis in ihr In-nerstes durchdringt.“17 Schöngesagt.LeiderfälltBeauvoirwie-der hinter diese Position zurückundindieOppositionen,wiesieimmer schon das Weibliche alsschlecht, ja fast alspathologischkrankhaft unddasMännlichealsgut bestimmt haben: nämlichhier die Oppositionen von Kör-perundGeist,vonSensualismusund Intellekt. Sie dürfen raten,aufwelcher SeitedasMännliche

steht: „Die heilige Theresa stelltauf eine rein intellektuelle Wei-sedasdramatischeProblemderBeziehung zwischen dem Indivi-duum und dem tranzsendentenWesen an sich dar. Sie hat alsFraueineErfahrungerlebt,derenSinn jede eigentlich sexuelle Er-fahrungüberschreitet.Manmusssie neben Suso [Heinrich Seu-se] und dem hl. Johannes vomKreuzeinreihen.Siebildetjedocheine bemerkenswerte Ausnah-me. Ihre weniger bedeutendenSchwestern bieten uns eine we-sentlich weiblichere Vision vonderWeltunddemHeil.Siezielennicht auf ein Transzendierendes,sondern auf die Erlösung ihresFrauentums ab“; heißt hier Aus-bruch aus der reinen Immanenznicht durch die eigene Tat, son-derndurchdieErwählungdurcheinen Mann. Theresa hingegen„istvonmännlichemTypus.“18Die Menschwerdung der Frauverspricht ihre Heilung von derKrankheit,alsdieWeiblichkeitbeiBeauvoirerscheint.Undebendasist bisher nur einer Frau – odergenauereinemPaar –gelungen:JohannesvomKreuzundTheresavonAvila.„Wenn es so endlich für jedesMenschenwesen möglich seinwird, seinen Stolz jenseits dergeschlechtlichenDifferenzierungin die schwierige Glorie seinerfreien Existenz zu setzen, erstdannwirddieFrauihreGeschich-te, ihre Probleme, ihre Zweifel,ihre Hoffnungen mit denen derMenschheit vereinigen können.Erst dann wird sie in ihrem Le-benundihrenWerkenversuchen

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können, die ganze WirklichkeitundnichtnurihrePersonzuent-hüllen. Solange sie noch damitzu kämpfen hat, ein Menschen-wesenzuwerden,kannsienichtschöpferischsein.“19„Jenseits der geschlechtlichenDifferenzierung“Menschzuwer-denunddamitobjektivdie„gan-zeWirklichkeitundnichtnurihrePersonzuenthüllen“,dasstrebtezweifellosauchSimonedeBeau-voir im Paar mit Sartre an. UndmanchmalhatmandenEindruck,dass Theresa ihre einzigartigeStellung bei Beauvoir JohannesvomKreuzverdankt,dereinenar-zisstische Spiegelung mit demPaarBeauvoir–Sartreerlaubte.Gott sei Dank hat der Feminis-musnachBeauvoir nicht andie-ser Transzendentierung der ge-schlechtlichen Differenz festge-halten, sondern die geschlecht-liche Differenz bejaht, die Hie-rarchie von Weiblichkeit undMännlichkeit dabei nicht einfachverkehrt,sondernzersetzt.Es istallerdings richtig, dass es dabeidoch zu einer impliziten Höher-wertigkeit des Weiblichen ge-kommen ist, weil das WeiblicheAgentdieserZersetzungist,sieheDerrida.20Am fürmeine Zweckeglücklichsten ist das durch einBuch geschehen, das pünktlichzum 100. Geburtstag von Simo-nedeBeauvoirerschienenist.EsistvonJuliaKristevageschriebenundheißtThérèse mon amour.21 Es könnteein Liebesroman sein,undistesingewisserWeiseauch,jedenfalls eine flammende Lie-beserklärung,aberderUntertitelThérèse d’Avila spezifiziert dann

doch, dass es sich umdie Heili-ge dreht. Ich glaube nicht, daßeseinZufall ist,dasdiesesBuchzum100.Geburtstagerschienenist,kannmandochKristevasge-samtesWerk als eine Replik aufSimonedeBeauvoir lesen.Den-ken Siebloß, umeinBeispiel zunennen, an Kristevas ersten Ro-man, Les Samurai, der ganz of-fensichtlich im Titel BeauvoirsLes mandarins de Parisechot.IchleseThérèse monamouralsRep-likaufdasBild,dasBeauvoirvonderMystikerinzeichnet.KristevasErzählerin isteinePsychoanalyti-kerin; hier istbereitsdieWendederInstitutionPsychoanalysege-zeichnet,diesichgegenCharcotundeinebestimmteLektürevonFreud richtet und durch Lacaneingeläutetwurde.DiesePsycho-analysedientnichtmehrderPa-thologisierung von Weiblichkeitundwendetsichdamitgegendieeigene Tradition, wie sie sich inder laizistischen Republik in derzweiten Hälfte des 19. Jahrhun-derts etabliert hatte. Die neuePsychoanaylse sollte dezidierteine andere Rolle spielen, alsdie Republik vom zersetzendenweiblichenEinflusszuheilenunddie Frau auf den richtigenWeg,weg von unfruchtbar zersetzen-derLiebeundhinzurendlicher-fülltenEhefrauundMutterzuwei-sen.AbergenauwiederMannesnicht richten kann, werden diemännlichenNormenvonKristevanicht,wievonBeauvoir,affirmiert.Und,aberdaskannichinderKür-ze der Zeit nur noch andeuten,das Buch affirmiert Theresa vonAvilaalsFrau,diedieMenschheitinsofern verkörpert, als sie das,

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was Beauvoir für die weiblicheKrankheitparexcellencehielt, inihremKörperundinihremcorpusmehr als alle anderen illustriert:einen durch nichts zu stillendenÜberschussdesBegehrens, tou-joursenmanqued’amour.

Anmerkungen

1 Beauvoir, Simone de: Memoiren einer Tochter aus guten Hause, ReinbekbeiHamburg1960.

2 Beauvoir, Simone de: Das andere Geschlecht. Sitte und Sexus der Frau, ReinbekbeiHamburg1968,S.72.

3 Ebda.4 Kristeva,Julia:Geschichten von der

Liebe, FrankfurtamMain1989.5 Johannes vom Kreuz (1542–1591)

war27JahrejüngeralsTheresavonAvila. Er studierte Theologie undPhilosophie,1567lernteerTheresakennen und war tief beeindrucktvonihrenReformen.Ertrat1568indenKarmeliterorden ein.Gemein-samgründetensie32Klöster(nachTheresa von Avila: Buch der Klos-tergründungen).SeinbekanntestesWerkistDie dunkle Nacht.

6 Beauvoir, Simone de: Das andere Geschlecht,S.665f.

7 Ebda.,S.632.Beider„schlechten“Übersetzung handelt es sich umdieersteÜbersetzungvon1968.EsgibteinezweiteneueÜbersetzungvon1992.

8 Jules Michelet (1798–1874) gilt alsder bedeutendste französischeHistorikerdes19.Jhds.Siehedazuauch Barbara Vinken: Wo Josephwar, soll Prometheus werden: Mi-chelets männlicher Mütter, in:ChristianBegemann,DavidE.Well-bery (Hg.):Kunst-Zeugung-Geburt. Theorien und Metaphern ästheti-scher Produktion in der Neuzeit,FreiburgimBreisgau2002,S.251–

270. Ebenso Barbara Vinken: HerzJesu und Eisprung: Jules Miche-lets„devotiomoderna“, in:BettineMenke,BarbaraVinken (Hg.):Stig-mata. Poetiken der Körperschrift,München2004,S.11–23.

9 Lacan, Jacques: Encore: DasSeminar, Buch XX (1972–1973),Wien2000.

10Bretecher,Claire:Die eilige Heilige, ReinbekbeiHamburg1982.

11 Charcot, Jean-Martin (1825–1893),Neurologe.1882übernahmerdenersten Lehrstuhl für Krankheitendes Nervensystems am HospitalSalpetrière, Paris. Unter seinenSchülernwarauchFreud.

12 Beauvoir, Simone de: Das andere Geschlecht,a.a.O.,S.633/637.

13 Ebda.,S.588.14 Ebda.,S.114.13 Ebda.,S.144.16 Ebda.,S.633.17 Ebda.18 Ebda.19 Ebda.,S.666.20Jacques Derrida gilt als der füh-

rende Kopf der Philosophie derDekonstruktion. Siehe auch: Bar-bara Vinken (Hg.): Feministischer Dekonstruktivismus. Literaturwis-senschaft in Amerika,FrankfurtamMain1992.

21 JuliaKristeva,Thérèse mon amour,Paris2008.

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Claudia Gather

Frauen das zweite GeschlechtDer „Mythos“ bei Simone de Beauvoir. Anknüpfungspunkte für die feministische empirische Soziologie1

Einleitung

ImJahr2008 jährtesichderGe-burtstagvonSimonedeBeauvoirzum100.Mal,daserstmaligeEr-scheinenvon„Le deuxième sexe“(dt.: Das andere Geschlecht) lag59 Jahre zurück. Das ist Anlass,zurückundnachvornezuschau-en.Das Werk „Das andere Ge-schlecht“ hatte einen enormenpolitischen Einfluss auf die sichformierende Frauenbewegungder1970erJahreinDeutschlandgehabt.EshabedaspersönlicheLebenvonungezähltenFraueninderwestlichenWeltganzkonkretverändert, so Moi (1997, 273ff.)undwesentlichzur “PolitisierungdesPrivaten” (Gerhard1992,43)beigetragen. Im Unterschied je-doch zum politischen Einflussund den sehr hohen Verkaufs-zahlen ist festzustellen,dassdasBuchbisindie1990erJahrensel-tenexplizitEingangindieakade-mische feministische Diskussiongefunden hat und „merkwürdigindirekt(daran)angeknüpft“wur-de(Knapp/Wetterer1992,13).2

Im anderen Geschlecht wird imersten Buch die Idee, dass dasGeschlecht sozial konstruiertist und dass Menschen ihr Ge-

schlecht in einem sozialen Pro-zess erwerben, breit entwickelt(an diesem Gedanken knüpftexplizit Judith Butler 1991 an).Beauvoirs klassisch gewordeneFrageaufdererstenSeiteinderEinleitung„WasisteineFrau“undwie wird ein Mensch zur Frau,ist über viele Jahrzehnte aktuellgeblieben. Beauvoirs großarti-ge Antwort auf diese Frage ist,dass es die Frau nicht gibt. „Sie(dieMänner, C.G.) haben sie er-funden“(Beauvoir1996,245).MitBeauvoirs Ansatz können Unter-schiedlichkeitenindenErfahrun-gen und Lebenslagen der Ge-schlechter beschrieben werden,„ohne auf biologische Determi-nantenzurückgreifenzumüssen“,so resümiert Carol Hagemann-White (1992, 58) die LeistungBeauvoirs für die feministischeTheoriebildung. In der heutigenTerminologiegesprochenist„dieFrau“3 eine Konstruktion. DieseIdee wird (allerdings selten mitexplizitemBezugaufBeauvoir)imakademischen Feminismus etwaab den 1990er Jahren breit auf-gegriffen.StattGeschlechtalset-wasGegebenes vorauszusetzen,wird nun gefragt, wie KonzeptederDifferenzproduziertundbe-nutzt werden, um Geschlechter-unterschiede herzustellen und

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festzuschreiben (z.B.Hagemann-White 1988 und Gildemeister/Wetterer 1992). Genau das tutBeauvoir mit dem Konzept derMythenaufeinesehreigeneArtundWeise.EsistanderZeit,BeauvoirimFe-minismus den Platz einer Klassi-kerineinzuräumen.IndiesemSin-nemöchteichausderPerspekti-ve einer Soziologin nach theo-retischen Anknüpfungspunktenin Beauvoirs Werk suchen undversuchen, diese explizit zu ma-chen.4

Ich werde dabei folgenderma-ßen vorgehen. Zunächstmöchteich das Konzept derMythenbeiBeauvoir herausschälen. An-schließend werden die MythenvordemHintergrundeinigerAs-pekte von soziologischen undhistoriographischen KonzeptenderKonstruktionvonGeschlechtdiskutiert und die Besonderhei-tenherausgearbeitet.AmSchlusssolleinkurzerBlickinzweiempi-rischeFälledenmöglichenErtragdes Konzeptes der Mythen ver-deutlichen.

Was sind die Mythen bei Beauvoir?

Mit dem Konzept der Mythenstellt Beauvoir einen Erklärungs-ansatz für die Unterdrückungvon Frauen vor und beschreibtauch den Konstruktionsmodus.Die Beauvoirschen Mythen be-inhalten Vorstellungen darüber,wieFrauensindoderwiesieseinsollen.DieMythensindbeiBeau-

voir relational angelegt, betontwirddieDifferenzunddieAsym-metriederGeschlechter.DasBe-sondereamMythosist,dass‚dieFrau’imUnterschiedzum‚Mann’als das unwesentliche Anderedefiniert wird und dabei von ihrals individuellem Subjekt abge-sehen wird: „Die Menschheit istmännlich,undderManndefiniertdieFraunichtalssolche,sondernim Vergleich zu sich selbst: siewirdnichtalsautonomesWesenangesehen“ (Beauvoir 1996, 12).UndanspätererStelle:„DieFrausetzenheißt,dasabsoluteAnde-resetzen,ohneWechselseitigkeitund unter Verleugnung der Er-fahrung,dasssieeinSubjekt,einMitmensch ist“ (Beauvoir 1996,319).NachBeauvoirgibtesnurmänn-liche Entwürfe vonWeiblichkeit,“patriarchaleWeiblichkeit”nenntMoidas(1994,294).Frauen,bzw.das,wasFrauenseinsollen,wirdmit Bezug auf Männer und vonMännern definiert, Männer abernichtmitBezugaufsie.„EristdasSubjekt,dasAbsolute“(Beauvoir1996, 12). Der Mann setzt sichselbst. Die Frauen haben nachBeauvoir„keinenmännlichenMy-thosgeschaffen,indemsichihreEntwürfe spiegeln“, weil sie sichnichtalsSubjektsetzen(Beauvoir1996,194).Indemsie „dieFrau“ alsdasAn-dere setzen, ist esdenMännerngelungen,siezuunterjochen.DieMythendienenzugleichderLegi-timation männlicher Herrschaft.Mit ihnen werden männlichePrivilegien gerechtfertigt (Beau-voir 1996, 321). Mythen sind für

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Beauvoir grundsätzlich falscheDarstellungen von Wirklichkeit,sie sind „Trugbilder“ (Beauvoir1996, 327). Frauen werden überdie Mythen auf bestimmte We-senheitenfestgelegt.AusdiesemKonstruktionsprinzip von Weib-lichkeit schließtBeauvoir aufdiekonkreteLebenslagevonFrauen,die sich nicht „als für sich selbstexistierend erkennen und wäh-len, sondern… ihr Für-die-Män-ner-Sein einer der wesentlichenFaktoren ihrer konkreten Lageist“(Beauvoir1996,189).Mythensindallerdingsschwerfassbar:

„Es ist immer schwierig, einen Mythos zu beschreiben: er läßt sich weder fassen noch einkrei-sen, er geistert in den Bewußt-seinen umher, ohne ihnen je als festes Objekt gegenüberzuste-hen. Er ist so schillernd und wi-dersprüchlich, dass man seine Einheit zuerst einmal gar nicht bemerkt: in den Gestalten von Dalila und Judith, Aspasia und Lucrezia, Pandora und Athene ist die Frau zugleich Eva und die Jungfrau Maria. Sie ist Idol und Dienerin, Quelle des Lebens und Macht der Finsternis; sie ist das elementare Schweigen der Wahrheit und ist Arglist, Ge-schwätz und Lüge; sie ist Hei-lerin und Hexe; sie ist die Beute des Mannes und sein Verder-ben, … sie ist alles, was er nicht ist und was er haben will, seine Negation und sein Seinsgrund“ (Beauvoir 1996, 194).

IndiesemZitatwerdendieVielfaltunddieAmbivalenzderMythendeutlich. Insgesamt verhandeltBeauvoir imanderen Geschlecht

viele verschiedene Mythen ausverschiedensten Epochen undRegionen.5 In allen wird dieNachrangigkeit von Frauen zumAusdruck gebracht. Sowird z.B.im Schöpfungsmythos Eva nichtautonom und gleichzeitig mitdem Mann erschaffen, sondernspäterausseinerRippe,nichtumihrer selbst willen, sondern fürdenMann(Beauvoir1996,192).Die Mythen haben auch Aus-wirkungen auf die Lebenspraxisin der Sexualität. Nach Beauvoirexistiert ein falsches Bild derweiblichenSexualität.Diemänn-lichen Mythen über die Frauenverschweigen ihre Begierde:„DennauchderMann ist fürdieFrauFleisch“(Beauvoir1996,321).Und die sexuellen Mythen sindeinseitig:„DieWahrheit,dassfürdie Frau der Mann sexuell undkörperlich anziehend ist, wurdenieverkündet,weilesniemandengab,siezuverkünden“(Beauvoir1996, 194). Die Mythen werdenzum Vorwand genommen, Frau-en„dasRechtaufsexuelleLustzuverweigernundsiewieeinLast-tierarbeitenzulassen“(Beauvoir1996, 321). Auch die Sexualitätist bei Beauvoir ambivalent: DieSexualität ‚desMannes’undseinPhallusistauchMittelzurAneig-nung, zum Besitz „des ObjektesFrau“(Beauvoir1996,219).Beauvoirs politische HoffnungistandieSelbstbehauptungvonFrauen gebunden: „VielleichtwirdderMythosFraueinesTagesverschwinden: jemehrdie Frau-en sich als Menschen behaup-ten, desto mehr stirbt in ihnendiewunderbareEigenschaftdes

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Anderen.Heuteaberexistiertsienoch im Herzen aller Männer“(Beauvoir1996,193).SobaldFrau-enfreisind,ihrSchicksalaufsichnehmen, erwartet Beauvoir eine„Kampfbeziehung“ (Beauvoir1996,251),dennundomestizierteFrauenerscheinendenMännernbedrohlich. „Jedes Bewusstseinstrebtdanach,sichselbstalssou-veränesSubjektzusetzen.Jedesversucht sich selbst zu erfüllen,in demes das andere knechtet“(Beauvoir1996,191).FürBeauvoirist allerdings mit dem wechsel-seitigen Anerkennen, in einem„wechselseitigenHinundHeralsObjektundalsSubjekt“(Beauvoir1996,191),dieAnerkennungderFreiheit des jeweils Anderen inBeziehungenmöglich.

Die Mythen und ihr Verhält-nis zu soziologischen und historischen Konzepten der Geschlechterkonstruktion

Konzepte, die sich in der Sozio-logie mit Vorgaben für Verhal-ten befassen, also auchmit Vor-stellungen darüber, wie Frauen(undauchMänner)sindoderseinsollen, sind unter anderem: dassoziologische Konzept der (ge-schlechtsspezifischen) Normen,das Rollenkonzept,6 das Deu-tungsmusterkonzeptundAnsätzederKonstruktionvonGeschlecht.Zusätzlich möchte ich auch kurzaufdenvonKarinHausen inderGeschichtswissenschaft gepräg-ten Begriff der Geschlechtscha-raktere (Hausen1978)eingehen.

Es soll hier nicht darum gehen,feministischeTheorienundsozio-logische Ansätzemöglichst voll-ständig zu rekapitulieren, son-dern es kann nur kursorisch vordiesem Hintergrund der mög-liche Ertrag der BeauvoirschenMythen insbesondere fürdie fe-ministische, soziologisch empiri-scheForschungskizziertwerden.Wie sind die BeauvoirschenMy-thenvondenanderenKonzeptenabzugrenzen? Zunächst bezieheichmichaufdasKonzeptderso-zialen Normen. Beim Lesen desMythenkapitals war ich als So-ziologin immer wieder versucht,die Mythen als soziale Normenzu lesen. Normen werden vonBernhard Schäfers definiert als„explizit gemachte Verhaltens-regeln, die Standardisierung– und damit Handlungswieder-holungenund-erwartungen–er-möglichen“ (Schäfers 1993, 26).Normen bilden einen Orientie-rungsrahmen, sie werden zumeineninternalisiertundexistierenzum andern gleichzeitig außer-halbdesSubjektsalsKanonvonRegelnundErwartungen.Sieer-leichtern das Zusammenleben,indem sie einerseits Vorgabenfürdas‚richtige’HandelnineinerSituationliefernundandererseitsdasVerhaltenanderererwartbarund vorhersagbar machen. DieBeauvoirschenMythengelangenauchinsInnerederIndividuen,al-lerdings betont Beauvoir stärkerdenAspektdesZwangs:ÜberdieMythenhatsie (dieGesellschaft,C.G.)denIndividuenihreGesetzeundSitteninbildhafter,anschau-licher Weise aufgezwungen, in

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mythischerFormsickertederkol-lektiveImperativinjedesBewußt-seinein“(1996,326).DieGeltungeiner Norm erkennt man daran,dassdasAbweichenvonihrSank-tionenauslöst(Popitz1961).Nor-menwerdentrotzÜbertretungenaufrechterhalten.AuchandieserStelle gibt es ÜbereinstimmungmitdenMythen:

„So stellt das mythische Den-ken der verstreuten, kontin-genten, vielfältigen Existenz der Frauen das einmalige und starre Ewigweibliche gegen-über; wenn dessen Definition durch das Verhalten der Frauen aus Fleisch und Blut widerlegt wird, sind sie es, die unrecht haben: man erklärt nicht, daß das Weibliche eine Entität ist, sondern daß die Frauen nicht weiblich sind. Die Widerlegun-gen durch die Erfahrung kön-nen dem Mythos nichts anha-ben“(Beauvoir1996,319).

Es gibt zwischen dem Konzeptder Mythen und dem der Nor-men, wie bereits gezeigt, Ähn-lichkeiten. Die Konzepte liegenjedoch auf etwas anderen Ebe-nen. Normenwerden in der So-ziologiealsnachhistorischerZeit,RegionundMilieuveränderlicheVerhaltenserwartungen verstan-den, die von sozialen Wertenabgeleitet sind.7 Die Beauvoir-schen Mythen liegen dagegeneheraufeinerabstrakterenEbe-ne der Legenden und Bilder.Aus diesen ergeben sich nichtunmittelbar Handlungsanleitun-gen. Dennoch fließen diese Bil-der in unsere Vorstellungen vonMännlichkeit und Weiblichkeit

undauchinGeschlechternormenein. Wie und auf welche genaurekurriert wird, das wäre nochgenauer zu untersuchen. SozialeGeschlechternormen sind alsosehrvielkonkreterundeherwe-niger komplex alsWeiblichkeits-mythen. Geschlechternormengeben Handlungsanweisungenan Männer und Frauen z.B. fürdie häusliche Arbeitsteilung. Siebeinhalten typischerweise, wel-cherPartnerwelcheAufgabeer-füllen soll.HeterosexuellePaare,diesichdaranorientieren,habenz.B. dadurch einen geringerenAushandlungsbedarf über dieVerteilungderAufgaben in ihrerBeziehung (Gather 1996a). Wo-bei allerdings von einer durch-gängigen Geltung einheitlichergeschlechtsspezifischer Normenm.E. inDeutschlandnicht (mehr)auszugehenist.Auch zwischen denMythen unddem von Karin Hausen entwi-ckelten klassischen Konzept derGeschlechtscharaktere (Hausen1978) gibt es einige Ähnlichkei-ten. In beiden Konzepten wirdalseinewesentlicheFunktiondieLegitimation männlicher Herr-schaft gesehen. Der weiblicheGeschlechtscharakter, der amEnde des 18. Jahrhunderts „er-funden“8wird(Hausen1978,161),beinhalteteineinhaltlicheFestle-gung über „das eigentlicheWe-sen der Geschlechter“ (Hausen1978,162).„DerGeschlechtscha-rakterwirdalseineKombinationvon Biologie und BestimmungausderNaturabgeleitetundzu-gleichalsWesensmerkmalindasInnere der Menschen verlegt“

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(Hausen1978,162).Er legtFrau-en auf die Aufgabe der Repro-duktion, auf Passivität undEmo-tionalitätfest.Erfinder der Inhalte des weib-lichen Geschlechtscharakterssind vorrangig Philosophen undGelehrte des ausgehenden 18.und19.Jahrhunderts(z.B.Fichte,Kant,Humboldt).MitderDurch-setzungderbürgerlichenGesell-schaft wird der Geschlechtscha-rakter für immer weitere Kreisevon Frauen bis in das 20. Jahr-hundert hinein verallgemeinert.Durchsetzen konnten sich dieseIdeen,weildiedurchdieGedan-kenderAufklärungunddenNie-dergangdesFeudalismuspoten-ziell bedrohte männliche Herr-schaft hiermit eine Möglichkeitgefunden hatte, ihre Vormacht-stellung weiterhin abzusichernundzulegitimieren.Hausengehtesdarum,diespezi-fischneueQualitätdieserWesens-bestimmung herauszuarbeiten,diekonstitutivfürdiebürgerlicheGesellschaftwurde.Beauvoirbe-schreibt einen ähnlichenMythos,dendesPaternalismus,dieserbe-schränke‚dieFrau’aufdenheimi-schen Herd und definiere sie als„Gefühl, Innerlichkeit, Immanenz“(Beauvoir 1996, 320). Dennochbetont sie auch die Ambivalen-zen: “... dasseseineVielzahl vonunvereinbaren Mythen gibt unddaß die Männer grüblerisch vordensonderbarenInkohärenzeninderIdeederWeiblichkeitstehen”(Beauvoir1996,319).FürdieAnsätzederKonstruktionvonGeschlechtkannBeauvoiralsVordenkeringelten.Nichtzufällig

beginntPaula-IreneVillaeinÜber-blickskapitel zur sozialen Konst-ruktionvonGeschlechtmitBeau-voir (Villa 2007, 19). Unter denAutorinnen, die das Geschlechtals eine soziale Konstruktion ver-stehen, möchte ich mich exem-plarisch auf Texte von RegineGildemeister, Angelika Wettererund Carol Hagemann-White be-schränken(z.B.Gildemeister/Wet-terer 1992, Gildemeister 1992,2004,Wetterer2004,Hagemann-White1984,1988).FürdieseAuto-rInnen ist derGedanke, dass dieGeschlechterdifferenz kulturellhergestellt ist, zentral. Die Ge-schlechterkonstruktion ist binär.Es gibt, so Gildemeister „keineIdentitätundIndividualitätaußer-halb der Geschlechtszugehörig-keit“(1992,227).ImGegensatzzuBeauvoirwirdeherdieEigentätig-keit bei der Aneignung von Ge-schlechtbetont. „DasGeschlechtist nicht etwas was wir `haben´oder `sind ,́ sondern etwas, daswir tun (Hagemann-White 1993,68).DieMenschenstellentagtäg-lich in ihren Handlungen binäreGeschlechtlichkeit,alsoeinesvonnur zwei möglichen Geschlech-tern her. Soziale Interaktionensindein„formenderProzesseige-ner Art, in dem `Geschlechtlich-keit´ durch die handelnden undsoziale Realität interpretierendenSubjekte gelernt und hergestelltwird“ (Gildemeister 1992, 230).Auf der Basis alltäglicher Inter-aktionen ordnet das Gegenübereine Person in sein binäresOrd-nungsschema ein. Diese „binäreKlassifikation“ist„derkategorialeRahmen alltagsweltlichen Den-kens: so werden Geschlechter

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identifiziert, gedacht und ge-schaffen“ (ebd., 228). Interessantistauch,wieesindiesemKonzeptzuUnterschiedeninnerhalbeinesGeschlechts kommt, denn jede/rEinzelne muss sich die Ordnungder binären Geschlechterklassi-fikation zu eigen machen. DarinwirdGleichheitzwischendenAn-gehörigen einer Kategorie her-gestellt.Einzelnenehmenjedochjeweils einen eigenen Platz inder klassifikatorischen Ordnungein.DieOrdnungbildet zugleichdie Grundlage für die Vergleich-barkeit zwischen den Individuen(Gildemeister1992).Dadurchent-steht eine soziale Ordnung derGeschlechterklassifikation und-zugehörigkeit. Bei Beauvoir istesdagegeneherBequemlichkeit,wenn Frauen in ihr vonMännernentworfenes Schicksal als `Frau’einwilligen und sich damit ihrerFreiheit,sichselbstzuentwerfen,berauben.In den Konzepten von Hausen,von Gildemeister, Wetterer undauchvonBeauvoirschimmertdasvonRubin(1975)erstmalsthema-tisierte Gleichheitstabu durch.NachdemDifferenzprinzipsollenMännerundFrauengrundsätzlichverschieden sein. Hausen denktdie polaren Geschlechtscharak-tere als Kontrastprogramm, dasinderdeutschenKlassikundRo-mantikalseinanderzurVollkom-menheit ergänzendes konzipiertwurde(vgl.Hausen1978).Auch bei Beauvoir ist die Kon-struktionalsnichtgleichezentral:Frauensollenanderssein.Wieje-dochderModusderKonstruktiondesAnderengenauverfährt,auf

welcheArtundWeisederweib-licheMythos abgeleitet wird, istvielfältig:SowirdWeiblichkeitals„Verneinung“,alsdas„Negative“,als„Daseinsgrund“,als„Ideal“,alsSpiegel,oderals„das,wonacherstrebt,aberniemalserreicht“undvielesmehr entworfen (Beauvoir1996,194,240).Im Konstruktionsansatz bleibtoffen, aufwelcheArtundWeisemanWeiblichkeitkonkretherstel-len kann, sodass andere indenInteraktionen eine Frau erken-nen, wie kommt es zu den kon-kreten Inhalten?9Hier bietet dasKonzept der Mythen breite undvielfältige inhaltliche Möglich-keiten an. Nach Villa (2007, 25)wird auch die Asymmetrie derGeschlechterverhältnisse, Machtund Ungleichheit, nicht erklärt.Der Ansatz des Mythos wie derdes Geschlechtscharakters kön-nen diese Lücke schließen. Beibeidensinddie Ideen,wieFrau-en sein sollen, von Männern er-dacht und für Männer gemacht.Sie sind so angelegt, dass eineFunktion die Absicherung derVorherrschaft von Männern ist.Entsprechend beider Konzep-tewirddadurchdie Freiheit vonFraueneingeschränkt.10

Soziologische Ebenen der Mythen

Im Folgenden soll gezeigt wer-den,wiederModusderKonstruk-tion vonGeschlechtbeidenMy-thengenauerzufassenistundaufwelchen soziologischen Ebenen

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derMythosangesiedeltist.Beau-voir behandelt die Mythen überdie Weiblichkeit einerseits aufeiner eher makrosoziologischenEbene. Sie sind es, die struktu-rell Geschlechterdifferenz und–hierarchie erzeugen und nach-rangigeWeiblichkeit legitimieren(sieheauchNiethammer/Preußer/Rétif 2007, 13). Es sind kollektiveBilder,vergleichbarmitsoziologi-schenWerten(ausdenenNormenabgeleitetwerden),vielleichtauchmit dem „kollektiven Geschlech-ter-Wissen“, wie Dölling (2007)dasaktuellnennt.Beauvoir zeigt am Beispiel derUntersuchungvonWeiblichkeits-konzeptionen in den Romanenberühmterüberwiegendfranzö-sischer Schriftsteller, wie unter-schiedlich und vielfältig Weib-lichkeit gefasst werden kann.Sokonzipiertz.B.Lawrence,‚dieFrau’alsNymphe,BretonalsSi-rene und Retterin der Mensch-heit, bei Montherland wird ‚dieFrau’ als Megäre verachtet, beiClaudelistsiederMorgenstern,und nur bei Stendhal habenFrauen kaum einen mythischenWert(Beauvoir1996,302ff.).Je-der Schriftsteller definiert dieFrauanders, jenachseinerindi-viduellenSichtvonMännlichkeit(Beauvoir 1996, 314).Auf dieserEbene demonstriert Beauvoirihr Konstruktionsprinzip. DieskönnteaucheinHinweisaufGe-schlechterkonstruktionenaufmi-krosoziologischer Ebene imAll-tagsein.AllerdingssindSchrift-steller an der Kulturproduktionbeteiligt, ihre Romane sind Fik-tion. Sie entwerfenWeiblichkeit

in Bezug auf eine Männlichkeit,ohnedasseinerealeFrau ihnenwiderspricht.Wie siehtdas jedochaufdermi-krosoziologischen Ebene der Le-benspraxis der Individuen aus?WiekonkretisierenheterosexuellePaareinihrenBeziehungenWeib-lichkeit und Männlichkeit? Wiewird das „subjektive Geschlech-ter-Wissen“ (Dölling 2007) derBeteiligten in Beziehungen aus-gehandelt?WiekommteshierzuVeränderungen, zu Modernisie-rungen? Für den Erwerbsbereichder professionalisierten Berufewird aktuell einerseits eine zu-nehmende Gleichheitssemantikund ein Bedeutungsverlust vonGeschlechterdifferenzen festge-stellt sowieandererseitseineRe-traditionalisierungundReproduk-tion vonGeschlechterdifferenzenausgemacht (zusammenfassendWetterer2007).Einesderzentra-len Ergebnisse für das Erwerbs-lebenausdemDFGSchwerpunkt„Profession und Geschlecht“ ist,dass beide Tendenzen gleichzei-tig bestehen (siehe hierzuGilde-meister/Wetterer 2007). DieseModernisierungstendenzen inder Erwerbsarbeit werden mög-licherweise konterkariert durchBeharrungstendenzen der ge-schlechtlichenDifferenzierungimPrivatbereich(Gildemeister2005,210). Die Paarbeziehung ist derOrt, an dem Geschlechterdiffe-renzimmerwiederneuhergestelltwird. Möglicherweise folgt dieModernisierung wie die Retradi-tionalisierunginPaarbeziehungenetwasanderenMusternalsimEr-werbsbereich.

