Akrasie bei Aristoteles: Die erste Aporie

30
Klaus Corcilius 8. AKRASIE BEI ARISTOTELES: DIE ERSTE APORIE 1. Einleitung 1 Aristoteles untersucht im siebten Buch der Nikomachischen Ethik unter dem Titel ‚Akrasie‘ 2 eine ganze Reihe von Problemen (insgesamt sechs Aporien), zu denen nur unter anderem auch das in der ersten Aporie behandelte Problem des Handelns angesichts besseren Wissens zählt. Auf dieses Problem der sogenannten ‚schwachen‘ Akrasie möchte ich mich hier konzentrieren. Ich werde dabei die Deutung vorschla- gen, die mir am einfachsten zu sein scheint. Sie führt sich auf eine bestimmte Auf- fassung von der argumentativen Struktur der relevanten Textabschnitte zurück (EN 1145b21–1146a9 und 1146b8–1147b20), für die ich an dieser Stelle nicht mehr anführen kann als ihre Einfachheit und den Umstand, dass sie den Text ohne Ände- rungen und gezwungen wirkende Übersetzungen zu verstehen erlaubt: Aristoteles formuliert seine Fragestellung, indem er von dem Sokratischen Problem der Akrasie ausgeht. Er übernimmt dessen Fragestellung aber nicht, sondern kritisiert sie, um so zur Formulierung seiner eigenen Fragestellung zu gelangen. Er stellt zwei Fragen, die er der Reihe nach beantwortet: 1. Handelt es sich bei dem Wissen des Akratikers um Wissen? 2. Um welche Weise des Wissens handelt es sich? Dabei geht er so vor, dass er die erste Frage in einem Anlauf beantwortet. Die zweite Frage beantwortet er in vier Anläufen, von denen sich die ersten drei vom vierten unterscheiden. Die verschiedenen Lösungen der Fragen bauen nicht aufeinander auf. Sie stellen jede für sich eigenständige Antworten dar, von denen erst zum Schluss die letzten beiden miteinander verbunden werden. Vorgehen: Mir ist an der Darstellung der Aporie in ihrem argumentativen Zu- sammenhang gelegen. Ich werde hier daher den gesamten relevanten Text übersetzt abdrucken und in Abschnitte einteilen, die Stück für Stück kommentiert werden. Dabei werde ich versuchen, mich allein auf den Text von EN VII zu stützen, ohne spezielle Annahmen zur Aristotelischen Handlungstheorie außerhalb der Nikoma- chischen Ethik vorauszusetzen. Aus Platzgründen muss eine ausdrückliche Ausein- andersetzung mit der Sekundärliteratur leider ausbleiben. Gleiches gilt für einen (eigentlich erforderlichen) ausführlicheren Vergleich des Aristotelischen mit dem 1 Ich danke allen Teilnehmern der Tagung. Ich habe versucht, im Text auf ihre Anregungen und Kritik einzugehen. Besonders danken möchte ich Philipp Brüllmann, Benjamin Kiesewetter und Christof Rapp. 2 Ich verzichte auf eine Übersetzung, um inhaltliche Festlegungen zu vermeiden. Aristoteles er- klärt das Wort über seine Etymologie: „(…) ‚selbstbeherrscht‘ (ejgkrathv~) und ‚unbeherrscht‘ (ajkrathv~) wird ausgesagt, um dadurch das Herrschen (kratei`n) bzw. nicht (Herrschen) der Vernunft (nou`~) zu bezeichnen (…)“ (EN 1168b34f.).

Transcript of Akrasie bei Aristoteles: Die erste Aporie

Klaus Corcilius

8. AKRASIE BEI ARISTOTELES: DIE ERSTE APORIE

1. Einleitung1

Aristoteles untersucht im siebten Buch der Nikomachischen Ethik unter dem Titel ‚Akrasie‘2 eine ganze Reihe von Problemen (insgesamt sechs Aporien), zu denen nur unter anderem auch das in der ersten Aporie behandelte Problem des Handelns angesichts besseren Wissens zählt. Auf dieses Problem der sogenannten ‚schwachen‘ Akrasie möchte ich mich hier konzentrieren. Ich werde dabei die Deutung vorschla-gen, die mir am einfachsten zu sein scheint. Sie führt sich auf eine bestimmte Auf-fassung von der argumentativen Struktur der relevanten Textabschnitte zurück (EN 1145b21–1146a9 und 1146b8–1147b20), für die ich an dieser Stelle nicht mehr anführen kann als ihre Einfachheit und den Umstand, dass sie den Text ohne Ände-rungen und gezwungen wirkende Übersetzungen zu verstehen erlaubt: Aristoteles formuliert seine Fragestellung, indem er von dem Sokratischen Problem der Akrasie ausgeht. Er übernimmt dessen Fragestellung aber nicht, sondern kritisiert sie, um so zur Formulierung seiner eigenen Fragestellung zu gelangen. Er stellt zwei Fragen, die er der Reihe nach beantwortet: 1. Handelt es sich bei dem Wissen des Akratikers um Wissen? 2. Um welche Weise des Wissens handelt es sich? Dabei geht er so vor, dass er die erste Frage in einem Anlauf beantwortet. Die zweite Frage beantwortet er in vier Anläufen, von denen sich die ersten drei vom vierten unterscheiden. Die verschiedenen Lösungen der Fragen bauen nicht aufeinander auf. Sie stellen jede für sich eigenständige Antworten dar, von denen erst zum Schluss die letzten beiden miteinander verbunden werden.

