"Von der Konstruktion der Stille zur Konstruktion der Intimität"
Die ›Bewëgung der Sprache‹. Überlegungen zum Primat der Bewegung bei Heidegger und Hölderlin...
Transcript of Die ›Bewëgung der Sprache‹. Überlegungen zum Primat der Bewegung bei Heidegger und Hölderlin...
Martin Endres
Die ›Bewëgung der Sprache‹____
Überlegungen zum Primat der Bewegung bei Heidegger und Hölderlin
Heidegger-Vortrag_ITK.qxd 16.07.2007 18:05 Seite 3
Meine sehr geehrten Damen und Herren,
ich werde heute Morgen vornehmlich über Hölderlin zu Ihnen
sprechen. Ich möchte dies als Germanist tun und bitte Sie bereits an
dieser Stelle, es zu entschuldigen, wenn ich in meinem Vortrag immer
wieder auf manchen Punkte insistieren werde, die mir in meiner
Beschäftigung mit Hölderlin als Literaturwissenschaftler wichtig
geworden sind.
So ist auch das Ziel, das ich mir für heute gesetzt habe, Ihnen im
Rahmen einer Tagung, die sich mit dem Verhältnis zwischen Hei-
degger und der Dichtung befasst, einen etwas ungewohnteren Weg in
der Auseinandersetzung mit diesem Themengebiet aufzuzeigen, als
Sie es möglicherweise gewohnt sind. Einen Weg, der in den Texten
Hölderlins seinen Ausgang findet und damit im Grunde nur an den
Punkt zurückkehrt, den Heidegger selbst als den »Beginn«1 seiner
Vorlesungen zu Hölderlin ausmachte.
Um jedoch mein Anliegen in dieser Sache deutlich zu machen bzw.
– was mindestens als gleichrangig bewertet werden muß – um sowohl
Ihnen als auch mir die Langeweile zu ersparen, die sich in der bloßen
Repetition der dort ausgeführten Gedanken zu Hölderlins Lyrik ein-
stellen würde, soll ein anderer Text im Mittelpunkt stehen: die Frag-
ment gebliebene Elegie Der Gang aufs Land.
Was ich kurz allgemein zu Heidegger anmerken möchte, ist gleich-
zeitig eine Hinführung in den Horizont der Problematik, mit der sich
mein Vortrag beschäftigt.
�
Heideggers publizierte Überlegungen zur Dichtung fallen in die Zeit
nach der ›Kehre‹, einem Abschnitt seiner Philosophie, die unter ande-
rem die ›Bewegung‹ des Denkens in den Mittelpunkt stellt. Dieses
1 Vgl. Martin Heidegger, HölderlinsHymnen »Germanien« und »DerRhein« [Martin Heidegger, Gesamtaus-gabe. II. Abtheilung: Vorlesungen1923-1944. Bd.39]. 3.unveränderte Auflage (Frankfurt am Main 1999), 4 :
»Nun können wir Menschen freilichnie mit dem Anfang anfangen – daskann nur Gott –, sondern müssen beginnen, d.h. mit etwas anheben, daserst in den Ursprung führt oder ihnanzeigt.«
Heidegger-Vortrag_ITK.qxd 16.07.2007 18:05 Seite 5
Motiv findet sich zwar vereinzelt schon in seinen ersten Arbeiten,
tritt aber eigentlich erst hier wirklich in den Vordergrund. Die Prozes-
sualität, die Heidegger für das Denken stark macht, wendet sich gegen
die Errichtung eines starren Lehrgebäudes innerhalb einer philo-
sophischen Tradition. Das Denken wird von Heidegger als ein Weg
konzipiert, der in ein ›Offenes‹ und ›Ungedachtes‹ führen soll.
Seine Kritik an der abendländischen Philosophie setzt an diesem
Punkt ein. Sie sei durchgehend begrifflich erstarrt und ›verdecke‹ den
ursprünglich dynamischen Charakter des Seins. Das einzig mögliche
Verhalten gegenüber dieser besonderen ›Seinsvergessenheit‹ sei eine
radikale Offenheit gegenüber dem Ungedachten und damit auch der
Verzicht auf einen festen ›Standpunkt‹.
Das Sein kann, wie Heidegger in seinem Aufsatz Was heißt denken?
betont, nur in seiner Bewegung, als das Sichentziehende erfahren
werden und fordert somit auch den »Gang in das zu-Denkende«2.
Dieser Gedanke wird schließlich auch der Hintergrund der sprach-
theoretischen Arbeiten in Unterwegs zur Sprache und der Vorlesun-
gen zu Hölderlin. Man denke hier besonders an Heideggers Anmer-
kungen zu Hölderlins Strom-Dichtungen: In seiner 1942 gehaltenen
Vorlesung zu Der Ister ist es gerade das ›Strömen‹ des Stroms, seine
Bewegung, die sein ›verborgenes‹ Wesen kennzeichnet und in dem
der Mensch seinen ›Aufenthalt‹ finden soll.3 Worauf es Heidegger in
diesem Punkt ankommt, ist – in Analogie zu den gedanklichen Fixie-
rungen des metaphysischen Denkens – auch die Sprache davor zu
bewahren, nur auf eine prosaisch-begriffliche Funktion reduziert zu
werden.
Damit verbunden ist auch die Absage an eine immer weiter
fortschreitende Instrumentalisierung – und damit auch ›Tech-
nisierung‹ – von Sprache. Das Wesen der Sprache soll erfahren wer-
den, mit dem Ziel, die »Sprache als die Sprache zur Sprache«4 kommen
Heidegger und die Dichtung
2 Vgl. Martin Heidegger, Was heißtDenken?, in: ders., Vorträge und Auf-sätze (Pfullingen 1954), 129-143, hier:139f.
3 Martin Heidegger, Hölderlins Hymne»Der Ister« [Martin Heidegger,Gesamtausgabe. II.Abtheilung: Vor-
lesungen 1923-1944. Bd.53]. 2. Auflage1993, 22f.