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Im Folgenden soll am BeispielvonGesprächenvonPaarendenGeschlechtermythen auf mikro-soziologischer Ebene exempla-rischnachgegangenwerden.11InsoziologischenKonzeptenzuEheundLiebespielenGesprächeeinewichtige Rolle. So spricht Luh-manndavon,dassesbeiderLie-beskommunikationvorallemumdie wechselseitige BestätigungdereigenenSichtderWeltbeimanderen,umdie“ValidierungderSelbstbestätigung” (Luhmann1984) gehe. Mit Beauvoir ließesich allerdings annehmen, dasses in den Liebeskommunikatio-nen weniger wechselseitig zu-geht, als Luhman annahm, dassehereinseitigmännlicheWeltbil-derundEntwürfevondenFrauenbestätigtwerdensollen.InBezugauf das Geschlechterverhältniswird zwischen den Gesten undden Ideen eine erhebliche Dis-krepanz festgestellt, Ideen sinddeutlich stärker als die Gestender Gleichheitssemantik verhaf-tet (Wetterer 2003). Hier sollenGespräche untersucht werden,dasiederOrtsind,andem(wennüberhaupt)AushandlungundLe-gitimationen von Geschlechter-konstruktionen unter Einbezugvon Ideen stattfinden, allerdingsohnedassdiesdenAkteurenbe-wusstseinmuss.

Ein kursorischer Blick in die Empirie

Beauvoirs These lautet, dassWeiblichkeitaufMännlichkeitbe-

zogen ist und dass WeiblichkeitnachrangigalsdasAndereabge-leitetwird,dassalsoMännerdieDeutungshoheit auch für Weib-lichkeit in der Beziehunghaben.Für die Darstellung wurden ausderqualitativenempirischenStu-die12 zwei, allerdings sehr unter-schiedlichePaareausgewählt,dieauch nur kurz mit jeweils einemInterviewausschnitt vorgestelltwerden. Im ersten Fall handeltessichumeinEhepaar,FrauundHerrn Hermann, im Ruhestand.FrauHermannwaramEndeihresErwerbslebens Ingenieurin, HerrHermann war Schlosser. Sie hatneben dem PKW- auch einenLKW-Führerschein. In der häus-lichen Arbeitsteilung folgt dasPaarkonventionellenMustern.In dem folgenden Interviewaus-schnitt geht es umdasAutofah-ren:1 M13: – Meistens hab‘ ick je-

fahren.–Nich‘?Detfandsie2 so – äh der Mann hat #am

Lenkradzusitzen#.3 F:#Wennich ‚nManndabei

habe#,dann#fahr‘ichnich‘4 M: Nich‘. Da wollt se nich‘.

#Ne#.5 M:Alsovonmirauskonnt‘se

fahren.6 F: Also ich find‘ –, (schnell)

find‘ det albern, wenn ‚nMann

7 dabei is‘undderMannsitztdaneben;detsiehtimmerso

8 aus, alsobman ihm ‚n Füh-rerschein abjenommen hat(Gather1996a,106).

Auffällig ist, dass die Ehefrau,Frau Hermann, die LKWs ge-fahren hat und während ihrer

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Arbeitszeit das Auto zu ihrerVerfügunghatte,weilsieauchaufBaustellenfahrenmusste,aufdenBeifahrersitzwechselt,sobaldihrMannzusteigt.SiezeigtdamiteinrigideresInteresseankonventio-nellen geschlechtsspezifischenNormenals ihrMann.Der Impe-rativ: „derMannhatamLenkradzu sitzen!“ ist eineAufforderungvonFrauHermann,die ihrMannin indirekter Rede wiederholt.Sieerwartet,dassdasNicht-Ein-haltendieserKonventionalsAb-weichung von der Normalität(Führerscheinentzug) interpre-tiertwürde.Dietheoretischauchgegebene Möglichkeit der An-erkennung der Frau für Kompe-tenzenim‚männlichen’Feld(desAutofahrens) kommt dagegennichtindenBlick.HerrnHermannscheint eine Abweichung vondieser Konvention weniger aus-zumachen (Zeile 5). Er fügt sichdennoch dem Wunsch seinerFrau, ohne dass ihm aufzufallenscheint,dasssiedieSituationbe-stimmt.Wirsehen,dasshierFrauHermannMännlichkeit–dasheißthier,wieeralsMannhandelnsoll– definiert. SiemachtdieVorga-ben, an die sich derMann auchzuhalten scheint. FrauHermannhatlebenslangvielgearbeitet,alsIngenieurin ineinemsogenann-ten „Männerberuf“ und immereinenerheblichenTeilzumFami-lieneinkommenbeigetragen. Siemöchte dennoch oder vielleichtdeswegen mit konventionellenweiblichen GeschlechtermythenÜbereinstimmung herstellen.Das funktioniert für sieabernur,wennderMannauchseinenkon-ventionellen männlichen Part

übernimmt. Ihre „Weiblichkeit“ergibt sich erst abgeleitet indi-rektdaraus.AuchbeimzweitenBeispielhan-delt es sich um ein älteres Ehe-paar.IndiesemFallistdieEhefraunoch erwerbstätig, während derMann bereits im Ruhestand ist.DasPaarwurdeRichtergenannt.ErwarinderVersicherungsbran-che,sieistBibliothekarin.Zurzeitführt Herr Richter den Haushaltfastalleine,währendFrauRichterihrer Erwerbstätigkeit nachgeht.IndieserGesprächssequenzgehtesumdieFrage,werinderBezie-hung„dasSagen“hat:1 F:ErwarjaniederErnährer,

wirwar‘njabeide2 #immergleichberechtigt#.3 I: #Ja, Sie war‘n gleich-#

-wertigdannauch,nicht?4 F: ImGegenteil.Mein Beruf

is‘vielleichtnoch‚n5 bißchenqualifizierter,ne?6 I:Hm,hm(3sec.)7 F:Und(2sec.)8 M:SiehatdasGlück,daßsie

ähim(Arbeits-9 stelle)-hier,alsoähähallei-

nigeBibliothekarin10 is‘,alsosozusagengleichzei-

tigBibliotheksleiterin11 is‘, äh äh und äh, also, nich‘

nurirgend-12 jemand,derdanuirgendwas

macht,sondernsiemuß13 eigentlich das gesamte Ge-

bietähdaim14 Griffhaben,äh,undäh-wäh-

rendich15 eigentlich, zwar, in der Zeit

woichgearbeitet16 hab‘, mehr Geld verdient

hab‘--aberäh

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17 (4sec.)diedie---18 F: (leise) Hast du eigentlich

auchnicht.Nurweildu19 vierzich Stunden und ich

dreißiggearbeitethab‘.20 M: Ja. Aber ich mein, also

jetzt,ochtatsächliches21 M: Geld! Also nich‘, nich‘?.

Äh,nich‘,du22 hastjaauchnur‚nedreivier-

telStelle,23 nich‘.Undäh–aberichmein

d-,d-,daswaraber24 nich‘ bei uns eigentlich äh-

so–neSache25 hier: Ich verdien‘ das Geld,

oderso.Das26 is‘ bei uns eigentlich nie –

dranjewesen.(Gather1996a,192).

WirsehenindieserInterviewpas-sage, dass die Ehefraumit demErnährermodellÜber-undUnter-ordnung verbindet. Die Gleich-berechtigung in ihrer Beziehungversuchtsiedamitzubegründen,dass der Ehemann diesem Mo-dell nicht entsprochen hat, niederErnährerderFamiliewar(Zei-le1).Demnachkannerauchkei-ne potenziellen Herrschaftsan-sprüchedaraus fürsichableiten.Herr Richter widerspricht dieserSichtweiseseinerFrau,allerdingsnachdemerzunächst ihreberuf-lichePositiongewürdigthat.Fürdie Einschätzung von Ernährer-positionen hält er den Vergleichder Einkommen für zutreffend(Zeile15und16).ImAlltags-undWissenschaftsverständnisistdie-serMaßstabauchdergebräuch-liche:„WerdasGeldnachHausebringt,hatdasSagen.“Früherhater mehr verdient als seine Frauund hat demnach dem männ-

lichen Ernährermodell entspro-chen.Dieswill die Ehefrau nichtgelten lassen und versucht nun,mit einer weiteren Begründungihre Sichtweise durchzusetzen(Zeile18und19).SelbstnachdemMaßstab Einkommen schneidesiebesserab,da sie theoretischmehrhätteverdienenkönnen.Diese zwei konkurrierendenVer-sionen von Ernährermodellenwerden nicht weiter ausgetra-gen.Herr Richter sucht zwarmitder häufigenWiederholung des„nich‘“ (Zeile 21) nach der Zu-stimmung seiner Frau zu seinerVersion,alsdieseaberausbleibt,lenkterrechtschnellein.Erführtdie Argumentation auf eine an-dere Ebene. Er wendet sich ge-nereller gegen die Geltung derRegel, nach der Ansprüche ausErnährerrollen abzuleiten seien,diese gelte in ihrer Beziehungnicht (Zeile 23–26). GemeinsamgeteilteAuffassung–wennauchmit einer anderen Argumenta-tion-ist,dassinihrerBeziehungeinseitige Machtansprüche (ab-geleitet aus Ernährerpositionen)nicht gelten sollen. Frau Richterscheintzufrieden.Betrachtenwirdas Interview insgesamt, dannbeziehtsichFrauRichterhäufigeraufkonventionelleGeschlechter-normen, verneint allerdings dieGeltung für ihre Beziehung. Sieargumentiert vehement gegenpotenzielle männliche Macht-ansprüche und versucht ihremManneinenhöchstensgleichbe-rechtigten Platz zuzuweisen, umdaraus auch für sichRechteundHandlungsspielräume (z.B. dieGleichberechtigung)abzuleiten.

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Vergleicht man die beiden Fälle,dann fällt auf,dassbeideFrauenversuchen, zuerst Männlichkeitund in gewisser Weise erst ab-geleitetdavonWeiblichkeitinderPartnerschaft (mit) zu definieren.Beide beziehen sich dabei nichtauf eigene Vorstellungen vonWeiblichkeitundentwerfendannden passendenMann dazu, son-dernbeziehensichaufehergän-gige Konventionen in Bezug auf‚Männlichkeit’.Dieeinepositiv,ersoll ein ‚richtiger’Mann sein, dieanderenegativ,weilerkonventio-nelle Männlichkeitsnormen nichtvollerfüllenkann,kannerdarausauchkeineVorrechteableiten.Auf den ersten Blick sieht es soaus, als ob die Frauen ‚Männ-lichkeit’ definieren würden. DerzweiteBlickzeigtjedoch,derKon-struktionsmodus ‚MännlichkeitistdasersteGeschlecht’herrschtvor.FürFrauHermannergibtsichkonventionelle Weiblichkeit erstabgeleitet von Männlichkeit. FürFrauRichterergibtsich‚Gleichbe-rechtigung’ erst aus der Zurück-weisung von Machtansprüchen,die aus Ernährermodellen abge-leitet werden könnten. Vielleichtliegt hier der Grund für die Be-harrungstendenzderAsymmetrieder Geschlechterkonstruktionenin Paarbeziehungen. Selbst beiden ‚moderneren’ Geschlechter-konstruktionen, und die RichterssindsoeinPaar(beidemz.B.auchderManndieHausarbeitenüber-nommen hat), ist die Definitiondessen, was männlich sein sollbzw. nicht mehr männlich seinsoll, die erste. Nicht hier vorge-stelltwerdenkonnte,wasbeider

Darstellung aller Fälle deutlichwird(Gather1996a),dassdas,wasin den Beziehungen als weiblichundmännlichgiltundgeltensoll,beijedemPaaraufeinejeeigeneArt und Weise anders definiertund ausgehandelt wird. Auf derInhaltsebenebeobachtenwireineVielfalt der Konstruktionen undmöglicherweiseeineErosionvonGeschlechterdifferenzen.Mankönntevielesgegendiebei-den oben kursorisch vorgestell-tenempirischenBeispieleanfüh-ren. Die Paare sind schon älter,dieInterviewsliegeneinigeJahrezurück.DerrelevantesteEinwandistsicherlich,dassdadurch,dassnurPaare interviewtwurden,beidenen beide in etwa gleich vielverdienen,Männernichtdaskon-ventionelleErnährermodellerfül-len, sichdurchdiese latent ‚pro-blematische’ Männlichkeit einerhöhter aktiver Konstruktions-bedarf von Geschlecht ergibt.Andererseits ist auch zu hoffen,dass durch bessere Ausbildun-genund steigendesEinkommenvorallemvon jungenFrauendieEinkommensdifferenzen weiterzurückgehen und der Anteil derPaare mit gleichem Einkommensteigt. Es kann natürlich auchsein,dassdiejungenFrauenmitt-lerweilesofreisind,dassheutzu-tagebeidenjungenPaarenallesganzandersist.14

Zurück zu Beauvoir

DieBeauvoirscheIdeevomweib-lichen Mythos ist für die Unter-

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suchungvonKonstruktionenvonGeschlecht in Paarbeziehungeninteressant und weiterführend.Der Konstruktionsmodus, dassFrauen das zweite Geschlechtsind, ist auch in der alltäglichenPraxisvonGeschlechterkonstruk-tion zu finden. Eswäre lohnend,dieses Konstruktionsprinzip inZusammenhangmitUngleichheitund Asymmetrie in Paarbezie-hungenweiterauszuloten.DiesesDeutungsmuster fandsichsogarbei Paaren, die eher ‚moderne-ren’ Geschlechterarrangementsgefolgtsind.Indenuntersuchtenheterosexuellen Beziehungen istderManndas‚erste’Geschlecht.Egal,obdieFrauenkonventionel-leMännlichkeit stützenoderde-montieren, immergehteszuerstumMännlichkeit. Erst abgeleitetaus Männlichkeit ergeben sichfürdiehier untersuchtenFrauenihre eigenen Möglichkeiten undHandlungsspielräume.Mankönn-tesinngemäßmitBeauvoirsagen:Je nach dem, wie MännlichkeitkonkretinderBeziehungdefiniertwird, ergibt sich das Zweite, dasAndere, die Weiblichkeit für dieFrauen. Anders als bei BeauvoirindenKonzeptionendesMythosz.B. bei den Schriftstellern, zeigtsich,dassdieFrauenmitsprechen,aktiv an den Definitionen vonMännlichkeit beteiligt sind. Aufder Ebene der Individuen sindMänner also auch nicht (mehr?)völlig frei, Männlichkeit beliebigzudefinieren.DerFrage,obesauchmännlicheMythengibt,wurdehiernichtnä-hernachgegangen.Esschimmertjedoch in den Interviewstellen

durch, dass es auch für MännerVorgaben und Konventionen zugeben scheint (siehe hierzu z.B.auchConnell1995,Behnke1997,Meuser2002).15

Zufragenwäreauch,welcheRele-vanz auf dieser alltagsweltlichenEbene das Gleichheitstabu, dieVorstellungvonderunbedingtenDifferenzderGeschlechter,nochhat. Wird es unter modernerenVorzeichen aufgebrochen, wennbeide Partner erwerbstätig sindund Hausarbeiten abwechselndverrichten können? Offen bleibtan dieser Stelle auch, auf wel-che Art und Weise Weiblichkeitauf Männlichkeit bezogen wird.WirdWeiblichkeitabgeleitetvonMännlichkeit als Ergänzung, alsGegensatz, alsdasNegative, alsIdeal, als Spiegel oder noch an-ders gebildet, und welche Kon-sequenzen hat das für die Ge-schlechterkonstruktionen?Ich habe versucht mit diesemBeitrag zu zeigen, dass es auchfür Soziologinnen interessantseinkann,sichmitdemAnderen Geschlecht alsklassischemWerkzu befassen. Das Konzept desMythos bei Beauvoir ist meinesErachtensfruchtbarfürdieUnter-suchung alltäglicher Praxen derHerstellung von Geschlecht inPaarbeziehungen, denn es hilftAsymmetrien indenBlickzube-kommen.

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Anmerkungen

1 Zweitabdruckinleichtüberarbeite-terFormmitfreundlicherGenehmi-gungdes Lucius& LuciusVerlags.Dieser Beitrag erschien zuerst in:FeministischeStudien26.Jg.,Heft2,2008.

2 Ich nehme mit diesem BeitrageinenFadenwiederauf,denichvorneunJahrenmiteinemVortragzum50.JahrestagdesErscheinensdesanderen Geschlechts begonnenhatte.

3 Beauvoir verwendet überwiegenddenSingular,wennsievondenGe-schlechtern spricht. Gemeint sinddamit im Mythenkapitel, in demes Beauvoir um die theoretischeErklärung der Ungleichheit geht,nicht die konkreten Individuen alsAkteure,sonderndieHerausarbei-tung von Prinzipien. Es geht, umeine heutige Terminologie zu ver-wenden, um die Produktion undReproduktiongeschlechtlicherDif-ferenzierungen und Asymmetrien,umstrukturelleZusammenhänge.

4 AufdienichtunerheblicheKritikaneinerReihevonAspektenimande-ren Geschlecht (zusammenfassendz.B.Moi1994)werde ichhiernichtdetailliert eingehen, da diese sichnichtaufdieMythenbeziehen,son-dern z.B. am Biologie-Kapitel, amKörperbild(z.B.Hughes/Witz1997)oderanBeauvoirsBildvonMutter-schaftansetzen(s.z.B.Zerilli1992,Hagemann-White1992).

5 Z.B.Pythia,Sybille,Prophetin,Me-dium, Handleserin, Kartenlegerin,Geisterseherin (Beauvoir 1996:205),Sirene,CirceundNixe(Beau-voir1996:221),„Beatrice,dieDanteinsJenseitsgeleitethat,undLaura,diePetrarcaaufdiehöchstenGipfelderDichtkunst ruft“ sowieSophia,die Erlöserin der Welt (Beauvoir1996:237), um nur einige zu nen-nen.

6 Ichwerdemich imFolgendenmitdemKonzeptder(geschlechtsspe-zifischen)Rollennichtweiterbefas-

sen (siehe zur Kritik auch Lopota/Thorne 1978). Dieses wurde über-wiegenddurchKonzeptederKons-truktion von Geschlecht abgelöst(z.B.Kelle2006,Wetterer2003).

7 AufeinerKonferenzdesZiFinBie-lefeldwurdesogarderBeitragdersozialen Normen zur Wertverwirk-lichung diskutiert. Der Titel derKonferenz lautete: „Normen undWerte. Zur Rolle sozialer Normenals Instrumente derWertverwirkli-chung“Bielefeldvom8-10-5-2008

8 MitdiesemVerbkennzeichnetHau-sen die soziale Konstruktion derGeschlechtscharaktere.

9 Genau dieses Problem beschreibtCarol Hagemann-White in ihremAufsatz:DieKonstrukteuredesGe-schlechtsauf frischerTatertappen(1993).

10 Auch Kühne beschreibt unglei-che Hierarchie als einen Teil desOrdnungsprogramms der Ge-schlechterkonstruktion: Weibli-chen Defiziten stünden männlicheÜberlegenheitengegenüber (Küh-ne1996).

11 InErmangelung vonneueremem-pirischem Material greife ich aufempirische Daten aus einem älte-renForschungsprojektzurück(Gat-her 1996aundb).Auchwenn sichmöglicherweiseinderZwischenzeiteiniges inPaarbeziehungenverän-derthabenkönnte, istesmöglich,anhanddieserDaten zu zeigen, inwelcherHinsichtdieMytheneinin-teressantes Konzept für die Unter-suchung konkreter Beziehungenseinkönnten.

12 IndiesemProjektwurden16Paarehinsichtlich der Konstruktion vonGeschlecht und Machtverteilungin ihren Beziehungen untersucht.EshandeltesichumPaareimÜber-gang in den Ruhestand, die alleeine Gemeinsamkeit aufwiesen:das Einkommen der Frauen lag inetwa gleich aufmit denMännern.IndieserHinsichtgaltendiePaareals‚Avantgarde’.DieEhepaarewur-den von zwei Interviewern (einem

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13 M=Mann, F=Frau, I=Interviewer.DieRaute(#)zeigtdieStellenan,andenen Personen gleichzeitig spre-chen.

14 Interessanterweise wird in einerStudie das junge Facharbeiter-milieu als eines genannt, in demGeschlechterdifferenzalsOrientie-rungsmuster an Relevanz zuguns-ten einer pragmatischen Partner-schaftzurückgegangensei(Behnke1997:132). Im Beispiel Hermannzeigt sich jedoch, dass aus prag-matischenGründendavonabgewi-chenwird, aber gerade in diesemFallderWunschGeschlechterdiffe-renzdortwoesgeht,(wieder)her-zustellen,besondersstarkist.

15 Meuser beschreibt jedoch einenTypus von Mann aus dem MilieuderbürgerlichenMittelschicht,beidem Frauen als „Gattungswesen“beschrieben werden, Männer als„Individuen“. Im Gegensatz zurFrauseiengeneralisierendeAussa-genüberdenMann,dersichebendurch „individuelleDifferenz“ aus-zeichne,nichtmöglich“(1998:297).

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Barbara Hahn

Prekäre Kontinuitäten oder: vom Ort der „Frau“

Bis in neueste Publikationen hi-nein, die den Term „Frau” his-torisch oder kulturtheoretischanalysieren, hält sich die Vor-stellung, daß wir uns nach 1945aus entscheidenden diskursivenFallen befreit hätten. Die soge-nannte „neue” Frauenbewegungam Ende der 60er Jahre habezumerstenMaldie„NatürlichkeitderGeschlechterrollen” inFragegestellt und damit denWeg füreine Theoretisierung der Fraugeebnet,diediesewederimBilddesAnderendesMannesnochindemderGleichheitfestlege.DieFalle von Gleichheit versus Dif-ferenz schiennungeöffnet, eineneue Zeit konnte beginnen. AlsSchlüsseltext fürdieseWendeinder Theoretisierung der „Frau”gilt Simone de Beauvoirs Deu-xieme Sexe,1949auf französischund 1951 in deutscher Überset-zungerschienen,einText,der inderBundesrepublikvorallemseitden späten 60er Jahren intensivgelesenwurde.EinBuchmitun-geheurerWirkung.EinBuch,dasdurchweg unter dem ZeichenradikalerNeuerungwahrgenom-menwurde.Das ist falsch, wie vor allem dieArbeiten vonMargarete Susmanund Alice Rühle-Gerstel aus derZeit der Weimarer Republik zei-gen. Beide haben „die Identifi-kation mit einer anderen Weib-lichkeit” bereits verworfen und

stattdessenden„Umweg”alsdieeinzige Möglichkeit der Emanzi-pation angesehen. Beide haben„dieVerschränkungenvonBilder-undMachtdiskurs in einer diffe-renzierten Weise erfaßt, wie sieeigentlich der neuen Frauenbe-wegung als theoretische Errun-genschaft zugeschrieben wird”.1Beide haben ihre kulturtheoreti-schenArbeitenalseinen„Kampfum Sprache und Bild” verstan-den, in dem nicht „Eindeutig-keit, Selbstgewißheit und Identi-fikation, sondern Umwegigkeit,Klugheit, Parodieund Ironie” alsdie entscheidenden Denk- bzw.Darstellungsmodi angesehenwurden.2

Heute, beim Wiederlesen, ver-blüfft der zeitlose OptimismusdesAnderen Geschlechts. Es istein gleichsam undatiertes Buch,als ob in den Jahrzehnten zuvornichts geschehen wäre. Nicht inFrankreich,nichtimNachbarlandjenseits des Rheins, nicht in derSowjetunion. Die Zukunft liegtvordenLesern, in jedemKapitelaufs Neue. Wer aber garantiertsie? Die Frau. Und genau dieseKonstruktionmachtdasBuch souninteressant.ZwarstütztessichaufTheorien,diewedermitdenDenkwelten der Frauenrechtle-rinnendes19.Jahrhundertnochmit denen der kulturkonserva-tiven Frauenbewegung um die

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Jahrhundertwende kompatibelsind,unddennochsinddieResul-tate–schlichtundrechtharmlos.DasBuch ist in zwei große Teilegegliedert, von denen der ers-temit „FaktenundMythen“,derzweite mit „Gelebte Erfahrung”überschrieben ist. Und nur fürden ersten Teil umreißt die Ein-leitungeinen theoretischenRah-men: „Selbstverständlich wäredieganzeSachesinnlos,wennwirdavonausgingen,dieFrauunter-lägeeinerschicksalhaftenphysio-logischen,psychologischenoderökonomischen Bestimmung.Deshalbwollenwir zunächst dieEinstellungen der Biologie, derPsychoanalyse und des histori-schenMaterialismus zumThemaFrau erörtern.“3 Danach sollteim zweiten Teil anhand von Bei-spielen die „weibliche Realität”untersucht werden. Die Gliede-rungdesBuchesentsprichtdemzitierten Entwurf jedoch nicht,denn nach den drei skizziertenWissensfeldern,dieineinemAb-schnittmit demTitel „Schicksal”analysiert werden, folgen zweiweitere, die „Geschichte“ und„Mythos“heißen.„Geschichte”istein recht traditioneller Entwurf,der in Anlehnung an EngelsUr-sprung der Familie einenweitenBogenvonderUrgesellschaftbisin die Gegenwart zieht. Die Be-wegungderGeschichtefolgtda-beidemModelldesFortschritts-indenselbenEtappenwiesievonder marxistischen Geschichts-schreibung entworfen wurde.Heute, so das Resultat, ist „derWunsch der Frau (nach Gleich-heit) imBegriff, sich zu erfüllen”