Vorgehen: Mir ist an der Darstellung der Aporie in ihrem argumentativen Zu-sammenhang gelegen. Ich werde hier daher den gesamten relevanten Text übersetzt abdrucken und in Abschnitte einteilen, die Stück für Stück kommentiert werden. Dabei werde ich versuchen, mich allein auf den Text von EN VII zu stützen, ohne spezielle Annahmen zur Aristotelischen Handlungstheorie außerhalb der Nikoma-chischen Ethik vorauszusetzen. Aus Platzgründen muss eine ausdrückliche Ausein-andersetzung mit der Sekundärliteratur leider ausbleiben. Gleiches gilt für einen (eigentlich erforderlichen) ausführlicheren Vergleich des Aristotelischen mit dem

1 Ich danke allen Teilnehmern der Tagung. Ich habe versucht, im Text auf ihre Anregungen und Kritik einzugehen. Besonders danken möchte ich Philipp Brüllmann, Benjamin Kiesewetter und Christof Rapp.

2 Ich verzichte auf eine Übersetzung, um inhaltliche Festlegungen zu vermeiden. Aristoteles er-klärt das Wort über seine Etymologie: „(…) ‚selbstbeherrscht‘ (ejgkrathv~) und ‚unbeherrscht‘ (ajkrathv~) wird ausgesagt, um dadurch das Herrschen (kratei`n) bzw. nicht (Herrschen) der Vernunft (nou`~) zu bezeichnen (…)“ (EN 1168b34f.).

144 Klaus Corcilius

modernen Verständnis des ‚Problems‘ der Akrasie. Der vorgegebene Rahmen reicht kaum, um meine eigene Deutung zum Vortrag zu bringen.

Ergebnis: Aristoteles beschreibt mit dem schwachen Akratiker nur einen einzi-gen, und nicht mehrere Verhaltenstypen. Dabei handelt es sich um eine bestimmte Form der Selbsttäuschung, nämlich Selbsttäuschung im Hinblick auf Handlungsge-genstände vor der Tat, die man als ‚Schönreden‘ einer begehrten, aber verbotenen Handlungsweise bezeichnen kann: Der schwache Akratiker handelt seinem guten Vorsatz, Handlungen vom Typ A nicht zu tun, nicht in offener Weise zuwider, son-dern er handelt angesichts eines begehrten Handlungsgegenstandes des Typs A nicht in der seinem guten Vorsatz entsprechenden Weise, um den Gegenstand dann unter eine andere Beschreibung (B) zu bringen, die ihm dessen Genuss gestattet, ohne zum offenen Widerspruch mit A zu führen. Dabei unterläuft ihm/begeht er eine Selbst-täuschung nur hinsichtlich der moralischen Implikationen von B. Dies kann so weit gehen, dass er sich angesichts des Genusses des Gegenstandes sagen kann ‚dies hier soll ich nicht tun‘ (A), ohne dass er sich den Widerspruch zu seiner gegenwärtigen Handlungsweise klar macht. Möglich wird dies dadurch, dass der schwache Akra-tiker mit B über eine Beschreibung seiner Handlungsweise verfügt, die ihm deswe-gen, weil sie seinem guten Vorsatz nicht als Wissensgehalt, sondern nur als hand-lungsanleitender Satz widerspricht, (für kurze Zeit) die Illusion verschafft, sie sei moralisch gerechtfertigt. Die spezifische Verfehlung des schwachen Akratikers be-steht darin, dass er sich aufgrund seiner starken Begierde mit dieser (fadenscheini-gen) Rechtfertigung zufrieden gibt und B tut, ohne sich den praktischen Widerspruch zu A einzugestehen. In solchen Fällen steht das motivationale Verhalten des schwa-chen Akratikers in einer solchen Relation zu seinem auf den Einzelgegenstand an-gewandten Wissen von A, in der auch Schauspieler zu dem Wissen ihres Rollentex-tes stehen, das sie nicht im Ernst auf ihre eigene, nicht-fiktionale Person beziehen. Der schwache Akratiker ist angesichts des begehrten Gegenstandes vorübergehend nicht in der Lage, seinen guten Vorsatz aus eigener Kraft umzusetzen. Da sich sein Zustand aber auf seine eigenen, im körperlichen Normalzustand empfundenen Emo-tionen zurückführt und er über eine allgemeine Beschreibung seiner Tat verfügt, betrachtet Aristoteles ihn als für sein Handeln voll verantwortlich.

2. Die Darstellung der Ersten Aporie

Aristoteles verknüpft die Darstellung der ersten Aporie zur Akrasie mit der Person des Sokrates. Er übernimmt aber nicht einfach dessen Sichtweise des Problems, sondern benutzt sie, um sich dadurch seine eigene Fragestellung zu erarbeiten:

T1 „Manche behaupten, es könne sich dabei nicht um jemanden handeln, der wissend ist: Denn es wäre schlimm, wenn, obwohl Wissen im Menschen ist, wie Sokrates glaubte, etwas anderes die Oberhand gewinnt und es so wie einen Sklaven mit sich herumschleppte. Sokrates bestritt die Sache nämlich ganz und gar, in der Annahme, es gebe keine Akrasie, denn niemand würde, obwohl er eine entsprechende Annahme hat, wider das Beste handeln, sondern aufgrund von Unkenntnis.“ (EN 1145b22–27)

1458. Akrasie bei Aristoteles: Die erste Aporie

Seine Darstellung der Sokratischen Position lässt sich als ein Dilemma aus zwei empirisch miteinander unvereinbaren Sätzen begreifen: (1) Wissen (ejpisthvmh) von X beinhaltet Handeln in Übereinstimmung mit X (2) Akrasie ist ein Handeln wider besseres WissenBeide Sätze können nicht gleichzeitig der Fall sein: Entweder ist Akrasie ein Handeln wider besseres Wissen, oder man handelt stets in Übereinstimmung mit seinem Wissen, weil Wissen von X auch Handeln in Übereinstimmung mit X beinhaltet. Wenn (1) gilt, kann (2) nicht gelten, und wenn (2) gilt, kann (1) nicht gelten.

