Delisle vs. Nolin. Zum Problem des Plagiats um 1700

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21 Sebastian Kühn Delisle vs. Nolin. Zum Problem des Plagiats um 1700 Zusammenfassung: Mit dem Vorwurf de Plagiats scheint klar zu sein, wie die Hand- lungsoptionen verteilt sind. Ein Prioritätsstreit zwischen zwei Kartografen im Paris des beginnenden 18. Jahrhunderts illustriert aber, dass im Phänomen des Plagiats mehr steckt als der Diebstahl geistigen Eigentums. Letztlich ging es darum zu definieren, wer welche Ansprüche auf welches Eigentum anmelden konnte – und wie es gelang, diese Ansprüche durchzusetzen. Der Prioritätsstreit aus der Vorzeit des Urheberrechts zeigt damit auch an, dass im Phänomen des Plagiats immer auch (meist unreflek- tierte) Annahmen darüber stecken, wie Personen, Dinge und Handlungen gesehen und beurteilt werden. Der Plagiatsvorwurf wird so zu einem Teil einer Geschichte der Macht und sozialen Abgrenzung, die verbunden ist mit der Genese der Konzepte von Autorschaft, geistigem Eigentum und Individualität. I. Einleitung: Muster des Plagiats Mit einer zugegebenermaßen nicht korrekten Etymologie könnte man den Begriff des Plagiats auch einmal aus dem Griechischen ableiten: plhgh (plägä) bedeutet Schlag, Hieb, oder auch Schlägerei. Auch wenn diese Herleitung sehr eigenwillig ist, so vermag sie nicht nur zu dem hier behandelten Fall überzuleiten, sondern vielleicht auch generell darauf hinzuweisen, dass wir uns mit dem Thema des Plagiats in einer unübersichtlichen Gemengelage befinden, in der nicht so recht auszumachen ist, wer hier gegen gemeinschaftlich anerkannte Normen verstößt. Die lateinische Etymologie ist da eindeutiger: ein Menschendieb ist natürlich zu verurteilen. Bei einer Schlägerei hingegen darf als unklar gelten, wer der größere Übeltäter ist – beide schlagen sich, der Plagiator und der Plagiierte, und meist sind noch andere Personen involviert. Ich möchte deshalb zunächst einmal vorschlagen, bei dem Phänomen des Plagiats davon auszugehen, dass beide Seiten Ansprüche anmelden, deren Validität, Legitimität und Legalität grundsätzlich verhandelbar ist. Das bedeutet, dass hier nicht interessieren kann, ob jemand mit seinem Plagiatsvorwurf Recht hatte oder ob jemand tatsächlich einen anderen seines geistigen Eigentums beraubt hat. Von größerer Bedeutung schei- nen die Fragen zu sein, welche Funktionen Plagiatsvorwürfe hatten und unter welchen Bedingungen sie hervorgebracht werden konnten. Diese Sichtweise auf das Problem des

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Sebastian Kühn

Delisle vs. Nolin. Zum Problem des Plagiats um 1700

Zusammenfassung: Mit dem Vorwurf de Plagiats scheint klar zu sein, wie die Hand-lungsoptionen verteilt sind. Ein Prioritätsstreit zwischen zwei Kartografen im Paris des beginnenden 18. Jahrhunderts illustriert aber, dass im Phänomen des Plagiats mehr steckt als der Diebstahl geistigen Eigentums. Letztlich ging es darum zu definieren, wer welche Ansprüche auf welches Eigentum anmelden konnte – und wie es gelang, diese Ansprüche durchzusetzen. Der Prioritätsstreit aus der Vorzeit des Urheberrechts zeigt damit auch an, dass im Phänomen des Plagiats immer auch (meist unreflek-tierte) Annahmen darüber stecken, wie Personen, Dinge und Handlungen gesehen und beurteilt werden. Der Plagiatsvorwurf wird so zu einem Teil einer Geschichte der Macht und sozialen Abgrenzung, die verbunden ist mit der Genese der Konzepte von Autorschaft, geistigem Eigentum und Individualität.

I. Einleitung: Muster des Plagiats

Mit einer zugegebenermaßen nicht korrekten Etymologie könnte man den Begriff des Plagiats auch einmal aus dem Griechischen ableiten: plhgh (plägä) bedeutet Schlag, Hieb, oder auch Schlägerei. Auch wenn diese Herleitung sehr eigenwillig ist, so vermag sie nicht nur zu dem hier behandelten Fall überzuleiten, sondern vielleicht auch generell darauf hinzuweisen, dass wir uns mit dem Thema des Plagiats in einer unübersichtlichen Gemengelage befinden, in der nicht so recht auszumachen ist, wer hier gegen gemeinschaftlich anerkannte Normen verstößt. Die lateinische Etymologie ist da eindeutiger: ein Menschendieb ist natürlich zu verurteilen. Bei einer Schlägerei hingegen darf als unklar gelten, wer der größere Übeltäter ist – beide schlagen sich, der Plagiator und der Plagiierte, und meist sind noch andere Personen involviert.

Ich möchte deshalb zunächst einmal vorschlagen, bei dem Phänomen des Plagiats davon auszugehen, dass beide Seiten Ansprüche anmelden, deren Validität, Legitimität und Legalität grundsätzlich verhandelbar ist. Das bedeutet, dass hier nicht interessieren kann, ob jemand mit seinem Plagiatsvorwurf Recht hatte oder ob jemand tatsächlich einen anderen seines geistigen Eigentums beraubt hat. Von größerer Bedeutung schei-nen die Fragen zu sein, welche Funktionen Plagiatsvorwürfe hatten und unter welchen Bedingungen sie hervorgebracht werden konnten. Diese Sichtweise auf das Problem des

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Plagiats ermöglicht es vielleicht, einige der Annahmen und Praktiken zu entschlüsseln, die hinter einem scheinbar so klaren Vorwurf wie dem des Plagiats stecken.