(184), retardierend wirke dabei„dashartnäckigeÜberlebenural-terTraditionen”(187).„Geschich-te”, so kann man sagen, ist nureineVariantedessen,wasdervonBeauvoirverworfeneneFriedrichEngels bereits hundert Jahrevor-geschrieben hatte. Mit einerzeitgenössischenPointe:derSo-zialismus sowjetischer PrägungwirdinBeauvoirsModellnichtalsEtappe dieser Geschichte, son-dern als eineMöglichkeit nebenanderenskizziert.ImAbschnitt„Mythos“schließlichwirdfastausschließlichanliterari-schenTextendieFrageentfaltet,wiederManndieFraudefiniert.DabeientstehteinflächigesBildmit wenig analytischer Tiefen-schärfe, da der Mann in Beau-voirsLesartvonderAntikebiszurGegenwartinderFraumitwenigVarianten immer dasselbe sah:dichtgedrängtwerdenbeispiels-weise Goethes Faust II, NovalisHymnen an die Nacht undeinmit-telalterlicher Hymnus nebenein-ander gestellt, um denGang zudenMütternzuzeigen.DasBau-prinzipdesTextesbestehtdarin,Verwandtschaften und Ähnlich-keiten zu etablieren, welche dieim vorhergehenden Kapitel dar-gelegte historische Entwicklungsuspendieren. Das könnte eineinteressanteSpannungerzeugenund Fragen öffnen. Doch diesunterbleibt,weilBrücheundDis-krepanzen hier wie an anderenStellen des Buches in einer ver-einheitlichenden Sprache über-schrieben werden. Der theore-tische Teil des Buches verharrtebenso wie der beschreibende

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ankeinerStelleineinem diskursi-venFeld,beieiner Frage,ineinem theoretischen Raum. Manchmalwechseln die Ebenen von Satzzu Satz, manchmal von Passagezu Passage. Es geht im ganzenBuch, in jedem Abschnitt, umein vages „Alles”. ImReferatderFreudschen Psychoanalyse, diealsTheoriederSexualitätpräsen-tiertwird,lesenwirzumBeispiel:„MandarfdieSexualitätnichtalsunreduzierbareGegebenheitbe-trachten:esgibtimExistierendeneineursprünglichere‘Suchenachdem Sein’, unddie Sexualität istnureinerihrerAspekte.DasweistSartreinDas Sein und das Nichts nach”(70).Neben diesem Rekurs auf einenie zitierte, sondern immer nurbenannte Autorität mit NamenSartre skandiert eine weitereUnterbrechung das Buch. Anden unterschiedlichsten Stellenspringt der Text in eine apodik-tisch vorgetragene Hoffnung:„Die Zukunft kann nur zu einerimmer tiefgreifenderen Integra-tion der Frau in die einstmänn-liche Gesellschaft führen” (179),so das Ende des Kapitels überdie Geschichte. „Jedenfalls isteineRückkehrzurVergangenheitebensowenig möglich wie wün-schenswert.Zuhoffenist,daßdieMänner ihrerseits vorbehaltlosdie Situation annehmen, die imEntstehenbegriffenist:erstdannwirddieFrauohneZerrissenheitlebenkönnen,”(329)sodasEndedesKapitelsüberdenMythos.DerkonkreteTeilschließlichent-wirft eine idealtypische Entwick-lungsgeschichte weiblicher Sub-

jektivität,dieaberimmernurdas-selbeumreißt:Die„Frau”scheinteine verheiratete Französin zusein, wahrscheinlich in einerKleinstadt lebend, aufgeriebenzwischen bürgerlichen NormenunddemEingesperrtseinineineHausfrauenwelt.Kontrapunktischdagegengeschnittene Skizzenvon Prostituierten und Mystike-rinnensprengendieseHomoge-nisierungnicht,siebestätigensieeher.Das Andere Geschlecht verklam-mertdamitdieunterschiedlichs-tenPhänomeneundProblemati-kenzueinemGanzen.IneinerArtflächigenSchreibweise,diedurchdie heterogensten Felder desWissensschweiftundBrüchezwi-schendiesenüberspringt.Durch-weg setzen Evidenzen den Ton,undderTextkreistinArgumenta-tionketten,diesichwiederholen.Die„Frauenfrage”wirftwedereintheoretisches noch ein Darstel-lungsproblem auf, vielmehr istsieinihrerpräjudiziertenLösungimmerschonaufgehoben.Simone de Beauvoirs Buch ent-wirft die „Frau” noch einmal alsuniversale Kategorie, die Konti-nuität und Geschichte im Sinneeines Fortschritts erzeugt. Skan-diert durch den wiederholtenRekurs auf „Sarte”, den einengroßenNamen imText,undge-stütztaufdieallenZeitgenossenbekannte Inszenierung als intel-lektuellesPaar inderÖffentlich-keit,sinddemBuchKontextundLektürestrategie immer schonbeigegeben.4 Bevor Simone deBeauvoir mit ihrer Studie überdas Andere Geschlecht an die

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Öffentlichkeit trat, hatte sie lite-rarische Texte publiziert. DiesesBuchmarkiert daher in der Eta-blierung ihrer Autorschaft einePassage: von der SchriftstellerinhinzueinerTheoretikerin, inde-renArbeitSpureneinerakademi-schenAusbildungzusehensind,die aber nicht wissenschaftlichschreibt.Das andere Geschlecht ist ein Text, der weder in Frank-reichnochgarinDeutschlandimRahmen einer Universität hätteentstehen können. Er kreuzt Fä-chergrenzen und etabliert einenGegenstand, der noch langenichtakademisiertwurde.Diese labile Anordnung - theo-retische Arbeit einer Frau au-ßerhalb der Institutionen - wirddurch einen Mann abgestützt,der selbst ein etablierter Autorwar. Damit wiederholt Simonede Beauvoir Schreibkonstellatio-nen,dieumdieJahrhundertwen-de entstanden waren. MarianneWeberhatteihreStudieüberdieGeschichte vonEheundMutter-schaft folgendermaßeneingelei-tet:„IchhabedieersteAnregungzudernachstehendenArbeitvonmeinemMann erhalten undbin,wo immer allgemeine kulturge-schichtliche Zusammenhängeberührtsind,natürlichdurchsei-ne wissenschaftlichen Arbeiten,Vorlesungen und den persönli-chenGedankenaustauschbeein-flußt.”5DiesenEinflussdokumen-tiertdasBuchimUnterschiedzuSimone de Beauvoirs Studie anmehreren Stellen explizit;6 undwährend Marianne Weber ihreStudiederMutter ihresMannes,„Helene Weber geb. Fallenstein

in dankbarer Liebe”, zueignet,ist das Andere Geschlecht aneinen Geliebten adressiert: „FürJacquesBost”.7IndenneuenDisziplinen,diedenFächerkanonderUniversitätdes19. Jahrhunderts sprengen, istdieseArtderAdressierunginum-gekehrter Konstellierung schonlange vor Simone de BeauvoirsBuch zu finden. Zum Beispiel inden Sozialwissenschaften. Wennichesrechtsehe,warenMaxWe-berundGeorgSimmeldieersten,die ihre theoretischen Arbei-ten nicht nur an ihre Gattinnen,sondern auch an ihre Geliebtenadressierten. Außerhalb der Uni-versität,wosichseitdemBeginndes20.Jahrhunderteinkomple-xes Geflecht neuer Theoretisie-rungen der Moderne entfaltet,kamkaumeinAutorohnediesenSchreibgestusaus.Arbeiten,dieohne institutionelle Stütze ent-stehen,zeigenindererstenHälf-tedes20.JahrhunderteinSymp-tom,dasmandieAngstvordemBruchstücknennenkönnte.Wennsich Autorschaft nicht über dieSpiegelungimGenre„Werk”eta-blierenkann,wennjedereinzelneText in andere Richtungen gehtund durch keinen institutionel-len Rahmen gestützt wird, dannmuß etwas anderes entworfenwerden, das Einheit garantiert.EinheitvonAutorundWerk,Ein-heitdesWerks.Wodiesezufin-denist,davonberichtendienunentstehenden Bücher auf denallerersten Seiten. Ganze SerientheoretischerArbeiten,diesonstnichtsverbindet,werdenanEhe-frauenadressiert.„Meinerlieben

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Frau” – diese Zeile lesen wir inBüchern vonMartin Buber, FritzMauthnerundAlbert Schweitzer–dieReiheließesichendlosfort-führen.NebendenGattinnenfin-denwirauchhierdieGeliebten.8WerabersinddieseFrauen,undwarum brauchen schreibendeMänner so häufig mindestensdrei?FastalleAdressatinnensindselbstproduktiv, einigearbeitenals darstellende Künstlerinnen,andere als Schriftstellerinnen.BeiaußerakademischenAutorenfindetsichnieeineWidmunganeine Frau, die selbst theoretischarbeitet. Dafür ist meist zumin-dest eine künstlerisch tätig ist.Die Einheit von Autor undWerkbrauchtzuihrerStabilisierungeinEcho in den Bereichen, die derAutor selbst nicht ausschreitet.SeinTexthälteineGrenzezulite-rarischemSchreiben, auchwennsienochsolabilist.UndseinTexthälteineGrenzezurPolitik,auchwenn er noch so sehr dorthinzielt.Simone de Beauvoirs Widmungsprengt diese Konstellierungund bestätigt sie zugleich. Sieinszeniert sich als Intellektuelle,derentheoretischeSituierungimRekurs auf einen großen Autorgarantiert und deren Weiblich-keit durch einen schriftstellern-den Geliebten bestätigt wird.DasBuchbeginntundendetmitdem Hinweis auf die erotischeKompetenzderAutorin.Erstdie-se legitimiert den Versuch einerRekonstruktion der „Frauenfra-ge”. Doch von dieser identifika-torischenSchreibpositionausge-lingt lediglich eine Theoretisie-

rung,indereine„Frau”die„Frau”alshomogenisierendeKategorieentwirft.EinSpiegeleffekt.Was aber geschieht, wenn Textekeinen so konstruierten Rahmenhaben?WennFrauentheoretischeArbeitenverfassen,diedieseBin-dungnichtaufweisen?Wergaran-tiert ihren Arbeiten einen Raumdes Schreibens und ebenso derLektüre? Zumindest im deutsch-sprachigenRaum–niemand.Ganzselten findet sich eine Adressie-runganeineandereschreibendeFrau,sowennMargareteSusmanihr Buch über die Liebe GertrudSimmelwidmet.9DochgeradedieTexte,indenenFrauen an einer Rekonstruktiondes Geschlechterverhältnissesarbeiten,sindnichtadressiert.

Ein Rückblick: 1932. Alice Rühle-Gerstel, Das Frauen-problem der Gegenwart. Eine psychologische Bilanz

Eines dieser unadressierten Bü-cheristAliceRühle-GerstelsStu-die, die unter diesem recht un-aufwendigen Titel kurz vor derMachtübernahme der National-sozialisten erschien. Vom theo-retischen Ausgangspunkt herähnelt es Simone de BeauvoirsBuch. Auch hier dienen Psycho-analyse und historischer Mate-rialismus, der unter dem TermMarxismus eingeführt wird, alsWissensfelder, die eine Rekons-truktionder „Frau”ermöglichen.Doch die Durchführung könntenichtunterschiedlicherausfallen.

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AliceRühle-GerstelsBuchistsichseines Gegenstandes an keinerStelle sicher. Die Schreibweiseverfährt daher nicht synthetisie-rend; sie zeigt vielmehrEklektik,Sprunghaftigkeit und eine Mi-schung der unterschiedlichstenStile.Einwitziger,ironischer,apo-diktischer Text.Ganze Teile sindnarrativ gearbeitet, andere da-gegen fragmentarisch, aphoris-tisch.DerhoffnungsfroheBlickindieZukunftfehltvöllig,dieKate-gorie„Frau”garantiertwederGe-schichtenochKontinuität.„Frau”signalisiert auchkeinepolitischeStrategie, die auf dem WunschnachEmanzipationaufruht.EsisteineherverwirrenderTerm,eineFrage,diekeinerAntwortkorres-pondiert.“DasWeib hat es nie gegeben,”so heißt es zu Beginn, und „derCharakterderFrauistChiffrefürdie Herrschaftsverteilung zwi-schen den Geschlechtern.”10 Ineiner komplizierten BewegungversuchtRühle-Gerstel,einemar-xistischeAnalysederGegenwart- „innerhalb der kapitalistischenOrdnung aber sind alle Frauender Tendenz nach Proletarierin-nen”11 - zu Denkfiguren ins Ver-hältnis zu setzen, die nichts vonsolchen Determinierungen wis-sen.DiekapitalistischeOrdnungproduziertjakeineKlasse„Frau”,diemitdemProletariatauchnurannähernd zu vergleichen wäre.Jede Reflexion der Trennungsli-niedesGeschlechts kreuztKlas-senzuordnungen und politischeParteiungen.Daßindermarxisti-schenTheoriebildunginderZeitderWeimarerRepublikdieFrage

nach der Frau nicht zum Prob-lemwurde, läßt sie alsdefizitäreTheorie erscheinen. Ebenso de-fizitär aber auch die Psychoana-lyse,dieRühle-Gerstelsowohl inFreud’scher wie Adler’scher Va-riantediskutiert.12DabeischeintsichdieArgumen-tationaufdieAdlerscheSeitezuschlagen. Mit seiner rationalisti-schenAbwehrvonFreudsTheo-riedesUnbewußten,daseinfachzum Unverstandenen umdefi-niert wurde, schien Adler poli-tisch einsetzbare Theoreme zubieten,diedenZusammenschlußpolitischagierenderGruppener-möglichen.Doch imzweitenTeildesBucheswirddiesepolitisier-te Psychoanalyse gleich wiedersuspendiert, wenn Alice Rühle-GersteleinganzesSzenariumvonFrauentypen entwirft, die durchkeinenochsoausgeklügelteStra-tegieaufeinenNennergebrachtwerden können.Wir finden: dasKindweib und die Liebesgöt-tin, die Prinzessin unddieÜber-spannte, die im Bild untastbarerJungfräulichkeit erstarrte Intel-lektuelle unddie ewige Tochter.Frauen - eine irreduzible Plurali-tät.Das komplexeGeflecht von rea-lenund symbolischenMachtver-hältnissen, denen Frauen aus-gesetztsind, istdaher inkeinemvereinheitlichten Ort der Frauaufzuheben:„DieganzeWelt,wiesieheuteist,istMännerwelt.DerRaum, in dem sich die Lebens-gestaltung und die ZielsetzungderFrauenvollzieht, istentliehe-ner Raum; der Raum der WerteundderWirklichkeit gehört den

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Männern.”IndiesementliehenenRaum ist eine Politik von Frauennur alsWagnis, als endlosesHinund Her zwischen unvereinba-renPolenzuhaben:„VonStundezu Stunde müßte die Einzelne,von geschichtlichem Augenblickzu geschichtlichem Augenblickmüßten die Frauen als Ganzesden elastischenMut aufbringen,sich jeweils neu zu entscheidenundsodieAntinomieschrittwei-sezuüberwinden.”Mit diesem Verzicht auf jeglicheStrategie ist die Zukunft als Ho-rizonteinersozialenodergesell-schaftlichen Utopie verschwun-den. Einzelnes und Ganzes blei-benunvermittelt.

Das „Frauenproblem” – von 1933 aus gesehen

„Es hat schon mehrmals in derGeschichte der extrem männli-chen europäischen Kultur Frau-enbewegungen gegeben; abersiesindimmerwiederversunkenund versandet, ohne deutlicheSpurenzuhinterlassen.WenndieFrauenbewegung inunsererZeitzueinerweitausgebreitetenWir-kung und Macht gelangt ist, soliegtdasdaran,daßdiesmaldieRevolutionderFrauennureinTeileiner größeren, umfassenderenwar,diedieganzeWelt erschüt-terte: jener Krisis des gesamtenWahrheits- und Wirklichkeitsbe-wußtseins, die umdieMittedesvergangenen Jahrhunderts alleGebiete gewaltsam in sich hin-einriß,indersichalleWertungen

verschoben, alle Lebens- undGeistesformenerweichtundauf-gelöst haben.” In ihrem AufsatzDas Frauen problem der Gegen-wart von1926skizziertMargare-te Susmandie FrauenbewegungnochalsSymptomderModerne.Die „schmerzliche Revolution”,vor der die Frauen stehen, istnoch mit einem Ziel unterlegt,der Text optimistisch gestimmt.ImUnterschied zumweitgehendkontrapunktischen Denken, wiees innerhalb der Frauenbewe-gunggepflegtwurde, setztMar-garete Susman dabei nicht aufdie Frauen als positive Machtgegenüber der „extrem männ-lichen europäischen Kultur”. Umeiner „vorethischen Existenz”zu entrinnen, in der die Frau imBild des Mannes verschwandundalsOrtdesSchweigensima-giniert wurde, bedürfe es einerBewußtwerdung, die die „Krisisdes gesamten Wahrheits- undWirklichkeitsbewußtsein” derZeit bearbeite. Dafür stündenden Frauen nur Wort undWerkdesMannesbereit,dochimUm-weg durch diese - „der einzigeWeg der Frau <ist> der Um-weg”13 - könne sich ein Denkenherausbilden, das einer neuenZeitadäquatsei.Diese Revolution verlaufe nichtanalogzuanderenRevolutionen:„DieRevolutionderFrauhatnichteinfachdengesetzhaftenVerlaufundRhythmusandererRevolutio-nen: einmütiges Sichaufbäumengegen unerträglich geworde-neBindungen, vondemnurdernichtfreiheitlichgesinnteTeilderMenschen sich zurückhält - son-

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dern hier ist alles bunt und ver-wirrend gemischt. Hier bindeteine andere Macht der FreiheitgebieterischdieHände;hierwer-den Ketten Kränze und KränzeKetten.” Diese „andere Macht”isteinesymbolischeOrdnung,inderderFraunureineabgeleiteteExistenz imBilddesMannes zu-kam. Ein „eigentlicher” Ort, vondemaus rebelliertwerdenkann,ein Rekurs auf irgendwelchesubstantiellen Sicherheiten, istdaherversperrt.NurderUmwegbleibt alsWeg einer Revolution,derKampfumSpracheundBildalsimmerneueAufgabe.1933 verschwindet dieser Ho-rizont; durch die Ereignisse inDeutschland treten alle Über-legungen zur Bedeutung derFrauenfrageund ihrerPerspekti-veineinenanderenKontext.DieRevolution von 1918 muß daherebenso neu bewertet werdenwie alle Bemühungen der Frau-enbewegung während der Wei-marerRepublik.IneinemAufsatzWandlungen der Frau schreibtMargareteSusman: „DieFrauen-bewegunginihrenAnfängenwarunproblematisch und naiv. Sieging aus vondem festenBodeneinerWelt,derengeheimesWan-kensienochnichtspürte.Indemsie Gleichberechtigung vor denGesetzendesMannes,MitarbeitanseinenOrdnungenundansei-nemWerk,freieEinordnungihresEigenen in die männliche Welterstrebte, erscheint ihr Kampfzunächst als ein Wettkampf mitdemManneumseineWelt.AberalssichihrdannwirklichfastüberNachtdieTorezudererstrebten

Welt öffneten, da geschah esin dem ungeheuersten Zusam-menbruch. Es zeigte sich: derMann hatte der Frau gar keineWeltmehranzubieten;alleseineOrdnungen und Gesetze warenzerfallen.”Die Erlangung des Wahlrechts,der Zugang zu Bildungsinstitu-tionen sind nicht mehr einfachals Erfolge oder Fortschritte zuwerten. Daß diese so lange wieBastionen verteidigten Institu-tionen sich auch Frauen öffnen,wirdvielmehralsSymptomeinertiefen Krise der modernen Ge-sellschaft gelesen. Die „Heimat-losigkeit und Lebensangst desMannes”,diedieseralsReaktionauf die Krise ausbildete, habeeinegefährlicheSehnsuchtnachder „bergenden mystischen All-mutter:dermagnaMater”wach-sen lassen. Doch diese Sehn-suchtkanndieFrau,ebensowieder Mann, entlassen aus einervomMetaphysischen gestütztenWelt, nicht erfüllen. Mann undFrau stehen sich nicht mehr als„FrageundGegenfrage”gegen-über; seit der Himmel leer ist,fehle ihremDialog,dermeistalsKampf ausgetragen wurde, dasDach der Metaphysik: „Beim Er-wachenauseinemTraum,dersolangwarwiedieeuropäischeGe-schichte, steht die Frau frierendimLeeren.”14

DiesenTexthabesie„unmittelbarvordemAufstiegHitlerswirklichunter Qualen geschrieben, weilich fühlte, wie schon alles sichveränderte, wie diese schmerz-liche Revolution in eine gänzlichandere einmündete”15, so heißt

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es in Margarete Susmans Auto-biographie Ich habe viele Leben gelebt an der Stelle, wo sie ihreFluchtausDeutschland1933skiz-ziert. Doch eine neue Reflexionder Kategorie „Frau” ermöglichtihr, die tiefe Zäsurdieses Jahresin Hinblick auf eine Geschichtezu lesen,dienun ineinemjähenZusammenbruch zu ihrem En-de kommt. In einer metapho-risierendenSprache,ineindring-lichenDenkbildernwirddieseRe-volution entworfen. Die Ahnungvom Ende einer Geschichte, dieEuropazumGrundhatte,dieEu-ropa durchzog und prägte, ent-zieht sichderDarstellbarkeit. ImRhythmus des Textes, seiner in-nerenSpannungundBrüchigkeit,sindjedochSpurendavonlesbar.Europa-ProduktundEffekteinerdualen Anordnung, die MannundFraugenanntwirdoderauchGott und Welt und dann ver-mittelbar erscheint durch denMenschen.DochderZusammen-bruch des Metaphysischen hatdieseDualitätengesprengt, undkein Drittes tritt hervor, das diebeiden Pole in eine Beziehungsetzen könnte. Damit hat Euro-pa seineSoziabilität verloren; eswird zumSynonymeinesChaos,das inSusmansTextkeineStruk-turbildet.Undsogruppiert sichderTextzwarnochumdieBegrif-fe „Mann”und „Frau”, um „Frau-enbewegung”und „Frauenprob-lem”, doch die „gänzlich andereRevolution”, von der Susman inBlick auf die Nationalsozialistenspricht,scheintderenBedeutungsuspendiertzuhaben.IndenTex-ten,diesienach1945publiziert,istdasGeschlechtalsKonstituan-

te eines kulturellen Zusammen-hangs verschwunden. In keinemspäteren Text wird noch einmalanderSerievonReflexionenüberdie Dualität vonMann und Frauals strukturbildende KategorienEuropasangeknüpft.16

Noch einmal – nach 1945. Ein Neubeginn?

Nicht nur Margarete Susmangreiftnach1945nichtwiederaufihreArbeitenzumFrauenproblemzurück. Inzwischen ist mitten inEuropaetwasgeschehen,wasvor1933,beiallerbangerVoraussicht,undenkbar schien. Der kulturel-le Kontext „Europa”, wie SusmanihninihrenletzteninDeutschlandgeschriebenen Texten entwarfund kritisierte, wurde vernichtet.Einem Zivilisationsbruch ohneBeispiel ist nachzudenken, undder scheint dem Frauenproblemvölligheterogenzusein.WährendSusmannuneinenzen-tralenBereichihresNachdenkensund Schreibens beiseiteschiebt,um sichder Frageder Zeit zuzu-wenden - wie war der Massen-mordandeneuropäischenJudenmöglich geworden - , geht KarlJaspers einen anderen Weg. Erlöscht den Ort der Frau genaudort, wo er ihn vorher reflektierthatte. 1946 veröffentlicht er einezweite, völlig umgeschriebeneFassungeinesBuches,daser1923erstmals publiziert hatte. BeideVersionentragendenselbenTitel:Die Idee der Universität.VergleichtmandiebeidenFassungen,dann

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zeigtsich,daßinderspäterenent-scheidendePassagenfehlen.Derpolitische Einsatz jeglicher Refle-xion über Bildungseinrichtungendagegenwirdvielschärferreflek-tiertalsamBeginnderWeimarerZeit: „Dass wir leben, ist unsereSchuld ...WirhabenBlicke indieRealität vonWelt undMenschenundunsselbstgetan,diewirnichtvergessen. Was daraus in unse-remDenkenwird,istunabsehbar.”Die Erneuerung der Universitätwird nun zum entscheidendenPrüfstein einer DemokratisierungDeutschlands: „Die IdeederUni-versitätunddieDiktaturschließeneinander aus, das hat der Natio-nalsozialismus gezeigt. Die Ideeder Universität wirktmit an demRechtsstaatfreierMenschen.”17

1923hatteJaspersseinNachden-kenüberdieUniversitätmiteinerAuffaltung verschiedener OrtedesWissensbegonnen,andenenman–wieerschreibt–Bildunger-werbenkann:"Gymnasion,öffent-liches Leben, agora, Fürstenhof,Salon,Universität”.18Denkenseiankeinen bestimmtenOrt desWis-sens gebunden, sondern an dieBewegung des Fragens: „Gren-zenloses Fragen und das Nicht-wissenimAllgemeinen”19werdenals Basis jeglicher Reflexion be-stimmt. In einer genaueren Defi-nition dieses Prozesses etabliertJaspers eine duale Anordnung,die durch einen heterogenendritten Term gestört wird. „Ech-teDiskussion, die keineGrenzenkennt,gibtesnurzuzweienuntervierAugen”,schreibtJaspers,umdann Formen dieser Kommuni-kation zu nennen: „Freundschaft

zu zweien”, „Liebe und Ehe”, dieihren „Unterbau in vitalen Be-ziehungen haben, der Sexuali-tät, der Männerfreundschaft”.201946 ist von all dem kaum nochetwasgeblieben.Esistzwarnochvon„echterDiskussion,diekeineGrenzekennt”dieRede,die sich„nur zuzweienuntervierAugen”vollziehe.21DochdieLiebeistver-schwundenundmitihrdieSexua-lität. Ein schwer zu lesender Ein-schnitt.DieUniversität rücktwie-der ins Zentrum, vielleicht auchgeradedeshalb,weilsiepolitischso schrecklich versagthatte. Jas-pers scheint ähnlich wie Susmandavon auszugehen, daß theore-tischeArbeitnunmitProblemati-kenkonfrontiert ist,zudenendieKategorienFrauundMannkeineneinfachenZugangbieten.In gewisser Hinsicht folgt auchHannah Arendt dieser Auffas-sung.SiehattesichausDeutsch-landmiteinerRezensionvonAli-ceRühle-GerstelsBuchüberdasFrauenproblem der Gegenwart22 verabschiedet, um in Zukunftnicht mehr in diesem Fragefeldzuarbeiten.IhrThemanach1945istbekanntlichderTotalitarismus.Jedes Interesse an der Fragenach der Emanzipation der FrauwurdedurchdenHolocaustsus-pendiert.

Nach 1949. Die „Frau” – eine fatale Kontinuität

AndeutschenHochschulenrück-tedieFragenachderEmanzipa-tion der Frau erst am Ende der

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60er Jahre in den Rang einerakademisch etablierten Frage-stellungauf.ZumGrundlagentextwird dabei gerade auch SimonedeBeauvoirsBuch,dasdenBruchin der Moderne nicht bearbei-tet. Im Gegenteil, er wird sogargeleugnet, wenn es in der Ein-leitung heißt: „Dem ‘Ewigweib-lichen’ entspricht die ‘schwarzeSeele’undder ‘ jüdischeCharak-ter’. Insgesamt ist das jüdischeProblemallerdingssehrverschie-den von den beiden anderen:derJude ist fürdenAntisemitenwenigereinUnterlegeneralsviel-mehreinFeind,und ihmwird indieserWeltkeineigenerPlatzzu-gebilligt - ehermöchteman ihnvernichten.”23

Dieser Satz - zu lesen in einem1949 publizierten Buch - signa-lisiert eine verdrängende Ver-meidung. Sie zeigt sich in derverblüffenden Harmlosigkeit,die die theoretische und eben-so die politische Dimension derRekonstruktion der Frauenfrageanbetreffen.Doch-dieseVermu-tung drängt sich auf - vielleichtwardiesemTextgeradedeshalbeinsogroßerErfolgbeschieden.VielleichtwarergeradedeshalbsogutalsGrundlagentextgeeig-net, während umgekehrt die inder Weimarer Republik entwor-fenenDenkräumebisheuteweit-gehendunentdecktblieben.Wenn ich es recht sehe, kamdem Anderen Geschlecht dieseFunktion nur in Deutschland zu.Damit korrespondiert das BuchdemprekärenOrt,denFrauenandeutschen Universitäten eben-falls bis heute einnehmen. Des-

sen Geschichte muß hier nichtnoch einmal aufgerollt werden.Sie istnurallzugutbekannt.Daßsie weiterwirkt, möchte ich amEnde meiner Überlegungen amVerschwinden des Terms „Frau”zeigen.Der Term Frau ob im Singularoder Plural, ist ein ubiquitäresWort, ein Universalschlüssel zuden unterschiedlichsten Proble-men, Feldern und Zeiten. In ins-titutionalisierten Zusammenhän-gendagegenverwandeltersichzumSignaleinesregionalisiertenProblem,dasdahermeistinFormzusammengesetzterNomen auf-tritt:InderPolitikgibtesFrauen-bewegung, Frauenfragen, Frau-enquoten, Frauenförderung undsoweiter.InderUniversitätFrau-enforschung, Frauenbeauftragteundsoweiter.AustheoretischenDebatten dagegen ist der Termsowohl inseinereinfachenFormwiealsKompositumimLaufederletzten Jahren fast vollständigverschwunden.“Frau”undmitdiesemTermver-bunden auch der „Feminismus”sind in den letzten Jahren in„Gender Studies” und „Studienzur Geschlechterdifferenz” um-geschrieben worden. Seither istderFeminismus in theoretischenwiehochschulpolitischenAusein-andersetzungen stärker als jezuvor ein negativ konnotierterBegriff. Er markiert die Grenzedessen, worüber man sich un-gestraftGedankenmachendarf.Wer das Wort ohne Distanzie-rung in den Mund nimmt, stehtunter Ideologieverdacht. „Ge-schlechterdifferenz” und „Gen-

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Anmerkungen

1 Vgl. Ingeborg Nordmanns Kom-mentarin:MargareteSusman.Vom Nah- und Fernsein des Fremden. Essays und Briefe. Hrsg. und miteinemNachwortversehenvon I.N.Frankfurta.M.1992,S.179.