In der Darstellung des Aristoteles ‚löst‘ Sokrates dieses Dilemma so, dass er (1) gelten lässt und (2) verwirft. Dann formuliert er (2) auf eine solche Weise neu, dass er mit (1) zusammenstimmt: (2’) Akrasie ist ein Handeln aufgrund von Unkenntnis3

3. Aristoteles’ Kritik an der Sokratischen Position

T2 „Dieses Argument widerstreitet allerdings den Phänomenen in deutlicher Weise, und es wäre erforderlich gewesen, für dieses Widerfahrnis zu untersuchen, wenn es aufgrund von Unkennt-nis zustande kommt, welches die Weise der Unkenntnis ist. Denn dass derjenige, der sich akra-tisch verhält, jedenfalls nicht glaubt (er werde dies tun), bevor er in diesen Zustand geraten ist, ist klar.“ (EN 1145b27–31)

Anstatt das Offensichtliche zu bestreiten, so die Kritik des Aristoteles, hätte Sokrates untersuchen sollen, welche Weise der Unkenntnis es ist (givnetai), aufgrund derer akratisches Verhalten zustande kommt, wenn es aufgrund von Unkenntnis zustande kommt. Dabei wird die These, dass akratisches Verhalten aufgrund von Unkenntnis zustande kommt, von Aristoteles nicht unterstützt, sondern er argumentiert hier nur auf dem Boden der Sokratischen Position: Selbst wenn es sich um Unkenntnis han-deln sollte, so sein Argument, wäre erforderlich gewesen, genauer zu bestimmten, welches die Weise dieser Unkenntnis ist. Es kann sich dabei nämlich nicht um her-kömmliche Unkenntnis im Sinne einer fehlenden Bekanntschaft mit einem Sachver-halt handeln, wie Sokrates dies angenommen zu haben scheint. Und zwar deswegen nicht, weil es eine der allgemein anerkannten Meinungen über die Akrasie ist, dass der Akratiker mit seinem Verhalten nicht bei dem bleibt, was seine Überlegung ihm Richtiges vorschreibt (vgl. EN 1145b10–12). Er muss also bereits über Wissen da-

3 (2’) kann man leicht aus einer Umkehrung von (1) erhalten: Wissen von X beinhaltet Handeln in Übereinstimmung mit X. Also beinhaltet Handeln, dass nicht mit X übereinstimmt, Nicht-Wissen/Unkenntnis von X. Dies scheint allerdings nur dann zu gelten, wenn man annimmt, dass Menschen stets ihrem besten Wissen entsprechend handeln und daher alle Handlungen in der einen oder anderen Weise auch aufgrund von Wissen (bzw. Unkenntnis) zustande kommen. Man muss dies aber keinesfalls annehmen, und Aristoteles tut dies bekanntlich auch nicht. In EE 1216b3–10 beschreibt er Sokrates als jemanden, der ohne Weiteres davon ausgegangen ist, dass epistemische Gehalte motivational hinreichend seien (vgl. EN 1144b28–30; 1116b4f.). Von dieser Auffassung scheint er auch hier in EN VII auszugehen. Im Protagoras lässt Platon So-krates dagegen mit dem sogenannten ‚hedonistischen Kalkül‘ einen gesetzesmäßigen Zusam-menhang zwischen Wissen/Unwissen und Motivation herstellen, der ein Problembewusstsein in dieser Richtung deutlich erkennen lässt (Prot. 353Cff.).

146 Klaus Corcilius

von, was das Richtige zu tun ist, verfügt haben. Der Akratiker hat Wissen davon, was zu tun ist, und bevor (privn) er in den akratischen Zustand gerät, glaubt er auch, er solle so handeln. Sokrates’ ‚Lösung‘ des Dilemmas berücksichtigt dies nicht und wird damit weder dem Phänomen noch den verbreiteten Intuitionen dazu gerecht. Im Folgenden wird die Sokratische ‚Lösung‘ daher keine Rolle mehr spielen. Mit Satz (1) der Sokratischen Position, demzufolge Wissen von X auch Handeln in Übereinstimmung mit X beinhaltet, wird Aristoteles sich dagegen auseinandersetzen. Er tut dies, indem er gleich mehrfach zeigt, dass es sehr wohl denkbar ist, X zu wissen, ohne auch X entsprechend zu handeln. Vorher erwähnt er jedoch noch zwei (namentlich nicht zugeordnete) Versuche, durch Abänderung von Satz (2) den Sok-ratischen Wissensbegriff beizubehalten, ohne deshalb das Phänomen der Akrasie leugnen zu müssen:

4. Rettungsversuch 1: Akrasie als Handeln wider die eigene Meinung

T3 „Es gibt manche, die dies teils zugeben und teils nicht: Sie stimmen nämlich damit überein, dass es nichts Stärkeres gibt als das Wissen, damit jedoch, dass niemand wider das, was ihm das Beste zu sein scheint, handelt, stimmen sie nicht überein, und aus diesem Grund behaupten sie, dass der Akratiker nicht als einer, der Wissen hat, von den Lüsten überwunden wird, sondern Meinung.“ (EN 1145b31–35)

Die Kritik folgt auf dem Fuße:

T4 „Indessen, wenn es schon Meinung und nicht Wissen ist und die (der Lust) entgegenstehende Annahme nicht stark ist, sondern schwach, so wie bei denen, die ungewiss sind, dann hat man Verständnis dafür, wenn jemand entgegen heftiger Begierden nicht bei diesen (Annahmen) bleibt. Für die Schlechtigkeit hat man dagegen kein Verständnis und auch nicht für irgendeine von den anderen tadelnswerten (Verhaltensweisen).“ (EN 1145b36–1146a4)

Aristoteles lässt den Versuch nicht gelten. Sein Argument ist, dass ein wichtiges Merkmal der Akrasie dadurch nicht erklärt werden könnte: Akrasie wird in der mo-ralischen Praxis der Menschen getadelt. Das Unterliegen nur schwacher Annahmen unter heftige Begierden jedoch, wie sie für den Akratiker kennzeichnend sind, ist nichts, wofür Tadel ausgesprochen würde, sondern für derartige Verhaltensweisen bringt man Verständnis (suggnwvmh) auf. Warum sollte der Akratiker standhaft bei seinem Entschluss bleiben, wenn er sich noch nicht einmal sicher ist, dass er die von ihm begehrte Verhaltensweise unterlassen sollte? Also, so der implizite Schluss, trifft die in T 3 gegebene Erklärung nicht den Tatbestand der Akrasie.