4 Martin Heidegger, Der Weg zurSprache, in: ders., Unterwegs zurSprache (Pfullingen 1959), 239-268,hier: 261.
6
Heidegger-Vortrag_ITK.qxd 16.07.2007 18:05 Seite 6
zu lassen. Hier ist es besonders die ›Sage‹, die sich für Heidegger in
der Dichtung realisiert und die Aufhebung eines von Subjektivität
dominierten Herrschaftsanspruchs gegenüber dem vermeintlichen
Funktionieren von Sprache impliziert. Das neue Verhältnis, das darin
Ausdruck findet, charakterisiert sich dadurch, daß der Mensch als
Hörender und Angesprochener – und bitte verstehen sie dieses Wort
in seiner gesamten semantischen Bandbreite – der Sprache ›ent-
spricht‹. Nur so kann er für Heidegger in den Bereich des anfänglichen
Sprechens und damit auch in die ›Bewëgung der Sprache‹ eintreten.
In seinem Vortrag Der Weg zur Sprache heißt es ausdrücklich: »Die
Be-wëgung bringt die Sprache (das Sprachwesen) als die Sprache (die
Sage) zur Sprache (zum verlautenden Wort).«5
Man kann dieses dynamische Moment des Denkens, das Heideg-
ger so auf das Wesen der Sprache überträgt, mit den Versbewegun-
gen in Hölderlins Dichtung in Beziehung setzen. Das Augenmerk
soll, wie Heidegger in seinem Vortrag Die Sprache ausführt, auch
hier darauf liegen, daß es nicht die Worte selbst sind, die »für sich
genommen«6 die Befremdlichkeit des poetischen Sprechens hervor-
rufen. Erst durch ihren Ort in der individuellen Struktur des Textes
und dessen Verlauf brechen sie mit der Gewohnheit der ›gebrauch-
ten Bilder‹.
Nun kann freilich auch die Semantik von Worten und Sätzen nicht
auf das materialiter Ausgesprochene reduziert, sondern muß anhand
der Stellung im Textgewebe jeweils neu eruiert werden. Diese ›Aktu-
alisierung‹ von Wortbedeutungen im Vollzug der Rede ereignet sich
durch die Verkettung der Worte, die bis zur Umkehrung oder Auflö-
sung von tradierten syntaktischen bzw. grammatikalischen Struk-
turen führen kann. Hölderlins Dichtung kommt hier eine zentrale
Rolle zu.
Meine Damen und Herren, vielleicht ahnen Sie es schon – wenn
nicht, so werde ich sie an dieser Stelle enttäuschen müssen, wenn Sie
sich erhofft hatten, daß ich als Germanist das nachholen werde, woge-
Die ›Bewëgung der Sprache‹ 7
5 Ebd.6 Martin Heidegger, Die Sprache, in:
ders., Unterwegs zur Sprache (Pfullin-gen 1959), 9-34, hier: 18.
Heidegger-Vortrag_ITK.qxd 16.07.2007 18:05 Seite 7
gen sich Heidegger in seiner Vorlesung zu Der Ister explizit ausge-
sprochen hat: Auch mir geht es heute nicht darum, Ihnen Hölderlins
Sprache in ihrer metaphorischen Qualität näher zu bringen bzw.
diese Sprache in eine Reihe einzelner ›Sinnbilder‹ aufzulösen, die sich
am Ende dann zu etwas wie dem ›Thema‹ seiner Lyrik zusammen-
fügen lassen. Streng genommen bedeutete dies nichts anderes als den
Rückfall in das traditionelle, ›metaphysische‹ Verhaltensmuster im
Umgang mit Literatur.
Es liegt mir vielmehr daran, Sie mit den Unregelmäßigkeiten in
Hölderlins Lyrik vertraut zu machen, den vermeintlichen Triviali-
täten, in denen bei näherer Betrachtung aber gerade die Radikalität
seiner Sprache Ausdruck findet und damit besonders mit den
Brechungen der Rede an den Versgrenzen. Über die rein gliedernde
Funktion hinaus kristallisieren sich hier neue semantische Einheiten,
die mit der syntaktischen Ordnung in Spannung treten und letztlich
die hohe Komplexität der Rede hervortreten lassen. Eine Interpreta-
tion, die darüber hinweggeht, droht in eben die begrifflichen Sche-
mata zurückzufallen, die eine Sprach-Bewegung aufzulösen sucht.
Die Unregelmäßigkeiten und Unwägbarkeiten machen bei Hölder-
lin dabei auch auf der formalen Seite seiner Lyrik nicht Halt. Die
ständige Reflexion auf das Wechselverhältnis von metrischen und
sprachlichen Formvorgaben und deren bewußte Überschreitung zeigt,
daß es ihm nicht darum ging, Dichtung nach vorgefertigten Maß-
gaben zu produzieren bzw. einem ästhetischen Regelwerk gegenüber
blinden Gehorsam zu üben. Das bedeutet natürlich nicht, daß Hölder-
lin herkömmlichen Formen ihren Wert abspricht – allein, für ihn steht
der kreative und innovative Umgang mit ihnen im Vordergrund.
Bei Pindar findet er das Bild für den individuellen Umgang mit der
poetischen Tradition. Sie kennen es sicherlich alle: es handelt sich um
das mit Das Belebende überschriebene Fragment über die Gewalt der
Centauren. Ich komme darauf zu sprechen, weil es sich auch hier um
das Motiv des Sprach-Flusses, der Prozessualität des Sprechens han-
delt. Die Dichtung, die zunächst von den »festgebildeten« Ufern »Be-
wegung und Richtung« erhält, reißt sich nach einer gewissen Zeit
ihre »Bahn« und nimmt mit neuer Richtung ihre eigene »Bestim-
mung« an.7
Heidegger und die Dichtung8
Heidegger-Vortrag_ITK.qxd 16.07.2007 18:05 Seite 8
Wie stimmig dieses Bild ist, zeigt sich daran, wie viel Wert Hölder-
lin auf den Rhythmus legt, der für ihn erst den Zusammenhang der
Worte und Sätze stiftet. ›Rhythmus‹ aber geht etymologisch auf ›Strö-
men‹, ›Fließen‹8 zurück – die Dichtung wird durch den Rhythmus
also zu einem Sprachfluß, der gelegentlich über die ›metrischen Ufer‹
tritt, um, wie Heidegger es ausdrücken würde, zu be-wëgen: »den
Weg zu … allererst erbringen und so der Weg sein«9. Wir werden
noch sehen, inwieweit sich dieses überbordende Moment der Spache
auch in Der Gang aufs Land wiederfindet.