Beide Seiten innerhalb eines Plagiatsstreites analytisch auf einer Ebene zu betrachten bedeutet aber nicht, sie gleich zu stellen. Das Verhältnis der Akteure ist asymmetrisch ab dem Moment, wo der Vorwurf des Plagiats erhoben wird. Der so Verdächtigte steht in einer Verteidigungshaltung, muss sein Handeln rechtfertigen und kann erst dann, eventuell mit dem Gegenvorwurf des Plagiats, wiederum zum Angriff übergehen. Pla-giatsstreitigkeiten sind damit Teil einer strukturell asymmetrischen Konfliktführung, die bestimmten Regeln folgt. In dieser Hinsicht steht ein Konflikt um Plagiate bei-spielsweise der Streitform der Polemik nahe (Gierl 1997).

Sogenannte Prioritätsstreitigkeiten zwischen Gelehrten waren in der Frühen Neu-zeit außerordentlich häufig, fast könnte man sie als eine der Regeln gelehrten Umgangs ansehen (Merton 1957; Iliffe 1992). Der jahrzehntelange Streit etwa zwischen Newton und Leibniz darum, wer als erster die Differenzialrechnung entdeckt bzw. erfunden habe (Hall 1980), ist nur das bekannteste Beispiel einer großen Vielzahl solcher hef-tig geführten Streitigkeiten. Das Muster dabei ist folgendes: Ein Gelehrter publiziert unter seinem Namen eine Entdeckung oder Erfindung, worauf ein anderer behauptet, er sei plagiiert worden. Die dahinter stehenden Vorstellungen, so selbstverständlich sie erscheinen mögen, dürften der näheren Betrachtung wert sein: Ein abgrenzbares Objekt hat einen (nicht mehrere!) rechtmäßigen Erzeuger, der daraus intellektuelle Eigentumsrechte ableitet. Taucht ein anderes Objekt auf, welches identisch mit dem ersten ist, so handelt es sich um ein Plagiat – dessen Erzeuger kann es nur widerrecht-lich kopiert haben. Zwei Schritte führen dabei zum Beweis des rechtmäßigen Eigen-tums: die Behauptung der Identität der Objekte und die Behauptung der zeitlichen Priorität der eigenen Leistung. Das Nachweisverfahren dabei ist zunächst einmal v.a. ein chronologisches: Wer behaupten kann, als erster eine Idee gehabt zu haben, gilt als rechtmäßiger Eigentümer und darf jeden Nachfolger, der diese Erstentdeckung nicht ausdrücklich anerkennt, als Plagiator verfolgen. Soweit das sehr vereinfachte Muster, welches uns ja sehr bekannt und zunächst auch ganz sinnvoll erscheint.

Die Materie wird komplizierter, wenn man die Fälle genauer untersucht. So war es beispielsweise nicht unbedingt nötig nachzuweisen, dass jemand Kenntnis von den Leistungen eines anderen hatte – die Vorstellung der gleichzeitigen Entdeckung wurde zwar diskutiert, führte aber nur in Ausnahmefällen zur Beendigung des Streits. Jede Seite beharrte auf ihrem Recht, als Erstentdecker zu gelten, und bezeichnete die gegnerische Seite als Plagiator. Häufig liegt der Fall vor, dass sich die beiden Parteien gegenseitig des Plagiats bezichtigten. Interessanterweise sind diese Prioritätsstreitig-keiten ein bisher kaum untersuchtes Phänomen. Dabei ließe sich gerade hier die Fra-ge anschließen, warum diese Art der gelehrten Auseinandersetzung (es gab zahlreiche andere Formen) im 17. und 18. Jahrhundert so symptomatisch häufig geführt worden

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ist, in der Zeit, die wir mit wissenschaftlicher Revolution und Aufklärung, mit dem Beginn der Moderne verbinden.

Hier soll nur ein Beispiel eines solchen Streits näher vorgestellt werden, um die Facetten und verhandelten Motive exemplarisch etwas auszuleuchten: Der Fall Delisle versus Nolin, der zu Beginn des 18. Jahrhunderts in Paris geführt wurde um die Frage, welcher der beiden Kartografen als erster eine neue und genauere Weltkarte entdeckt/erfunden/hergestellt hat.1 Schon an diesen Formulierungsproblemen ist zu erkennen, dass der Fall komplexer zu werden verspricht bis hin zu dem Punkt, an dem unklar wird, worum, von wem und zu welchem Zweck dieser Streit geführt worden ist.

II. Wie lässt sich ein Plagiat belegen?

Der Streit beginnt im Jahr 1700, als der Pariser Geograf Guillaume Delisle (1675–1726) dem Kartenmacher Jean Baptiste Nolin (1657–1708) öffentlich in einem Jour-nal vorwirft, dieser habe sich seine Arbeit angeeignet (Journal des Sçavans 1700/X, S. 117). Sein Protest gegen Nolin, so schrieb Delisle etwas später2, geschehe auf einem „universell anerkannten Weg“ und diene dazu, „den Autor von dem Plagiator zu un-terscheiden, das Recht eines jeden zu erkennen und die Gerechtigkeit jenem zukom-men zu lassen, dem das Recht gebührt“. Delisle wolle nur „sein Eigentum“; und er rekurriert dabei auf die Vorstellung des geistigen Eigentums, die allerdings nicht so universell gültig war, wie er zu suggerieren versuchte. Auch andere Konzepte seiner Anklage (und des Plagiat-Konzeptes allgemein) waren weit davon entfernt, eindeutig bestimmt und bestimmbar zu sein: Autorschaft etwa, die Priorität der eigenen Leis-tung, die ausschließlich persönliche Zuschreibung dieser Leistung, die Identität der in Frage stehenden Objekte. Delisle aber behauptete die Rechtmäßigkeit seines An-spruches gegen Nolin.