Es folgt ein zweiter Versuch, Satz (2) zu modifizieren, um Satz (1) unter Wah-rung der Phänomene beizubehalten:

1478. Akrasie bei Aristoteles: Die erste Aporie

5. Rettungsversuch 2: Akrasie als Handeln wider die eigene praktische Weisheit

T5 „Also ist es (nicht Wissen, sondern) praktische Weisheit, die (der Lust) entgegensteht? Denn sie ist etwas sehr Starkes.“ (EN 1146a4f.)

Dieser Einwand versucht das Argument zu umgehen, mit welchem Aristoteles gerade den ersten Rettungsversuch zu Fall gebracht hat. Die praktische Weisheit (frovnhsi~) ist etwas sehr Starkes, jedoch ohne dabei Wissen (ejpisthvmh) zu sein.4 Wenn sie nun dasjenige ist, welches von den Begierden überwunden wird, würde das in T 4 geltend gemachte Kriterium des Überwindens einer starken Überzeugung und damit auch der Tatbestand der Akrasie erfüllt. Hier die Kritik:

T6 „Das ist aber abwegig. Es wird dann nämlich dieselbe Person gleichzeitig praktisch weise und akratisch sein und niemand würde sagen, es sei Sache des praktisch Weisen, freiwillig das Schlechteste zu tun. Außerdem wurde vorher bewiesen, dass der Weise einer ist, der tatsächlich handelt – er hat es nämlich mit äußersten (konkreten Einzeldingen) zu tun – und auch über die anderen Tugenden verfügt.“ (EN 1146a5–9)

Praktische Weisheit und Akrasie schließen sich in derselben Person wechselseitig aus. Und zwar sowohl, weil ihr gleichzeitiges Vorhandensein in derselben Person unseren diesbezüglichen Intuitionen zuwiderläuft, als auch, weil Aristoteles den praktisch Weisen (frovnimo~) als eine Person definiert, die nicht nur exzellent mit sich zurate geht, sondern auch tatsächlich so handelt (praktikov~).5 Dies kann für den Akratiker unmöglich zutreffen, da er ja gerade nicht bei seiner Überlegung bleibt. Ferner verfügt der praktisch Weise für Aristoteles neben der praktischen Weisheit auch über alle anderen Tugenden,6 und wer über die Tugenden verfügt, kann kein Akratiker sein, weil dieser ja freiwillig und tadelnswert handelt.

Die beiden Versuche in T 3 und T 5, den Sokratischen Ansatz zu retten, spielen in der weiteren Behandlung der ersten Aporie keine Rolle mehr. Es bleibt für Aris-toteles dabei, dass man, wenn man Annahme (1) beibehalten will, die Akrasie als ein Handeln wider besseres Wissen ansehen können muss und also die Annahmen (1) und (2) zusammen nicht bestehen können. Soweit schließt er sich der Sokra-tischen Auffassung an. Im Unterschied zu Sokrates versucht Aristoteles seine Lösung aber nicht mehr dadurch zu erreichen, dass er Satz (2) angreift, sondern Satz (1).

6. Aristoteles’ eigene Fragestellung und Lösungsansatz

Aristoteles geht in zwei Schritten vor: Zunächst geht er auf die Frage ein, ob es sich bei dem Wissen des Akratikers tatsächlich um Wissen handelt, und dann untersucht er, um welche Weise des Wissens es sich dabei handelt. Die Behandlung der ersten Aporie in EN VII dient der Klärung dieser beiden Fragen. Sie finden sich daher in

4 Auch für Aristoteles, vgl. EN 1140a33–b3.5 Vgl. EN 1140b4, b20f.; 1141b14–16.6 EN 1145a1f.

148 Klaus Corcilius

fast identischem Wortlaut sowohl zu Beginn als auch am Ende des mit ihrer Lösung befassten Textabschnittes:

T7 „Wir müssen also als erstes untersuchen, ob (Akratiker) wissend (handeln) oder nicht, und auf welche Weise.“ (EN 1146b8f.)

T8 „Darüber nun, ob es sich um einen Wissenden handelt oder nicht, und auf welche Weise es möglich ist, dass jemand der wissend ist, akratisch handelt, sei nun soviel gesagt.“ (EN 1147b17–19)

Hauptsächlicher Gegenstand der Untersuchung in der ersten Aporie ist damit Satz (1), demzufolge Wissen von X auch Handeln in Übereinstimmung mit X beinhaltet. Ihn greift Aristoteles, wie wir gleich sehen werden, in mehreren Anläufen an und versucht ihn zu falsifizieren. Satz (2) dagegen, demzufolge Akrasie ein Handeln wider besseres Wissen ist, wird im Verlauf der ersten Aporie nicht, oder zumindest nicht unmittelbar, bestritten. Die übergeordnete Frage, mit der Aristoteles am Anfang in die Schwierigkeiten der ersten Aporie einführt, ist dementsprechend nicht als ein Dilemma (wie bei Sokrates), sondern als eine einfache Frage formuliert:

T9 „Man könnte wohl darüber in Schwierigkeiten geraten, auf welche Weise jemand, der eine richtige Annahme hat, sich akratisch verhält.“ (EN 1145b21f.)

Diese übergeordnete Frage teilt sich, wie gesagt, in die zwei Fragen, ob es sich bei der Annahme des Akratikers tatsächlich um Wissen handelt und um welche Weise des Wissens es dabei geht. Aristoteles beantwortet die Fragen der Reihe nach: Die erste, ob das Wissen des Akratikers tatsächlich Wissen ist, wird als erstes und in einem Anlauf beantwortet. Frage 2 nach der Weise des Wissens beantwortet er da-gegen in vier verschiedenen Anläufen,7 wobei sich die ersten drei von dem vierten erheblich unterscheiden. Ich werde zunächst die ersten drei darstellen und sie dann gemeinsam diskutieren, bevor ich zur vierten Antwort komme.