Lassen sie mich zum Abschluß der allgemeinen Bemerkungen
noch auf einen Punkt aufmerksam machen, der meiner Ansicht nach
die Problematik in Heideggers Umgang mit Hölderlin darstellt. Ob-
gleich ich vorausschicken kann, daß Heideggers Ausführungen weit
mehr Nutzen als Schaden gebracht haben und der Germanistik, die
sich nach wie vor größtenteils in selbst angelegten Zwangsjacken be-
wegt, neue und wertvolle Aspekte lieferte. Anstelle einer externen
Kritik steht die Frage im Vordergrund, inwieweit Heidegger in seiner
Beschäftigung mit Hölderlin nicht selbst gegen die eigene Maxime
des dynamischen Denkens verstößt. In der Vorbereitung auf diesen
Vortrag wurde mir erneut bewußt, wie konsequent er Zeilen aus dem
Kontext der Gedichte und ihrer Versbewegung entnimmt und sie
ungeachtet ihrer individuellen Form und allein anhand ihres Wortbe-
stands interpretiert. Umso mehr überrascht das, wenn man sich an
die Vorrede zu den Vorlesungen der Hymnen Germanien und Der
Rhein erinnert, in der sich Heidegger explizit gegen ein solch ›zer-
setzendes‹ Vorgehen ausspricht.10
Die ›Bewëgung der Sprache‹ 9
7 Friedrich Hölderlin, Sämtliche Werke[= FHA]. Historisch-kritische Ausgabe,hrsg. v. Dietrich E. Sattler u. a. (Basel /Frankfurt am Main 1976 ff.), Bd.15(Pindar), 364.
8 Vgl. Kluge, Etymologisches Wörterbuchder deutschen Sprache [= Kluge],bearb. v. Elmar Seebold. 23. erw.Auflage (Berlin, New York 1999), s.v.Rhythmus, 685.
9 Heidegger, Der Weg zur Sprache(Anm.4), 261.
10 Vgl. Heidegger, Hölderlins Hymnen»Germanien« und »Der Rhein«(Anm.1), 5: »Die Gefahr besteht, daßwir das dichtersiche Werk in Begriffezersetzen, daß wir ein Gedicht nurabsuchen nach philosophischen Mei-nungen des Dichters und nachLehrsätzen, das wir daraus dasphilosophische System Hölderlinszusammenbauen und von da dieDichtung ›erklären‹, wenn man soerklären nennt.«
Heidegger-Vortrag_ITK.qxd 16.07.2007 18:05 Seite 9
Geradezu im Widerspruch zu Hölderlins Bestreben nach individu-
ellem Ausdruck und Revitalisierung der Worte erscheint in diesem
Licht Heideggers Vorgehen, wenn er sich in seiner Argumentation auf
Parallelstellen beruft. Das Bedürfnis, Worte unabhängig ihres Kon-
textes – bzw., um im Bild zu bleiben: als ablösbares Segment einer
Sprachbewegung – zu bestimmen, führt aber bereits in die Gefahr
fixierenden Denkens. Heidegger ist sich zwar einerseits der ›Gewalt-
samkeit‹ bewußt, die zur Abgrenzung von einer allzu ›wissen-
schaftlichen‹ Beschäftigung mit Literatur nötig ist und den Dialog
von Denken und Dichten ermöglichen soll. Andererseits wird die
sprachliche Erfahrung dadurch in ein ›Kennen‹, ein ›Ge-stell‹ über-
führt, das die Offenheit des jeweils Neuen und Individuellen des
Schreibens von vornherein unmöglich macht.
�
Ich möchte Sie im folgenden mit Hölderlins elegischem Entwurf Der
Gang aufs Land ein wenig vertrauter machen und versuchen, mich
interpretatorisch dem zu nähern, was ich unter dem Primat der Be-
wegung in seiner Sprache verstehe. Auch wenn es Sie etwas verwun-
dern wird und auch wenn es anhand der bisherigen Ausführungen
vielleicht noch nicht ausreichend deutlich werden konnte: In der Am-
bition des Vertraut-Machens liegt etwas Widersprüchliches, Para-
doxales. Das Bestreben, Ihnen die Feinstruktur von Hölderlins Lyrik
offen zu legen, bedeutet für mich gerade die Abkehr von einem ›ver-
trauten‹ und ›abgesicherten‹ Umgang mit dem Text. Je näher wir
seiner Dichtung kommen werden, umso befremdlicher wird der Um-
stand erscheinen, daß Ihnen im Verlauf der Rede nach und nach die
semantischen und syntaktischen Haltegriffe genommen werden, mit
denen Sie gewohnt sind, Hölderlins Sprache zu begreifen.
Die Aufzeichungen von Der Gang aufs Land sind auf vier Überliefe-
rungsträgern erhalten. Sattler datiert den Entwurf in der Frankfurter
Ausgabe auf das Frühjahr 1801. Dies läßt sich dadurch stützen, daß
sich ein Großteil der Handschrift auf einem Foliobogen befindet, der
das Ende der Elegie Heimkunft enthält, deren Entstehung in den
Heidegger und die Dichtung10
Heidegger-Vortrag_ITK.qxd 16.07.2007 18:05 Seite 10
Zeitraum von April bis Mai 1801 fällt. Der Erstdruck ist auf das Jahr
1826 anzusetzen. Der Text erscheint hier unter dem Titel An L. / Frag-
ment in dem von Gustav Schwab und Ludwig Uhland herausgegeben
Band Gedichte von Friedrich Hoelderlin.
Um Hölderlins Sprachbewegungen bereits in ihrer Entstehung
nachvollziehen zu können, ist eine textgenetische Darstellung, wie sie
Sattler vornimmt, unumgänglich – auch wenn uns heute leider die
Zeit zu einer genaueren Analyse der einzelnen Entwurfselemente
fehlt. Erlauben Sie daher auch, daß ich meine Anmerkungen auf die
erste Versgruppe beschränke und mich aus der genannten Zeitnot
auch nur auf die ersten vier Verse konzentrieren kann. Auch eine er-
schöpfende Analyse, die sich mit dem Verhältnis aller Ebenen zueinan-
der befaßt – d.h. der wortsemantischen, satzsemantischen und
metrischen Dimension des Gedichts bishin zu Hölderlins Theorie
vom ›Wechsel der Töne‹ –, würde bereits auf wenige Verse angewen-
det den Rahmen dieser Veranstaltung übersteigen. Verstehen Sie die
folgenden Überlegungen daher vielmehr als Grundlage für jeden
weiteren Schritt der Interpretation. Entsprechend der einführenden
Bemerkungen zu Hölderlins Sprache geht es mir zunächst darum,
Problemfelder zu artikulieren, die von einer (be)wertenden Stellung-
nahme zum Text gar nicht erst aufgedeckt würden.