Die Ausgangslage des Prioritätsstreites mutet dabei reichlich absurd an. Der junge und unerfahrene Guillaume Delisle, der bisher durch keinerlei kartografische Exper-tise hervorgetreten war, bezichtigt den älteren und arrivierten Jean-Baptiste Nolin des Plagiats. Zudem erschien Nolins „Kopie“ vier Monate vor den Globen Delisles, die er kopiert haben sollte. Im November 1699 hatte Nolin seine Weltkarte veröffentlicht. Im Februar 1700 erst wurden im Journal des Sçavans die Erd- und Himmelsgloben

1 Dieser Fall hat in letzter Zeit zunehmende Aufmerksamkeit hervorgerufen; allerdings verbleiben die meisten Autoren in den Kategorien des Streits, indem sie nun als Historiker in die Rolle des Richters schlüpfen und klären, ob Nolin denn tatsächlich Delisle plagiiert habe: Broc 1970. Dawson 2000. Pedley 2005, S. 107ff. Petto 2007, S. 153ff.

2 Bibliothèque Nationale de France, fonds français, Ms. 13062, Bl. 34rf (Memoire de Mr. Delisle geographe de France contre Le Sr. Nolin aussi geographe. Reponse a la 2e lettre de m. Nolin) (August 1700), hier Bl. 34v.

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Delisles angekündigt und ausführlich in ihren Vorzügen und Neuerungen herausge-stellt.3 Damit ist das Streitfeld schon abgesteckt.

Bisher hatte Nolin u.a. das Monopol auf die Herausgabe von Coronellis hochge-rühmten Karten. Gelernt hatte er die Kupferstecherei, war in Verbindung mit Coronelli und anderen Geographen aber zu einem bedeutenden Kartenproduzenten Frankreichs aufgestiegen. Nun trat ihm mit Delisle ein Konkurrent entgegen, der behauptete, wesentlich bessere Werke zu verkaufen. Die Familie Delisle war bisher noch nicht als Kartenproduzent hervorgetreten. Guillaume war der älteste Sohn von Claude Delisle, der den Hochadel am Séminaire de St. Sulpice in Geschichte und Geografie unterwies. Beide schickten sich nun an, unter dem Namen Guillaume Delisle eine Kartografen-werkstatt zu eröffnen, deren erste Produkte offenbar schon längere Zeit vorbereitet waren. In schneller Abfolge erschienen 1700 zahlreiche Karten. Guillaume hatte bei seinem Vater gelernt, dann aber einige Zeit als Schüler des Astronomen und Mitglieds der Académie des Sciences Jean Dominique Cassini verbracht. Die praktischen Kenntnisse der Kartenherstellung erwarb er sich wohl bei keinem anderen als bei Nolin selbst.4 Dieser musste sich durch die Ankündigung des Konkurrenzunternehmens eines ehe-maligen Schülers angegriffen fühlen, reagierte aber zunächst nicht. Es wäre eigentlich zu erwarten gewesen, dass er die Delisles mit Plagiatsvorwürfen belegte: Seine Karte war vor ihren Globen erschienen; Delisle hatte Zugang zu seinem Hause gehabt, und nicht umgekehrt. Vielleicht nahm er an, die Delisles würden keine ernsthafte Be-drohung darstellen, da die Ausgangslage für sie denkbar schlecht stand? Der weitere Verlauf wird zeigen, dass andere Konstellationen mitunter wichtiger waren, um einen Prioritätsstreit erfolgreich zu führen.

Publikation diente als erster Nachweis von Priorität, gab aber nur einen terminus ante quem an. Mit Publikationen konnte der Zeitpunkt einer Entdeckung öffentlich belegt werden; das aber war nicht die einzige Möglichkeit zum Nachweis der Erstent-deckung. Auch Manuskripte konnten als Belege gelten, allerdings nur, wenn glaub-würdige Zeugen für ihre Existenz und den Zeitpunkt erbracht werden konnten. Die sorgfältig chronologisch und nach Autoren geordneten Briefsammlungen von Ge-lehrten, die Brieftagebücher, die Archive der gerade gegründeten wissenschaftlichen Akademien standen auch in diesem Kontext der Sicherung möglicher Ansprüche auf Erstentdeckung. Immer neue Schichten von handschriftlichen Aufzeichnungen, Plä-nen und Projekten konnten vorgetragen werden, um einen noch früheren Zeitpunkt

3 Nolin, Jean-Baptiste: Le Globe terrestre representé en deux plans-hemispheres, Paris 1700 (1699). Delisle, Guillau-me: Globe Terrestre Dressé sur les Observ[ati]ons de l‘Academie Royale des Sciences et autres memoires, Paris 1700. Ders.: Globe céleste, calculé pour l‘an 1700 sur les observations les plus récentes, Paris 1699 (1700). Le Journal des Sçavans, Paris 1700, Nr. VII (15.02.1700), S. 80–84 und Nr. VIII (22.02.1700), S. 85–92.

4 BNF f.f. 13062, 34rf. (siehe Fn. 2), Bl. 35r. Journal des Sçavans 1700, Nr. XX (24.05.1700), S. 226. Archives Nationales de France, fond de la marine, 2JJ 91, Heft 8 (Jean Baptiste Nolin au Roy, 7.09.1705).

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zu erreichen. Ein Großteil des Prioritätsstreits zwischen Newton und Leibniz wurde auf diese Frage verwendet; der Streit zwischen Denis Papin und Thomas Savery um die Erfindung einer Dampfwasserpumpe oder der zwischen Robert Hooke und Christiaan Huygens um die einer Unruhenuhr folgten einer ähnlichen Logik.5 Delisle ging nun ebenso diesen Weg. Sein Globus sei zwar erst 1700 veröffentlicht worden, ein hand-schriftliches Modell aber hatte schon seit vier Jahren in der Bibliothek des Kanzlers Boucherat gestanden (Journal des Sçavans 1700/X, S. 117). Das habe Nolin kopiert – der allerdings bestritt, jemals in der Bibliothek von Kanzler Boucherat gewesen zu sein oder überhaupt Kenntnis von Delisles Globen gehabt zu haben. Ein solches Ar-gument interessierte aber zunächst gar nicht. Delisle hatte die Priorität seiner Globen vor den Karten Nolins nachgewiesen, beglaubigt durch seinen Gönner, den Kanzler Boucherat, und mögliche Besucher in dessen Bibliothek.