2 Ingeborg Nordmann, Alice Rühle-Gerstel (1894–1943). Der Versuch,Emanzipation individuell zu den-ken.In:Frauen in den Kulturwissen-schaften. Von Lou Andreas-Salomé bis Hannah Arendt. Hrsg. von Bar-baraHahn.München1994,S.258.

3 Simone de Beauvoir, Das andere Geschlecht. Sitte und Sexus der Frau. Aus dem Französischen vonUliAumüllerundGreteOsterwald.Reinbek1992,S.26.NachweiseimfolgendendirektimText.

4 ImRekursaufSartrewirddasBuchauch bis heute gelesen. Vgl. zumBeispiel Judith Butler, Sex andGender in Simone de Beauvoir’sSecondSex,in:Yale French Studies,S. 35-49. Der Artikel handelt – imGegensatzzumTitel –weitgehendvonSartresArbeiten; vgl.S.37–41sowie48f.

5 Vgl.MarianneWeber,Ehefrau und Mutter in der Rechtsentwicklung.Eine Einführung.Tübingen1907,S.VIf.

6 AufS.63heißtes,dasssie„denGe-dankengängen” folge, „die meinMann s.Z. im Kolleg bot”. „Diefolgenden Mitteilungen über dieVerfassungdesrussischenMirver-dankeichteilweisemeinemMann”,liestmanaufS.356.Aneinerande-renStelle tauchtMaxWeberdannals Autor auf: „Ueber die ideellenGrundlagen des reformatorischenund täuferischen Naturrechts ist,zusammen mit Jellinek’s Schrift,DieErklärungderMenschen-undBürgerrechte’ (2. Auflage, 1905)undmancheBemerkungenindemAufsatzvonMaxWeber,Dieprotes-tantische Ethik und der Geist desKapitalismus(Archiv f.Sozialwissen-schaftBd.XXI,XXII)”;S.404f.

derstudies” tragen im Kontextdeutscher Universitäten deutli-che Zeichen einer Vermeidung,diepräzisedenPreisderAkade-misierungeinerFragemarkieren.Hochschulpolitische, wissens-und institutionskritische Debat-ten sindweitgehend verschwun-den.AlsobeskeinProblemmehrgäbe. Damit ist eine Falle zuge-schnappt.Die „Frauenfrage” ist nichtmehraufgeschoben wie in einigentheoretischenFeldernnach1945,sie signalisiert auch kein Ver-sprechenmehrwieimDeuxieme Sexe. Sie wurde wegübersetzt,und so stolpert man über keinProblem mehr – wie bei einemVersprecher.Als Versprecher, als Stolpersteinsollteman sie ruhig halten – dieFrau.Danngäbesievielzuden-kenauf.Nachwievor.

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7 An einen früheren Geliebten, wieSimone de Beauvoir in ihren Brie-fenanNelsonAlgrenbetont.DieseKorrespondenz begleitet das Ver-fassen des Anderen Geschlechts,wobei das Buch im Briefwechselallerdingskaumdiskutiert,sondernnurerwähntwird.Vgl.A Transatlan-tic Love Affair. Simone de Beauvoir. Letters to Nelson Algren,hrsg.vonSylvie Le Bon de Beauvoir, NewYork1997.ImJuli1948schreibtsiezum Beispiel: „I read again half ofwhat I had written about women.DidIwriteit?Itseemedquiteafo-reignthing“;S.200.

8 Ernst Bloch hat alle seine noch inEuropa veröffentlichten Büchermit einem weiblichen Namen ver-sehen, und zwar den Geist der UtopiemitdemseinererstenFrau,ElseBloch-vonStritzky,dieSpurenwurden Linda Oppenheimer unddieErb schaft dieser Zeit von 1934“Meiner lieben Karola Piotrowska”gewidmet.EineähnlicheReihebeiGeorg Lukacs. Auf der ersten Sei-te vonDie Seele und die For men(1911) lesen wir: „Dem AndenkenIrmaSeidlers”;dieTheo rie des Ro-mans(1916)nenntJelenaGrabenkound Ge schichte und Klassenbe-wußtsein(1923)schließlichGertrudBortstieber als Adressatin. WalterBenjamin schließlich adressiertedas Trauerspielbuch an seine FrauDora Benjamin, die Einbahnstraßeist bekanntlich für Asja Lacis, derAufsatz über Goethes Wahlver-wandtschaftenfürJulaCohn.

9 Margarete Susman, Vom Sinn der Liebe. Jena 1912, wurde „GertrudSimmelzugeeignet“.

10 Alice Rühle-Gerstel, Das Frauen-problem der Gegenwart. Eine psy-chologische Bilanz (1932), zitiertnach der Neuausgabe von 1972,die unter dem Titel:Die Frau und der KapitalismusbeimVerlagNeueKritik in Frankfurt erschien; hier S.67.

11 Ebd.,S.23.AneineranderenStel-leheißtes: „DieFrauen sind recht

eigentlich die Proletarier der Ge-schlechterfrage.”S.397.

12 Dieses Feld hatte Rühle-GersteleinigeJahrezuvorbereitsbearbei-tet, vgl.AliceRühle-Gerstel,Freud und Adler. Elementare Einführung in Psychoanalyse und Individual-psychologie,Dresden1924.

13 MargareteSusman,DasFrauenpro-blem der Gegenwart, in: Susman, Das Nah- und Fern sein des Frem-den,S.143–167.

14 Margarete Susman, WandlungenderFrau (1933). In:M.S.,Gestal ten und Kreise,Zürich1954,S.160–177.

15 Margarete Susman, Ich habe viele Leben gelebt. Erinnerungen, Stutt-gart1964,S.137.

16 Besonders auffallend im Vorwortzur Nachkriegsauflage von: Die Frauen der Romantik, Köln 1960,vgl.vorallemS.5ff.

17 KarlJaspers,Die Idee der Universi-tät,Berlin1946.

18 KarlJaspers,Die Idee der Universi-tät,Berlin1923,S.9.InderFassungvon1946heißtes leichtabgewan-delt: „Gymnasium, öffentliches Le-ben der Agora, Fürstenhof, Salon,Universität”;S.33.

19 Jaspers,Idee der Universität (1923),S.20.

20 Ebd,S.37ff.21 Jaspers,Idee der Universität(1946),

S.61.22 Hannah Arendt, Rezension von:

Alice Rühle-Gerstel, Das Frauen-problemderGegenwart.Einepsy-chologische Bilanz, in:Die Gesell-schaft10(1933),S.177–179.

23 Beauvoir, Das andere Geschlecht,S.20.

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Die Frauen: Opfer der DialektikDas Thema der Anerkennung bei Simone de Beauvoir

InihremArtikel„Hegel,dieFrau-en und die Ironie“ bezeichnetSeyla Benhabib Hegel als denTotengräber weiblicher Eman-zipationsbestrebungen, indemer die Frau einer großartigen,aberletztlichzumUntergangbe-stimmtenPhasederdialektischenEntwicklung zuweist, die „denGeist inseinerKindheitbefällt.“1DieFrauenseiendadurchzuOp-fernderDialektikgeworden.Waswirheute tunkönnen,soBenha-bib,sei,„derDialektikihreIroniezurückgeben,derParadederhis-torischen Notwendigkeit (...) ihrpompösesGehabenehmen:dasheißt, den Opfern der Dialektik(...) ihrAndersseinwiedergeben,unddasheißt,wirklichdialektischgedacht,ihrSelbstsein.“2

IchmöchteindiesemBeitragderFrage nachgehen, welche Rolledie Dialektik und die Anerken-nungstheorie Hegels im WerkvonBeauvoirspielenundwelcheAuswirkungen dies auf ihr Ver-ständnisdesFrauseinshat.Wer-denauchbeiBeauvoirdieFrauenzwangsläufig auf einer niederenStufezurückgelassenodergibtesein KonzeptderAndersheit,wieBenhabib es fordert, und wennja, wie würde dieses aussehen?UmalldieseFragenbeantwortenzu können müssen wir uns zweiProblemkreisen zuwenden: demThema der Anerkennung unddem damit zusammenhängen-

den Problem der Subjektkonsti-tution.

Zum Ursprung des Begriffes der Anerkennung

Charles Taylor spricht von zweiWurzeln der Anerkennungsde-batte.3 Einerseits führte der Zu-sammenbruch der gesellschaft-lichenHierarchien,diefrüherdieGrundlage der Ehre bildeten,zummodernen Begriff derWür-de, dem die universalistischeund egalitäre Annahme zugrun-de liegt, dass jeder an dieserWürdeteilhat,4womitdiegleich-berechtigte Anerkennung zueinem wesentlichen Bestandteilder demokratischen Kultur wird.Andererseits bringt die neuzeit-liche Wendung zur Subjektivitäteine Form von Innerlichkeit undEinzigartigkeit, eine innereStim-meundeinmoralischenGefühlinunshervor,5wodurchdasPrinzipder Originalität und in weitererLinie der Differenz eingeführtwird. „Nicht nur, dass ich meinLeben nicht nach den Erforder-nissen äußerlicher Konformitätgestaltensoll–außerhalbmeinerselbst kann ich gar kein Modelldafürfinden,wieichmeinLebenlebensoll.IchkanndiesesModellnur in mir selbst finden.“6 Dieseauf Herder zurückgehende Idee

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der Authentizität kann in zweiHinsichten verstanden werden:sowohl inBezug zum individuel-len Menschen inmitten andererMenschen,alsauchinBezugaufdasVolkalsTrägereinerKulturin-mittenandererVölker.7Deutschesollten nicht versuchen, sich inkünstlicheunddamitunvermeid-licherweisezweitklassigeFranzo-senzuverwandeln,wiees ihnenFriedrich der Große nahegelegthatte.AuchdieslawischenVölkersolltenihreneigenenWeggehen.Andererseits findet die IdeederAuthentizität über HeideggersKonzeptder „Eigentlichkeit“Ein-gangindenExistentialismusvonSartre undBeauvoir. Sie forderndenMenschenauf,seinejeeige-ne „Geworfenheit“, seineBeson-derheit des „In-der-Welt-seins“aufsichzunehmenundwederineinegesellschaftlicheRolle,nochineinfiktivesIdealzuflüchten.Axel Honneth hingegen setztden Ursprung des Begriffs derAnerkennungbeiHegel an.8He-gel, soHonneth,übernehmedasin Fichtes Grundlage des Natur-rechts entwickelte Prinzip derAnerkennung, welches dieser„als eine dem Rechtsverhältniszugrundeliegende ‚Wechselwir-kung‘ zwischen Individuen“9 auf-gefasst habe. Honneth knüpft inseiner Anerkennungstheorie ex-plizit anHegels Jenaer Frühwerkan,indemdieserdenProzessderAnerkennung noch von der indi-viduellen intersubjektiven Seiteher verstanden hatte, währendspäter diese Perspektive in zu-nehmendemMaßezugunstenderPhilosophiedesGeistesaufgege-benwurde.Honnethinterpretiert

Hegel dahingehend, dass dieserdie verschiedenen Konfliktsitua-tionen,wie z.B.dasVerbrechen,aufdenUmstandunvollständigerAnerkennung zurückführt: „Dasinnere Motiv des Verbrechersmacht dann die Erfahrung aus,dass er sich auf der etabliertenStufe wechselseitiger Anerken-nungnichtaufeinebefriedigendeWeise anerkannt sieht.“10 Hon-nethentwickeltdarausdieThese,dass sich soziale Auseinander-setzungen imPrinzipaufdieVer-letzungvonmoralischenAnsprü-chen zurückführen lassen undnachdemMuster einesKampfesumAnerkennungverstandenwer-denkönnen.EskannhiernichtderRahmen sein, Honneths Theorieder Anerkennung zu diskutieren,auffällig erscheint jedenfalls dieexpliziteAussparungderfeminis-tischenThematik,11diesofortdieFragemitsichbrächte,wiesodieFrauen den von Hegel beschrie-benen Individualisierungsprozessso lange Zeit nicht beanspruchthaben.IchmöchtenuninderFolgekurzjene Momente von Hegels An-erkennungstheorie herausarbei-ten, die für das Verständnis vonBeauvoirs KonzeptderAnerken-nungimKontextdesGeschlech-terverhältnissesrelevantsind.

Aspekte der Hegelschen Anerkennungstheorie

Die entscheidende Frage derNeuzeitlichen Ethik- und Rechts-debatte lautet: wie komme ich

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vom Naturzustand, in dem an-geblich alle gleich sind, jenemegoistischen AusgangspunktdesKampfesallergegenalle,zueinemgeordnetenGesellschafts-gefüge,indemderAnderemichinmeinemBesitzauchanerkennt,was zu allererst das Eigentumbegründet? Mit genau diesenFragenbeschäftigtsichHegel inder Jenaer Realphilosophie von 1805–06, wo er schreibt: „DerMensch hat das Recht, in Besitzzu nehmen, was er als Einzelnerkann.(...)AberseineBesitznahmeerhältauchdieBedeutung,einenDrittenauszuschließen.Wasdarfich in Besitz nehmen ohne Un-rechtdesDritten?“12SolcheFra-gen, sagt Hegel, können nichtbeantwortet werden, denn dieBesitzergreifungwird erst durchdieAnerkennungzurrechtlichengemacht;bevoreseinen rechtli-chenZustandgibt,kannniemandsagen,objemandetwasinBesitznehmendarfodernicht.Gemäßder Formel: „Wohl dem der imBesitzist“13stelltBesitzeinewe-sentlicheVoraussetzungvonAn-erkennungundRechtendar,wasvorerst den Ausschluss aller be-sitzlosen, lohnabhängigen Män-nervonstaatsbürgerlichenRech-tenzurFolgehat.Hegelbezeich-netdasRechtals„dieBeziehungderPersoninihremVerhaltenzurandern (...). Als Anerkennen isterselbst[derMensch]dieBewe-gungunddieseBewegunghebteben seinen Naturzustand auf:eristAnerkennen,dasNatürlicheist nur, es ist nicht Geistiges.“14Innerhalb der Familie gilt derMensch als „natürliches Ganzes,nicht als Person;dies hat er erst

zu werden. Er ist unmittelbaresAnerkanntsein;eristdurchLiebeVerbundnes.“15 Dass nicht Fami-lie und Liebe alsGrundlagedesAnerkennungsprozesses geltenkönnen,verstehtsichausderHin-wendungzumNeuzeitlichenSub-jekt,ausderEmanzipationgera-de eben von diesen familiären,feudalen Strukturen, in denendie Herrschaftsverhältnisse unddie damit zusammenhängen-den Anerkennungsverhältnissevon Blutsverwandtschaft, Zuge-hörigkeit zu Grund und Bodenund Legitimation durch GottesGnadenabgeleitetwurden.Wäh-rendaberdieFrauen imSchoßederFamilieverbleiben,lehntsichdas zum „Fürsichsein“ gelangtemännlicheIndividuumgegendasDasein,dasdieFamilieimBesitzhat,aufundmöchteals„gewuss-tes“ Fürsichsein anerkannt wer-den, was zum Kampf auf Lebenund Tod führt.16 Dadurch, dassder Mann sein Leben aufs Spielsetzt,gibteröffentlichzuerken-nen,dassihmanseinenindividu-ellenZielenmehrliegt,alsansei-nemphysischenÜberleben.Während esHegel in der Jenaer Realphilosophie darum gingnachzuvollziehen, wie es durchden Kampf umAnerkennung zurBildung eines allgemeinen Be-wusstseins aus den Handlungenund Interaktionen einzelner Be-wusstseinekommt,das zueinemallgemeinen Willen des Rechts-zustandesführt,handeltessichinderPhänomenologie der GeistesumdieErfahrungunddieErschei-nungsweisen des entäußertenGeistes bei seiner Rückkehr zu

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sich selbst im absolutenWissen.DiesesmetaphysischeModellderVernunft und desGeistes durch-dringtHegelsgesamtesWerk,eswirdaufallenStufenderBewusst-seinsentwicklung vorausgesetzt.Nur so kann der Zirkel verstan-den werden, der darin besteht,dass einerseits wechselseitigeAnerkennung die Voraussetzungvon Selbstbewusstsein und Sub-jektsein bildet, nämlich dass dasSelbstbewusstsein nur dadurchist, „dass es für ein Anderes anund für sich ist; das heißt es istnur als ein Anerkanntes“,17 wäh-rend andererseits so etwas wieAnerkennung oder Kampf umAnerkennung überhaupt erst zuStande kommen kann, wenn einSelbstbewusstsein auf ein ande-resSelbstbewusstseintrifft.18Die-se Situation schafft eine Bedro-hung für das Selbstbewusstsein,denn inHegelsModell lehntdasSelbstbewusstsein jede Anders-heit als Selbstverlust, als Ausser-sichsein ab.19 Erstwenn es seine„Sichselbstgleichheit“ durchAus-schließung aller Anderen durcheinen Kampf auf Leben und Todwiederhergestellthat,kannesdieGewissheit seiner selbst, nämlich„für sich zu sein“, wieder herstel-len.DaseineBewusstseinsiehtsolange das andere als Bedrohungan, solange es sich nicht als Teileines übergeordneten Ganzen,als Teil desGeistes ansieht, des-sen Struktur darin besteht, dass„Ich, das Wir, und Wir, das Ich ist.“20ErstdannbedeutetderAn-dere keinen Selbstverlust mehr,dennimBewusstseinvonderEin-heitvon„Ich“und„Wir“transzen-diertdasSelbstnichtnurseineun-

mittelbare,„lebendige“Individua-lität,sondernauchdiesichdurchAusschlussdesAndersseinsdefi-nierende Einzelheit des Bewusst-seinsselbst.21

Das Wesen des Selbstbewusst-seins besteht in seiner Doppel-sinnigkeit, nämlich einerseitsBewusstsein der uns umgeben-densinnlichenWelt zusein,undandererseits Bewusstsein seinerSelbst zu sein – ein Gegensatz,den das Selbstbewusstsein auf-heben will, um die Gleichheitseiner selbst mit sich herstellenzu können. Dem Selbstbewusst-seingehtesalsodarumdasAn-sichsein der Welt mit seinemFürsichsein zu vermitteln: „DieDoppelsinnigkeitdesUnterschie-denen liegt in dem Wesen desSelbstbewusstseins, unendlichoder unmittelbar das Gegenteilder Bestimmtheit, in der es ge-setzt ist, zu sein.“22 Diese Struk-tur des Selbstbewusstseins wirdspäter für Sartres Für-sich-seineine Rolle spielen, indem „dasFürsich-seindasist,wasesnichtistundnichtdasist,wasesist.“23Jedoch wird bei Sartre und beiBeauvoir weder Hegels KonzeptdesGeistes,nochseineidealisti-scheVermittlunginderVernunftübernommen. Vielmehr bleibtesbeimStadiumdes„Unglückli-chenBewusstseins“,dasniemalszur Übereinstimmung des An-sich-seins und Für-sich-seins ge-langt. SartresDas Sein und das Nichts stellteineklareAbsageanHegels idealistische Philosophiedar,indemderVersuchdesMen-schen,sichzumAn-sich-Für-sich,unddamitzuGottzumachen,als

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zumScheitern verurteilt angese-hen wird. Sartre bestätigt zwar,dass ganz im Sinne der Hegel-schen Philosophie jedemensch-liche-Realität24 ein direkter Ent-wurf ist, das eigene Für-sich inAn-sich-Für-sich umzuwandeln,und zugleich einen Entwurf zurAneignungderWelt alsTotalitätvonAn-sich-sein inderArteinergrundlegenden Qualität dar-stellt.25Diesaberseieinesinnlo-sePassion.ErstwennderMenschdieses Scheitern auf sich nimmt,kann er zu seiner Eigentlichkeitgelangen.

Das Problem des Anderen bei Beauvoir

BereitsimJahre1927,alsoimAl-tervon21Jahren,hebtBeauvoirin ihrem Tagebuch zum erstenMal die Bedeutung des Verhält-nisseszumAnderenhervor: „Ichmuss meine philosophischenIdeen abklären, (...) die Proble-me,mitdenenichmichkonfron-tiert sehe, vertiefen. Das Themaist immer die Opposition voneinem selbst und dem Anderen– ein Thema, das mich vom Be-ginnmeines Lebensanbeschäf-tigt hat.“26 Rückblickend auf ihrLeben und ihr Werk beschreibtBeauvoir in ihren Memoiren Inden besten Jahren in auffallendselbstkritischer Weise, wie siein ihrer Jugend durch ihren un-eingeschränkten Glauben andieMacht ihresWillens geprägtgewesen sei: „Ich wollte nichtwahrhaben, dass auch andere

genauwie ich Subjekt, Bewusst-sein sein könnten.“27 Aus dieserPositionherausstelltederAnde-re für Beauvoir eine Gefahr dar,der sie nicht ins Auge blickenkonnte: „Erbittert kämpfte ichgegendiesenZauber,dermichinein Monstrum verwandeln woll-te: ich blieb immer in Abwehr-stellung.“28 IneinemihrererstenRomaneSie kam und blieb stelltsiedasThemaderAnerkennunginsZentrumderAuseinanderset-zung.AusgehendvoneinemZitatHegels, das sie als Motto ihremRomanvoransetzt–„Ebensomussjedes Bewusstsein auf den Toddes anderen gehen,“29 – betontBeauvoir die Konflikthaftigkeitdes Verhältnisses zum Anderenund die Schwierigkeit wechsel-seitiger Anerkennung. Der ein-zige Ausweg aus dem Dilemmawechselseitiger Ansprüche be-stehtfürsiezudiesemZeitpunktimTodderRivalin.HatteBeauvoirindiesem1943erschienenenRo-mandenKonfliktmitdemAnde-rennochalsunlösbaresProblemangesehen, so sucht sie in ihrenfolgenden Werken einen neuenZugang zum Anderen. Das Blut der anderen zu Kriegsende ge-schrieben und 1945 erschienen,betontdieVerantwortlichkeitfür-einanderunddieNotwendigkeit,Stellungzubeziehen.Ebensowieder 1947 erschienene Ethikent-wurfFür eineMoral der Doppel-sinnigkeit werden jetzt Stellung-nahme und Verpflichtung zumkonkreten Engagement gefor-dert. Erst die Besetzung Frank-reichs durch dieDeutschen undderzweiteWeltkrieghatteneineZäsurimLebenBeauvoirsherbei-

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geführt.„IchkannnichtsagenanwelchemTag,inwelcherWoche,nicht einmal in welchem MonatichdieseBekehrungdurchmach-te (...) ichverzichteteaufmeinenIndividualismus, (...) ich erlerntedie Solidarität.“30 Die Geschich-te hatte, so berichtet sie, Besitzvon ihr ergriffen. Ideen, Werte,alles wurde umgestürzt. Ihr vor-mals idealistischer Zugang zurWelt wurde durch eine immerstärkereAkzentuierungderSitu-iertheitundderhistorischenKon-ditioniertheit des Menschen ab-gelöst. Doch die systematischeErgründung des Problems desAnderen inVerbindungmitdemThemaderAnerkennungerfolgterst in ihremHauptwerkDas an-dere Geschlecht. Sitteund Sexus der Frau,undzwarauseinerkom-plettneuenSichtheraus,derdesGeschlechterverhältnisses.Beau-voirzeigt,wiedieFrauvomMannund einer männerdominiertenWeltalsdieabsolutAnderekons-tituiertwird,wodurchihrdieAn-erkennungalsSubjektverweigertwird. Beauvoir stellt damit dasProblem des Anderen in einenneuenundganzanderenKontextalsSartre,dersichbereitsinDas Sein und das Nichts eingehendmit diesem Thema beschäftigthatte.WährendBeauvoirinihrenFrühwerken noch angenommenhatte, dass das Individuum sei-ne menschliche Dimension nurdurchdieAnerkennungdesAn-derenerhält,31unddamitdiein-dividualpsychologischeSeitederAnerkennungbetonthatte, stelltsie jetzt fest, dass die SituationderFrauaufeineganzbestimmteWeise durch einen gesellschaft-

lichen Anerkennungsprozessbestimmt wird. Wenn man diemenschliche Realität ausschließ-lich als ein auf Solidarität undFreundschaft beruhendes Mit-sein ansehen und Hegels Theseeiner grundsätzlichen Feindse-ligkeit zwischen zwei Bewusst-seinen ignorieren würde, dannblieben viele Phänomene unver-ständlich: „Sie werden erst be-greiflich,wennmanwieHegelimBewusstseinselbsteinegrundle-gendeFeindseligkeitgegenüberjedemanderenBewusstseinent-deckt.DasSubjektsetztsichnur,indemessichentgegen-setzt:eshat den Anspruch, sich als dasWesentliche zu behaupten unddasAnderealsUnwesentlich,alsObjektzukonstituieren.“32

DieseFeststellungBeauvoirsausdemAnderen Geschlecht könnteauchfürSie kam und blieb gelten,imAnderen Geschlecht istBeau-voirjedochnichtmehrnuranin-dividuellen,sondernauchankol-lektiven Auseinandersetzungeninteressiert. „Zwischen Dörfern,Stämmen,Nationen,Klassengibtes Kriege, Potlatchs,Handelsbe-ziehungen,VerträgeundFehden,die der Idee desAnderen ihrenabsolutenSinnnehmenundihreRelativität offenbaren; Individu-enundGruppensindwohloderübel gezwungen, die Wechsel-seitigkeit ihrer Beziehung anzu-erkennen. Wie aber kommt esdann, dass zwischen den Ge-schlechtern diese Wechselsei-tigkeit nicht hergestellt wordenist?“33 Beauvoirs zentrale Frage-stellung lautet somit:wiewaresmöglich,dasseszwischenMann

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undFrauniemalszueinemKampfumAnerkennunggekommenist,beziehungsweise warum ist dieFrau„niealseinSubjektvordenanderenMitgliedernderKollekti-vitätaufgetaucht“?34

Zum Subjektbegriff

Während Beauvoir nirgendwoeinen Versuch unternimmt, denBegriff der Anerkennung näherzu definieren, behandelt sie dasProblem des Subjekts an meh-reren Stellen ausführlich. Da-bei verwendet sie verschiedeneSubjektbegriffe, ohne diese je-doch explizit zu unterscheiden.Eine Begriffsklärung ist jedochnotwendig, um zu zeigen, dassdas Problem der Anerkennungsich in verschiedenen Bereichenstellt, die mit den Existenz- undHandlungsweisen des Subjektsverbunden sind, wodurch des-sen besondere Ansprüche zumAusdruck gebracht werden. Ichunterscheide daher zwischendem Subjekt der Existenz, demSubjektderMoralunddemSub-jekt derHerrschaft.35DieUnter-scheidung verschiedener Sub-jektkonzepte bedeutet jedochnicht,dasssieinihrenreinenFor-men vorhanden sind. Es besagtauch nicht, dass der Mensch insicheinePluralitätvonSubjektenträgt,sonderndasseralsSubjektverschiedene Ansprüche undDimensionen in sich vereint, diephilosophisch hermeneutisch zuunterscheidenwären.Auchwennes bei Beauvoir so aussieht, alswürde sie zumBeispiel ein Sub-

jekt der Herrschaft an bestimm-ten Stellen annehmen, so mussberücksichtigtwerden,dassdie-ses Herrschaftssubjekt sowohlüber eine konkrete Existenz ver-fügtalsauchbestimmteMoralan-sprücheerhebt.EbensokanndasSubjekt der Existenz immerwie-der einen Herrschaftsanspruchstellen.DasSubjektderMoralistnichtherrschaftsneutral–eskanndie Herrschaft in Frage stellenoder sie auch für sich allein be-anspruchen.DerExistentialismusradikalisiert die Konzepte derModerne,indemerExistenz,Sub-jekt und Freiheit von einem vonGott vorherkonzipierten Begriffdes Menschen,36 beziehungs-weise einer vorherbestimmtenmenschlichen Natur entkoppeltundalsbeweglicheontologischeGrundstruktur jedes einzelnenexistierendenMenschenansieht:jederMensch isteinehistorisch-werdende und bis ans Lebens-ende nie endgültig realisierteTranszendenzundFreiheit.Erhatsich immerwieder aufsNeue zuerschaffen.FürBeauvoirundSar-tre ist jedes Subjekt primär eineExsistenz, ein Überschreiten derGeworfenheit und der Situation.JederexistierendeMenschistim-merschoneinSubjektundkannnie seiner Subjekthaftigkeit ver-lustigwerden.37

EinExistierendesist nichtsande-resalsdas,wasestut:DasMögli-chegehtnichtüberdasWirklichehinaus,dieEssenzgehtderExis-tenz nicht voraus, in seiner rei-nen Subjektivität ist derMenschnichts.ErwirdvielmehranseinenHandlungengemessen.38Aufdie

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FragenachdemWesenderFrau,wasdieFrauist,oderwersie ist,lasse sich daher keine Antwortgeben.VoneinerBäuerin könneman sagen, dass sie eine guteoder schlechte Arbeiterin ist,von einer Schauspielerin, dasssie Talent hat oder nicht, wennmandieFrauaberinihrerimma-nentenPräsenzbetrachte,könnemannichtsüberssiesagen,nicht,weildieverborgeneWahrheitzuschwankendwäre,umsichidenti-fizierenzulassen,sondernweilesindiesemBereichkeineWahrheitgibt:indermenschlichenKollek-tivität gibt es nichts, „was natür-lich wäre“ und auch die Frau istein Produkt der Zivilisation.39 Ineiner Hinsicht, betont Beauvoir,habe sie immer mit Sartre undseiner diesbezüglichen Theorieübereingestimmt: „Wir glaubtennieaneinemenschlicheNatur.“40ImAnderen Geschlecht differen-ziertsieSartresgenerelleAbleh-nung einer menschlichen Natur,indem sie auf den geschlechtli-chen Aspekt dieser Problematikhinweist:sowieeskeinemensch-licheNaturgibt,gibtesauchkei-ne„weiblicheNatur“.41