Die ›Bewëgung der Sprache‹ 11
Heidegger-Vortrag_ITK.qxd 16.07.2007 18:05 Seite 11
Der Gang aufs Land.[11]
An Landauer.
Komm! ins Offene, Freund! zwar glänzt ein Weniges heute
Nur herunter und eng schließet der Himmel uns ein.
Weder die Berge sind noch aufgegangen des Waldes
Gipfel nach Wunsch und leer ruht von Gesange die Luft.
Trüb ists heut, es schlummern die Gäng’ und die Gassen und fast will 5
Mir es scheinen, es sei, als in der bleiernen Zeit.
Dennoch gelinget der Wunsch, Rechtglaubige zweifeln an Einer
Stunde nicht und der Lust bleibe geweihet der Tag.
Denn nicht wenig erfreut, was wir vom Himmel gewonnen,
Wenn ers weigert und doch gönnet den Kindern zulezt. 10
Nur daß solcher Reden und auch der Schritt’ und der Mühe
Werth der Gewinn und ganz wahr das Ergözliche sei.
Darum hoff ich sogar, es werde, wenn das Gewünschte
Wir beginnen und erst unsere Zunge gelöst,
Und gefunden das Wort, und aufgegangen das Herz ist, 15
Und von trunkener Stirn’ höher Besinnen entspringt,
Mit der unsern zugleich des Himmels Blüthe beginnen,
Und dem offenen Blick offen der Leuchtende seyn.
[…]
Komm! ins Offene, Freund! […]
Der erste Vers beginnt mit einer imperativen Anrede. An wen sie sich
richtet, kann und soll hier nicht entschieden werden. Neben dem
direkten Bezug auf den in der Widmung genannten Landauer ist es
der Leser, der sofort in den Vollzug der Rede eingebunden wird –
und noch dazu mit einem Imperativ der Bewegung. »Komm!«, das
bedeutet zunächst die Aufforderung, sich an den Ort des Sprechen-
den zu begeben bzw. – wie es bei Adelung heißt – »an dem Orte der
Heidegger und die Dichtung
11 FHA, Bd.6, 286-288, hier: 286.
12
Heidegger-Vortrag_ITK.qxd 16.07.2007 18:05 Seite 12
redenden Person gegenwärtig werden«12. Bereits mit dem ersten Wort
wird also die Frage aufgeworfen, wo sich das Ich befindet, das hier
spricht. Denn die Eröffnung des Verses bietet zwei Lesarten an, die
im Hinblick auf den Fortgang der Rede unabhängig voneinander be-
trachtet werden können und die Komplexität der kommunikativen
Situation des Anfangs noch verstärken. Einerseits ist der Imperativ so
zu verstehen, daß sich das Ich bereits im ›Offenen‹ befindet und den
Angesprochenen auffordert, ihm nachzufolgen. Andererseits ist les-
bar, daß der sogenannte ›Freund‹ lediglich angehalten ist, das Ich auf
seinem Weg zu begleiten: ›mitzukommen‹. Das Ausrufezeichen nach
»Komm!« dient dabei nicht nur der Bekräftigung der Ausgesagten,
sondern gliedert den Vers darüber hinaus auch syntaktisch.
Für beide Lesarten sehe ich jedoch davon ab, das ›Offene‹ zu
definieren oder ihm eine Qualität zuzuweisen, die über den einzel-
nen Text hinaus ginge. Das ›Offene‹ beispielsweise als den Ort zu be-
stimmen, in der das ›Seiende als Unverborgenes‹ erscheint – ich
beziehe mich hier auf Heideggers Ausführungen zu Der Ister13 – legt
der Versbewegung Ketten an, bevor sie sich überhaupt entfalten kann.
Dies gilt natürlich auch für eine vorschnelle Gleichsetzung mit der
Aussage des Titels: die Bewegung ins ›Offene‹ ist nicht einfach nur
ein ›Gang aufs Land‹.
Vielmehr ist das in Frage zu stellen, was von uns längst als um-
gangssprachlich akzeptiert wurde, hier aber eine besondere Qualität
gewinnt: Was hat es zu bedeuten, daß wir ›ins‹ Offene treten sollen,
einem Bereich, der prinzipiell durch nichts eingeschlossen sein dürfte?
Es ist ja nicht die Rede davon, aufs ›offene Land‹ oder aufs ›freie Feld‹
zu gehen. Eine paradoxale Bewegung also, in die wir eintreten und
die sich an dieser Stelle auch nicht auflösen läßt.
Ich habe den vorliegenden Text nicht zuletzt darum ausgewählt,
weil er bereits an dieser Stelle ein Moment artikuliert, das für Hölder-
lins Lyrik signifikant ist und das ich eingangs den Verzicht auf einen
Die ›Bewëgung der Sprache‹ 13
12 Johann Christoph Adelung, Gramma-tisch-kritisches Wörterbuch derHochdeutschen Mundart, mit bestän-diger Vergleichung der übrigenMundarten, besonders aber der
Oberdeutschen [= Adelung] (Leipzig1793/1801), Bd.2, Sp.1695.
13 Vgl. Heidegger, Hölderlins Hymne»Der Ister« (Anm.3), 113f.
Heidegger-Vortrag_ITK.qxd 16.07.2007 18:05 Seite 13
›festen Standpunkt‹ nannte. Das ›Offene‹ verstehe ich als den Ort, der
in und durch die Prozessualität der Sprache erst gefunden werden
muß. Das imperative »Komm!« ist die Aufforderung – und hier
nähere ich mich Heideggers Gedanken der ›Bewëgung‹ an –, die
poetische Sprache nicht nur nach-, sondern vor allem auch mitzu-
vollziehen: Der Ruf an den Ort und in die Gegenwart des Redenden
ist die Aufforderung zur Gleichzeitigkeit – zur Gleichzeitigkeit auch
mit dem Fortgang der Rede selbst. In diesem Sinn lese ich auch die
Sprachbewegung als diejenige, die – ich nehme die Formulierung aus
Der Weg zur Sprache nochmals auf – »den Weg zu … allererst er-
bring[t] und so der Weg«14 ist.