Die Frage des Wann, der zeitlichen Priorität, war aber nicht der einzige Streitpunkt; strittig war auch das Was, die Gleichheit von Original und Plagiat. Delisle behaupte-te, seine Globen seien von Nolin in dessen Weltkarte kopiert worden. Das sind auf den ersten Blick zwei ganz unterschiedliche Objekte. Deren Identität zu behaupten, erforderte umfangreiche Argumentationen. In den Prioritätsstreiten wurde darauf sehr viel Zeit verwendet; immer wieder wurde ausführlich beschrieben, was plagiiert worden sei und wie Abweichungen zu erklären sind. In jeder Äußerung wurde somit auch das Streitobjekt selbst neu definiert: Was macht die Einheit und Unverwechsel-barkeit der in Frage stehenden Objekte aus? Was ist eigentlich kopiert worden? Diese Fragen betrafen in ähnlicher Weise hergestellte Gegenstände (wie Globen und Karten) oder Instrumente, als auch Naturobjekte, Texte, Ideen oder Techniken. Das Problem des intellektuellen Eigentums von Autoren, Erfindern und Entdeckern kreuzt sich an diesem Problem der Definition der Identität des reklamierten Objektes. Die Behaup-tung Delisles war nun nicht, dass sein Erdglobus als solcher kopiert worden war – das wäre ein Fall des illegalen Raubdrucks gewesen, der dem Privilegienwesen unterlag. Delisle besaß auf den Globus ein königliches Privileg von 20 Jahren, und so wäre ein Raubdruck sofort juristisch geahndet worden. Ein Teil nur seines Globus, unterstellte er, sei exakt kopiert worden, der Rest mutwillig verfälscht (Journal des Sçavans 1700/XIX, S. 211ff. und XX, S. 119ff.). Das zu beweisen kündigte er an – was eigentlich unmöglich erscheint.

Nolin sah in den Anschuldigungen nur Schikane (Journal des Sçavans 1700/XXIV, S. 278 und XXVIII, S. 319ff.): Delisle möge ja einen Globus fabriziert haben und das wohl auch vor seinen Karten (gegen die Zeugenschaft eines Kanzlers war schlecht an-zukommen); aber kopiert habe er nichts. Die Karten und Globen seien unterschiedlich

5 London, Archiv der Royal Society, Classified Papers VI, 61. (Letter to the Reverend Dr. John Harris Relat-ing to a Pretended Invention of Dr. Papin. By Th Savery Esq, 1709). Papin, Denis: Ars nova ad aquam ignis adminiculo efficacissime elevandam, Frankfurt 1707. Hall 1980. Iliffe 1992.

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und jeder habe sie auf seine Weise hergestellt, wobei eben auch einige Ähnlichkeiten vorkommen. Delisle aber ging in seiner Argumentation weiter. Der geistige Diebstahl bei verschiedenen Objekten von Original und Plagiat war kaum nachzuweisen, aber über ein Drittes ließ sich die Identität der Objekte belegen. Die Vorstellung des geis-tigen Eigentums war das Verbindungsglied, und Delisle erläuterte umfangreich (Jour-nal des Sçavans 1700/XXI, S. 236ff. und XXII, S. 243 ff. Journal de Trévoux 1701, S. 215ff. und 240ff.) welche geografischen Angaben nur er aufgrund persönlicher Be-richte von Reisenden gehabt haben konnte, welche Überlegungen und Berechnungen er dann anstellte, um seine Globen und Karten so und nicht anders zu konstruieren. Gleichzeitig listete er die Fehler und Irrtümer der Nolinschen Karten auf. In dieser Argumentation ging es nicht mehr um einen spezifischen Globus bzw. Weltkarte, son-dern um geografisches Handwerk und die Qualität der Produkte – das war der neue Streitgegenstand. Delisle konnte sich nun nicht nur auf seine Globen beziehen (von denen er weiterhin behauptete, dass sie von Nolin kopiert worden seien), sondern auf seine mittlerweile erschienene Spanienkarte, ganz allgemein auf die Geografie Japans, Kaliforniens oder auf den Längengrad von Paris.

Damit verschob sich der Plagiatsnachweis: es ging nicht mehr um Priorität und auch nicht um die Identität spezifischer Objekte, sondern um die Methoden zur Karten-konstruktion allgemein. Nach dem Wann und Was wurde nun das Wie debattiert. Das Nachweisen der Methode, wie man zu einer Entdeckung oder Erfindung gelangt sei, war ein durchaus gängiges Verfahren, um Priorität zu behaupten und das Erstentdeckerrecht zu reklamieren.6 Delisle folgte einem etablierten Argumentationsmuster, indem er nun behauptete, Nolin besitze gar nicht die Fähigkeiten und Kenntnisse, selbst Karten zu konstruieren. Er selbst bezog sich immer wieder auf die neuesten Entdeckungen von Astronomen und Mathematikern und zitierte häufig die Forschungen an der Académie des Sciences. Nur mit diesen neuen Kenntnissen, so Delisle, könne man Karten korrekt herstellen. Und daraus entwickelte er einen weiteren Plagiatsnachweis: Nur wer seine Karten astronomisch und geografisch begründen könne, habe sie auch selbst hergestellt. Andernfalls muss er sie ja plagiiert haben. Dieser Nachweis sollte vor Experten aus der Académie des Sciences durchgeführt werden. – Ein geschickter Schachzug, denn dieser Nachweis ging völlig an den Produktionsbedingungen von Karten vorbei. Delisle be-stimmte die Regeln des Streits, die seinem Gegner keine Chance ließen.

Die Familie Delisle war eng verbunden mit Akademikern und anderen Gelehrten. Nolin hingegen war in erster Linie Kartenverleger. Zunächst hat er die Karten Coronellis

6 Vgl. etwa die Formulierung dieser Regel in einem Brief von Leibniz an Oldenburg vom 03.02.1672/3, als sich Leibniz für die Entdeckung einer mathematischen Erfindung rechtfertigen wollte, die vorher schon – von ihm unbekannt – von einem Franzosen publiziert worden war: „Duobas autem argumentis ingenuitatem, meam vindicabo: primo si ipsus Schedas meas confusas, in quibus non tantum Inventio mea, sed et inveniendi mo-dus occasioque apparet, monstrem; […].“; in: Hall/Hall (Hg.) 1965–77, Bd. 9, S. 438–448, hier S. 440.