Die bürgerliche Gesellschaft ver-suchthingegenderFrauaufgrundihres Geschlechts, ihrer Natur,vonGeburtaneinenbestimmtenPlatz inderGesellschaftzuzuwei-sen.DieFrauerhältdamit –ganzimGegensatz zumMann – einenPlatzineiner„Naturordnung“,densie nicht erst zu erkämpfen oderzuerringenhat.GeradeinderZu-weisung eines bestimmten Plat-zesund inderBeschränkungaufeinebestimmteRollebesteht für

BeauvoirderSchlüsselderUnter-drückung und des Ausschlusses.Denndieswürdebedeuten,dassder Mensch instrumentalisiert,objektiviertundzueinemDingge-machtwird.ErwirdaufbestimmteEigenschaften und Fähigkeitenvon vornherein festgelegt, undesbleiben ihmkeineMöglichkei-tenmehr, die Ziele seiner Hand-lungen in Frage zu stellen; seineHandlungsfähigkeit wird ihm ge-nommen.42 Die Tatsache, keinenfestenPlatzinderWeltzuhaben,eröffnetzwarvieleMöglichkeiten,die unter Umständen nicht ge-geben wären, wenn unser PlatzvonderGesellschaftvorgegebenwäre, andererseits bedeutet diesaberaucheineständigeAnspan-nung,einenständigenKampf,umsicheinenPlatz indieserWelt zuerobernunddiesendannzuver-teidigen. Außerdem bedarf eseiner offenen Zukunft, die es er-möglicht,neueEntwürfezureali-sieren.DieseOffenheitwirdabervonzweiSeitenbedroht:eskannjederzeit zu einem Rückfall vonderTranszendenzindieImmanenzkommen,dadurch,dassdasSub-jekt freiwillig seine Freiheit auf-gibt,vordieserflüchtet,oderweilihmdieserRückfallauferlegtwird.InFür eine Moral der Doppelsin-nigkeit weistBeauvoirdaraufhin,dasseseinerethischen Dimensionbedarf,diesichzumeinenandasSubjektderExistenzmitderFor-derung wendet, sich seiner Exis-tenzalsTranszendenzundFreiheitgewahr zu werden und diese zuverwirklichen, und zum anderendiesem dazu verhilft, den Herr-schaftsanspruch der Anderen,welcheTranszendenzundFreiheit

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nur für sich inAnspruchnehmenwollen,zurückzuweisen.Beauvoirentwickelt somit den Begriff der„sittlichenFreiheit“,dereineeige-ne,willentlicheEntscheidungzum„freiseinwollen“bedeutet.43DasSubjektderExistenzbefindetsichalso ständig im SpannungsfeldzwischendemSubjektderMoralunddemSubjektderHerrschaft,wobeidasSubjektderHerrschaftmitdemSubjektderMoralineinerdoppeltenHinsichtverbundenist:aufdereinenSeitebrauchtesdieMoral undnützt sie aus, um sichalsabsolutesSubjektzulegitimie-ren, auf der anderen Seite setztesvoraus,dassesalleinüberdieMoral,übergutundböse,gerechtund ungerecht, zu entscheidenhat.Beauvoir geht im Anderen Ge-schlecht davon aus, dass dasSubjektderHerrschaft soalt istwie die Menschheit und dassdie von ihm hervorgebrachteKategorie des Anderen so ur-sprünglich ist wie das Bewusst-sein selbst.44 Um Subjekt seinzu können, bedarf es nicht nureiner willentlichen Setzung,eines Aktes der Selbstbehaup-tung, sondern eines Anderen,dem sich das zu setzende Sub-jekt entgegensetzen kann. Esist in seinem Subjektsein vondiesemAndereninsofernabhän-gig,alsesnur inderEntgegen-setzung zu diesem überhaupterst inErscheinung tretenkann.DasSubjektmusssichauseinemursprünglich friedlichen Zusam-menleben durch einen Akt derEntgegensetzung heraus diffe-renzieren:

„Aus einem ursprünglichenMit-sein hat die Gegensätzlichkeitsich allmählich herausgebildet,unddieFrauhatsienichtdurch-brochen.“45 Darin bestehe einerder Gründe, warum der Mann„die Frau alsdieabsolutAndere schlechthinkonstituierenkonnte:sie habe den Anspruch, Subjektzu sein, nicht erhoben, weil sieihre Bindung an den Mann alsnotwendig empfand, ohne Rezi-prozität zu fordern.“46 Das Sub-jektderHerrschaftseialsoimmereinmännlichesgewesen:„Er[derMann] ist das Subjekt, er ist dasAbsolute: sie [die Frau] ist dasAndere.“47

Nimmt Beauvoir also zwei ver-schiedeneFormenvonBewusst-sein an? Eines, das mit Hegelgrundsätzlich feindselig gegen-über jedem anderen Bewusst-seingestimmtist,undeines,dasdiese grundsätzliche Feindselig-keitnicht insichträgt?Bestehendiese beiden nebeneinanderundwieverhaltensiesichzuein-ander?Wieentwickeltsichüber-haupt ein Subjekt aus demMit-sein heraus?Die Schwierigkeit bei Beauvoirliegtdarin,dasssiebereitsinFür eineDoppelsinnigkeit der Moral ein vom Existentialismus abwei-chendes Subjektkonzept entwi-ckelt,daseheranHegel,dennanSartreorientiertist.ImGegensatzzuSartregehtsiedavonaus,dasses sehr wohl möglich ist, in die„bloße Faktizität“48 zurückzufal-len,alsreinesAn-sichzuleben.49Dies geschieht im Falle einerUnterdrückung.WenndieUnter-drücker, wie Beauvoir schreibt,

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mich unter die Stufe herab-drücken, „die sie erreicht habenund von der aus sie zu neuenEroberungen aufbrechen, dannschneiden sie mich von der Zu-kunftab,verwandelnmichineineSache.“50DieskannjedochauchfreiwilligaufgrundeineseigenenEntwurfs geschehen: So entbin-det die ursprüngliche Dürftig-keiteinesEntwurfsden„Minder-menschenvonderVerpflichtung,nacheinerRechtfertigungdiesesEntwurfs zu suchen“,51 rings umsich entdeckt er nur eine be-deutungslose, trübe Welt. Wohlkannernichtverhindern,dasserinderWeltanwesendist,abererbewirkt,dassdieseAnwesenheitbloße Faktizität bleibt.52 Im An-deren Geschlecht spricht Beau-voirihrenStandpunktnochklareraus:„JedesMal,wenndieTrans-zendenzinImmanenzzurückfällt,findeteineHerabminderungderExistenz in ein ‚An-sich‘ undderFreiheit inFaktizitätstatt.DiesesZurückfallen ist, wenn das Sub-jekt es bejaht, eine moralischeVerfehlung; wird es ihm auf-erlegt,führteszuFrustrationundBedrückung; inbeidenFällen isteseinabsolutesÜbel.“53

Beauvoir kehrt jedoch immerwieder zu Sartres Ontologie zu-rück, wo ein reines An-sich-seinfürMenschenunmöglich ist undrelativiertihrevorherigePosition:wenn es demMenschen erlaubtwäre,einbloßesFaktumzusein,dann wäre er den Bäumen undSteinen gleich, die nicht wissen,dass sie existieren. KeinMenschisteinepassivzuerduldendeGe-gebenheit; auch das Dasein ab-

lehnen ist eine Art des Daseins.keinem Lebenden ist der Friededes Grabes beschieden. Genaudarin liege das Scheitern desMindermenschen.54Auchbezüg-lich der Situation der FrauweistBeauvoir immer wieder daraufhin, dass auch dann, wenn einebestimmte gesellschaftliche Si-tuation die Frau zum Objekt er-starren und sie zur Immanenzverurteilenwill,siedennoch,wiejeder Mensch, eine autonomeFreiheitbleibe.Sie schwankt jedoch zwischenSartres Position und derjenigenHegels. Bei Hegel sind zwar dieMenschen als Personen gleich,betrachtetmanaberdenkonkre-tenMenschen, der zum Beispielüber mehr oder weniger Besitzverfügen kann oder von Naturaus anders ausgestattet ist wiedieFrau,dannbewegtman sichlautHegelaufderEbenederBe-sonderheit, und diese ist ebendie Ebene der Ungleichheit.55Hegel setztdieFrauenaufeinerontologisch niedereren Stufe,der Stufe des Ansichseins an:die Frau ist „das andere, das inderEinigkeitsicherhaltende,(…)das Passive und Subjektive“, imUnterschiedzumMann,der„daseine (…) das Geistige, als dassich Entzweiende in die für sich seiendeSelbstständigkeitundindasWissenundWollenderfreien Allgemeinheit“ verkörpert.56He-gel stattetdieFrauenmiteinemniedererenBewusstseinaus,das„für höhere Wissenschaften, diePhilosophieundgewisseProduk-tionen der Kunst, die ein Allge-meinesfordern“,57nichtgeschaf-

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fen ist. Sie verfügen über eine„Kindernatur“58, erscheinen alsinkonsequentundlaunisch,wäh-rend der Mann Grundprinzipienentwickelnkann.59

Während Beauvoir in Für eine Moral der Doppelsinnigkeit nochvon einem Subjekt ausgeht, dasfreiwillig oder unfreiwillig durchUnterdrückung in das StadiumdesAn-sichzurückfallenundda-durch seinen Subjektstatus ver-lierenkann, verändert siediesesKonzept imAnderen Geschlechtinsofern,alsesnunmehrmöglichwird,dassbestimmteMenschen,nämlich die Frauen, nie einenSubjektstatus erreichen. Einezentrale Rolle beim Ausschlussder Frauen spielt dabei die He-gelscheHerr-Knecht-Dialektik.

Die Herr-Knecht-Dialektik im Anderen Geschlecht

Hegel zufolge, schreibt Beau-voir, entsteht das Privileg desHerrn dadurch, dass er, indemer sein Leben imKampf umAn-erkennung aufs Spiel setzt, alsSieger aus dem Kampf hervor-gehtundinseinerÜberwindungderTodesangstdenGeistgegendas Leben durchsetzt.60 Aberauch derjenige, der im Kampfunterliegt, sein Leben also nichtaufsSpielgesetzthatumzuge-winnenunddamitalsSklaveausdem Kampf hervorgeht, trägtdasselbeRisiko.EswirdalsoeineForm vonWechselseitigkeit her-gestellt,dieeinegewisseGleich-heitmitsichbringt,auchwennsie

nochvonUnterdrückunggekenn-zeichnetist.IndiesemKampf,derimmervonMännerngeführtwird,kommt also auch den SklaveneinegewisseGleichwertigkeitzu.Die Frau dagegen ist ursprüng-licheinExistierendes,dasdas Le-benschenktundsein Lebennichtaufs Spiel setzt. Zwischen ihrunddemMannhat es nie einenKampfgegeben.61Dadurch,dassdie Frau nie in diese Form vonWechselseitigkeit eintrat, konntesiezurabsolut Anderen gemachtwerden. Beauvoir unterscheidetalso zwischen dem „Anderen“unddem„absolutAnderen“,derniemalszueinerFormvonWech-selseitigkeit gelangen kann. DasUnglückderFraubestehedarin,dass sie „biologisch zurWieder-holung des Lebens bestimmt“62sei,währenddieFrauenvonheu-te fordern, „mit dem gleichenRechtwiedieMänneralsExistie-rende anerkannt zuwerden undnicht die Existenz dem Leben,den Menschen seiner animali-schenNaturunterzuordnen.“63

Die Reduktion der Frau auf ihreReproduktionsfähigkeit erklärt,warum sie sich nie aus diesemursprünglichenMitsein heraus ineinen Kampf um Anerkennungbegeben hat, um sich damitals Subjekt zu setzen. Dadurch,dass sie dem tätigen Mann kei-ne Arbeitsgefährtin war, wurdesie vom menschlichen Mitsein ausgeschlossen.64 Der Knechtkann durch die Arbeit zu An-erkennunggelangen,65denndieHerr-Knecht-Dialektik hat „ihrenUrsprung in der Wechselseitig-keit der Freiheiten.“66 Jederzeit

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kann ein Mann die Souveränitätdesanderenanzweifelnundbe-kämpfen.DeshalbstehtderHerrauchunterderständigenSorge,derKnechtkönnesichgegenihnauflehnen und seine Herrschaftanfechten.Aber nicht nur der Ausschlussvon der Arbeit sei der Grunddafür, dass die Frau zur absolutAnderen gemacht wurde. Viel-mehr sei der schlimmste Fluch,deraufderFrau laste,dieTatsa-che, „dasssievondenKriegszü-genausgeschlossenwurde.“67SohattesieauchniedieMöglichkeitbekommen, durch den KampfAnerkennung zu erlangen; dennnicht „indemderMensch Lebenschenkt, sondern indem er eseinsetzt, hebt sich der MenschüberdasTier.Deshalbwirdinner-halbderMenschheitderhöchsteRang nicht dem Geschlecht zu-erkannt, das gebiert, sonderndem, das tötet.“68Die Fähigkeit,Lebenzuschenken,hatdieFrauauf der Stufe des Tieres zurück-gehalten und sie nicht dazu ver-anlasst, von ihrer Freiheit Ge-brauchzumachen.Anerkennungerhältalsonurderjenige,derdasLeben überwindet und den Todnichtfürchtet.DerHerristgegen-überdemKnechtderjenige,derim Kampf sein Leben aufs Spielsetzt, und zwar in dem Sinne,dass er den Tod im Falle einerNiederlage vorzieht, währendder Knecht nicht bereit ist, seinLeben aufs Spiel zu setzen, undein Leben in Knechtschaft demTode vorzieht. Die Weiblichkeithingegen sieht sich mit genaudem entgegengesetzten Prob-

lem konfrontiert: sie feiert nichtden Tod als die Überwindungdes Lebens, sondern schenktLeben unter Überwindung desTodes.Die Frau setzt bei jedemGeburtsvorgang sehr wohl ihrLeben aufs Spiel; dennoch wirdihr die entsprechende Anerken-nung – zumindest in einem He-gelschen Modell einer Krieger-ethik – nicht entgegengebracht.Sie schenkt, sie gibt Leben, sienimmt es nicht.Weit davon ent-fernt,AnerkennungfürdieFähig-keitzurProduktionneuenLebenszu erhalten, wird diese vielmehr–zumindestineinerGesellschaft,welchedieÜberwindungdesLe-benshöheransetztalsdasLebenselbst–zumAnsatzpunkt fürdieweiblicheUnterdrückung.InderpatriarchalenGesellschafterfolgtderAusschlussderFrau-en über ihre biologische Fähig-keit, Leben zu schenken. DieMacht und Anerkennung, dieder Frau aufgrund ihrer Fähig-keit,Lebenzugeben,zukommenmüsste, wird ihr im Patriarchatgenommen: sie wird zur Repro-duktionsmaschine, zu einemDing degradiert. Sie befindetsich unter der Herrschaft desMannes, der die Kontrolle überden weiblichen Körper an sichzieht.69Wir haben es bei Beau-voiralsomitzweiverschiedenenAnerkennungsmodellen zu tun,die vom jeweiligen Subjektkon-zeptabhängigsind:beidemanHegel orientierten Subjektkon-zept muss man am Kampf umAnerkennung teilnehmen, umSubjekt werden zu können. EinAusschluss aus diesem System

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bedeutet, von sich aus alleinnicht die Kraft und Möglichkeitzu haben, den Weg ins Systemhinein zu erkämpfen. Man kannwederKlage erheben, noch fin-det man Gehör. Yvanka B. Ray-nova sieht darin ein „Analogondes lyotardschen Konzepts desDifférend (…)DasOpferwillKlä-ger werden, ist aber von vorn-herein vomDiskurs des Rechts-sprechenden ausgeschlossen.Es scheint, dass es keinen Aus-weg gibt, denn will es auf dieAnklage verzichten, bleibt esSklave, bringt es die Klage ein,wird es ein zweites Mal Opfer.Die Asymmetrie verbleibt.“70EineBefreiungfürdieFraukanndaher nur auf einer kollektivenEbene stattfinden, indem eineTransformationderGesellschaftstattfindet, wodurch es nun-mehr auch den Frauenmöglichwird, am Anerkennungsprozessteilzunehmen und damit einenSubjetstatuszuerhalten.AufderSuche nach den Hintergründenfür den Ausschluss der Frauenstößt Beauvoir auf den MythosderWeiblichkeit.

Der Mythos der Weiblichkeit

Beauvoir untersucht im Anderen Geschlecht die Rolle der männ-lichenVorstellungenundMythenüberdieFrau,diealsInstrumentedesAusschlusses undderUnter-drückung von denMännern undder patriarchalen Gesellschafteingesetzt werden. Beauvoirzeigt,dasswenigeMythensovor-

teilhaftfürdieherrschendeKastegewesensind,wiederMythosderWeiblichkeit. Um ihre Vorrechtezuwahren,habendieMännerdiegesellschaftliche Trennung vonImmanenz und Transzendenz er-funden: „Sie haben nur deshalbeineweiblicheDomäne–einReichdesLebens,der Immanenz–her-stellenwollen,umdieFraudarineinzusperren.“71

DerMannberufesichdabeiger-ne auf Hegel, der diese beidengetrennten Bereiche durch sei-ne Philosophie legitimiert hat:„seine Beziehungen zu anderenMännern (…) sind durch Wertedefiniert“,72 in Hinblick auf dieFrau ist diemännlicheMoral je-doch eine große Täuschung.73DieKunst,dieLiteratur,diePhilo-sophieseienVersuche,„dieWeltneu auf eine menschliche Frei-heit, auf die Freiheit des Schöp-fers zugründen.Umein solchesAnsinnen zu nähren, muss mansich zuerst eindeutig als eineFreiheit setzen.“74 Die Fähigkeit,sich als autonome Freiheit zusetzen, sei den Frauen aber ex-plizitabgesprochenworden.UmdenFrauenzuermöglichenauchSchöpferzuwerden,müsstenichtnur aufgezeigt werden, welcheAusschlusskriterien gegenüberFrauen in diesen Philosophienenthalten sind. Vielmehr müss-tendieEinschränkungen,diedenFrauenaufgrunddieserMytheninForm vonErziehungund restrik-tiven gesellschaftlichen Vorga-ben auferlegt wurden, beseitigtwerden.75

Beauvoir spricht hier also expli-zit davon, dass die Philosophie

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Hegels einen Ausschluss derFrauen produziert. So sehr diePhilosophie Hegels ein Eman-zipations- und Veränderungs-potential insichträgt,ermöglichtsie andererseits die Legitimationder Herrschaft desMannes überdie Frau, indem sie die BereichevonImmanenzundTranszendenzeinander gegenüber stellt. DieBereiche von Familie-Immanenzund Öffentlichkeit- TranszendenzsindnämlichbeiHegelnichtkom-plementär, sondern – wie schongezeigt wurde – hierarchisch an-gelegt.DenStatuseinesSubjektskann man erst durch die Beteili-gung am öffentlichen Leben, ander Transzendenz erreichen. Dasmännliche Individuum muss sichausderFamilieherausdifferenzie-ren, wodurch es zu einem tiefenunlösbaren Konflikt kommt. He-gelschreibt:„IndemdasGemein-wesensichnurdurchdieStörungder Familienglückseligkeit unddieAuflösungdesSelbstbewusst-seins in das allgemeine sein Be-stehen gibt, erzeugt es sich andem,wasesunterdrücktundwasihmzugleichwesentlichist,anderWeiblichkeitüberhauptseinenin-nerenFeind.“76

Beauvoir zeigt, dass die Philo-sophie Hegels bezüglich desGeschlechterverhältnisses einenunlösbaren Widerspruch in sichträgt. Einerseits könnte HegelsPhilosophie als Philosophie derFreiheit schlechthin bezeichnetwerden,gehtesihrdochumdiestufenweise Realisierung vonFreiheit und Transzendenz aufErdenundnichtmehrnurumdieVerlagerungderTranszendenzin

ein Jenseits. Andererseits wirdden Frauen aber generell auf-grundihrerNaturdieserZugangzur Transzendenz verwehrt. Tat-sächlichbildetdieWeiblichkeit–zumindestsowiesieHegelsieht– in diesem System der Freiheiteinen inneren Feind, der diesesSystem zutiefst gefährdet. DenndiesemBereichderWeiblichkeitundImmanenzwerdenalledieje-nigenAufgabenzugewiesen,diefürdieErhaltungderMenschheitunabdingbar sind, nämlich diederReproduktion,derErziehung,der Fürsorge, der mitmensch-lichen Beziehungen, ohne dieeine Gesellschaft gar nicht le-bensfähig ist. Die Familie bildetsomit die Bedingung der Mög-lichkeitdernächstenStufe,näm-lichderjenigenderbürgerlichenGesellschaft,dieaufdieserBasisaufbaut und sich aus ihr nährt.Da bei Hegel die beiden vonei-nander getrennten Bereiche derImmanenzundTranszendenzsichdurch geschlechtlich bestimm-teAufgaben auszeichnen, ist fürihn die Aufrechterhaltung deressentialistischen Geschlecht-lichkeitvonzentralerBedeutung.DerMythosderWeiblichkeitwirddeshalb,wieBeauvoirzeigt,dazuverwendet,dieFraueninderFa-milie einzusperren. Dies bringtnämlich einen mehrfachen Nut-zenmitsich:erstensistdamitdieVersorgung dieses lebenswichti-gen Bereichs der Reproduktiongesichertundzweitensgelingtesdamit, die Frauen von Anerken-nungundKonkurrenzfernzuhal-ten. IndiesemKonzept,dasalsonicht auf Komplementarität undauch nicht aufWechselseitigkeit

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aufgebaut ist, stellt der Bereichder Immanenz eine hierarchischniederere Stufe dar, die mitWeiblichkeit gleichgesetzt wird.Es ist also nicht verwunderlich,dass nicht nur alle Tätigkeiten,diemitdiesemBereichinZusam-menhang stehen, keinen Werthaben, sondern dass vielmehrdieWeiblichkeit selbst als etwasangesehen wird, das wertlos istund überwunden werden muss.NurdurchdienächsteStufe,nurdurch den Kampf um Anerken-nunginderbürgerlichenGesell-schaft, wird es möglich, einenSubjektstatuszuerreichen.Folgtman dieser Logik, dann muss –um Subjekt werden zu können– die Weiblichkeit aufgegebenwerden.AuchwennsichBeauvoirderFal-lendesHegelschenSystemssehrwohl bewusst ist, überträgt sieim Anderen Geschlecht dessenmisogyne Tendenzen, indem siedieNatur der Frau, ihre biologi-sche Gegebenheit und die mitder Reproduktion verbundenenTätigkeitenmitImmanenzgleich-setzt, diese letztendlich abwer-tet und der Transzendenz unddem Entwurf gegenüberstellt.77Mütterliche Tätigkeiten, sindnach Beauvoir keine Aktivitäten,sondern natürliche Funktionen:„Kein Entwurf ist darin einbezo-gen.“78 Auch auf die Haushalts-führungundsonstigeReproduk-tionstätigkeiten trifft dies zu: siehaltendieFrauinderWiederho-lung und in der Immanenz fest.Dadurch geht der Blick daraufverloren, dass auch diese Tätig-keiten menschliche Entwürfe in

sich enthalten können und dieTranszendenz desMenschenwi-derspiegeln.BeauvoirfolgtdamitderNatur-Kultur-ProblematikderModerne:dieModernebeurteiltden Menschen danach, was ertut, und steht daher allen Pro-zessen, die vonNatur aus, ohnefreien Schöpfungsakt des Men-schen geschehen, abwertendgegenüber, als einer Stufe, dieder Überwindung und Beherr-schungdurchdenMenschenbe-darf.Heißtdiesnun–umaufdieeingangsgestellteFragezurück-zukehren, – dass die Frauen beiBeauvoirzuOpfernderDialektikwerden,odergibteseinKonzeptder Andersheit, das einen Aus-wegermöglichenwürde?

Beauvoirs Konzepte von Alterität

Beauvoir sucht im Anderen Ge-schlecht sehr wohl nach einemAusweg aus dem endlosenKampfumAnerkennung,aus„derunerbittlichenDialektikvonHerrundKnecht“79,beiderimmereinTeilalsSubjekt(alsHerr)oderalsObjekt (als Knecht) hervorgeht,wobei der Knecht dann wiederin einem neuen Kampf das Ver-hältnis zu seinen Gunsten um-kehrenkann.SiesuchtnacheinerMöglichkeit, als Subjekt einemanderen Subjekt begegnen zukönnen,ohnesichdiesemsofortentgegensetzenzumüssen.DieseMöglichkeitsiehtsieinderFreundschaft, in der diesesDra-ma des ewigen Kampfes „durch

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das freie Sicherkennen jedesIndividuums im anderen über-wunden werden“80 könnte. DieFreundschaft,dieinderAnerken-nung der Freiheiten praktischverwirklichtwird, sei jedoch kei-ne leichte Tugend, sondern diehöchste Vollendung des Men-schen.BeiderFreundschaft,be-tontBeauvoir,müsse es sich umeine „wirkliche Alterität“81 han-deln: Ich anerkenne, dass derandere einBewusstsein hat, dasmeinem ebenbürtig ist, dass erauch eine Freiheit, eine Trans-zendenz ist, und versuche nicht,michselbstalseinzigessouverä-nes Bewusstsein zu setzen. DieAndersheitwirdnicht alsBedro-hung angesehen und in einerGleichheit aufgehoben, sondernermöglicht mir überhaupt erst,dass ich selbst zu meiner eige-nen Freiheit finden kann. LeiderarbeitetBeauvoirdiesesKonzeptnicht weiter aus, sondern weistnurineinigenwenigenZeilenamBeginn des Mythoskapitels da-rauf hin, dass derMensch diesemoralischeHaltungnurerreichenkann,wenner„aufdasbloßeSein verzichtetundseineExistenzaufsichnimmt.“82

Beauvoir entwickelt im Anderen Geschlecht alsodreiFormenvonAlterität, die jeweils verschiede-ne Konsequenzen für das Ge-schlechterverhältnissesnachsichziehen.DieersteFormistdieAlteritätalsdas absolut Andere, das sich inkeinerlei wie auch immer gear-tetemBezugzumAnderenbefin-det,daesvondemEinengesetztwirdundnurvondiesemdefiniert

wird,ohneseinerseitsdiesesVer-hältnisumkehrenzukönnen.DergrößteundausführlichsteTeildesAnderen Geschlechts beschreibtdieseSituationder FraualsFolgeeines historischen Prozesses, inder die Frau als relativesWesenkonstituiert und eine Weiblich-keithervorgebrachtwird,diealshistorisch wie gesellschaftlichhergestellte Minderwertigkeitgilt.Esgehtdarum,dieFrauausdieserFremdbestimmungzube-freien, sie nichtmehr negativ zubestimmen,sowiesievomManngesehen und konstituiert wird,sondern positiv, so wie sie „fürsich“ ist. Aus eigener Kraft kanndies die einzelne Frau nicht be-werkstelligen, es muss zu einerkollektivenBefreiungkommen.Die zweite Form ist die Alteritätalskonstituierendes Merkmal von Identität: das Subjekt kann sichnur setzen, indemes sicheinembestehenden Anderen ent-gegensetzt, und dieses Andere,das die selbenAnsprüche stellt,seiner Herrschaft unterzuord-nen versucht. Im Kampf um An-erkennung wird nun nach einergemeinsamen Ebene gesucht,in der die Andersheit zuguns-teneinerGleichheit aufgehobenwerden kann, da dieAndersheiteine grundsätzliche Bedrohungdarstellt. Erst die Teilnahme amAnerkennungsprozess ermög-licht es ein vollwertiges Subjektzu werden. Dieses Konzept be-stimmt Beauvoirs Herr-Knecht-Dialektik.HinsichtlichderFrauenbeinhaltet es die Forderung, sienunmehr am Anerkennungs-prozess teilnehmen zu lassen

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und ihnendamitzuermöglichenvollwertige Subjekte zu werden.Die grundsätzliche Problematikdieses Konzepts besteht in derFrage,wiedennnunmitderAn-dersheit der Frau umgegangenwerden soll? Wird es, um demReich der Freiheit in der gege-benenWelt zum Durchbruch zuverhelfen,notwendig sein, „dassMänner und Frauen über ihrenatürlichen Unterschiede hinausunmissverständlich ihre Brüder-lichkeit behaupten“, wodurcheineprinzipielleOrientierunganmännlichen Werten in Aussichtgestelltwird?83

DiedritteFormderAlteritätwäredie Freundschaft alswechselsei-tigeAnerkennung von konkreterAndersheit durch gleichwertigeund ebenbürtige Subjekte. AmEnde des Anderen Geschlechts spricht Beauvoir davon, dass,wenn Mann und Frau einanderals Subjekte anerkennen wer-den, „jeder doch für den ande-ren ein anderer bleiben“84 wird.Erst dann wird sich die authen-tische Bedeutung dessen offen-barenwasesheißt,einMannundeineFrauzusein.ErstdannwirdsichauchdaswahreGesichtderGeschlechterdifferenz zeigen,nämlichobessichdabeiumeingrundsätzliches Herrschaftsver-hältnishandelt,oderobeinefreieEntfaltungtrotzdergesellschaft-lichen Differenzierung nach Ge-schlechternmöglichist.Den Anderen in seiner Anders-heit zubelassenunddiesenichtauf Identität zurückführen zumüssen, stellt kein bevorrechte-tes Unterfangen einer Philoso-

phie der Geschlechterdifferenzdar, sondern drückt das Grund-prinzip des Existentialismus aus,dieDifferenznicht,wieimhegel-schen System aufzuheben, son-dern sie als Grundzug der Exis-tenz (an) zuerkennen. IndiesemSinnekönntejederdenAndereninseinerAndersheit–unddamitinseinerSelbstheit,sowieSeylaBenhabib es formuliert hat – an-erkennen: es würde bedeuten(an) zu erkennen,dassdas Frau-sein andieAmbiguität der Exis-tenz gekoppelt ist und nicht andas biologische Geschlecht.85Währendbei den beiden erstenFormen der Alterität Weiblich-keit zwangsläufig als etwasMin-derwertiges oder als etwas zuÜberwindendesangesehenwird,beinhaltet die dritte Form derAlterität zumindest dieMöglich-keit,sichbewusstfürodergegeneinen expliziten Weiblichkeits-entwurfzuentscheidenundnachneuen Lebensformen jenseitsder Geschlechterdichotomie zusuchen.