Damit verbindet sich ein enormer Anspruch. Das Ausgesagte soll
für einen Sinn garantieren, der sich an keinem einzelnen Punkt der
Rede festmacht. Selbstverständlich gibt es ›Wegmarken‹, Haltepunkte,
die es einem ermöglichen, auf das Vorangegangene zu reflektieren
und die das evozieren, was den Vers von prosaischer Rede abhebt: die
Rück- und Umwendung. Solche Einschnitte finden sich in der syn-
taktischen Gliederung des Verses durch die Interpunktionszeichen
und besonders an den Versgrenzen, auf die noch genauer einzugehen
sein wird.
Das Ziel der Rede aber, der Ort, an den wir sprachlich gelangen,
bleibt selbst im ›Offenen‹ und Ungewissen. Um es an dieser Stelle zu
betonen: Es handelt sich dabei nicht um einen poetischen Kniff, den
Hölderlin anwendet, um seine Lyrik vor einer allzu begrifflichen
Rasterung bzw. Ideologisierung von Inhalten zu bewahren – die
Rezeptionsgeschichte hat leider gezeigt, daß eine so verstandene Raffi-
nesse ohnehin sehr wenig Wirkung gezeigt hat. Dagegen bleibt mir
hier nur der Hinweis auf die lineare Textdarstellung der Frankfurter
Ausgabe, um Ihnen zu versichern, daß wir es hier nicht mit einem
Autor zu tun haben, der einem vorgezeichneten Gedanken nur noch
eine geeignete Form überstülpt. Auch der Beginn des Schreibens ist
für ihn immer schon dem Vollzug der Rede übergeben, deren Ende
nicht absehbar ist und die die Möglichkeit des Scheiterns impliziert.
Heidegger und die Dichtung
14 Vgl. Anm.10.
14
Heidegger-Vortrag_ITK.qxd 16.07.2007 18:05 Seite 14
Lassen Sie uns vor diesem Hintergrund auf den ersten Vers zurück-
kommen:
Komm! ins Offene, Freund! zwar glänzt ein Weniges heute
Der zweite Teil des Verses beginnt mit einer Einschränkung. Der
Gang ins ›Offene‹ ist scheinbar an die Qualität des ›Glänzens‹ gebun-
den. Und auch wenn spätestens hier alle auf Heidegger getrimmten
Synapsen feuern und ihr Recht fordern: Wir müssen vorsichtig sein,
das ›Glänzen‹ als Lichterscheinung sofort mit der ›Lichtung des Seins‹
gleichzusetzen; auch wenn es eine semantische Qualität besitzt, die
sich dem Heideggerschen Verständnis einer differenzlosen Wahrheit
jenseits von Subjekt und Objekt in und durch die Lichtung zumin-
dest annähert. ›Glänzen‹ ist nämlich nicht nur das aktive Ausstrahlen,
sondern zugleich auch das Zurückwerfen von Licht an einem Gegen-
stand. Wenn gesagt wird, daß »heute« nur »ein Weniges« glänzt,
können wir daher nicht entscheiden, ob es sich dabei um Subjekt
oder Objekt handelt – und auch nicht, ob mit dem ›Wenigen‹ der
Lichtschein oder nicht doch vielleicht eher die Quelle gemeint ist, die
heute nur etwas weniger Glanz aussendet, als gewöhnlich. Der Sinn
der Rede oszilliert zwischen all diesen Lesarten, ohne sich festzule-
gen.
Nur herunter und eng schließet der Himmel uns ein.
Sie mögen einwenden, daß dieses ›Offen‹-Halten nicht lange währt
und im Übergang zu v.2 Klarheit bringt. Ich muß sie in diesem Punkt
erneut enttäuschen. Daß wir es hier nicht mit ungebundener Rede zu
tun haben, reicht weiter als eine rein äußerliche Strukturierung des
Textes – der Vers endet nicht nur an dieser Stelle, weil das Versmaß
erfüllt ist. Die ersten beiden Verse als einen Satz zu lesen, der sich wie
zufällig in Hexameter und Pentameter aufgliedert und etwa nur die
Musikalität von Hölderlins Lyrik unterstützt, greift zu kurz. Die Vers-
grenze nach »heute« bedeutet einen Sinneinschnitt, der zwar durch
metrische Vorgaben fixiert ist, sich darin aber bei weitem nicht er-
schöpft. Hölderlin versagt uns gerade, das ›Glänzen‹ als eines zu be-
Die ›Bewëgung der Sprache‹ 15
Heidegger-Vortrag_ITK.qxd 16.07.2007 18:05 Seite 15
greifen, daß sich ausschließlich in einer vertikalen Bewegung von
oben nach unten vollzieht. Ebenso ist zu lesen, daß das ohnehin
›Wenige‹ am heutigen Tag darüber hinaus auch »Nur herunter« glänzt:
der Gegenstand, der den Glanz erwidern könnte, wird zwar an der
Textoberfläche ausgespart – und damit auch das Moment der Refle-
xion. Die Sprache selbst aber ist es, die sich hier reflektiert, die auf
sich Bezug nimmt. Die Sprachbewegung nach der Versgrenze geht
nicht ›nur herunter‹: Die Aussage des ersten Verses wird rückwirkend
durch den Beginn des zweiten modifiziert, reinterpretiert, ohne dem
Vorangehenden seine Geltung abzusprechen.
So befinden wir uns im Übergang von v.1 in v.2 in einer ein-
schränkenden Bewegung, die immer mehr ins Inklusive führt – in die
Enge, in die uns ›der Himmel‹ einschließt, wie es weiter heißt. Neben-
bei: Auch diese Formulierung bleibt bei näherer Betrachtung wider-
sprüchlich. Das, was wir gewöhnlich als das Bedrückende und
Einschließende empfinden, sind die Wolken, die das ›Offene‹ des
Himmels verdecken. Dem Vers an dieser Stelle lediglich metonymi-
sches Sprechen zu unterstellen bzw. den ›Himmel‹ nur in der Bedeu-
tung des ›Gewölbes‹ zu lesen, würde einmal mehr bedeuten, die
Paradoxalität, die sich in den ersten Versen offensichtlich etabliert,
anhand begrifflich-rationaler Kriterien zu schnell aufzulösen.
Was ist aber dann unter dem ›Offenen‹ zu verstehen? Wo befindet
es sich, wenn selbst der Himmel uns einschließt?