7. Die Lösung der ersten Frage: Handelt es sich bei dem Wissen desAkratikers tatsächlich um Wissen?

Die erste Frage, ob es sich bei dem Wissen des Akratikers um Wissen handelt, be-antwortet Aristoteles in EN 1146b24–31:

T10 „Nun macht es hinsichtlich der Frage, ob es wahre Meinung und nicht Wissen ist, wider das man akratisch handelt, für die Erklärung keinen Unterschied. Denn manche von denen, die eine Meinung haben, haben keinerlei Zweifel, sondern glauben, genau zu wissen. Wenn also diejenigen, die meinen, dadurch eher als die Wissenden geneigt sind, wider ihre Annahmen zu handeln, dass sie nur schwache Überzeugungen haben, so wird sich Wissen in nichts von Mei-nung unterscheiden: Manche sind nämlich um nichts weniger davon überzeugt, was sie meinen, als andere davon, was sie wissen. Dies zeigt Heraklit.“

Die Antwort ist eindeutig: Das, worauf es bei der Akrasie ankommt, ist nicht die Wahrheit des Gewussten, sondern der Grad der subjektiven Überzeugung. Es spielt

7 Sprachlich zeigt sich die Unabhängigkeit der Antworten daran, dass nach dem ersten Anlauf in EN 1146b31 die anderen drei Anläufe jeweils mit einem ‚außerdem‘ (e[ti) einsetzen (1146b35, 1147a10 und 1147a24).

1498. Akrasie bei Aristoteles: Die erste Aporie

keine Rolle, ob es sich bei den Annahmen, um die es geht, um wahre Meinung oder um Wissen handelt, sondern nur, ob der Akratiker sie glaubt.8 Es könnten also alle möglichen Arten von Annahmen die Rolle des Wissens übernehmen und der Tatbe-stand der Akrasie bliebe dennoch erfüllt, solange die Akteure nur davon überzeugt sind. Eine ungerechtfertigte Annahme kann so ‚stärker‘ sein als das beste Wissen, solange der, der sie hat, nicht an ihr zweifelt.

Es handelt sich hierbei um ein Argument, das sich direkt gegen den Kern der Sokratischen Auffassung des Problems richtet, indem es prinzipiell den Status der Information als Kriterium dafür, über welche Art von Wissen der Akratiker verfügt, abweist und nur dessen subjektive Überzeugung gelten lässt. Wenn dies aber so ist, dann ist Meinung ebenso für die Erklärung des Phänomens geeignet wie Wissen. Sokrates und die anderen, die versucht haben, Satz (1) und (2) durch Abschwächung des Wissenskriteriums miteinander kompatibel zu machen, liegen demnach falsch, wenn sie aufgrund der Qualität der Annahme ‚Wissen‘ darauf schließen, es könne entweder keine Akrasie geben oder es handle sich dabei nur um ein Handeln wider die eigene Meinung. Wenn es um die motivationale Stärke und Schwäche episte-mischer Zustände geht, ist für Aristoteles nicht die objektive Geltung einer Annahme entscheidend, sondern die subjektive Überzeugung, die Akteure von ihr haben. Sokrates und die anderen haben daher, so der implizite Vorwurf, zwei Dinge mitein-ander vermengt, die nicht zusammen gehören, nämlich Fragen der Wissensrechtfer-tigung einerseits und Fragen der Motivation andererseits. ‚Stärke‘ und ‚Schwäche‘, zumindest in der Weise, in der Sokrates sie verstand, sind keine Eigenschaften des Wissens, sondern Eigenschaften der Akteure, die über Wissen verfügen. Wenn je-mand über Wissen verfügt, und sei dies auch Wissen davon, was das Richtige zu tun ist, so sagt die Wahrheit dieses Wissens noch nichts über das motivationale Verhal-ten dieser Person. Für die Erklärung (pro;~ to;n lovgon, 1146b25f.) der Akrasie macht es daher keinen Unterschied, ob es Meinung oder Wissen ist, wider das der Akratiker handelt. Im weiteren Verlauf wird Aristoteles daher folgerichtig in unterschiedsloser Weise von beiden Begriffen, Wissen und Meinung, Gebrauch machen, um die epis-temischen Zustände des Akratikers zu bezeichnen.9

Die gerade diskutierte Passage in T 10 wird übrigens häufig als ein Zusatzargu-ment gegen die in T 3 und T 4 diskutierte These verstanden, Akrasie sei ein Handeln wider die eigene Meinung. Dagegen spricht, dass Aristoteles hier offensichtlich ganz generell und in eigener Sache argumentiert (vgl. das pro;~ to;n lovgon in 1146b25f.), während er sich vorher gegen die gegnerische Position gewendet hat, Satz (1) da-durch zu retten, dass Satz (2) abgeändert wird zu ‚Akrasie ist Handeln wider die eigene Meinung‘. Dabei hatte er, um Satz (2) als solchen widerlegen zu können, die Gültigkeit von Satz (1), demzufolge Wissen von X auch Handeln in Übereinstim-

8 Vgl. auch die beiden vorherigen Vorkommnisse des Wortes ‚oi[etai‘ in 1145b30 und 1146b23 im Sinne subjektiver Überzeugung.

9 Dies ist auch Aristoteles’ naturphilosophische Position in der Erklärung der Ortsbewegung von Lebewesen: Die Frage, ob es sich bei dem Motiv in Wahrheit um ein Gut handelt oder nicht, ist für die Erklärung der Bewegung unerheblich, solange es dem Akteur/Lebewesen nur ein solches zu sein scheint, vgl. MA 700b28; DA 433a27–29; Ph. 195a25f.; Metaph. 1013b27f.; vgl. auch Top. 146b36–147a4.