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verlegt. Als dieser ihm keine Vorlagen mehr lieferte, produzierte er seine Karten nach eigener Auskunft folgendermaßen: Ein wenig Mathematik habe er in Rom gelernt, das Zeichnen falle ihm leicht, und so habe er sich dem Studium von Reiseberichten und Erzählungen von Freunden gewidmet. Damit habe er die bisherigen Karten verändern und verbessern können, immer auf Grundlage der neuesten Entdeckungen. Gehol-fen haben ihm dabei verschiedene Gelehrte, v.a. ein gewisser Mr. Tralage (Journal des Sçavans 1700/XXVIII, S. 322). Nolin präsentierte sich nicht als Gelehrter, sondern als Unternehmer und Handwerker, der die Entdeckungen von Reisenden in Druck bringt. Er fügte die ihm zugänglichen Information mit Hilfe von „Freunden“ und Gelehrten zusammen und ließ sich beraten, v.a. von Jean-Nicolas de Tralage, einem Geografen und Historiker (der bis zu seinem Tod 1698 auf den meisten der von Nolin herausge-gebenen Karten als Autor unter dem Pseudonym des Sieur Tillemon erschien).

Die Produktionsweise Nolins war eher typisch für Kartenmacher; es war ein Hand-werk, an dem viele beteiligt waren. Auch Guillaume Delisle arbeitete nicht allein. Sein Vater Claude galt noch lange als Kopf des Familienunternehmens und hatte wohl ursprünglich auch den Streit mit Nolin unter dem Namen seines Sohnes begonnen. Weitere Personen gehörten zur Haushaltsökonomie der Werkstatt Delisle: zwei weitere Brüder Guillaumes, wohl auch eine Schwester, die Mutter Delisle, mehrere Mägde, Angestellte und Schüler waren dort tätig, neben den befreundeten Gelehrten und Rei-senden. Geschäftliche Korrespondenten von Claude und Guillaume Delisle, Drucker, Verleger, Gelehrte und Reisende, ließen immer wieder Grüße ausrichten an „toute vot-re chere famille“, an die Mutter Delisle oder an eine Mademoiselle Manon oder eine Madame Martin.7 All diese zum Haushalt gehörigen Personen, inklusive der Mägde, waren am Geschäftsleben beteiligt und den Partnern bekannt. Man darf vermuten, dass auch im Unternehmen Nolin zahlreiche Personen beschäftigt waren: Kupferste-cher, Drucker, Kopisten und Zeichner etwa. Der jeweilige Anteil ist kaum genau zu bestimmen, aber zumindest darf als zweifelhaft gelten, dass Guillaume Delisle oder Nolin nur Hilfsarbeiten von anderen ausführen ließen. Das Merkmal dieser Arbeits-weise im Haushalt bestand ja gerade darin, dass man gemeinsam lebte und arbeitete. Die Personen derer, die intellektuelle Eigentumsrechte einklagen bzw. als Plagiatoren verklagt werden konnten, erscheinen vor diesem Hintergrund nicht als abgrenzbare Individuen, sondern als Vertreter kollektiver Formationen von Haushaltsökonomien, die unter dem Label des (meist männlichen) Haushaltsvorstandes auftraten. Innerhalb dieser (durch Verwandte, Angestellte und Freunde formierten) Haushaltsökonomien war ein dauerhafter Austausch von Kenntnissen und Fertigkeiten gegeben, ohne dass es zu Plagiatsvorwürfen gekommen wäre. Keiner der Reisenden etwa, die die Delisle

7 Vgl. Dawson (2000), S. 21–30, 101ff., 156ff., 181. Archives Nationales de France, fond de la marine, 2JJ 60 (v.a. geschäftliche Korrespondenz der Familie Delisle 1701–1725), z.B. 9, 90, 96, 107. Bibliothèque Nationale de France, nouvelles acquisitions françaises, Ms. 9289 (Korrespondenz Claude Delisle 1686–1703).

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so gewissenhaft befragten, hat diese des Plagiats bezichtigt. Der Transfer innerhalb der Haushaltsökonomie war erwünscht. Nach außen aber klagte der Haushaltsvorstand die Rechte ein bzw. musste sich stellvertretend für den Haushalt gerichtlich verantworten. Intellektuelles Eigentum bezog sich nicht auf Individuen, sondern auf Kollektive.

Der öffentlich in Journalen geführte Prioritätsstreit zwischen Delisle und Nolin führte zu keinem Ergebnis, und so klagte Delisle nach fünf Jahren vor Gericht. Inner-halb dieses förmlichen Prozesses wurden dann, ganz nach den Vorstellungen Delisles, Gutachter aus der Académie des Sciences berufen, die die Qualität der Karten und die Kenntnisse ihrer Produzenten prüfen sollten. Wenig überraschend kamen sie zu dem Urteil, dass Nolin nur über rudimentäre astronomische und mathematische Kennt-nisse verfügte und daher kopiert haben musste. Entsprechend erging das Urteil: Nolin musste 50 Livres Strafe zahlen und die Auflage seiner Karten und die Druckplatten wurden konfisziert und zerstört.8

III. Der Handwerker und der Gelehrte – Autorschaft und intellektuelles Eigentum

Man könnte nun diesen Streit dahingehend interpretieren, dass ein neues Unterneh-men (Delisle) ein etabliertes (Nolin) erfolgreich von Markt verdrängte. Die öffentlich geführte Debatte und der Ausgang des Prozesses waren Werbung für Delisle und die Qualität seiner Karten, die sich außerordentlich gut verkauften. Gewiss haben diese ökonomischen Gründe auch eine Rolle gespielt, doch weist die Motivlage weiterge-hende Schichten auf. Der Konflikt widerspiegelte zwei Arten, Kartografie zu konzi-pieren und zu praktizieren. Damit waren aber auch zwei verschiedene Logiken von Eigentum und Autorschaft verbunden.