Anmerkungen

1 SeylaBenhabib,„Hegel,dieFrauenunddie Ironie“, indieselbe,Selbst im Kontext, Frankfurt am Main:Suhrkamp1995,276.

2 Ebd.,276.3 Charles Taylor, Multikulturalismus

und die Politik der Anerkennung,Frankfurt am Main: Fischer Ta-schenbuchverlag1993,13.

4 Ebd.,16.5 Rousseau leitet das Gewissen

aus einem natürlichen angebore-nen Gefühl ab, siehe dazu: Jean-JacquesRousseau,Emil oder über die Erziehung, Paderborn: UTB

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1995, 305. Kant wird im wesentli-chendenvonRousseauentwickel-tenGewissensbegriffübernehmen.

6 Charles Taylor, Multikulturalismus und die Politik der Anerkennung,20.

7 Taylor verbindet die Idee der Au-thentizität mit Herder, auch wennerihnnichtalsihrenUrhebersieht,wohl aber als denjenigen, der siefrüh und eindringlich angespro-chenhat.

8 AxelHonneth,Kampf um Anerken-nung. Zur moralischen Gramma-tik sozialer Konflikte, Frankfurt amMain:Suhrkamp1994.

9 Ebd.,30.10AxelHonneth,Kampf um Anerken-

nung,37.11 HonnethbegründetseineAusklam-

merungderfeministischenAnsätzedamit,dasssieseinenRahmenge-sprengt und seinen Kenntnisstandüberstiegenhätten(Ebd.,9).

12G.W.F. Hegel, Jenaer Realphiloso-phie, Vorlesungsmanuskripte zur Philosophieder Natur und des Geis-tes von 1805-1806,Hamburg:FelixMeinerVerlag,1969,207.

13 ImmanuelKant,Metaphysik der Sit-ten, Frankfurt amMain: Suhrkamp1993,§9.

14G.W.F. Hegel, Jenaer Realphiloso-phie,206.

15 Ebd.,22716 Ebd.,211.17 G.W.F.Hegel,Phänomenologie des

Geistes, Frankfurt am Main: Suhr-kamp1986,145.

18Auf die Frauen bezogen würdedas bedeuten, dass sie zuerst dasSelbstbewusstsein erlangenmüss-ten, das es ermöglicht Anerken-nung einzufordern. Der Anerken-nungsprozess setzt also bereitsetwas voraus, nämlich die Vorent-scheidung, wer in diesen Prozessüberhauptaufgenommenwirdundwernicht.BeiHegelwirddasProb-lemdadurchgelöst,dassderGeistdie hierarchische Aufspaltung derGeschlechtervonvornhereininsichträgt, wobei er seine „weibliche

Seite“aufeinerniederenBewusst-seinsstufezurücklässt.

19 „Es ist für das Selbstbewusstseinein anderes Selbstbewusstsein; esistaußer sichgekommen.Dieshatdie gedoppelte Bedeutung: erst-lich, es hat sich selbst verloren,dennesfindetsichalseinanderes Wesen; zweitens,eshatdamitdasAndereaufgehoben,dennessiehtauch nicht das Andere alsWesen,sondern sich selbst im Anderen.“G.W.F.Hegel,Phänomenologie des Geistes,146.

20Ebd.,14521Die sehr komplexen spekulativen

Gedankengänge Hegels könnenhier nur ungenügend angedeutetwerden. Siehe dazu: Ludwig Siep,Anerkennung als Prinzip der prak-tischen Philosophie. Untersuchun-gen zu Hegels Jenaer Philosophie des Geistes, Freiburg/ München:Alber,1979,71.

22Ebd.,145.23Jean-PaulSartre,Das Sein und das

Nichts.Versuch einer phänomeno-logischen Ontologie, Reinbek beiHamburg:Rowohlt1995,163-403.

24Der Begriff „menschliche-Realität“stammt von Corbins ungenauerÜbersetzung des heideggerschenBegriffs Dasein (siehe dazu dasGlossar von Traugott König zuJean-PaulSartre,Das Sein und das Nichts,1119).

25Jean-PaulSartre,Das Sein und das Nichts,1052.

26Margaret A. Simons, „Beauvoir‘sEarly Philosophy: The 1927 Diary(1998),“ Beauvoir and the Second Sex. Feminism, Race, and the Ori-gins of Existentialism,Boston:Row-man & Littlefield 1999, 217 (Über-setzung des Zitats aus dem Engli-schenvonSusanneMoser).

27Simone de Beauvoir, In den bes-ten Jahren, Reinbek bei Hamburg:Rowohlt,1969,82und111.

28Ebd.,110.29Simone de Beauvoir, Sie kam

und blieb, Reinbek bei Hamburg:Rowohlt1994,6.

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30SimonedeBeauvoir,In den besten Jahren,304.

31 Ebd.,469.32Simone de Beauvoir, Das ande-

re Geschlecht. Sitte und Sexus der Frau. Reinbek bei Hamburg:Rowohlt1992,13.

33Ebd.,14.34Ebd.,748.35Susanne Moser, Freiheit und An-

erkennung bei Simone de Beauvoir,Tübingen: edition discord 2002,132.

36Jean-Paul Sartre,Der Existentialis-mus ist ein Humanismus, in Philo-sophische Schriften, Reinbek beiHamburg:Rowohlt1994,120.

37 In Das Sein und das Nichts weistSartre darauf hin, dass Kant damitbeschäftigtgewesensei,dieallge-meinen Gesetze der Subjektivitätfestzustellen,diefüralledieselbenseien,dasserdieFragedereinzel-nen konkreten Personen jedochnicht behandelt habe. Vielmehrsei für ihndasSubjektnurdasge-meinsameWesendieserPersonengewesen. Jean-Paul Sartre, DasSein und das Nichts, 411.Beauvoirbetont, dass auch bei Hegel dieEinzigartigkeit des Einzelnen ge-leugnet wird, dass nur der Geistund nicht der Einzelne als Subjektangesehenwird.„DerGeististSub-jekt; wer aber ist dieses Subjekt?“fragtsieinFür eine Moral der Dop-pelsinnigkeit (SimonedeBeauvoir, Für eine Moral der Doppelsinnig-keit. In:Soll man de Sadeverbren-nen? Drei Essays zur Moral des Exis-tentialismus,ReinbekbeiHamburg:Rowohlt1989,15).

38SimonedeBeauvoir,Das andere Ge-schlecht,323.

39Ebd.,892.40 Margaret A. Simons, Beauvoir and

the Second Sex,94.41Siehedazu:AliceSchwarze,Simone

de Beauvoir. Rebellin und Wegbe-reiterin,Köln:Kiepenheue&Witsch1999,58.

42SimonedeBeauvoir,Für eine Moral der Doppelsinnigkeit,217.

43Ebd.,92.44Simone de Beauvoir, Das andere

Geschlecht,12.45Ebd.,16.46Ebd.,17.47 Ebd.,12.48SimonedeBeauvoir,Für eine Moral

der Doppelsinnigkeit,106.49 Siehe dazu auch: Sonia Kruks,

„Beauvoir: The Weight of Situa-tion“. In:ElizabethFallaize,Simone de Beauvoir. A Critical Reader,Rout-ledge1998,61.

50SimonedeBeauvoir,Für eine Moral der Doppelsinnigkeit,134.

51 Ebd.,106.52Ebd.,106.53Simone de Beauvoir, Das andere

Geschlecht,XXXV.54SimonedeBeauvoir,Für eine Moral

der Doppelsinnigkeit,106.55G.W.F.Hegel,Grundlinien der Phi-

losophie des Rechts, Frankfurt amMain,Suhrkamp1995,§49Zusatz.

56Ebd.,§166.57Ebd.,§166,Zusatz.58Ebd.,§165.59 Der Unterschied zwischen Mann

undFrauistderdesTieresundderPflanze: das Tier entspricht mehrdem Charakter des Mannes, diePflanze mehr dem der Frau, dennsie istmehr ruhiges Entfalten, dasdie unbestimmtere Einigkeit derEmpfindungzuseinemPrinzipent-hält. Stehen Frauen an der Spitzeder Regierung, so ist der Staat inGefahr,siehandelnnichtnachdenAnforderungenderAllgemeinheit,sondern nach zufälliger NeigungundMeinung.Ebd.,§166,Zusatz.

60Simone de Beauvoir, Das andere Geschlecht,90.

61 Ebd.62Ebd.63Ebd.,91.64Ebd.,103.65Beauvoirs Hervorhebung der

ArbeitalswesentlicherAspektderBefreiung trägt stark marxistischeZüge. Siehe dazu: Eva Lundgren-Gothlin, Sex & Existence, Hanoverand London: Wesleyan University

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DieFrauen:OpferderDialektik SusanneMoser

Press1996,KapitelIII.66Simone de Beauvoir, Das andere

Geschlecht,192.67 Ebd.,89.68Ebd.,90.69 Beauvoir wird sich allerdings erst

viele Jahre nach Erscheinen desAnderen Geschlechts als radikaleFeministin verstehen und für Ge-burtenkontrolle und Abtreibungkämpfen.

70YvankaB.Raynova,„Füreinepost-moderne Ethik der Gerechtigkeit:Simone de Beauvoir und Jean-FrancoisLyotard“, in:SusanneMo-ser,Y.B.Raynova(Hg.):Simonede Beauvoir : 50 Jahre nach dem Ande-ren Geschlecht, FrankfurtamMain2004,144.

71 Simone de Beauvoir, Das andere Geschlecht,92.

72Ebd.,764.73Ebd.,764.74 Ebd.,877.75Ebd.,878.76G.W.F.Hegel,Phänomenologie des

Geistes,352.77 Iris Young wirft Beauvoir vor, dass

sie Menschsein mit MännlichkeitgleichsetzeundtraditionelleAktivi-täten, wie Mutterschaft und Haus-arbeitabwerte.Siereproduzieremitder Unterscheidung TranszendenzundImmanenzdieinderwestlichenTradition verankerten Gegensätzevon Natur und Kultur, Freiheit undbloßem Leben. Im Gegensatz zuBeauvoirs „Gleichheitsfeminismus“bejahenunmehrder„Differenzfemi-nismus“dieWeiblichkeit(IrisMarionYoung, „Humanismus, Gynozentris-mus und feministische Politik“, inElisabeth List und Herlinde Studer[Hg.],Denkverhältnisse. Feminismus und Kritik,FrankfurtamMain:Suhr-kamp1989,37-65).

78Simone de Beauvoir, Das andere Geschlecht,89.

79 Ebd.,192.80Ebd.,191.81Ebd.,190.82Ebd.,191.83Ebd.,900.

84Ebd.,899.85Mehrdazu inSusanneMoser,Frei-

heit und Anerkennung bei Simone de Beauvoir,181-241.

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Claudia Gather, Barbara Hahn, Käthe Trettin

Wie aktuell ist das Andere Geschlecht?

Nachfolgend werden wesent-liche Beiträge der Podiumsdis-kussion der Tagung wiederge-geben.

Käthe Trettin: Ich freue michaufdieDiskussioneinerseitsmitClaudiaGather,diealsSoziologinund aufgrund ihres sozio-öko-nomischen Forschungsschwer-punkts Beauvoir vor allem unterdemAspektdersichbefreiendenFrau betrachtet, die sich auchökonomisch unabhängig ma-chenmuss,undandererseitsmitBarbara Hahn, die sichmit demAspektFrauundLiteratur,insbe-sonderemitJüdinnenim19.und20. Jahrhundert, beschäftigt hatunddenkulturellenbzw.sprach-lichen Ausgrenzungen nachge-gangenistundBeauvoiralsLite-raturwissenschaftlerin und, wieich denke, auch als engagierteFeministinliest.BevorichSiebeidefrage,wieSiedenn heute das Buch Beauvoirsbeurteilen, möchte ich kurz zumirselbersagen,wieichdasAn-dere Geschlechtwahrgenommenhabe.Ichbinmirnichtsicher,wie-vielichvonmeinererstenAusga-bevon1974,die ichmir sozusa-gen als Initiationsritus währendder zweiten Welle der Frauen-bewegung gekauft habe, wirk-lich gelesen habe.Meine zweiteAusgabe aus dem Jahr 2002,die den beachtlichen Umfang

von 922 Seiten hat ohne Regis-ter, habe ichmir angeschafft fürzwei Seminare zur Einführung indiefeministischePhilosophie.Siesehen, Beauvoir wurde von mirinderUniversitätdurchausnocheingesetzt.NuneinpaarkurzeInformationenzu Beauvoirs Buch. Beauvoir hatvon Oktober 1946 bis Juli 1949an diesem Werk gearbeitet. Esgingziemlichrasant,dennindie-ser Zeitwar sie noch vierMona-te in denUSA. Sie hatte damalsdiese intensive Liebesbeziehungzu dem amerikanischen Schrift-steller Nelson Algren und siehat ein halbes Jahr gebraucht,um über Amerika eine Reporta-ge zu schreiben.Dieerstenaus-gewählten Kapitel vomAnderen Geschlecht: „Der Mythos derFrauunddieSchriftsteller“, „Diesexuelle Initiation der Frau“ und„DieLesbierin“,erschieneninderZeitschrift Les Temps Modernes,die1945gegründetwordenwar,undverursachtensofortsehrvielAufregung,besondersdasKapi-telüberdie Lesbierin.DasWerkinzweiBüchernerschiendannimNovember1949.DiekürzesteZu-sammenfassung dieses volumi-nösenWerks,die ich kenne,be-stehtausdreikurzenSätzen:ausdenbeidenFragen:Gibt es überhaupt Frauen?undWas ist eine Frau? UndderAntwort:

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Wieaktuellistdas„AndereGeschlecht“? Podiumsdiskussion

Man kommt nicht als Frau zur Welt, man wird es. (Anfang vonBuch2)Das sind die Fragen und das istdieAntwort.Aberwirwollenna-türlichetwastieferschürfen.DeshalbzunächstmeineFrageanClaudiaGather:Wie liest Du heute dieses Buch,auchunterdemAspektderFrau-enforschung?WiekannmanDei-ner Meinung nach damit umge-hen?

Claudia Gather:Bevorichdaraufeingehe, möchte ich zunächsteineAntwortgebenaufdieFra-ge:Was isteineFrau?,eineAnt-wort,dieimBuchselbststeht.Im Buch steht, dass es die Fraunichtgibt,dassdieFraueinemänn-licheErfindungist.Aberdazuviel-leichtspäterausführlicher.IchlesedasBuchDas Andere Ge-schlecht heute immer noch mitGewinnundtrauemichdasauchzu sagen. Ich bin keine Philoso-phin,sondernSoziologin,undichmöchtedafürplädieren,dasswirheutedemBuchdenStellenwertgeben,vondemichdenke,dasser dem Buch gebührt, und dasist der eines Klassikers. Wir ha-beninderSoziologieeineReihevonKlassikern,die rezipiertwer-den,obwohlsiekeineSoziologensind. Ich erinnere zum Beispielan Sigmund Freud, über den esvieleArbeitsschwerpunkteinderSoziologie gibt und der Psycho-logeist,oderanGeorgeHerbertMead. Die Philosophen sind si-cher, dass er ein amerikanischerPragmatist ist. Die Psychologen

sindsicher,dassereinSozialbe-haviorist ist, und die Soziologensindsicher,dassereinSoziologeist.Undsodenkeich,könnenwirunsdieFreiheitnehmen,auchalsSoziologinnen mit Beauvoir um-zugehen und sie als Klassikerinzu lesenundherauszufinden su-chen,obsieunsinderfeministi-schenSoziologiebereichert,undichglaube,dastutsie.Noch zwei Anmerkungen zur Re-zeptionsgeschichte. In den 70erJahrenwareseinpolitischesBuch.EshatdieFrauenstarkbeeinflusst.Ichweißnicht,wievielevonIhnendamals in Selbsterfahrungsgrup-penwaren.IchwarineinersolchenSelbsterfahrungsgruppe zu Be-ginnmeinesStudiums,undwirha-bendamalsdasersteKapitelge-lesen,weitersindwirnichtgekom-men,undwirhabenessogelesen,wiemandasdamalstat.Undzwarhaben wir nicht wirklich gefragt,was sagt uns Beauvoir, sonderngefragt, was hat dasmit unserenpersönlichenErfahrungen zu tun.Wir haben damit unser privatesLebenpolitischgemacht.DasPri-vate ist politisch, war damals jaauchderSlogan.Unddasist,glau-be ich, auch einer der Gründe,warumwirBeauvoirnichtinunse-renLiteraturkanonaufgenommenhaben,weilwir uns selbst in denVordergrund gestellt haben, unddie Frage, was die theoretischenGedanken des Buches sind, garnicht gestellt haben.Heute ist esgeradeumgekehrt.Heutegibteseinen akademischen Diskurs inden verschiedenen Fächern, derPhilosophie, der Literaturwissen-schaft etc., wo Beauvoir durch-

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aus wahrgenommen wird. Aberweniger alspolitischesBuch.DerFeminismus ist, glaube ich, auchnichtmehrsostark,sondernstarkist heute der akademische Dis-kurs,unddannwirddieFragege-stellt, inwelcherWeiseBeauvoirsIntellektualität dazu passt. In derSoziologiewirdsieallerdingsnochnicht häufig wahrgenommen. Ichglaube,wennwir sie alsKlassike-rin wahrnehmen, dürfen wir siekritisieren, wir dürfen aber auchanalysieren,washatsieschonvor-gedacht,washabenanderenachihr gedacht. Es erscheint mir so,alswäreBeauvoirvielzuwenigzi-tiertworden,obwohl ihreGedan-keninvielenBüchernvorkommen.Ich bin der Meinung, dass wir indem Buch noch Schätze hebenkönnen, die allein deshalb nichtdiskutiert werden, weil das Buchzu wenig gelesen wird. In einemAufsatz,denichgeradegeschrie-benhabe,1versuche ichdieThe-sestarkzumachen.dassderMy-thos, also das Mythenkapitel beiBeauvoir,einesderKapitelist,woBeauvoir versucht einen eigenenErklärungsansatz für die Unter-drückungderFrauzugeben,unddasswirmöglicherweisemitdemAnsatz der Mythen noch einmalin der Untersuchung und Konst-ruktionderGeschlechterneueAs-pekte gewinnen, die wir bis jetztnichthaben.

Käthe Trettin: Ichgebedieglei-che Frage weiter an BarbaraHahn: Wie liest Du aus DeinerPerspektive heute das Andere Geschlecht?

Barbara Hahn:DieletzteLektüre,die ich jetzt inderVorbereitungfürheutegemachthabe,diewarsehr schwierig. Einfach deshalb:ich fanddasBuch jetzt ausdemAbstandvoneinpaarJahrenaufbestimmteWeisenichtmehrles-bar.Und ichmöchtedasandreiPunkten verdeutlichen. Ich habemirdreiFragengestellt.1. Wann ist dieses Buch ge-

schriebenworden?2. Wer hat dieses Buch ge-

schrieben?3. WieistdiesesBuchgeschrie-

ben?In vielen Artikeln, die jetzt auchzum Todestag erschienen sind,wird Beauvoirs Buch immer alsVorläufer aufgefasst. Ein Buch,daseigentlicherstzwanzig,drei-ßig Jahre nach dem Erscheinenrichtig gelesen wurde. Ich stelledieFrageeinfachmalumgekehrtund lese das Buch als ein Buch,was zu spät geschriebenwurde.DasBuchistzwarkurznachdemZweiten Weltkrieg geschriebenworden. Man merkt aber vondem, was im 20. Jahrhundertschief gegangen ist, in diesemBuchüberhauptnichts.EshatfastetwasZeitloses,auchindemOp-timismus,indemesgeschriebenist.DasBuchistsozusagennichtaufdemTrümmerfeldEuropage-schrieben,sodasssichdieFragestellt, wann dieses Buch eigent-lichentstanden ist?Weiter findeichdieTheseproblematisch,dieimmerzitiertwird,dassdasBuchversuchthabe,mitdemsubstan-tiellen Denken der KategorieFrauaufzuhören.Nur,dasmöch-teichzubedenkengeben,daran

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Wieaktuellistdas„AndereGeschlecht“? Podiumsdiskussion

haben sehr viele Frauen in derWeimarerRepublikbereitsnach-gedacht, und das Problem, dasichhier-zumindestwasDeutsch-landbetrifft - sehe, ist ein signi-fikantesVergessen,nämlichdassderDenkraum,derinderWeima-rer Republik schon mal da war,durch die Nazizeit zerbrochenwurde. Es hat unendlich langegedauert, bis davon überhauptirgendetwas wieder in den Dis-kussionsraumgekommen ist.Bisheuteistnichtrichtigaufgearbei-tet worden, was damals schoneinmal denkbarwar. IchmöchteesaneinemPunktverdeutlichen:Ich denke, es gibt zwei Typenvon Theoretikerinnen. Die einendenken im 20. Jahrhundert indem Bewusstsein eines Bruchs.Wir leben ineinerWelt,die sichvonTraditionenabgelösthat.DaistetwasFundamentales zerbro-chen. Ein Beispiel. Ich habe mirnoch einmal Virginia Woolf an-geschaut, und zwar einen EssayausdemJahr1924.2Dasagtsie:„ImoderumDezember1910hatsich die menschlich Psyche ver-ändert.“Was sagt siedamit?SiemachtdasfestandermodernenKunst und sagt:DieMännerweltistzusammengebrochenundmitder Männerwelt ist auch zusam-mengebrochen, was man bisherunter Frau verstanden hat, unddaraus entwickelt sich das Pro-jekt: wie kann man überhauptüber das Verhältnis Mann-Fraunach diesem Bruch nachden-ken. ZudenDenkerinnendiesesBruchs gehören Margarete Sus-manoderHannahArendt.3Simo-nedeBeauvoirgehörtganzent-schiedennicht zudenDenkerin-

nendesBruchs.SiehateinBuchgeschrieben, das in einem ganzungebrochenenOptimismusvonder Mitte des 19. JahrhundertsbisüberdieKatastrophendes20.Jahrhundertshinausdenkt.Des-wegen, meine ich, ist die Frageinteressant:WannistdiesesBucheigentlichgeschriebenworden?Undweiter:WerhatdiesesBuchgeschrieben? Beauvoir hat sichimmer inszeniert inderPaarkon-stellationmitSartre.Sartrespieltin diesem Buch eine ganz selt-sameRolle.Erwirdniezitiert,erist sozusagen die Autorität imHintergrund. Aber das Buch istgewidmet.UndwemistdasBuchgewidmet? Einem Liebhaber,derSchriftstellerwar.Wasistdasfür eine Inszenierung vonAutor-schaft? Also im 20. JahrhundertsindunendlichvielewichtigeBü-cher erschienen, die gewidmetwordensind.DiemeistenBüchervonMännern.DiegroßenBücheraus dem 20. Jahrhundert, dieüberleben, weil man sie immernochlesenkann,sindFrauenge-widmet worden. Ehefrauen undGeliebten.Esgibtüberhauptkeintheoretisches Buch aus dieserZeit,dasvoneinerFraugeschrie-ben und einemManngewidmetwurde.Daserste istwirklichvonSimone de Beauvoir, das zweiteist Hannah Arendts Buch überdenTotalitarismus.Zwischendenbeiden Büchern liegen Welten.Also von daher noch einmal dieFrage: Wer hat eigentlich Simo-ne Beauvoirs Buch geschrieben,wennesinszeniertistalsSchreib-position: die Geliebte einesSchriftstellersundnichtdieFrau,

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diemiteinemTheoretikerzusam-menlebt.Und: Wie ist das Buch geschrie-ben? Das Buch hat zwei großeTeile. Der erste ist theoretisch,der zweite ist eher literarisch. ImtheoretischenTeilwerdenfastnurMännerzitiert.ImliterarischenTeilwerdenviele,vieleFrauenzitiert.Das finde ich höchst problema-tisch.DenndasistdieArbeitstei-lung,dieunsmitderEntstehungder modernen Universitäten ok-troyiert wurde. Die Männer ma-chendieTheorieunddieFrauenmachen die Literatur. Damit ha-benwirheute immernochheftigzukämpfen.VoralleminDeutsch-land. Dann wie wird zitiert? Wasich,wasdieSchreibweisebetrifft,wirklichverblüffendfindeandemBuch: Es sieht strukturiert aus,aberdasganzeBuchistvonvornebis hinten eigentlich gleich.Weilin jedem Absatz von allem dieRedeist.DasBuchhatkeinerich-tigdurchgearbeiteteStruktur,undes hat eine seltsame Unschärfe.Weilesimmerumallesgeht,man-geltesihmanPräzision.Daskönn-teman an vielenDingen zeigen.Ich beziehe mich noch einmalaufVirginiaWoolf.VirginiaWoolfkönntemanlesenalsganzgroßeDenkerin des 20. Jahrhunderts.MankönntesieauchlesenalsAu-torinderbestenmodernenRoma-ne,diewirüberhaupthaben.EineganzwichtigeRollespieltMrs. Dal-loway.WiezitiertSimoneBeauvoirdieseswunderbareBuch?Siesagtimmer: Virginia Woolf lässt Mrs. Dalloway sagen. Das finde ich,kannmannichtmachen.Sokannman vielleicht realistische Roma-

nedes19.Jahrhundertslesenundhat damit möglicherweise sehrvielerfahrenüberdasFrauenbilddes19.Jahrhunderts.Im20.Jahr-hundert, habe ich den Eindruck,verdunkelt man mit dieser Inter-pretationsmethodedieFrageda-nach,wasModerneundFraumit-einanderzutunhaben.WennmanMrs DallowayimKontextderMo-derne lesenwürde,wäredas einunglaublich aufregendes Buch,dasmiteinervölligbanalenFrageeinerFrau„SiewolleselbergehenunddieBlumenkaufen“anfängt.DieFraustehtimTitel.DiemeisteZeitdesBuchesistsieüberhauptnichtanwesend,undalleswassiezusagenhat,istindemBuchnichtwirklich wichtig. Und trotzdemheißt dieses Buch Mrs DallowayundistdiesegroßartigeKonstruk-tioneinerModerne.Also wie ist Beauvoirs Buch ge-schrieben? Relativ traditionell,relativ unscharf, nicht wirklichdurchstrukturiert, und an vielenPunkten hat man den Eindruck,dassdasBuchnicht nur vonKa-pitel zu Kapitel springt, sondernvon Absatz zu Absatz. Und das,was das ganze Buch zusam-menhält, ist Frau.Die Frage ist,ob Beauvoirs Darstellungswei-se nicht eine Konstruktion desSchreibens ist, die scharfe theo-retischeundauchpolitischeFra-geneherverunmöglicht,alsdasssie Möglichkeiten eröffnet, sichihnenwirklichanzunähern.

Käthe Trettin: Vielen Dank fürdiesessehrklare,kritischeState-ment. Das hört man insbeson-dere bei einer Geburtstagsfeier

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Wieaktuellistdas„AndereGeschlecht“? Podiumsdiskussion

nichtsohäufig.Ichfindedastoll.Aber ich könnte jetzt natürlichsofort fragen, erstaunlich ist jaschon,dassdiesesBuchauch inder frühen Rezeption, das darfman nicht vergessen, doch einesehr positive Resonanz bekom-menundoffensichtlichsehrvieleFrauen begeistert hat. Vielleichtwaren das nicht alles Literatur-wissenschaftlerinnen, die in die-ser Weise kritisch sein müssen,aberesistnatürlichetwasanderKritikdran.AuchClaudiaGatherhatjagesagt:EsisteinBuch,daszumindest in der akademischenBeschäftigungmit demGender-problem inder Soziologie kaumnoch verwendet wird. Und manmuss sich natürlich fragen war-um?Liegtesdaran,dassheutzu-tage eine unlesbare Grundkon-stellation deutlicher hervortrittund dass das Buch möglicher-weisevomganzentheoretischenRahmen her nicht mehr für unslesbar ist? Aber was würde dasheißen?

Claudia Gather: Nocheinmal zuBarbara Hahn. Ich würde schonsagen, einiges an der Kritik, dieSiegeäußerthaben,istdurchausberechtigt, weil man sich auchals Soziologin manchmal mehrwissenschaftliche Systematik indiesem Buch wünscht. Dennochempfinde ich es als eine Fund-grube. Wenn ich jetzt an einenanderen in der Soziologie oderGeschichtswissenschaft wich-tigen Aufsatz, zum Beispiel anden von Karin Hausen über dieGeschlechtscharaktere4 denke,dann ist das auch eine Position,

diemit demBeginn derModer-neVeränderungsprozesse analy-siertundherausarbeitet,sodassdas Geschlechterverhältnis eineneueArtvonZuschnittbekommt,derrechtlangebisindieheutigeZeitwirksamist.Undsoseheichdas auch bei Beauvoir. Also derMann definiert die Frau als einederAussagen,dieichinteressantfinde,oderdieFrauisteinemänn-liche Erfindung. MöglicherweisesinddasAussagen,diebisindieheutigeZeitRelevanzhabenundnichtdurchdenNationalsozialis-musgebrochenwurden.ObwohlIhr Einwand wichtig und rich-tig ist, noch einmal genauer zuuntersuchen,wasausderWeima-rerZeitanfeministischenWerkenvorliegtundwasmöglicherweisebei Beauvoir auch thematisiertwird,ohnedassdaraufBezugge-nommenwird.