Lassen Sie uns noch einmal einen Schritt zurücktreten. Meine
These ist, daß wir das ›Offene‹ im Verlauf des Textes nicht nur als
einen konkreten Ort genannt bekommen – als den Hügel, »Wo den
Gästen das Haus baut der verständige Wirth« (v.24) oder als das
›aufgegangene Thal‹ (v.36), sondern auch als ein Moment der Rede
selbst.
Sie werden über den ganzen Text verteilt Reflexionen auf die
Sprache bemerken, die einmal mehr bezeugen, in welcher Ab-
hängigkeit für Hölderlin das Ausgesprochene von der Form der Rede
steht. Daß es sich dabei nicht um eine reine Äußerlichkeit handelt, die
einfach übergangen werden kann, zeigt sich etwa in den letzten bei-
den Versen des Entwurfs, die als Epigramm unter dem Namen Last
der Freude bekannt wurden:
Heidegger und die Dichtung16
Heidegger-Vortrag_ITK.qxd 16.07.2007 18:05 Seite 16
Singen wollt ich leichten Gesang, doch nimmer gelingts mir
Denn es machet mein Glück nimmer die Rede mir leicht.
Ich hatte ja bereits in den einführenden Bemerkungen auf die for-
malen Grenzen des sprachlichen Ausdrucks hingewiesen, die Hölder-
lin mit dem Bestreben nach individuellem Sprechen immer wieder
zu überwinden sucht und – das Bild von vorhin wieder aufgreifend
– um dem Sprachstrom seine eigene Richtung zu geben.
Um es also auf den Punkt zu bringen: Ich lese den gesamten elegi-
schen Entwurf zunächst vor dem Hintergrund dieser Spannung
zwischen den formalen Vorgaben und deren Überschreitung. Das
›Offene‹, in das auch wir gerufen sind und das es vermittels der Vers-
bewegung – also in und durch die Sprache – zu erreichen gilt, muß
sich immer mit den Grenzen der Rede ins Verhältnis setzen: dem
Versmaß, der Syntax, etc. Hölderlin kommt es darauf an, diese star-
ren Ordnungen wieder zu verflüssigen; in der Hoffnung, im Sprach-
prozeß – wie es in v.14f. heißt – die »Zunge« zu ›lösen‹ und das
»Wort« zu finden, das in die Offenheit führt.
Hölderlin macht in den ersten beiden Versen jedoch klar, daß
dieser Weg nicht unvermittelt zu beschreiten ist. Jeder Anfang ist ver-
bunden mit dem Eintritt in die sprachliche Abhängigkeit, dem Tribut
an die traditionellen Grenzen der Rede. Und doch sieht er in der
Akzeptanz dieses Umstandes zugleich die Möglichkeit zu dessen
Überwindung – v.3 und v.4 sind ein eindrucksvolles Beispiel dafür:
Weder die Berge sind noch aufgegangen des Waldes
Gipfel nach Wunsch und leer ruht von Gesange die Luft.
Wenn Sie sich den ersten Vers der beiden genauer ansehen, werden
Sie feststellen, daß zu keinem Zeitpunkt eine eindeutige syntaktische
Ordnung der Worte zueinander festgelegt werden kann. Selbst in der
Bestimmung der Kola kommen wir in Schwierigkeiten. Ich bitte Sie,
den Vers einmal schrittweise nachzugehen – Hölderlin versichert
Ihnen ja in v.11f., »daß solcher Reden und auch der Schritt« der
Mühe wert sind. Die erste mögliche Sinneinheit lese ich in den ersten
vier Worten:
Die ›Bewëgung der Sprache‹ 17
Heidegger-Vortrag_ITK.qxd 16.07.2007 18:05 Seite 17
Weder die Berge sind […]
Ein absolutes Urteil, das man mit ›Es gibt die Berge nicht‹ bzw. ›Es
gibt keine Berge‹ paraphrasieren kann und das, ausgelöst durch das
›weder‹, eine Ergänzung erwarten läßt. Diese scheint sich auch sofort
einzustellen:
Weder die Berge sind noch […]
Doch bereits hier geraten wir in Erklärungsnot. Nicht nur dadurch,
daß sich der Vers grammatikalisch nicht so weiter entwickelt, wie wir
es erwarten – es müßte jetzt ein weiteres Objekt genannt werden, für
das die Negation der Existenz ebenfalls gilt. Nein, das Urteil selbst
wird hier eingeschränkt. Das mögliche Kolon »Weder die Berge sind
noch« kann nämlich auch so verstanden werden, daß es die Berge
›heute‹ lediglich nicht mehr gibt – ihre frühere Existenz wäre damit
nicht bestritten.
Und um das semantische Rädchen noch um eine Position weiter
zu drehen und die Relativierung des Urteils noch zu verstärken,
müssen wir nur ein Wort weiter lesen:
Weder die Berge sind noch aufgegangen
Was sich hier im Zuge der Umwandlung des selbständigen Prädikats
in eine Kopula vollzieht, ist rückwirkend eine komplette Umdeutung
der bisherigen Aussage. Das prinzipielle Vorhandensein der Berge
steht nun nicht mehr im Vordergrund, sondern eher die Frage, inwie-
weit sie in Erscheinung treten, oder nicht. Doch auch die Rede vom
›Aufgehen‹ ist hier keinesfalls eindeutig, da es sich gewöhnlich auf
organische oder zumindest bewegliche Gegenstände bezieht.15 Real-
gegenständlich aufgelöst müßten es daher die Wolken sein, die ›aufge-
hen‹ und die Berge sichtbar werden lassen. Lassen wir diese Frage
Heidegger und die Dichtung
15 Vgl. Adelung, s.v. Aufgehen, Bd.1,Sp.494.
18
Heidegger-Vortrag_ITK.qxd 16.07.2007 18:05 Seite 18
vorerst offen und beziehen wir das Ende des Verses in die Analyse
mit ein:
Weder die Berge sind noch aufgegangen des Waldes
Erlauben Sie, daß ich auch hier zunächst an der Versgrenze innehalte.
Der Sprung in die folgenden Zeile würde ohnehin nur vorüberge-
hend Klärung bringen.