Auf der einen Seite befindet sich Nolin, der an seinem Privileg festhielt. Dieses bezog sich auf seine publizierte Karte, und folgerichtig verwies er immer wieder darauf, dass diese vier Monate vor den Globen der Delisles erschienen war. Die Karte war hier ein materieller, abgrenzbarer Gegenstand, der durch das Privileg einen Schutz vor unrecht-mäßigem Nachdruck erhielt. Privilegien, ähnlich wie Patente9, dienten der Kontrolle und merkantilen Wirtschaftsförderung in dem Bereich, der nicht der Zunftordnung unterworfen war. Sie waren nicht nur zeitlich befristet (bis maximal 20 Jahre) und be-zogen sich auf ein konkretes Objekt (und nicht die Idee davon), sondern waren auf ein begrenztes herrschaftliches Territorium beschränkt. Vergeben wurden sie im Rahmen

8 Archives Nationales de France, fond de la marine, Ms. 2JJ 91, Heft 8: Extrait des Registres du Conseil d‘Etat.

9 Vgl. dazu, auch in Abgrenzung zum intellektuellen Eigentum, Biagioli 2006.

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der Patronage von den jeweiligen Landesherren. Geschützt war also für einen zeitlich und räumlich begrenzten Bereich ein Objekt als Produkt und Ware, unabhängig da-von, wer etwas zuerst erfunden oder entdeckt hatte. Nolin verhielt sich im Rahmen des Privilegienwesens als Handwerker und Unternehmer vollkommen angemessen. Er pochte auf sein Privileg und darauf, dass er seine Angaben aus Werken hatte, die „in den Händen des Publikums“ seien (Journal des Sçavants 1700/XXVIII, S. 321), d.h. gedruckt und damit zur freien Verfügung standen. Eigentum war für ihn (wie für einen Großteil der Zeitgenossen) etwas sehr Umgrenztes und materiell Konkretes, und ihn dürfte der Streit selbst fast noch mehr überrascht haben als dessen für ihn ungünsti-ger Ausgang. Der Gedanke des Schutzes von intellektuellem Eigentum war ihm voll-kommen fremd – er war Verleger, der ein gültiges Privileg für den Verkauf von Karten besaß, die von Coronelli oder Tralage gezeichnet und berechnet worden waren, von anderen in Kupfer gestochen und gedruckt. Er produzierte seine Karten erfolgreich im Verlag und war in mächtige Patronageverhältnisse eingebunden. Als géographe de S.A. Monsieur war er Klient des Herzogs von Orléans, und 1701 konnte er dem sogar den Titel des géographe du roi hinzufügen. Sein gelehrter Freund, de Tralage, war zudem Neffe des lieutenant général de police, La Reynie.

Guillaume Delisle hingegen präsentierte sich in einem ganz anderen Wertesystem. Sein Vater verfolgte für ihn, und damit für den Haushalt, eine andere Strategie, die aus dem Kartografenhandwerker einen Gelehrten machte. Der Plagiatsvorwurf wurde nicht mit der Publikation begründet und konnte es nicht werden, sondern nur mit der Erstentdeckung. Anerkennung von Erstentdeckungen war integraler Bestandteil der Tauschkultur unter Gelehrten, nicht aber justiziabel. Die ehrende Erinnerung an den Erfinder oder Entdecker war nicht zeitlich oder räumlich beschränkt, wie es Patente und Privilegien waren, sondern galt prinzipiell und dauerhaft, unabhängig auch vom Besitzer z.B. einer exotischen Pflanze. Ökonomisch-rechtlicher Besitz und intellektu-elles Eigentum traten im gelehrten System der Erstentdeckung auseinander.10

Machen wir uns die Unterschiede in den beiden Wertesystemen Privilegienwesen und intellektuelles Eigentum noch einmal klar: Ein Privileg oder Patent war zeitlich befristet und schützte den monopolisierten Verkauf eines spezifischen Produkts, un-abhängig davon, wer es ursprünglich erfunden hatte, unabhängig auch davon, wer es produzierte. Ein Privileg konnte verkauft und abgetreten werden. Das berühmte Berliner Blau beispielsweise, der erste synthetische Farbstoff, ist von dem Alchemisten Johann Konrad Dippel zusammen mit seinem Gehilfen Diessbach in Berlin erfun-den worden, unbestritten von allen Zeitgenossen. Das Privileg darauf erhielt aber der Berliner Universalgelehrte Johann Leonhard Frisch, der sich nach Dippels Weggang

10 Vgl. zu diesen Begriffen von Besitz und Eigentum, bzw. property und propriety, ebenso in Bezug auf die Genese von Urheberrecht und Autorschaft in einem Plagiatsstreit in der Mitte des 18. Jahrhunderts: Rose 1994.

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aus Berlin dessen Gehilfen verpflichtete und aus der Vermarktung des Farbstoffs nicht unerheblich Einnahmen erzielte. Freimütig berichtete er an Leibniz: „Ich lasse gern allen den Ruhm der Erfindung, aber es hat sie sonst keiner als ich. H Diessbach hat die Arbeit davon, welche mir zu viel Zeit von meinen studiis wegnehmen würde. Er war neulich todkranck, da wir dann beide eine solche disposition gemacht, das das secretum keiner von uns beiden verlieren kann. In Handgriffen ist er in der Chymie vortrefflich, aber er hat kein fundament der Wissenschafft und der Natur. Ich habe ihn wegen seiner treue und willigkeit über 14 Jahr den meisten Unterhalt gegeben.“ (Fischer 1896, Nr. 29). Frisch überließ das intellektuelle Dippel und Diessbach; letz-tere produzierten den Farbstoff; Frisch aber hielt das Privileg daran und vermarktete das Produkt, eifersüchtig auf Geheimhaltung des Rezepts achtend. Das intellektuelle Eigentum war nicht mit dem Privileg zur Vermarktung verknüpft und auch nicht mit dem Besitz des Rezepts.