Barbara Hahn: KurzzurSystema-tik. Mir geht es überhaupt nichtumwissenschaftlicheSystematik.Das finde ich relativ uninteres-sant. Wissenschaftliche BücherhabeneineLebenszeit,Halbwert-zeitoderVerfallzeitvonzehnbis15 Jahren. Aus dieser Kategorieist das Buch längst raus. Dennwir lesen es immer noch. DasBuch hat überlebt, und es gibtviele gute Gründe dafür, dasses überlebt hat. Nein, mir gehtes um etwas anderes. IngeborgNordmann5 hat es am Anfangschon einmal gesagt. Für michistesnachwievoreinederwich-tigstenFragen,wenn ichzurück-schaue auf das 20. Jahrhundert.Was ist denn eigentlich mit der

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GeschlechtskategorieunddieserModerne?Washatesdenndamitaufsich?UndwasichbefremdlichfindebeiBeauvoirsBuch,istdasses durchgängig nicht fragt. DasBuch ist geschrieben im GestuseinerAntwort.UnddasfindeichjetztimBlickaufdieFrage,wannist dieses Buch eigentlich ent-standen, bedenklich, auch poli-tisch äußerst bedenklich. Manhätte in Europa nachdemZwei-ten Weltkrieg über viele Dingenachdenkenkönnenundmüssen.Daswar jaziemlichkatastrophal,was bis dahin passiert war. UnddasKatastrophaleinden50Jah-ren dieses Jahrhunderts hat dieFrage:Was ist eigentlich losmitMännernundFrauen?,ganzent-schiedenmitbeeinträchtigt.DerGedankebeiVirginiaWoolf,denich in diesem Zusammenhangwirklichinteressantfinde,istder,dass sie bereits vor dem ErstenWeltkriegdieOrdnungderMän-neralszerfallendatiert.Dasheißtaber,auchdieOrdnungderFrau-enwarbereitszerfallen.Seitdemgibt es keine eigene OrdnungderFrauenmehr,indiemansichhineinretten kann. Die Ordnungist zerfallen,was heißt das?Unddiese Frage, dieWoolf währendder Zwischenkriegszeit aufwirft,ist indieserZeitauchheftigdis-kutiertworden,alsdieFrage,wosindwireigentlichgelandet?Wasist die Diagnose? Und deswe-genisteseigenartig,dassesbeiBeauvoirsoaussieht,alswäreesnach 1945 möglich gewesen zusagen,dieZukunft liegt voruns.InihremBuchliegtdieZukunftinjedem Kapitel vor uns. Wir sindfastda.EsgibtzahlreicheFormu-

lierungen, die suggerieren: DieEmanzipation ist fast geschafft,aberesgibtnocheinigeBindun-genandieTradition,diewirjetztloswerden müssen. Mir geht eshier wirklich nicht um Wissen-schaftliches.DasistgarnichtderPunkt.MirgehtesumdieFrage:WelcheFragehatdiesesBuch?

Käthe Trettin: Vielleicht kom-men wir einer Antwort auf dieFrage: Warum hat Beauvoir dieFrau nicht im Horizont der Ka-tastrophen der Moderne ge-dacht, warum hat sie den Bruchnicht zur Kenntnis genommen,warum kann sie so emphatischan eine offene Zukunft denken,wie kann sie so emphatisch voneinemFreiheitsbegriffausgehen,näher,wennmanBeauvoirstheo-retischenRahmengenauerinBe-tracht zieht. Und das wird heut-zutage meines Erachtens kaumgemacht, wenn man sich aufBeauvoir beruft. Was von Beau-voirübernommenwird,dasdannauchinderFrauenforschungundinderFrauenbewegungeinebe-deutende Rolle spielt, das sindebendiesedreiwichtigenDinge.Einmal,dassdasGeschlechtoderdassdieFraugemachtwird,danndass es eine kulturelle Bedin-gung für die Geschlechter gibt.Darauswurde dann der feminis-tischeSozialkonstruktivismusdesGeschlechts, zumTeil in sehr ra-dikaler Form: Geschlechter sindKonstrukte.UnddashatBeauvoirim ersten Teil ihres Werks sehrdeutlich gemacht: Geschlechtist kein biologisches Faktum.Also, esentstandbisheuteeine

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feministische Kritik am Biolo-gismus in der Begründung derGeschlechtsrollen. Und es gabdamit einhergehend schließlicheine eben so scharfe Kritik amEssentialismus, an einem We-senFrauoderauchMann.DieseDingewurdensozusagenherausgezogen, auch durch die Ver-mittlung von Judith Butler6, diealseinzigeineinerganzradikalenForm Anfang der 1990er JahreanBeauvoir angeknüpft hat unddie Themen Antiessentialismus,Antibiologismus und Konstruk-tivismus weitergeführt hat. Aberden philosophischen Rahmender Beauvoir, soweit er existen-tialistisch oder existenzphiloso-phisch begründet wird mit denThemenvonImmanenzundTran-szendenz,vonFreiheit,WahlundEntwurf, den übernehmen diemeistenheutenichtmehr.WennmandasnichtmehrinRechnungstellt,dannkannman,glaubeich,auchnichtdenRahmen,dendie-sesBuchdennochhat,nichtwirk-lichbeurteilen.WieweitBeauvoirdabeigeht,will ichaneinerkur-zenStellezitieren.Esgehtdabeinichtnurumdenreinexistentia-listischen und phänomenologi-schen und von Hegel inspirier-ten Rahmen, sondern das BuchBeauvoirshateineEthik.SiesagtamEndederEinleitung,unddasnenne ich den moralischen Zei-gefinger von Beauvoir: „UnserePerspektive ist die der existenti-alistischen Ethik. Jedes SubjektsetztsichdurchEntwürfekonkretals eine Transzendenz. Es ver-wirklichtseineFreiheitnurdurchderen ständiges ÜberschreitenaufandereFreiheitenhin ineine

unendliche offene Zukunft. Je-desmal, wenn die Transzendenzin Immanenz zurück fällt, findeteine Herabminderung der Exis-tenzinein‚An-sich’undderFrei-heit in Faktizität statt.“Und jetztkommts:„DiesesZurückfallenist,wenndasSubjektesbejaht,einemoralische Verfehlung. Wird sieihm auferlegt, führt sie zu Frus-tration und Bedrückung; in bei-den Fällen ist es ein absolutesÜbel.“7 Das heißt, sie verbindetdiesenFreiheitsimpetus,unddieoffene Zukunft ist sogar mora-lischfundiert,indemÜberschrei-ten hin auf eine offene Zukunft,wie auch immer man sich daskonkret vorstellen mag. DiesesBuch ist also nichtwirklichohneStruktur. Es hat diesen Rahmen,und ich möchte deshalb nocheinmalClaudia fragen:DusiehstjaguteAnknüpfungspunkte, ins-besondere indenDarstellungenBeauvoirsüberdieMythen.Viel-leicht könntest Du das genauererläutern, inwieweit die MythenfürdiesoziologischeFrauen-undGenderforschung interessantseinkönnten.

Claudia Gather: Vielleicht nochmal zu Transzendenz und Imma-nenz.IchalsSoziologinversuchedasfürmichzuinterpretierenundmitderKategorieGeschlechtzu-sammen zu bringen, dass Beau-voir sagt, wenn die Frauen diemännlichen Entwürfe unhinter-fragt übernehmen, die Männerfürsiemachen,dannbleibensiederImmanenzverhaftet..NocheinmalzurückzuderFrage,warum ich das Mythenkapitel

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so interessant finde. In der So-ziologie gab es ein großes For-schungsprojekt in letzter Zeit,indemvoneinerReihe vonFor-scherinnen über Profession undGeschlecht gearbeitet wurde.Die Forscherinnen haben aufeiner Tagung und dann auch ineinemBand8die Idee vertreten,dass die Rückständigkeit heut-zutage in den privaten Bezie-hungen konserviertwird und imArbeitsleben doch einiges imFluss ist,wennauch-besondersinDeutschland-nochlangenichtalleserreicht ist.Wennmansichdie Frage der Konstruktion vonGeschlecht auf der empirischenEbene genauer anschauen will,ist es interessant, heterosexuel-le Beziehungen zu untersuchen:Wie machen Mann und Fraudas, wie konstruieren sie in derEhe Männlichkeit und Weiblich-keit.NocheinmalzurückzuKarinHausen und ihren großartigenAufsatz über Geschlechtscha-raktere.9 Darin zeigt sie, welcheForm vonMännlichkeit undwel-che Form von Weiblichkeit vonder bürgerlichen Gesellschafterfunden wurde. Beauvoir zeigtdagegen eine Vielzahl von My-thenauf,aufdiemanzurückgrei-fenkann,wennmanMännlichkeitundWeiblichkeit konstruiert. Siehat nicht nur ein Bild, sonderneineReihevonBildern,dieaucheine Vielfalt repräsentieren. IhreIdee ist natürlich die: der Mannsetzt sich selbst, also bestimmtund entscheidet er, was er imLeben sein und werden möch-te, und die Frau ist das Andere.Und da hat Beauvoir eine ReihevonIdeen,wiediesesAnderege-

bildetwird,alsNegation,alsDa-seinsgrund etc. Wenn man sichjetztdenVorstellungenkonkreterEhepaarezuwendet,wirdfolgen-des Prinzip deutlich: Sie soll an-dersseinalserundersollandersseinalssie.IchhabePaareunter-sucht,die60Jahrealt sindodergerade imRuhestand,die ihremSelbstverständnisnachinmoder-neren Beziehungen leben, alsowodasallesnichtmehrsoist,wiemansichdastraditionellvorstellt.DasErgebniswar:AnersterStel-lestandimmer,wassollderMannsein,wassollernichtsein.Undanzweiter Stelle ergibt sich darausmehr oder weniger Freiheit fürdieFrau.Unddashatmichdazugebracht,nocheinmalbeiBeau-voir nachzuschauen und festzu-stellen,Beauvoiristeinederganzwenigen, die sagt, okay das istUngleichheit.Derjenige,dersichselbstsetzenkann,hatmehrDe-finitionsmacht,darausresultierendannauchmöglicherweisemehrMöglichkeiten in der Beziehung.UndwennmandannkonkretEhe-paare fragt, wie entscheidet ihrProblemeineurerBeziehungundwieentscheidet ihrdiesoder je-nes,dannkommenzumBeispielinteressante Antworten wie dievoneinerFrau:Er ist jagarnichtder Ernährer in der Beziehung,deswegensindwirgleichberech-tigt.Dasheißt,eswirdRekursge-nommen auf Männlichkeit (derMann kann nichtmehr einlösen,was seine Aufgabe ist), um deneigenen Anspruch auf gleicheRechte und größere Freiheitenzu rechtfertigen. Langer Redekurzer Sinn: Die Mythen bieteninteressantes Material – es gibt

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auch noch andere Gedanken-splitter,die inBeauvoirsBuchzuentdeckensind–,umsiezuempi-rischen Untersuchungen hetero-sexueller Liebesbeziehungen inBeziehungzusetzen.

Käthe Trettin: Ich möchte nochzweiFragenanschneidenundSiedannallebitten,Fragenzustellenund Ihre Ideen darzustellen zuderFrage,wasfüreinBilddersichbefreienden Frau Beauvoir amEndedeszweitenBucheseigent-lich entwirft.Was ist das für einBild im letztenKapitel des zwei-tenTeils,wo sie anfängtmitderSozialisation der Kindheit, denverschiedenen Situationen desjungenMädchensusw.Danndiereife Frau, dieMutter, die Hetä-re, die verschiedenen Stationen,dieFrauenausfüllenkönnen,unddanndasZiel:diesichbefreiendeFrau.Wennwirdasallesgelesenhaben,dannsiehtessoaus,dasssiediesentheoretischenRahmen,dieses Subjekt, dieses Transzen-denzmodell den Frauen anemp-fiehlt. Und meine Frage ist: IstdasnichteinedochzuschlechteÜbernahmemännlicherNormen,diesiedenFrauenalsBefreiungandient?EsgabdazuauchinderFrauenbewegungvielKritik.WaskannmanheutemitdiesemBildder sich befreienden Frau an-fangen? Die zweite Frage hängtdamit zusammen. Beauvoir sagtan einer Stelle, dass wir heuteeigentlich schon fast die Partiegewonnen hätten, mit Verweisauf die Menschenrechtskonven-tionderUNOvon1948.Dashatsie,glaube ich, inderEinleitung

zumSchlussgeschrieben.10AberjetztindemFilm11wurdejaschondeutlich, so toll ist es nicht, dashatBeauvoirdann23Jahrespä-terzuAliceSchwarzergesagt:Nasotoll istesdochnicht,wassichda verändert hat.12 Aber wennman das vor dem Hintergrunddes Anderen Geschlecht liest,stecktdannnichtauchindiesemkritischen Statement wiederumdiese große Hoffnung und Zu-kunftserwartung,hatsiedamög-licherweiseeinendochzuengenwestlichen Blick aus den Indust-rienationenheraus?Wennwirdasheutemit unseremeher oft denganzenGlobusgerichtetenBlicksehen, die Frauen in aller Welt,kannmandanndavonausgehen,dasswirdiePartieschonfastge-schaffthaben?KönnenwirdiesenOptimismusteilen?

Barbara Hahn: Ichhabemirdie-ses eine Zitat aufgeschrieben:„Der Wunsch der Frauen nachGleichheit ist im Begriff sich zuerfüllen.“13 Aber dann weist sieauf die hartnäckige Überlegen-heit uralter Traditionen. Unddieuralten Traditionen führt sie zu-rück bis auf die Urgesellschaft.Das hat ja auch Barbara Vinkenin ihrem Vortrag zitiert.14 Alsoichdenke,manmüsstenochein-malüberlegen,wieBeauvoirdieSelbstbefreiungderFrautheore-tisch situiert. Sie sagt ja, sie hatdrei große Felder, in denen sienachdenkt:Biologie,historischerMaterialismus und die AnalysederPsyche.Dasheißt,siehateinGeschichtsmodell,dasmitEngelsvon der Urgesellschaft bis zum

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Sozialismus geht,15 und sie hatdannjaauchspäterdiesozialisti-schenLänderbereist.AberalssiedasBuchgeschriebenhat,lagendieseReisennochvorihr,undessiehtdaherimBucheigentlichsoaus, als ob der Sozialismus dasalleslösenwürde.Vonheuteausgesehen, hatman natürlich eineganze Reihe Fragen. Und zwar:sie spricht den Zusammenhangzwischen Sexismus und Rassis-mus an. Das wird aber nur an-getipptundnicht ausgearbeitet.Ebenso spricht sie den Zusam-menhangzwischenSexismusundAntisemitismusan,undandieserStelle, das finde ichmit das Un-heimlichsteandemganzenBuch,dasiehtessoaus,alsobAntise-mitismusetwasist,worübermanauch nachdenken müsste, wasnach 1945 einer geradezu un-heimlichen Sorglosigkeit gleich-kommt.Aberdasheißt,dasBuchweiß,dassdieGeschichtederBe-freiung der Frau einen ziemlichkomplexen DenkzusammenhangerfordertundFragenaufwirft,fürdiewirimmernochkeineLösunghaben.SieredetvonderKlassen-gesellschaft,undfürdieKlassen-gesellschaft ist die Lösung derSozialismus, in der PerspektivedesBuches.DasBuchweißaberauch, dass der Sozialismus nichteinfachdas Frauenproblem löst.Daskommtjaallesvor.DasBuchweiß,dassdieseKoppelungvonBefreiung der Frau und Sozialis-mussoeinfachnichtfunktioniert.Wir habeneshier alsomit einerFragezu tunundnichtmiteinerLösung. Das Buch behandeltdieses Problem aber nicht aufderEbeneeinerFrage.Wiegeht

man jetzt damit um? Wie kannmandennjetztdenken,dassGe-schichte sich nicht so vollzieht,von der Urgesellschaft bis zumSozialismus?Undwashatdasda-mitzutun,dassesimmermänner-bündischregierteGesellschaftenwaren?AmEndebekommenwirein merkwürdiges Bild: die sichbefreiendeFrau, als ob sieganzalleinaufdiesemPlanetenstehenwürde.DennamEndeistdieFrauauch wieder ein Singular undein Begriff. (Einwurf Trettin: Siespricht von einemWir.) Ja, aberwersindWir?

Käthe Trettin:Das ist die Frage,die man stellen muss. Wer sindWir? Aber dazu gibt sie schonAntworten. Sie gibt interessanteAntworten darauf. Warum es soschwierigist,warumFrauennichtvon „Wir“ sprechen. Das heißt:darin steckt auch eine Antwortvon ihrer Seite. Warum habenFrauen sich diesen erniedrigen-denStatusso langegefallen las-senundlassensichihnnachwievor gefallen? Warum lassen siesichunterdrückenundkündigendas nicht auf? Und das hängtschon sehr damit zusammen,dassesSchwierigkeitengibt,WirzusagenunterFrauen.

Barbara Hahn: Ich wollte nochganzkurzdieSachemitderArbeiteinbringen.InDeutschlandistesja nach wie vor keine Selbstver-ständlichkeit, dass Frauen arbei-ten.IchbinmeistensindenUSAunddortisteswirklichanders.ImZweitenWeltkrieggab eswenigFrauen, die nicht gearbeitet ha-

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ben.AuchFranzösinnen.Siesindzur Zwangsarbeit verpflichtetworden, sie mussten die ganzeArbeit machen, die die Männernichtgemachthaben.Mankönn-tejaauchsagen,imBlickaufdiemenschliche Gesellschaft warendie Frauen immer berufstätig.Hausfrau istein Job,dererst imneunzehnten Jahrhundert erfun-denworden ist. Eine Bauersfrauwird nie auf die Idee kommen,dass sie nicht arbeitet. Und imneunzehnten Jahrhundert wa-ren die Arbeiterinnen ja auchein großes Problem. Sie sind jafurchtbar ausgebeutet worden.Noch schlimmer als dieMänner.Dasheißt,derStatusderArbeitindemBuchstehtineinemseltsamunhistorischen Horizont. Also:die Befreiung heißt, wir müssenarbeiten, und ich glaube nicht,dassirgendjemandeinvernünfti-gesArgumentdagegenbringenkann.NurwennmanaufdieGe-schichtevonarbeitendenFrauenschaut, ist die versteckt arbei-tende Hausfrau eine AusnahmeundhistorischeinziemlichkurzesPhänomen.DasfindeicheinPro-blem in demBuch.Das sieht soaus,alsobmandie insHausge-sperrte französischeHausfrauzueiner Kategorie machen könnte,welche die Frage zu öffnen ver-mag,wiedieFrauensichbefreienkönnen.

Claudia Gather: Darf ich dazunoch etwas soziologisch Naivessagen?IchleseBeauvoireinbiss-chenanders.IchentnehmeihremBuch jetzt nicht mehr die einfa-chePerspektive,dassalleFrauen

arbeitengehensollten,auchdieHausfrauen. Ich lesesieeher so,dassFrauendenMuthabensoll-ten zuüberlegen,was sie selberwollen. Also nicht die Entwürfe,die in der Welt sind, sich ein-fach überstülpen zu lassen, son-dern entweder dieses oder je-neswählen.Die Freiheit bestehteigentlich darin, zu überlegen,zu orientieren,waswill ichdennmachen.UndunabhängigzuseinvondenMythenoderdenDefini-tionenderMänner.EsgibtsogareineStelle imBuch,eineeinzigeund seltene Stelle, wo BeauvoirdurchausdenGedanken zulässt,dass auchdieMutterschaftAus-druck freier Selbstbestimmungseinkann.Ichglaube,dieFreiheitist die Unabhängigkeit von denVorgaben.

Nachdem die Diskussion eröff-net wurde, ergaben sich folgen-de ausgewählte repräsentative Beiträge:

Teilnehmerin: Ich fand das sehrinteressant, was Barbara Hahngesagt hat, die These von derBruchlosigkeit des Buches. Dasses einBuchohneBruch ist, die-senGedankenhabe ichmir zumAnderen Geschlecht noch nichtgemacht. Ich würde gerne ver-suchen, dazu eine Gegentheseaufzustellen, obwohl mir Barba-raHahnsAnalyseaufdenerstenBlicksoforteingeleuchtethat.Ichfindenämlich,dasswirheuteim-merwieder eine relativ einlinigeSichtaufdieFreiheitsvorstellungvonBeauvoirhaben,alsodieVor-stellung, dass die Haltung des

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Buches darin besteht, einfachnur hinaus indieWelt zuwollenund auf die höchsten Gipfel zusteigen und die tollsten Bücherzuschreiben,diesistnurdieeineSeite.Esgibtnämlichauchnocheine andere Seite, wo die Exis-tenzphilosophin sehr klar sagt,jedes Menschenwesen, jedesexistierende Wesen hat auchAngst,auchvorderFreiheit.Dasfürchtet sich. Es ist eben nichtnur dieser Aufruf „Lasst uns sosein wie die Männer“, sondernes gibt eben auch diese andereSeite,unddiefinde ichdiewirk-lich interessante, wenn wir heu-te Beauvoir lesen. Nicht diesesGipfelstürmen in PhilosophieundRealität,sondernebenauchdieses durchaus etwas gebro-cheneSelbstbewusstsein.Siehatnatürlich auch dieses utopischeGipfelstürmen, und für diesesutopische Gipfelstürmen – unddamit widerspreche ich wieder-ummeiner eigenenÜberlegung– spricht vor allem, dass wennsie in ihren Überlegungen überArbeit spricht,danndenkt sie janichtansPutzengehen,sondernsiedenktdaran,bedeutendeBü-cher zu schreiben. Also insofernistdasallesziemlichzwiespältig.Aberdassman ihr sodurchgän-gig Bruchlosigkeit unterstellt,demwürde ichnichtzustimmen,obwohlihrIhreThesesehrspan-nendfand.

Teilnehmerin: Ichwollteauchet-was zur Rolle der Arbeit sagen.Beauvoir hat besonders auchdie ökonomische Unabhängig-keit hervorgehoben. Ich denke,

Arbeit ist nicht gleich ökonomi-scherUnabhängigkeit und ist esnie gewesen. Beispielsweise dieNachkriegsfrauen.Siehabenge-arbeitet,weilesseinmusste.Im-mer inGesellschaften,wogroßeNot ist,oder inEntwicklungslän-dernarbeitenFrauenimmer,undzwar Schwerstarbeit. Sie führenArbeiten aus, die als unweiblichgelten, sie werden sozial dafürnicht anerkannt und sind auchmeistensökonomischweder un-abhängig noch eigenständig,und indemMoment,woeswie-der möglich ist, dass die männ-licheDomäne vondenMännernübernommen wird, werden sieaus dem Arbeitsprozess hinaus-gedrängt. So war es auch nachdemKrieg.AngesichtsdieserEr-fahrungenkann ichdas LeitwortBeauvoirs: Arbeiten gehen undsich ökonomisch unabhängigmachen,sehrgutnachvollziehen,undfindeesauchsehrcharisma-tisch und fantastisch, und es istvielleichtetwasungerecht,esnurin der Richtung vonNotwendig-keitundZwangzuinterpretieren.

Ursula Konnertz: BarbarazuDir.Erstens, es stimmt, es ist schonauffallend,wennmanDas ande-re Geschlecht liest,dassdieda-maligejüngsteVergangenheitinderGeschichtstheorieundauchan anderen Stellen so gut wienicht vorkommt. Das fragt mansich sofort, und einGrundmagdarin liegen,dassdasBuchvon1946–1949 geschrieben wordenist. (Einwurf: inderschlimmstenZeit). Ja, aber was heißt in derschlimmstenZeit?Manmusssich

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überlegen:Beauvoirwarerstenseine Französin, und für die wardie schlimmste Zeit die der Be-satzung durch die Deutschen.Unmittelbar,nachdemderKriegzuEndewar,hatsiewievielever-sucht, in die Normalität zurückzu kommen, und das bedeute-te für sie als intellektuelle Frau,die politische Freiheit, die einekurze heftige Zeit mit Träumenvon gesellschaftlicher Neuord-nung in Frankreich verbundenwar, zu nutzen, öffentlich nachderVerantwortungvonHandelnauchundgeradevonFrauenzufragen.DasAusmaßder Verfol-gungundErmordungdereuro-päischen Juden kam für denpolitischnaiven,bourgoisenundin politische Widerstandsgrup-pen und die InformationsnetzederKPnicht integriertenFreun-deskreis um Sartre und Beau-voirmit einerVerspätungdurchdie Zeitzeugenberichte an.16Die Temps Modernes, die vonSartre und Beauvoir zeitgleichzur Arbeit an das Andere Ge-schlechtgegründeteZeitschrift,die bereits erwähnt wurde, wareinederersten,dieinfastjederNummerZeitzeugen-undÜber-lebendenberichte veröffentlichtunddiskutierthat.Ichwürdesa-gen,sosehrichglaube,dassdieAnalysevomfehlendenBlickaufden Bruch auf den ersten Blickstimmt – obwohl ich den Bruchspäter,alsonichtvordemErstenWeltkriegansetzenwürde–,binich dennochderMeinung, dasssiedenBruchsehrwohlgesehenhat.EristverschobenaufandereTexte. Er ist verschoben teilwei-se auf die Memoiren, da natür-

lich retrospektiv. Er ist verscho-benaufdieRomane,woDudas,wasDugesagthast,findest,dieVerzweiflungüberdas,waspas-siertwarunddieTatsache,dassGeschichte inkeinerWeiseeineFortschrittgeschichte ist. EineFortschrittsgeschichtekannmanihr in das Andere Geschlechtnicht unterstellen, selbst wennsie sich auf Engels bezieht, daslässtsichanihrerHegelkritikab-lesen.Zweitens:BeauvoirwareinePhi-losophin, die gleichzeitig auchSchriftstellerin war. Die Genera-tion um Sartre hat sich bemüht,dieGleichwertigkeitderLiteraturmit der Philosophie zu behaup-ten. So dass auch dieWidmungan einen Literaten, ihren engenFreund J.L. Bost, der auch denTitel des Buches fand, für sie inkeinerWeiseetwaswar,waseineHerabminderung desWerks be-deutete.DaswarnatürlichnureinkleinerIntellektuellenkreis.Zwan-zigJahrespätersagensie,dasistunsnichtgeglückt.DieseVerbin-dung von Literatur und Philoso-phieunddieEnthierarchisierungdieserbeidenDomänen,dashatBeauvoir selbst später auch sogesehen. Daraus hat man dann– nachträglich – vielfältige Kons-truktionen gemacht. Sartre derPhilosoph.Sie,diesichimmernuralsSchriftstellerinundnichtmehralsPhilosophinbezeichnethat.Drittens: Zur Struktur würde ichsagen,dasAndere Geschlecht istdurchaus strukturiert. Es ist einphilosophischesBuch.Beiphilo-sophischen Büchern würde ichnichtvonHalbwertzeitsprechen.

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(EinwurfBarbaraHahn: ichhabewissenschaftliche Bücher ge-meint.) Es ist insofern kein fach-wissenschaftlichesBuch,alsmansagenkann,siewarnichtinallenBereichen, die sie beschriebenhat, auf der Höhe der Zeit, ob-wohl sie sichbemühthat, inderkurzenZeitsichdieentsprechen-de Literatur zubeschaffen.DasssiedengleichenFehlergemachthatwieviele,nämlichdasssiedieTradition der zweiten Frauenbe-wegungund ihreTextenur rudi-mentär zur Kenntnis genommenhatwieviele,istglaubeich,aucheine Kritik, die heute einen grö-ßerenStellenwerthat,wobeiver-nachlässigt wird, was zur dama-ligen Zeit tatsächlich zugänglichwar. Das Buch ist natürlich auchin Bezug auf die Wissenschafts-geschichte und die Wissen-schaftspraxisinvielfältigerWeisegeschichtlich situiert, nicht nurin Bezug auf die politische Ge-schichte. Ich würde sie verteidi-gengegendieKritik,dasssiedenBruchnichtgesehenhat.Siehatihnverschobenaufeinesderzen-tralenThemendesGesamtwerks,auf die Auseinandersetzungmit dem Tod, mit der Endlich-keit. Und ich würde behaupten,dassderBruch,densiedarstelltin ihren Schriften über den Tod,genaudortalskonzentrierteBot-schaftvorhandenist.Esgabnach1945 eine Uminterpretation desTodes, und da war sie eine derwenigenPhilosophinnen,diedasgesehen hat. Gegen die ganzeExistenzphilosophie, Heideggeru.a., für die damals die Endlich-keit einesderHauptthemendesDenkenswar.WasdenBruchbe-

trifft, habe icheineganzandereSichtweise. Da ist immer etwas,wasverschobenwird.

Teilnehmerin: IchhabedasBuchgelesen,dawarichnochnicht20,und ichhabeauchnurganzbe-stimmte Dinge, die mein Lebendamals sehr beeinflusst haben,wahrgenommen. Darauf will ichjetzt nicht näher eingehen. Ichdenke, das ist vielen Frauen sogegangen.WasmichimMomentbeschäftigt, ist die Frage - undda komme ich in meinem Den-ken überhaupt nicht weiter undvielleichthabenSieeineAntwortdarauf.EinLeben in völligerUn-abhängigkeit und Freiheit ist jaschlicht nicht möglich. Das gibtes einfach nicht. Gibt es in derVorstellungvonSimonedeBeau-voireineGrenzeundanwelcherStelle berührt sie diese Grenzeundwie berührt sie dieseGren-ze?