150 Klaus Corcilius

mung mit X beinhaltet, noch gar nicht bestritten. Hier aber wendet er sich direkt gegen Satz (1): Wenn es bei der Erklärung der Akrasie nicht auf das objektive Ge-rechtfertigtsein von Annahmen, sondern nur die subjektive Überzeugung ankommt, dann kann der Sokratische Satz nicht mehr gelten, demzufolge es nichts ‚Stärkeres‘ als Wissen gibt. Entscheidend ist, dass T 3 als Argument nur vor dem Hintergrund der Annahme von Satz (1) funktionieren kann, weshalb Aristoteles in T 4 auch gegen die Meinung als möglichen epistemischen Zustand des Akratikers argumentiert, während er sich hier in T 10 unter anderem gerade für die Meinung ausspricht. Es ist daher höchst unwahrscheinlich, dass T 10 noch Teil der Widerlegung von T 3 ist. In T 10 erweitert Aristoteles gerade den Bereich der Verhaltensweisen, die unter den Begriff ‚Akrasie‘ fallen, über einen engen Begriff von Wissen hinaus auf alle Formen subjektiven Überzeugtseins. Hiermit liegt eine gegenüber Sokrates gänzlich neue Beschreibung des Phänomens vor. T 10 sollte daher als Aristoteles’ eigene und end-gültige Position zur Frage nicht ungebührlich mit den ad hominem argumentierenden T 3 und T 4 in Verbindung gebracht werden.

8. Die Lösungen der zweiten Frage: Welches ist die Weise des Wissens, wider das der Akratiker handelt?

(a) Die erste Lösung der zweiten Frage:

T11 „Aber da wir ‚zu wissen‘ zweifach aussagen – denn man sagt sowohl von dem, der das Wissen zwar hat, es jedoch nicht benutzt, er sei wissend, als auch von dem, der es benutzt –, wird derjenige, der es zwar hat, aber nicht betrachtet, und derjenige, der betrachtet, was man nicht tun soll, sich von dem unterscheiden, der es hat und betrachtet; dies scheint nämlich un-geheuerlich zu sein, nicht aber, wenn er nicht betrachtet.“ (EN 1146b31–35)

Aristoteles führt zwei Aussageweisen von ‚Wissen‘ ein, einmal potentielles Wissen (Wissen haben), welches zwar in einer Person vorhanden ist, aber gerade nicht ak-tualisiert (benutzt) wird, und das andere Mal aktuales Wissen, also das Wissen, welches die Person hat und gerade benutzt bzw. „betrachtet“. Diese beiden Aussa-geweisen von ‚Wissen‘ kombiniert er mit zwei unterschiedlichen Wissensgehalten (Wissen von dem, was man tun soll und Wissen von dem, was man nicht tun soll, also Wissen von schlechten Handlungszielen) zu den für die Fragestellung relevanten Möglichkeiten und wählt dann aus. Folgende relevante Möglichkeiten ergeben sich:

(i) Man hat Wissen, betrachtet es aber nicht.10

(ii) Man hat Wissen von dem, was man nicht soll, und betrachtet es.(iii) Man hat Wissen von dem, was man soll, und betrachtet es.

10 (i) enthält theoretisch zwei Möglichkeiten, nämlich ‚Wissen von dem, was man soll, und es nicht betrachten‘ und ‚Wissen von dem, was man nicht soll, und es nicht betrachten‘, von denen die letztere hier aber nicht relevant ist. Der Umstand, dass es sich bei (iii) um eine der relevanten Möglichkeiten handelt, spricht m.E. gegen Bywaters Tilgung in Zeile 34 [der es hat und betrach-tet].

1518. Akrasie bei Aristoteles: Die erste Aporie

Ohne seine Wahl ausführlich zu begründen, entscheidet Aristoteles sich für Mög-lichkeit (i). Der Zurückweisung von Möglichkeit (ii) liegt wahrscheinlich folgende Erwägung zugrunde: Der Akratiker muss Wissen davon haben, was man tun soll, und nicht davon, was man nicht tun soll. In einem solchen Fall würde es sich näm-lich nicht um einen Akratiker, sondern um einen ‚Zügellosen‘ (ajkovlasto~) handeln, der aus Vorsatz verwerflich handelt. Bei dem Zügellosen liegt kein innerer Konflikt vor, da Vorsatz und Handlungsweise übereinstimmen. Es war jedoch eine der aner-kannten Meinungen über den Akratiker, dass er nicht bei seiner einmal gefassten Überzeugung bleibt. Dass der Akratiker über aktuales Wissen entsprechend von Möglichkeit (iii) verfügt, schließt Aristoteles unter Verwendung der Sokratischen Ausdrucksweise, dass dies „ungeheuerlich“ (deinovn) wäre, aus. Es bleibt also nur Möglichkeit (i): Vorhandenes, aber nicht aktualisiertes Wissen davon, was man tun soll, ist für ihn eine Form des Wissens, mit der es vereinbar ist, dass man ihm zuwi-der handelt.

Halten wir fest, dass, obwohl Aristoteles hier eine erste positive Antwort auf die Frage gegeben hat, auf welche Weise der Akratiker über Wissen verfügen könnte, es für ihn auch eine Weise des Wissens gibt, die er für mit akratischem Handeln unvereinbar hält, nämlich (iii), Wissen von dem, was man tun soll, und es betrachten (vgl. Abschnitt 11).