Ganz anders verhält sich hingegen das System der Erstentdeckung – der „Ruhm der Erfindung“. Gelehrte Ehre drückte sich darin aus, die mit der Erstentdeckung an-erkannt werden sollte. Die Erstentdeckung beinhaltete das zeitlich und räumlich nicht beschränkte intellektuelle Eigentum an der Entdeckung, band den Namen des Ge-lehrten dauerhaft an sich. Das intellektuelle Eigentum konnte nicht abgetreten werden – es verblieb, auch über den Tod hinaus, beim Erstentdecker, auch wenn das Objekt längst im Besitz Anderer war. Eine merkwürdige und neue Art von Eigentum war das – es bestand nicht (das versuchte ja Delisle ständig deutlich zu machen) in einem Glo-bus oder Karten, sondern in Ideen, Konzepten und Herstellungsweisen. Diese konnten sich in konkreten Objekten materialisieren, beispielsweise in einem Globus, einer Spa-nienkarte oder der Weltkarte Nolins, der nach dieser Logik Delisle seines Eigentums daran beraubt hatte. Hatte nun aber ein Gelehrter zuerst eine Pflanze entdeckt, einen neuen Stern ausfindig gemacht oder eine mathematische Formel ersonnen, so verlangte er indes nicht, wie im Privileg, die alleinige Verfügung darüber. Ganz im Gegenteil sollten die Informationen ja frei verfügbar sein – allerdings nur unter Anerkennung seiner Erstentdeckung. Diese Anerkennung leisteten Gelehrte, wenn sie Informati-onen und Wissensobjekte austauschten. Intellektuelles Eigentum und Erstentdeckung beruhten auf den Kommunikationspraktiken der Gelehrten untereinander, nicht auf herrschaftlicher Rechtsprechung und Schutzgewährung. Da intellektuelles Eigentum nicht formal geschützt war, kam es zu den häufigen Streitigkeiten darum, oft nicht zu trennen von Ehrkonflikten.

Mit dem Anspruch der Erstentdeckung forderte auch Delisle zugleich die Anerken-nung als Gelehrter. Der Streit sollte genau dieses wohl auch erreichen. Die gelehrten Freunde Delisles wurden dahin gebracht, Position zu beziehen und ihn als den ihren anzuerkennen. Die Loyalität der neuen gelehrten Freunde wurde getestet. Nicht zufällig sind die Gutachter (eigentlich Richter) des Prozesses vier Mitglieder der Académie des

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Sciences, und nicht andere Kartografen. Guillaume Delisle hatte mit dem Akademiker Jacques Cassini zusammen bei dessen Vater im Observatorium der Académie gelernt. Dieser war nun Gutachter in seinem Prozess, und auch die anderen Gutachter mussten ihm bekannt sein. Für Guillaume Delisle war diese Strategie erfolgreich: 1702 (der Streit mit Nolin war noch im Gange) wurde er in die Académie des Sciences aufgenommen – als Schüler Cassinis. Langfristig profitierte der ganze Haushalt von diesem Aufstieg in den gelehrten Stand: 1714 bzw. 1725 wurden die jüngeren Brüder Guillaumes, Joseph-Nicolas (1688–1768) und Louis (?-1741), ebenfalls in die Académie berufen.

Kartografie oder Geografie waren keine Fächer in der Académie, die sich neben den medizinischen Wissenschaften der Astronomie, Mathematik und Mechanik widmete. Kartografie galt als produzierendes Handwerk, nicht als gelehrte Wissenschaft; Geo-grafie war eher ein Teil von Geschichte. Über das Handwerk wollten und sollten die Akademiker aber im Sinne merkantilistischer Wirtschaftsförderung Kontrolle erlangen. Die Académie war kurz nach ihrer Gründung von Colbert damit beauftragt worden, Maschinen und Instrumente zu prüfen (Gallon 1735), was praktisch einer Patentie-rung gleich kam. Die Erkenntnisse der Gelehrten sollten möglichst schnell angewendet werden im Handwerk.11 Systematisch wurden Handwerke erforscht und beschrieben und Verbesserungen angemahnt. Genau dahingehend hatte Delisle argumentiert: Um Kartograf sein zu können, musste man die gelehrten Methoden der Astronomie, Ma-thematik und Geografie beherrschen. – Es gab keine Zunft der Kartografen; aber De-lisle und die akademischen Gutachter schlossen Nolin symbolisch aus der imaginierten Korporation der Kartografen aus, mit den Mitteln der gelehrten Welt.

Delisle hatte sich im Verlauf des Prozesses als Gelehrter erwiesen und von den Handwerkern abgegrenzt; er und seine Brüder wurden als Astronomen in die Acadé-mie aufgenommen. Ein Mittel zur Anerkennung als naturforschender Gelehrter war die Erstentdeckung, die in Prioritätsstreitigkeiten verhandelt wurde. Erstentdeckung schließt dabei an eine spezifisch neuzeitliche Kultur der Curiositas ebenso an wie an Teile der aristokratischen Kultur, in der Neues und Seltenes repräsentative Funkti-onen hatte (z.B. in Wunderkammern). Es war eine Frage der gelehrten Ehre, auf der Anerkennung einer Erstentdeckung zu beharren und das intellektuelle Eigentum zu reklamieren – zur Not in Plagiatsstreitigkeiten. Entsprechend häufig findet man diese Streitigkeiten zwischen Gelehrten.

Verbunden mit dem Prinzip der Erstentdeckung und des intellektuellen Eigentums war eine spezifische Vorstellung von Autorschaft. Autor war nicht unbedingt derjeni-ge, der etwas eigenhändig geschrieben oder diktiert hatte, auch nicht unbedingt der, der die Arbeit dazu verrichtete oder zumindest anordnete und überwachte. Robert

11 Die Reaktion der Handwerker auf diese „Hilfe“ schien recht verhalten gewesen zu sein: „les artisans se moc-quent de leurs raffinements sur les instruments“ notierte ein anonymer Verfasser dazu: Bibliothèque Nationale de France, nouvelles acquisitions françaises 4333: Recueil des choses diverses, vers 1675, Bl. 2v.