Der Genitiv ›des Waldes‹ fungiert wie ein Gelenkstück, das v.3 und
v.4 miteinander verbindet. Rückwärts gerichtet läßt er sich als nähere
Bestimmung der ›Berge‹ lesen und wir erhalten – paraphrasiert –
folgende Aussage: ›Weder die Berge des Waldes sind noch aufgegan-
gen‹. Diese Lesart hat durchaus seine Berechtigung: Der zweite An-
schluß des Genitivs mit dem Übergang in v.4 nimmt dieses Bild
wieder auf und spricht von »des Waldes / Gipfel« – nicht etwa von
dessen Wipfeln. Die Relevanz dieser Unterscheidung ist Ihnen sicher-
lich aus Goethes Ein Gleiches bekannt.
Wir müssen also auch die Rede von den ›Bergen des Waldes‹ ernst
nehmen, wenn mit den Gipfeln deren Spitze, deren höchster Punkt
genannt ist. Erneut lohnt sich hier der Weg zum Wörterbuch: Die
Etymologie zeigt, daß mit ›Berg‹ ursprünglich etwas bezeichnet wurde,
das aufgeht, sich emporhebt, in die Höhe wächst.16 Auf engstem
Raum entwickelt sich also ein semantisches Geflecht, das seinerseits
nicht einfach darin ›aufgeht‹, wenn man die ›Berge des Waldes‹ mit
›Bäume‹ übersetzt. Hingegen wird es Ihnen vielleicht vertrauter sein,
wenn wir uns an dieser Stelle dem Heideggerschen Vokabular wieder
etwas annähern. Denn was ich in den ersten beiden Versen als die Be-
wegung in die Inklusion bezeichnet habe, findet hier sein Echo: In
der Rede von den ›Bergen‹, die nicht ›aufgegangen‹ sind, geht im
Hintergrund natürlich das ›Bergen‹ und damit auch das ›Verbor-
gene‹, nicht Sichtbare mit. Das Glänzen als die ›Lichtung des Seins‹
hat, wenn man so will, das Verdeckte des Waldes ›heute‹ nicht in die
Unverborgenheit der Wahrheit stellen können.17
Die ›Bewëgung der Sprache‹ 19
16 Vgl. Kluge, s.v. Berg, 98f.17 Etymologisch könnte man jedoch
auch umgekehrt argumentieren.
Adelung merkt an, daß »man Dinge,die man dem Blicke und dem An-laufe anderer entziehen wollte, auf
Heidegger-Vortrag_ITK.qxd 16.07.2007 18:05 Seite 19
Bevor wir uns aber näher mit dem vierten Vers auseinandersetzen,
möchte ich die eingangs gestellte These wieder in Erinnerung rufen,
daß der Gehalt der Rede in Hölderlins Lyrik maßgeblich in der
Prozessualität der Sprache begründet ist.
Denn mit dem Übergang in v.4 haben wir es mit einer weitaus
komplexeren Bewegung zu tun, als es auf den ersten Blick scheint.
Bisher gingen wir davon aus, daß sich dem Gang ins Inklusive der er-
sten Verse nun eine entsprechend fortschreitende Exklusion an-
schließt: Nach und nach haben wir erfahren, was wir ›heute‹ nicht
erwarten dürfen. Inwieweit dieser Prozeß auch bis zum Ende des
Verses angenommen werden kann, wird noch zu prüfen sein.
Neben diesen beiden Bewegungsrichtungen lassen sich jedoch
noch zwei weitere festmachen, die sich in gleicher Weise opponierend
gegenüberstehen. Die erste ist uns bereits bekannt: es handelt sich um
das ›Wenige‹, das ›nur herunter‹, also nur von oben nach unten glänzt.
Ihr Gegenstück ist nicht so leicht ausfindig zu machen – liegt ›ver-
borgen‹, wenn Sie so wollen. Auch scheint sie dem Ausgesagten zu
widersprechen, denn keines der genannten Objekte ist ›aufgegangen‹,
keines befindet sich also in der Bewegung von unten nach oben.
Doch was uns als Spannung zwischen dem Ausgesagten und der Aus-
sage selbst aus dem ersten Verspaar bekannt ist, kommt auch hier
zum Tragen: Die Sprache selbst befindet sich nämlich in einer Bewe-
gung nach oben. Der schrittweise Ausschluß auf den ›Gipfel‹ hin be-
deutet, dem höchsten Punkt entgegen zu gehen.
Vor diesem Hintergrund ist zunächst auch der gesamte vierte Vers
zu lesen:
Gipfel nach Wunsch und leer ruht von Gesange die Luft.
Sie merken: Auch hier wird die semantische Beziehung zu v.3 erst
dann interessant, wenn man auch den Beginn des Verses zunächst für
sich liest:
Heidegger und die Dichtung
Berge zu schaffen pflegte« (Adelung,s.v. bergen, Bd.1, Sp.866). Wenn aberdas Ge- bzw. Ver-Borgene, das sichder Sicht entzieht, heute nicht ›aufge-
gangen‹ ist, heute nicht auf den Berggebracht wurde, ist es für jeden zuerkennen.
20
Heidegger-Vortrag_ITK.qxd 16.07.2007 18:05 Seite 20
Gipfel nach Wunsch […]
Denn die Rede vom ›Wunsch‹ erschöpft sich nicht darin, das ›Aufge-
hen‹ weiter zu relativieren, im Sinne von: die Berge sind also doch
aufgegangen, nur nicht nach Wunsch.
Vielmehr sind auch ›die Berge des Waldes‹ selbst als ›Gipfel nach
Wunsch‹ zu verstehen. Der ›Gipfel‹ als das Höchste entspricht hier
dem ›Wunsch‹ als dem Vollkommenen einer Sache, dem Urbild.18
Damit ist der ›Wunsch‹ sowohl Äußerung eines Subjekts als auch ob-
jektive Qualität eines Gegenstandes, die sich dem subjektiven Be-
gehren entzieht. Wir haben es also auch hier wieder mit einem
Bedeutungskomplex zu tun, der Gegensätzliches miteinander vermit-
telt und dessen Spannung in sich austrägt.
Um es an dieser Stelle noch einmal deutlich zu sagen: Sie werden
diese minimalen Verschiebungen, die sich fast von Wort zu Wort
ereignen, nicht wahrnehmen, wenn Sie Hölderlins Lyrik in konven-
tionelle syntaktische Muster pressen. Die Verse sind nicht als ein Setz-
kasten zu verstehen, in dem man auftretende Widerstände auflöst
und sich nach eigenem Gutdünken verständliche Aussagen bastelt.