(b) Die zweite Lösung der zweiten Frage:

T12 „Außerdem: Da es zwei Arten von Prämissen gibt, hindert nichts, dass derjenige, der beide hat, gleichwohl wider sein Wissen handelt, da er die allgemeine, nicht aber die besondere (Prä-misse) benutzt. Denn Gegenstand von Handlungen sind die (konkreten) Einzeldinge. Und auch das Allgemeine ist (in sich) unterschieden: teils bezieht es sich auf einen selbst und teils auf die Sache, z.B.: ‚Jedem Menschen nützt trockene (Nahrung)‘ und ‚ich selbst bin ein Mensch‘ oder ‚dieses von der Art ist trocken‘; aber (das Wissen), ob dies hier von dieser Art ist, hat er entwe-der nicht oder gebraucht es nicht. Und also wird es entsprechend dieser Arten (des Wissens) einen gewaltigen Unterschied machen, so dass auf die eine Weise zu wissen keineswegs abwe-gig zu sein scheint, auf die andere jedoch äußerst sonderbar.“ (EN 1146b35–1147a10)

In der zweiten Lösung wechselt Aristoteles sozusagen die Perspektive und spricht nun nicht mehr nur von epistemischen Zuständen, sondern von deren Gehalten. Er teilt sie in zwei Gruppen von Prämissen ein, um dann erneut psychologisch nach der Weise ihres Gewusst-Werdens zu fragen. Er teilt die Prämissen in allgemeine und besondere, wobei er auch solche Prämissen, die Einzelnes aussagen, unter die be-sonderen zählt.11 Nun führt er zwei Möglichkeiten an, in denen man Wissen haben kann, ohne deshalb auch entsprechend zu handeln. Entweder verfügt man nur über die erste und allgemeine Prämisse, nicht aber über die besondere, oder man verfügt zwar über sowohl die allgemeine als auch die besondere, benutzt die besondere aber nicht. Das Beispiel, das Aristoteles bringt, ist ein solcher Fall: ‚dieses von der Art ist trocken‘ ist eine allgemeine Prämisse, und die entsprechende auf das Einzelne gehende zweite Prämisse des Inhalts ‚dies hier (ist) von dieser Art (…)‘ ist entweder nicht vorhanden oder wird nicht gebraucht.

11 Erkennbar an der begründenden Partikel gavr in 1147a3.

152 Klaus Corcilius

Es geht hier offenbar darum, ob ein Syllogismus zustande kommt oder nicht. In den Fällen des Nicht-Habens und des Nicht-Gebrauchens der das Einzelne betref-fenden Prämisse kann es nicht zu einem Syllogismus kommen, ohne dass deshalb gesagt werden könnte, der akratisch Handelnde würde die allgemeine Prämisse bzw. die allgemeine und die das Einzelne betreffende nicht wissen. Er weiß sie. Er weiß sie allerdings nicht in der Weise, in der sie jemand weiß, der die allgemeine und die das Einzelne betreffende Prämisse zusammen gebraucht und weiß. Würde der Wis-sende den Einzelgegenstand nämlich als einen Fall der allgemeinen Prämisse be-greifen, so würde in beiden Prämissen jeweils ein gemeinsamer Mittelterm vorliegen und es käme zum Syllogismus. Da er dies aber nicht tut, sondern nur den Einzelge-genstand weiß, ohne ihn als einen Fall der allgemeinen Prämisse zu erkennen, liegt kein gemeinsamer Mittelterm vor und es kann nicht zum Syllogismus kommen.12 Die zusätzliche Differenzierung in zwei Arten von allgemeinen Prämissen, die sich entweder auf die Sache oder auf die eigene Person beziehen können (1147a4–7), vergrößert noch die Möglichkeit, den Einzelgegenstand ‚falsch‘ zu subsumieren. Wenn dagegen der Einzelgegenstand als ein Fall der allgemeinen Prämisse erkannt wird, so hält Aristoteles es bei jemandem, der auf diese Weise Wissen hat, für „äu-ßerst sonderbar“, wenn er sich akratisch verhielte.

Auch hier liegt also wieder eine Weise des Wissens vor, die mit akratischem Verhalten vereinbar ist, nämlich das Haben, aber nicht Gebrauchen beider Prämissen. Und so wie bei der ersten Lösung mit (iii) (dem Wissen von dem, was man tun soll, und dem Betrachten desselben) liegt hier mit dem Haben und Gebrauchen beider Prämissen abermals eine Form des Wissens vor, die Aristoteles als Kandidat für das Wissen des Akratikers ausschließen möchte (vgl. Abschnitt 11).

(c) Die dritte Lösung der zweiten Frage:

T13 „Außerdem: Den Menschen kommt es noch auf eine andere als den erwähnten Weisen zu, Wissen zu haben: Wir sehen nämlich, dass im Falle davon, dass man es zwar hat, aber keinen Gebrauch davon macht, das Haben (des Wissens) auf (noch) solche Weise unterschieden ist, dass man es auf gewisse Weise hat und nicht hat, z.B. bei denen, die schlafen, rasen und betrun-ken sind. In einem solchen Zustand befinden sich aber in der Tat diejenigen, die von starken Emotionen hingerissen sind: Leidenschaften, Begierde nach Sex und manches derartige verän-dert nämlich deutlich sichtbar auch den Körper, und bei einigen verursacht es sogar Wahnsinn.“ (EN 1147a10–17)

Aristoteles nimmt hier eine zusätzliche Differenzierung der Trennung zwischen aktualem und potentiellem Wissen vor. Das potentielle Wissen (das Haben des Wis-sens) erlaubt eine weitere Stufung: Neben dem schon in der ersten Lösung erwähnten potentiellen Wissen gibt es einen solchen Zustand, über Wissen zu verfügen, wie wir dies bei Schlafenden, Rasenden oder Betrunkenen sehen. Solche Zustände er-geben sich auch durch starke Emotionen. Was damit gemeint ist, wird vielleicht aus einem Passus der Physik am deutlichsten:

12 Für diese Art von Wissen bzw. Unwissen bezüglich desselben Gegenstandes, vgl. Apr. 67a11–21.

1538. Akrasie bei Aristoteles: Die erste Aporie

T14 „Ferner, (…) wenn jemand vom Berauscht-Sein oder Schlafen oder Krank-Sein in den entgegengesetzten (Zustand) übergetreten ist, pflegen wir nicht zu sagen, dass er wieder ein Wissender geworden ist; gleichwohl war es vorher unmöglich, das Wissen zu gebrauchen.“ (Ph. 247b13–16)