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Boyle beispielsweise publizierte 1680 eine Fortsetzung seiner Experimente mit der Vakuumpumpe. Im Vorwort erklärt er aber, dass er bei der Durchführung gar nicht hatte anwesend sein können, da er krank im Bett lag. Sein Assistent, der Hugenotte Denis Papin, hatte die Experimente durchgeführt, oft auch konzipiert, dafür die von ihm gebaute Vakuumpumpe benutzt und auch den Bericht davon niedergeschrieben. Papin hatte also eigentlich alles getan, erscheint aber nicht als Autor. Der Bericht wurde allein unter dem Namen Boyles veröffentlicht, und auch Papin selbst verweist später auf diese Experimente und die Publikation als Boyles Experimente und Boyles Buch.12 Verleugnet sich Papin, sind ihm die Autorschaft und das geistige Eigentum an den mit den Experimenten belegten Hypothesen nicht wichtig? Die Autorschaft lässt sich nicht allein durch die höhere Autorität Boyles begründen. Auch Papin war zuvor und danach als Autor durchaus vertreten und bekannt. Eine Erklärung dieses Autorkonzeptes dürfte wohl v.a. darin bestehen, dass Boyle in seinem Haushalt Papin beherbergte und die Experimente auf seine Kosten durchführen ließ. Die Herrschaft und Verantwortung über den sozioökonomischen Raum des Haushalts, in dem die Experimente stattfanden, begründeten den Anspruch auf Autorschaft und intellek-tuelles Eigentum. Außerhalb des Hauses musste dieser Anspruch anerkannt werden – wie die Erstentdeckung eines Steines, einer Blume, eines Sterns. Der Anspruch auf Autorschaft war verbunden mit dem System des intellektuellen Eigentums innerhalb gelehrter Anerkennungsverfahren. Erst in einem langsamen Prozess bis zum Ende des 18. Jahrhunderts sollte es dazu kommen, dass sich die zwei Systeme – intellektuelles Eigentum und ökonomischer Besitz – dauerhaft und prinzipell unabhängig von so-zialen Abhängigkeiten überlagerten und so etwas wie ein copyright geschaffen wurde (vgl. Chartier 2003).

Voraussetzung dafür war auch ein anderes Verständnis von Person im Sinne von generalisierbarer Individualität. Eine solche Vorstellung lässt sich für die Frühe Neuzeit kaum finden; stattdessen sollte man besser von einer Pluralität von Personkonzepten sprechen (Jancke/Ulbrich 2005). Das Autorschaftskonzept Boyles etwa war gebunden an die Vorstellung einer gelehrten persona, die sozioökonomische Unabhängigkeit, Herr-schaft über eine Haushaltsökonomie und die Integration in gelehrte Tauschökonomie (im Sinne der Anerkennung) beinhaltete. Eine individuell zuschreibbare Leistung war dafür nicht nötig. Papin erfüllt die beiden ersten Bedingungen nicht; Nolin nicht die letztere – beide konnten daher gelehrte Autorschaft nicht für sich reklamieren.

12 Vgl. Shapin 1989. Einzelnachweise: Boyle, Robert: „Experimentorum novorum physico-mechanicorum con-tinuatio secunda, London 1680“, in: The Works of Robert Boyle, hrsg. von Michael Hunter, Edward B. Dav-ies, Bd. 9, London 2000, S. 121–263. Verweise Papins auf das Buch und die Experimente: Birch, Thomas: The History of the Royal Society of London, Bd. III, Reprint New York 1968, S. 517. Papin, Denis: La Manière d‘amolir les os, Nouvelle Edition revûe & augmentée d‘une Seconde Partie, Amsterdam 1688, 2. Teil, S. 96 und 99.

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Delisle versicherte sich gelehrte Anerkennung und verweigerte sie Nolin. Der hat-te ein anderes Konzept von Autorschaft, welches nicht durch gelehrte Anerkennung gegeben war, sondern durch Publikation, durch das auf seinen Namen laufende Privi-leg, durch Verkauf eines Produkts. Beide benutzten unterschiedliche Wertesysteme zur Begründung ihrer Ansprüche, der eine als Gelehrter, der andere als Handwerker und Unternehmer. Je unterschiedliche Vorstellungen von Eigentum, Autorschaft, Ehre, Per-son, kartografischen Methoden und Begründungen prallten hier aufeinander, und als Plagiat wurde das bezeichnet, was nicht den gelehrten Vorstellungen entsprach. Nolin war nicht weniger gebildet als Delisle, auch die kollektive Arbeitsweise beider Unter-nehmen ähnelte sich; sie präsentierten sich nur in verschiedenen Ordnungssystemen: Nolin in dem des ökonomischen Besitzes, der durch Privilegien geschützt war; Delisle in dem des geistigen Eigentums, der durch gelehrte Interaktion begründet wurde. Mit dem Plagiatsvorwurf wurde aber ein Ordnungssystem kriminalisiert.

Im 17. und 18. Jahrhundert waren diese Fragen der Abgrenzung zwischen Gelehrten und Handwerkern, zwischen Wissenschaft und Handwerk, zwischen intellektuellem Eigentum und ökonomischem Besitz, zwischen Autorschaft und handelnden Personen noch höchst ungeklärt. Das ermöglichte und erforderte auch die vielen Prioritätsstrei-tigkeiten und Plagiatsvorwürfe. Nolin geriet unter die Räder dieser unübersichtlichen Gemengelage, wohl auch, weil er sich aus seiner Position eines Quasi-Monopolisten heraus unklug verhielt. Nach dem 1706 verlorenen Prozess reagierte er aber. 1708 publizierte er eine weitere Weltkarte, gar nicht so verschieden von seiner ersten. Ein erneuter Plagiatsstreit entstand nun aber nicht – wohl auch deshalb, weil er sich den gelehrten Gepflogenheiten anpasste. Er widmete die Karte keinem anderen als dem Präsidenten der Académie des Sciences und wies darauf hin, sie nach Entwürfen des Akademikers Philippe de la Hire entwickelt zu haben13. Damit genügte er dem Prinzip der Erstentdeckung und der Schaffung von Allianzen in der Académie.

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13 Nolin, Jean Baptiste: Le Globe terrestre …, dressé sur la projection de Mr. De la Hyre de l‘Académie royale des Sciences …, dédié à Mgr. L‘Abbé Bignon, Paris 1708.

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