Der konkreten Abfolge der Worte sowie den Einschnitten an den
Versgrenzen kommt ein eigener Bedeutungsgehalt zu, der das Ausge-
sagte an der Textoberfläche fundiert.
Ohne diese Bedeutungsebene würde auch nicht wirklich klar wer-
den, was es mit dem Ende des vierten Verses auf sich hat:
[…] und leer ruht von Gesange die Luft.
Im ersten Moment sind wir geneigt anzunehmen, daß diese Aussage
nur das ex negativo vorwegnimmt, was weiter unten über »Mahl und
Tanz und Gesang und Stutgards Freude« gesagt wird – v.5 verstärkt
Die ›Bewëgung der Sprache‹ 21
18 Deutsches Wörterbuch von Jacob undWilhelm Grimm [= Dt. Wb.], 16 Bde.(Leipzig 1854/1960), s.v. wunsch,Bd.14, Sp.2016: »der wunsch ist,unabhängig von einer persönlichenwunschäuszerung, objektive form
etwa im sinne des inbegriffs und urbildes alles vollkommenen mit derkraft, eine gestaltende mächtigkeitüber personen und dinge auszuübenund vollkommenes und auszeror-dentliches an ihnen zu wirken.«
Heidegger-Vortrag_ITK.qxd 16.07.2007 18:05 Seite 21
diesen Eindruck noch, wenn von der Trübnis und den ›schlummern-
den‹ ›Gängen‹ und ›Gassen‹ die Rede ist.
Bei genauer Hinsicht aber ist der Vers alles andere als eindeutig.
Zunächst fällt auf, daß von ›ruhender‹ Luft gesprochen wird. Wir
haben es also weniger mit der uns umgebenden Atmosphäre, als
vielmehr mit jener flüssigen Materie zu tun, die man, wie es bei
Adelung heißt, »zwar nicht sehen, aber deren Bewegung man doch
fühlen kann«19. Weiter wird nun jedoch gesagt, daß die Luft ›leer von
Gesange ruht‹. Wenn Sie mir in meinen bisherigen Überlegungen bis
hierhin gefolgt sind, werden Sie ahnen, daß auch diese Formulierung
ihr Gegenstück in sich trägt: Einerseits läßt sich lesen, daß die Luft
leer ruht, weil kein Gesang zu hören ist. Andererseits trifft auch genau
das Gegenteil zu: obwohl oder vielleicht sogar weil gesungen wird, ist
eine inhaltslose Windstille eingetreten. Der Vers selbst kommt damit
in einer Paradoxalität zur Ruhe.
Doch wo befinden wir uns genau, wenn wir die ersten vier Verse
noch einmal Revue passieren lassen? Wo hält die Rede hier an, nach-
dem sie vom Inklusiven ins Exklusive übergegangen, von oben nach
unten und schließlich an die höchste Stelle, ihren eigenen ›Gipfel‹
gelangt ist, über den hinaus nichts mehr genannt werden kann?
Genau an dem Ort, an den uns die Aufforderung des Anfangs
gerufen hat: im ›Offenen‹, das in der Sprachbewegung erfahrbar
wurde und sich doch nicht im konkret Ausgesagten erschöpfte. Das
›Offene‹, das am Ende des vierten Verses mit der ›leer ruhenden Luft‹
wieder eingeholt wird, liegt gerade in diesem Zwischenbereich der
Sprache, der selbst nicht genauer bestimmt werden kann: Einerseits
von der nennenden Sprache verschwiegen, andererseits aber doch im
besonderen Fortgang der Rede präsent zu werden. Hölderlin schafft
diese Freiräume innerhalb der konventionellen Ordnung: in den
Paradoxien, an den Versgrenzen und nicht zuletzt zwischen den
einzelnen Schritten der Sprachbewegung.
Nur wenn wir bereit sind, der Aufforderung des Anfangs
nachzukommen, uns in ungesichertes Terrain aufzumachen und eine
Sensibilität für das ›Offene‹ der Sprache selbst aufzubringen, obwohl
Heidegger und die Dichtung
19 Adelung, s.v. Luft, Bd.2, Sp.2121.
22
Heidegger-Vortrag_ITK.qxd 16.07.2007 18:05 Seite 22
deren Grenzen abgesteckt zu sein scheinen – nur dann können er-
fahren, was sich in Hölderlins Lyrik ereignet. Ich kann Heideggers
Gedanken, daß die Sprache bzw. die Dichtung grundsätzlich eine
Qualität besitzt, das ›Sein Wort werden zu lassen‹ und uns eine Welt
jenseits des kategorialen und wissenschaftlichen Denkens zu offen-
baren, nur unterstreichen. Doch der ›Weg zur Sprache‹ führt wie der
Denkweg nicht an einen nennbaren Ort oder in einen konkreten Zu-
stand, den wir irgendwann schon erreichen werden, wenn wir alles
richtig machen. Das Ziel ist die Bewegung in und mit der Sprache, in
und mit dem Denken und damit der Verzicht auf gebrauchte Bilder
oder Begriffe, die einfach nur neu komponiert werden müssen, um in
das ›Offene‹ bzw. das Zu-Denkende zu gelangen.
Ich hoffe, Ihnen heute den Reiz einer solchen Unternehmung ein
wenig näher gebracht und in Ihnen die Lust geweckt zu haben, sich
immer wieder aufs Neue auf das Wagnis der Bewegung bei Hölder-
lin und Heidegger einzulassen.
Die ›Bewëgung der Sprache‹ 23
Heidegger-Vortrag_ITK.qxd 16.07.2007 18:05 Seite 23
Sonderdruck eines auf dem 3. Meßkircher Heidegger-Treffen
der Heidegger-Forschungsgruppe gehaltenen Vortrags zum
Thema Heidegger und die Dichtung (2006).
Dieses Exemplar hat die Nummer .......
Heidegger-Vortrag_ITK.qxd 16.07.2007 18:05 Seite 25
Martin Endres, Die ›Bewëgung der Sprache‹. Überlegungen
zum Primat der Bewegung bei Heidegger und Hölderlin.
© 2007, Heidelberg
Gesetzt aus der Minion Pro
www.martinendres.net / [email protected]
Heidegger-Vortrag_ITK.qxd 16.07.2007 18:05 Seite 26