Käthe Trettin: WennichSierich-tigverstandenhabe,dannwollenSieeineAntwortaufdieFrageha-ben:Istesnichtso,dassBeauvoirkeinen Ausblick darauf gibt, wiejetztUnabhängigkeitundFreiheitrealistischerweise zu leben sind,ist Ihnen Beauvoirs Konzept zuabstraktgebliebenodermeinenSie,dassesvölligüberzogenist?Ich würde so antworten: Sie hatdiesesehrabstrakteKonzeption,aber ich glaube, sie gibt einenHinweisindiesemBuchaufeinenBegriff,denwirbisjetztnochgarnicht angesprochen haben. DasistderBegriffderSituation.Undichglaube,mankann jetztdiese

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ForderungenBeauvoirsnachUn-abhängigkeitundFreiheitsituativeinbetten, und dann gibt es na-türlichBegrenzungen.DieSitua-tionderjeweilsindividuellenFrauist unterschiedlich und in dieserUnterschiedlichkeit wird sichdann auch konkretisieren kön-nen,wasesheißtzuarbeitenundökonomischunabhängigzusein.IhreFreiheitexistiertnatürlichnurinderBegrenzungdurchAndere,muss ja eine Begrenzung durchAndere sein.DiesesdialektischeVerhältnis ist jaaucheinwesent-liches strukturierendes ElementinihrerKonzeption.IchfindedenBegriffderSituationsehrwichtig.Erverweistbereitsdarauf,nimmtetwas vorweg, was in der Frau-enforschungspäterganzwichtigwurde,nämlichdieEinbettunginbestimmte sozialeundkulturelleKontexte, die ethnische Bestim-mung, andere Determinationen,sexuelle Orientierungen usw. Indiesen Kontexten wird jeweilssich das realisieren lassen, wasFreiheitundUnabhängigkeitseinkönnen. Das wäre ein Versuch,Ihre Frage zu beantworten, da-mitnichtdieBegriffevonFreiheitundUnabhängigkeitwieplatoni-scheIdeenamIdeenhimmelhän-genbleiben.

Ingeborg Nordmann: Ja,ichwür-de Ihnen zustimmen, mit einerModifikation.Ichwürdesagen:esgibt situative Argumentationenbei Beauvoir, aber es gibt auchviele Passagen, wo die Analysedes Politischen und Geschicht-lichen durch einen ungeheurenmoralischen Rigorismus über-

blendet wird. Das ist mir auchan dem Film aufgefallen.17 Dawerden ständig Forderungengestellt. Die Frauenbewegungmuss das tun, die Frauen müs-sen das tun usw. Das hat natür-lich auch etwas mit Beauvoirsphilosophischer Position zu tun,nämlich dass Freiheit als mora-lischer Appell verstanden wirdund weniger als Freiheit ge-meinsamen Handelns vielerverschiedener Frauen und des-halb auch ein Urteilsvermögenverlangt, das eine völlig andereBlickrichtung nehmenmuss undnicht nur die Anwendung philo-sophischer Positionen sein darf,die dann entweder durch dieEmpiriebestätigtoderwiderlegtwerden. Hannah Arendt hat fürdiese andere Blickrichtung denBegriff des „Zwischen“ ins Spielgebracht,daswas sich zwischendenpolitischenAkteurinnen ab-spielt, was etwas völlig anderesist als das, was Beauvoir unterFreiheitversteht.Beauvoirsprichtvon Willensfreiheit, Arendt voneiner Freiheit des „Ich kann“, inder die Berücksichtigung derAnderen eine maßgebliche Rol-le spielt. In diesem Zusammen-hangwürde ichgernenochein-mal den Gedanken von BarbaraHahn aufgreifen, dass diesesBuch in gewisser Weise bruch-los geschrieben worden undvon einer politischen Ahnungs-losigkeit ist, was die noch nichtvergangene Vergangenheit unddas Verhältnis zu dieser Vergan-genheit betrifft.Was sich späterin der neuen Frauenbewegunggezeigthat,dielangegebrauchthat,bissiesicheinpolitischver-

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antwortlichesVerhältniszumNa-tionalsozialismus erarbeitet hat,in demFrau nicht nur alsOpfer,sondern differenzierter gesehenwird. Diese politische Ahnungs-losigkeit zeigt sich bei Beauvoirauchdarin,dasssieimmer,wennsie eine konkrete politische Per-spektive entwickeln muss, aufvorhandene Muster zurückge-griffen hat, zumBeispiel auf dieSowjetunion. Bis zu den PragerEreignissengabes inderLinkendurchauseinpositivesVerhältniszum Sozialismus in der Sowjet-union, trotz Stalinismus.Da fehlteinfacheineeigenständigeEbe-ne der politischen Reflexion. Ichbin eher skeptisch, ob man vonBeauvoirs Begriff des SubjektsundderFreiheitüberhaupteinenangemessenenBegriffvonPolitikherleitenkann,welcherderViel-falt oder Pluralität der Frauenund den Traditionsbrüchen im20.JahrhundertRechnungträgt.Eine einfache Ergänzung oderEinbettung ihres existenzphilo-sophischenAnsatzes inkonkretepolitische und kulturelle Kontex-tescheintmirnichtausreichend.

Barbara Hahn: Noch einmal zurUnabhängigkeit.EsgibteineRei-hevonPunkten,da lohntessichgar nicht darüber zu streiten. Esgibt Punkte, da hat dieses Buchschlichtrecht.IchwolltemitdemAspektderArbeitnurdaraufauf-merksam machen, dass dieserBegriff eine gewisse Enge hat,weilerimmernuraufdasGefäng-nisderHausfrauweist.Undwennesdarumgeht,einePerspektivezuentwickelnfürFrauen,unddas

ist ein ganz schwieriger Plural -das sagt das Buch auch -, dannliegt da ein Problem. Das warauch der einzige Punkt, auf denich aufmerksam machen wollte.Ulla (Konnertz), Du hast unend-lich viel angesprochen. MachenwireinGedankenspiel.Wenndie-ses Buch Sartre gewidmetwäre,wäre es dann nicht ein anderesBuch? Dann würde dieses Buchsagen, hier ist ein theoretischerEntwurf, und der steht nebenSartresDas Sein und das Nichts.DasBuchhatindenUmgangmitLiteratur eine Hierarchie einge-schrieben,unddiefindeichpro-blematisch. Das Buch, und daskann man genau zeigen, machtimmerwieder Theorie zu etwas,dawerdenMännerzitiert,undLi-teraturzuetwas,dawerdenFrau-en zitiert.UndwenndieAutorinsich inszeniert als die Geliebteeines Schriftstellers, empfindeichdasalseinProblem.WennsiesichinszenierthättealsdieFrau,dieeinProjekthat,dasdemSar-treschenaufgleicherAugenhöhebegegnet, das hätte man dochmachen können, dann hätte dasBuch einen anderen Charakter.DaswarmeinPunkt.Und jetzt zu der PhilosophinBeauvoir. Was ich schwierig fin-de indemBuch, istwiephiloso-phiertwird.Also vonHeideggerherkommend,heißt Philosophie-ren unendlich genau lesen undvielleicht ein ganzes Semesterbrauchen,bismaneineFrageer-schlossen hat. Dieses Buch liestüberhauptniegenau.Das zitiertimmernur.Unddasfindeichbeiden theoretischen Texten, so

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merkwürdig das klingen mag,wenigerschlimmalsbeidenlite-rarischenTexten.Bei dem literarischen Teil gehtes um die gelebte Erfahrungvon Frauen. Wie kommt manüberhaupt an diese Erfahrun-gen heran?Wo steht die geleb-te Erfahrung von Frauen? Undda sagt sie ja auch,dafürhabenwir nicht viele Archive. Aber Li-teratur ist ein Archiv dafür. Unddann zitiert sie auch indemTeilüber die gelebten ErfahrungensehrvieleSchriftstellerinnen.Dasheißt,dieSchriftstellerinnenwis-sen,wasmannirgendwoandersweiß. Deswegen brauchen wirdiese literarischen Texte. WennwirindentheoretischenBüchernsuchen, findet man verdammtwenig über die gelebte Erfah-rung von Frauen. Nur wenn esdarumgeht,das,waswir indenliterarischen Archiven finden,aufzuschlüsseln, dannwürde ichsagen,genauesLesenistdieein-zige Möglichkeit, wie man daszumSprechenbringt.Nichtzitie-ren. Das Problem ist, wennmanzitiert,wirdallesähnlich.DakannmansozusagendieAntikenebendaszwanzigsteJahrhundertstel-len.Ichwürdesagen,gelebteEr-fahrung von Frauen, wenn manjetzt auf einen Zeitrahmen von4.000 Jahren schaut, die mussverschiedensein.Unddannwirdsieerstinteressant.Unddahabeichmirüberlegt,waswäremög-lich gewesen, wenn das BuchdieseSpannungaufgemachthät-te zwischendengelebtenErfah-rungenvonFrauen,überdiewirsowenigwissen,unddemwasin

dentheoretischenBüchernsteht.Dazwischen gibt es doch einegroßeSpannung.AberdasBuchmacht genau diese Spannungnicht auf, und das bedeutet, esgehtunendlichvielverloren.

Claudia Gather: Darf ich leisewidersprechen? Noch einmaldas Mythenkapitel, weil ich dasin letzter Zeit amgenaustenge-lesen habe, deswegen kann ichdarüber sprechen. Einerseitsversucht sie theoretisch die My-then zu entwerfen und zu zei-gen, was sie bedeuten. Und indem zweiten Teil schaut sie sichdie Romane der französischenSchriftsteller an und analysiert,wie haben diese Schriftsteller inihrenRomanenWeiblichkeitent-wickelt. Ganz unterschiedlich.Ganz heterogen. Es gibt sogareinen Schriftsteller, von dem siesagt, dass er eigentlich keinenMythosgeschaffenhabe,weilerdieFreiheiternstgenommenhat.Interessantwirdes-jetztsoziolo-gischgesehen -wennmansagt,okay,einSchriftstellerkanninsei-nerKammerFrauen,Männlichkeitund Weiblichkeit konstruieren,wie er will, da widerspricht ihmkeiner.IchalsSoziologinfindeesinteressant, mit diesen BildernindieWirklichkeit zugehenundzuvergleichen,wieistesreal,in-wieweitentsprechendieMythendemSelbstverständnisvonFrau-en und Männern und inwieweitnicht.AberdasverlangeichnichtvonBeauvoir,dasssieempirischeUntersuchungenmachtoderfrü-here Zeiten erforscht unter demAspekt,wieesdennwirklichge-

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wesen ist. Aber sie gibt uns eintheoretisches Rüstzeug an dieHand. Für sie sind die RomanederSchriftstellerdasBeispiel,andemsiezeigt,wieessichmögli-cherweise in der Realität verhal-tenhat.WiralsSoziologensehendann, wie es in der Realität ist,und die Frauen widersprechen.Aber das ist dann der nächsteSchritt,denwirtunkönnen.

Käthe Trettin: Ich möchte auchganzkurzetwasdazubemerken.Ich denke Beauvoir hat einentheoretischen Rahmen und derstrukturiert ihr Werk. Man kannnun darüber unterschiedlicherMeinungsein,wieguterist.Alsoich gebe jetzt ein Beispiel, wiesie ihre existenzphilosophischeRahmeninterpretation auch an-wendet. Gerade im zweiten TeilihresBuchs.UndzwargehtesdaumdieEinführungderSexualität,und da heißt es: „Die SituationdesMannesisthiergrundlegendanders, sowohl in biologischerals auch in sozialer und psycho-logischerHinsicht.DerÜbergangvon der kindlichen SexualitätzurReife ist fürdenMannrelativeinfach: es erfolgt eine Objekti-vierung der erotischen Lust, dienicht mehr in ihrer immanentenGegenwärtigkeit realisiert wird,sondernsichaufeintranszenden-tes Sein richtet. Die Erektion istAusdruckdiesesBedürfnisses.“18DasistExistenzphilosophieinderAnwendung.

Claudia Gather: Darf ich weiterzitieren? Andere Stelle, Theorie-kapitel: „Die Wahrheit, dass für

die Frau der Mann sexuell undkörperlich anziehend ist, wurdenieverkündet,weilesniemandengab, sie zu verkünden. (...) DieMythen werden zum Vorwandgenommen, der Frau das Rechtauf sexuelle Lust zu verweigernund siewieein Lasttier arbeitenzu lassen.“19 Auch das ist Beau-voir.

Käthe Trettin:Was ichdamit sa-gen wollte. Sie zitiert die Philo-sophen übrigens gar nicht soviel, sie paraphrasiert. Und dasist manchmal schon etwas un-genau. Sie paraphrasiert auchSartre,abersiehateineTheorie,und mein persönliches Problemdabeiist,ichfindedieseExistenz-philosophie halt sehr schwierig.Undwennichdaslese,wiesiedieExistenzphilosophie anwendetaufdie früheSexualitätbeiKna-ben, wie da das Transzendenz-modell funktioniert, dann kannicheinfachnurschallendlachen.Ichdenke,mansolltedannauchsagen, sie hat eine Philosophieundman kann sichdazu stellen,damussmandann kritisch sein,aberman kann ihr nicht vorwer-fen,dasssiejetzt,sagenwirmal,einfachnurirgendetwasdaherzi-tiert.SiezitiertsicherlichausderLiteratur. Im zweiten Teil mehr,und das kann man bedenklichfinden,abersiehateineTheorieund einen Rahmen und heutemüssenwirunsmitdiesemRah-men auseinandersetzen und ihnauchkritischaufarbeiten.Das istbisher wenig erfolgt. Man kannnatürlich auch sagen, die Exis-tenzphilosophie im Sartreschen

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Sinne isteigentlichschon inden70er Jahren nicht mehr beson-ders rezipiert worden. Das istaucheinGrund,warumdieneueFrauenbewegung die ganzenGeschichten von Immanenz undTranszendenz nicht mitgemachthat. Ichkannmichauchnochanmein Unbehagen erinnern undan die Frage bei meiner erstenLektüre, was diese Zuschreibun-gen eigentlich an Erhellendemleistenkönnten.Und nun Schlussfrage an alle:Wie aktuell ist denn das Buchheutenoch?

Teilnehmerin: Wasmirjetztaufge-fallen istbeidensehr interessan-ten und spannenden VorträgenundDiskussionen:esistdochim-merhin ihr hundertster Geburts-tagindiesemJahr,undwennmandie Geschichtsschreibung be-trachtet, gibt es viele männlicheHelden und einige wenige Hel-dinnen.Damuss ichsagen,auchwenn ich der dritten Generationnach Simone de Beauvoir ange-höre, istsiedocheineArtHeldinfür mich. Zumindest hat sie eineVorbildfunktion,undichfindesiecharismatisch und unglaublichwichtig. Jetzt stellt sich für michdieFrage:WarumgeradevonderfeministischenPositionausBeau-voir gegenwärtig überwiegendkritisiert wird? Das ist mir heuteaufgefallen. Ein zusätzliches Bei-spiel aus der Musikwissenschaft.EsgibtsovieleFrauen,dieinderMusikeinewichtigeRollegespielthaben, aber sie werden nachihremTodsofortvergessen,auchwenn sie berühmt waren. Später

tauchtderNamenirgendwomehrauf.DarinseheicheineTendenz,dassFrauenmitFrauenbesonderskritisch umgehen, um bloß nichtdas Heldenepos zu imitieren. EsstelltsichabervielleichtdochdieFrage,obesnichtmanchmalSinnmacht,eineHeldinnebendievie-lenHeldenzustellen.

Käthe Trettin: Ichpersönlichwür-de sagen, dem ist zuzustimmen.Natürlich ist Beauvoir ganz toll,aber wir haben heute diskutiertüberihrBuchundnichtüberdiePerson.

Anmerkungen

1 Siehe den Beitrag von ClaudiaGatherindiesemHeft.

2 Woolf,Virginia(1882-1941),Schrift-stellerin. Ihr Haus in London warTreffpunkt der berühmten litera-rischen Bloomsbury Gruppe. Ihrebekanntesten Romane sind Mrs. Dalloway, 1925;To the Lighthouse, 1927; Orlando, 1929. Ihr Essay A Room of One’ Own(dt.Ein Zimmer für sich allein)gehörtenebenBeau-voirs Anderem Geschlecht zu denmeistgelesenen Texten der neuenFrauenbewegung. Sie starb durchSelbstmord. (DasZitat stammtausdem Essay Character in Fiction,1924)

3 Susman, Margarete (1872-1966),Philosophin,emigrierte1933indieSchweiz. Hat zahlreiche Essays zurGegenwartsphilosophie, Litera-tur und zur Situationder Frau ver-fasst. Ihre bis heute bekanntestenBücher sind Frauen der Romantik, 1929;1996 undDas Buch Hiob und das Schicksal des jüdischen Volkes,1946; 1996. Unter dem Titel Das Nah- und Fernsein des Fremdenist

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1992 eine Sammlung ihrer EssaysundBriefeerschienen.

Arendt, Hannah (1906-1975) wur-de durch ihr Buch Elemente und Urspünge totaler Herrschaft, 1951berühmt.Siefloh1933nachFrank-reich, 1941 in die USA. Weiterebekannte Werke sind: Vita activa, Über die Revolution, Wahrheit und Lüge in der Politik, Denktagebuch.

4 Hausen, Karen: Die Polarisierungder „Geschlechtercharaktere“. In:Rosenbaum,Heidi(Hrsg.):Seminar: Familie und Gesellschaftsstruktur, FrankfurtamMain1975,S.161-191.

5 siehe die Einleitung von IngeborgNordmann.

6 Butler,Judith:Das Unbehagen der Geschlechter, Frankfurt am Main1919.

7 Beauvoir, Simone,Das andere Ge-schlecht. Sitte und Sexus der Frau, ReinbekbeiHamburg1992,S.25.

8 Gildenmeister, Regine; Wetterer,Angelika (Hrsg.): Erosion oder Re-produktion geschlechtlicher Diffe-renzierungen, Münster2007.

9 SieheAnm.4.10 Beauvoir, Simone de: Das andere

Geschlecht, a.a.O.,S.24.11 EswurdeaufderTagungderFilm

„Beauvoir live. Ein Filmporträt vonAliceSchwarzer“ausdemJahr1974gezeigt.

12 Schwarzer,Alice:Simone de Beau-voir. Weggefährtinnen im Ge-spräch, Köln2007.

13 Beauvoir, Simone de, Das andere Geschlecht, a.a.O.,S.24

14 SiehedenBeitragvonBarbaraVin-kenindiesemHeft.

15 Engels, Friedrich: Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staats, in: Gesamtausga-be (MEGA), Berlin 1990. SimonedeBeauvoirzitiertausderZüricherAusgabevon1884.

16 Mankannsichwünschen, siewäreeine andere Person gewesen, siehätte aktiv in Erfahrung gebracht,was sie hätte wissen können, siewäre nicht so unverantwortlichgleichgültigihrenjüdischenFreun-

den und Freundinnen gegenübergewesen. Dazu gibt es übrigensganzunterschiedlicheLiteratur:ichverweiseaufdieArbeitenvonIng-ridGalster,MichelWinock,GilbertJosephu.a.

17 SieheAnm.1118 Beauvoir, Simone de: Das andere

Geschlecht, a.a.O.,S.452.19 Ebda.S.194und321.

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Zeittafel SimonedeBeauvoir

Simone de Beauvoir (1908–1986)1908 Am9. Januarwird Simone

deBeauvoir inParisgebo-ren.IhreFamiliewargeistigsehrinteressiert,abernichtwohlhabend.

1913 bis 1925 Schulausbildungam katholischen CoursAdéline Désir in Poi. Ab-schluss Abitur. StudiumderPhilologie,MathematikundPhilosophieanderSor-bonne, Paris. Begegnungmit Sartre. Sie besteht alsZweitbeste–hinterSartre–dieagrégation(Lehrerlaub-nis).

1929 seitdem Tätigkeit als Leh-rerin in Marseille, Rouen,Paris.ZusammenmitSartrebereistsieEuropa.

1940 bis 1944 Während derdeutschen BesatzungszeitbleibtsieinParis.Bekannt-schaft mit Camus, Genet,Giacometti,Picasso.Regel-mäßigeTreffenimCaféFlo-re.

1941 Rückkehr Sartres aus derKriegsgefangenschaft. Gründung der Résistance-Gruppe „Socialisme et Li-berté“

1943 VondaanfreieSchriftstelle-rin.SieschreibtdieRomaneL’invitée(Siekamundblieb;eine Dreiecksgeschichtezwischen ihr, Sartre undeineranderenFrau)undLe Sang des autres (Das Blutderanderen;überOkkupa-tionundWiderstand).Paris

wird befreit. Beauvoir undSartre gründen zusammendie politische und kultu-relle Zeitschrift Les Temps Modernes.InderZeitschriftpubliziert sie ihre philo-sophischen Aufsätze, u.a.Pour une morale de l’am-biguité (FüreineMoralderDoppelsinnigkeit),alsBuch1947veröffentlicht.

1947 Erste USA-Reise. Begeg-nung mit Nelson Algren,ihrer großen amerikani-schen Liebe. Veröffentli-chung von L’Amerique au jour le jour, ein Reisetage-buch, in dem sie sich mitdemRassismusundderso-zialenUngleichheitinAme-rikaauseinandersetzt.

1949 Le deuxième sexe. Diedeutsche ÜbersetzungDas andere Geschlecht er-scheinterst1951,wirdabererstmitder2.Auflagevon1968 zum überragendenErfolg.

1954 Für Les Mandarins (DieMandarins von Paris) er-hältsiedenPrixGoncourt,die höchste literarischeAuszeichnung Frankreichs(Schlüsselroman über dieExistentialisten und Links-intellektuellenumSartre).

1955 BeginndesAlgerienkriegs.ReisenmitSartrenachChi-naundindieSowjetunion.Teilnahme an der Frie-denskonferenz in Helsinki.

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Beauvoirs Engagement fürdie Unabhängigkeit Alge-riens isolierte sie in Frank-reich.

1958 bis 1972 Veröffentlichungder vierbändigen Lebens-erinnerungen: Memoires d’une fille rangée 1958(Memoiren einer TochterausgutemHause);La force de l’age 1960(Indenbes-ten Jahren); La forcs des choses1965 (DerLaufderDinge); Tout compte fait 1972(Allesinallem).

1964 Une Mort très douce (Einsanfter Tod) beschreibtdasSterbenihrerMutter.

1967 Teilnahme am Russel-Tri-bunalgegendieKriegsver-brecheninVietnam.

1968 Während der Maiunruhenunterstützen Beauvoir undSartre die Studentenpro-teste.

1969 La Vieillesse (Das Alter).BeauvoirunterzeichnetdasManifest der 343 und be-kenntsichzurillegalenAb-treibung

1973 bis 1974 Vorsitzende der„Liga für Frauenrechte“ inFrankreich.

1980 TodSartres.

1981 La Cérémonie des adieux. (Die Zeremonie des Ab-schiedsundGesprächemitSartre) erscheint. Heraus-gabevonSartresBriefen.

1986 Am14.April stirbtSimonedeBeauvoir inParis.Zehn-tausende begleiten ihren

Sarg.SiewirdnebenSartreauf dem Pariser FriedhofMontparnassebeigesetzt.

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DieAutorinnen SimonedeBeauvoirzum100.Geburtstag

Die Autorinnen und AutorenClaudia Gather, Professorinfür Sozialwissenschaft mit demSchwerpunktWirtschaftundGe-schlechterverhältnisse an derFachhochschule West, Berlin,Gastprofessorin an derUniversi-ty of Florida undderUniversitätFrankfurt am Main, Redakteurinder interdisziplinären ZeitschriftFeministische Studien, Mitbe-gründerin der GenossenschaftWeiberwirtschaft.Publikationen: Konstruktionen von Geschlechterverhältnissen. Machtstrukturen und Arbeitstei-lung bei Paaren im Übergang in den Ruhestand, Berlin 1996; Welt-markt Privathaushalt. Bezahlte Hausarbeit im globalen Wandel,2002; zus. mit anderen Autorin-nen:Selbständige Frauen in Ber-lin,Berlin2008.

Barbara Hahn,1995bis2003Pro-fessorin für deutsche Literatur inPrinceton, USA, danach an derVanderbilt-UniversitätinNashville.Publikationen: „Antworten Sie mir!“ Rahel Levin Varnhagens Briefwechsel, Frankfurt am Main1990;Unter falschem Namen. Von der schwierigen Autorschaft der Frauen, Frankfurt am Main 1991;Frauen in den Kulturwissenschaf-ten (Hg),München1994;Die Jüdin Pallas Athene. Auch eine Theo-rie der Moderne,München2002;Hannah Arendt. Leidenschaften, Menschen und Bücher, Berlin2005; Herausgabe der Gesamt-ausgabe der Briefwechsel RahelVarnhagens.

Mechtild M. Jansen,Erziehungs-wissenschaftlerin, seit 1987 Re-feratsleiterin in der HessischenLandeszentrale fürpolitischeBil-dung(HLZ),Wiesbaden;jetztzu-ständigfürFrauen,GenderMain-streaming, Geschlechtsbezoge-nePädagogikundMigration.Publikationen:Lektüren und Brü-che. Jüdische Frauen in Kultur, Politik und Wissenschaft“ (Hg.),Königstein 2000; Denken ohne Geländer. Hannah Arendt zum 100. Geburtstag, Polis 47 (Hg.),Wiesbaden2007.

Susanne Moser,LektorinamIns-titut fürPhilosophie inWienundGraz;VorträgeundSeminareanverschiedenen Wiener Volks-hochschulenimRahmendesPro-jekts „University Meets Public“.Mitbegründerin und Mitarbeite-rindes Instituts fürAxiologischeForschungen,Wien.Publikationen: Freiheit und An-erkennung bei Simone de Beau-voir, Tübingen 2002; Simone de Beauvoir: 50 Jahre nach demAn-deren Geschlecht(Hg.),FrankfurtamMain2004.

Ingeborg Nordmann, Publizis-tin und Bildungsreferentin, bis2007StudienleiterinderEvange-lischen Stadtakademie FrankfurtamMain.Publikationen: Margarete Sus-man. Das Nah-und Fernsein des Fremden. BriefeundEssays(Hg.),FrankfurtamMain1992;Hannah

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Arendt. Zur Einführung,Frankfurtam Main 1994; „Die Liebe, dieFalle, die Treue. Hannah ArendtundMartinHeidegger,in:du. Die Zeitschrift der Kultur, Oktober2000;Hannah Arendt. Denktage-buch1950–1973 (Hg.),München-Zürich 2002. „Hannah Arendt.Wege inspolitischeDenken“. In:culture club 2, FrankfurtamMain2006;„Dievitaactiveistmehralsnur praktische Philosophie”. In:Hannah Arendt: Verborgene Tra-dition – Unzeitgemäße Aktualität, Berlin2008.

Angelika Röming, Erziehungs-wissenschaftlerin, seit 1999 Re-feratsleiterin fürPublikationen inder Hessischen LandeszentralefürpolitischeBildung.Verschiedene Publikationen inHerausgeberschaft.

Käthe Trettin,freieWissenschaft-lerin und Publizistin, Arbeits-schwerpunkte sind Philosophiedes Geistes, Erkenntnistheorie,feministische Philosophie, freieMitarbeiterin im Bereich Sach-buch und Literatur bei verschie-denen überregionalen Zeitun-gen: Frankfurter Allgemeine,FrankfurterRundschau,Süddeut-scheZeitung.Publikationen: „Braucht die fe-ministische. Wissenschaft eineKategorie?“, in:Denkachsen. Zur theoretischen und institutionellen Rede vom Geschlecht, hrsg. vonTheresaWobbeundGesaLinde-mann, Frankfurt am Main 1994;„Zwei Fragen zur feministischen Erkenntnistheorie“ und „Gibt es

überhauptFrauen?EinneuerVer-such, Simonede Beauvoirs klas-sische Frage zu beantworten“,beides in:Feministische Studien,1996 und 2001. „Neuer Ärgermit dem Geschlecht. KritischeBemerkungen zum Konstrukti-vismus und Antirealismus in derfeministischenPhilosophie“,in:E.Waniek,E.Stoller(Hg.):Verhand-lungen des Geschlechts, Wien,erscheintdemnächst.

Barbara Vinken, Professorin fürAllgemeineLiteraturwissenschaftund Romanische Philologie ander Universität München. Gast-professurenanderNewYorkUni-versity, EHESS Paris, Humboldt-Universität Berlin, John HopkinsUniversity.Publikationen: Dekonstruktiver Feminismus. Literaturwissenschaft in Amerika (Hg.), Frankfurt amMain1991;Die deutsche Mutter – der lange Schatten eines Mythos,München 2001; Stigmata. Poeti-ken der Körperinschrift (Hg.),Mün-chen 2004; Fashion – Zeitgeist. Trends and Cycles in the Fashion System, Oxford/NewYork2005.

Herausgeberinnen: Mechtild M. Jansen, Ingeborg Nordmann, Angelika Röming

POLIS ist eine Publikationsreihe der Hessischen Landeszentrale für politische Bildung (HLZ), Taunusstraße 4–6, 65183 Wiesbaden

Redaktion: Dr. Ingeborg NordmannGestaltung/Satz: G·S Grafik & Satz, WiesbadenDruck: Dinges & Frick, WiesbadenAbbildung auf der Innenseite: gettyimagesAuflage: 2000© Wiesbaden 2010

ISBN 978­3­927127­88­3

Schriftliche Bestellungen an die HLZ: Taunusstraße 4–6, 65183 Wiesbaden, Telefon (0611) 32­4051, Fax (0611) 32–4055, E­Mail: [email protected]

Von der Reihe POLIS sind erhältlich:

Nr. 27 Mechtild M. Jansen (Hrsg.) Hessen engagiert. Freiwilliges soziales Engagement in Hessen

Nr. 43 Walter MühlhausenDemokratischer Neubeginn in Hessen 1945–1949Lehren aus der Vergangenheit für die Gestaltung der Zukunft

Nr. 46 Renate Knigge-Tesche (Hrsg.)Politischer Widerstand gegen die NS­Diktatur in Hessen. Eine Auswahl

Nr. 47 Mechtild M. Jansen u.a. (Hrsg.) Denken ohne Geländer – Hannah Arendt zum 100. Geburtstag

Nr. 49 Mechtild M. Jansen (Hrsg.) Pflegende und sorgende Frauen und Männer

Nr. 50 Bernd Heidenreich, Friedel Mathias (Hrsg.) 1989/1990: 20 Jahre Mauerfall – 20 Jahre Deutsche Einheit

Nr. 51 Jürgen Kerwer u.a. (Hrsg.) Mut zur Nachhaltigkeit – ein Thema für Schule und Unterricht

Vergriffene Ausgaben (Nr. 1–26, 28–42, 44, 45, 48) können Sie über das Internet (www.hlz.hessen.de) herunterladen.