Es geht hier um einen solchen Zustand der Potentialität, in dem ein möglicher Ge-brauch des Wissens nicht mehr nur faktisch nicht stattfindet, obwohl er in diesem Augenblick auch stattfinden könnte, sondern sein Gebrauch kann vorübergehend nicht stattfinden. Die Ursache dafür liegt bei den Betrunkenen, Rasenden und Schla-fenden in den körperlichen Veränderungen, die ihre jeweiligen Zustände mit sich bringen. Offenbar glaubt Aristoteles jetzt eine befriedigende Antwort auf die Frage gefunden zu haben. Dies zeigt sich am folgenden Abschnitt, in dem er zum ersten Mal einen der untersuchten epistemischen Zustände mit der speziellen Weise des Wissens des Akratikers in Zusammenhang bringt:

T15 „Es ist also klar, dass man sagen muss, dass die Akratiker in einer ähnlichen Verfassung sind wie diese (Schlafenden, Rasenden und Trunkenen). Dass sie aber den Wortlaut des (rele-vanten) Wissensgehaltes aufsagen können, ist nicht als Indiz dafür zu werten (, dass sie auch ihrem Wissen entsprechend handeln): Denn auch diejenigen, die sich in den oben erwähnten Zuständen (der Trunkenheit etc.) befinden, können Beweise und Verse des Empedokles aufsa-gen, und diejenigen, die zum ersten Mal lernen, reihen zwar die Lehrsätze aneinander, wissen sie aber noch nicht, weil sie nämlich (miteinander) zusammenwachsen müssen, und dies braucht Zeit. Folglich muss man annehmen, dass die Akratiker (ihr Wissen) so aufsagen, wie die Schau-spieler.“ (EN 1147a17–24)

Im Moment ihres akratischen Verhaltens sind die Akratiker in einer ähnlichen13 Verfassung wie die Schlafenden, Rasenden und Trunkenen. Wenn sie den Wortlaut des relevanten Wissensgehaltes reproduzieren können, so ist dies kein Ausdruck dafür, dass sie ihr Wissen auch praktisch umsetzen, sondern ein bloßes Sprechen ohne Bezug auf ihr Handeln. Hierin ähneln sie den betrunkenen Rezitatoren des Empedokles und den Neulingen in der Wissenschaft, die zwar den Wortlaut von Wissensgehalten reproduzieren können, aber aus unterschiedlichen Gründen nicht in der für einen adäquaten Nachvollzug geeigneten Relation zu ihren jeweiligen Wissensgehalten stehen. In dem (von Aristoteles offenbar favorisierten) Fall der Schauspieler besagt die Analogie, dass Akratiker, auf dieselbe Weise, in der Schau-spieler zwar wissen, was sie in ihrer Rolle sagen, das Gesagte jedoch nicht im Ernst auf ihre eigene, nicht-fiktionale Person beziehen, ihr motivationales Verhalten nicht mit ihrem Wissen davon, was sie tun sollen, in Übereinstimmung bringen. Auf diese Weise trifft es zu, dass sie wissen und nicht wissen (1147a12f.). Hierin, und nicht in

13 oJmoivw~ e[cein mit dem Dativ in 1147a17f. zeigt m.E. klar eine Analogie an. Verglichen werden hier also nicht zwei artgleiche Objekte (das Wissen des Akratikers einerseits und das Wissen der Schlafenden, Rasenden, Betrunkenen andererseits), sondern ihre, wie es oben heißt, jewei-lige Verfassung (oJmoivw~ e[cein), d.h. die Relationen, in der Akratiker einerseits und die Schla-fenden, Rasenden, Betrunkenen andererseits jeweils zu ihrem Wissen stehen (zur Analogie bei Aristoteles, vgl. Metaph. 1016b34, EN 1096b28f.; Top. 108a8; EN 1131a21ff.). Interpretationen, die davon ausgehen, dass Aristoteles akratisches Verhalten buchstäblich durch einen Denkfehler erklären will, sind hier in der Beweispflicht dafür zu zeigen, dass der Ausdruck ‚oJmoivw~ e[cein‘ an dieser Stelle nicht, wie üblich, eine Analogie, sondern einen Vergleich auf der Objektebene anzeigt.

154 Klaus Corcilius

der Eingeschränktheit des Wissens als Wissen, scheint auch das Vergleichsmoment mit den Neulingen in den Wissenschaften zu liegen: Akratikern, zumindest den ‚schwachen‘ unter ihnen, ist nicht das Wissen um die relevanten Sachverhalte vor-übergehend verschlossen, sondern nur die Fähigkeit, dieses Wissen auch in die Tat umzusetzen („zu gebrauchen“). Das Problem ist nicht, dass sie etwas nicht wissen, sondern dass sie als Personen in einer für die Anwendung des Wissens falschen Relation zum Gehalt ihres Wissens stehen. Um die Fähigkeit zur Anwendung ihres Wissens wiederzugewinnen, bedarf es eines gewissen Zeitraums,14 in dem ihr Zu-stand emotionaler Gereiztheit abklingen kann, der sie daran hinderte, das auch zu tun, von dem sie bereits wussten, dass es vernünftig ist. Wissen und Vernunft des Akratikers sind von seiner Emotionalität in einer solchen Weise abgetrennt, dass ihre Funktionsfähigkeit zwar nicht beeinträchtigt ist, es aber gleichwohl vorüberge-hend nicht zu einer Zusammenarbeit kommen kann. Damit es dazu kommen kann, muss der Akratiker keine bestimmten Lehrinhalte lernen, sondern seine Emotiona-lität muss mit seiner Vernunft „zusammenwachsen“, damit er das, was er weiß, auch tut. Akrasie ist also kein Fehler im Wissen, sondern ein Fehler in der Relation des motivationalen Verhaltens zum gewussten Gehalt. Das handlungsrelevante Wissen, welches beim Tugendhaften und beim Selbstbeherrschten zur vernünftigen Hand-lung führen würde, ist zwar da, doch der Akratiker bezieht es nicht in der geeigneten Weise auf seine eigene Person, die es zur Umsetzung des Wissen erfordern würde. Die Herstellung dieses Bezugs wiederum ist kein kognitiver Akt, sondern eine Frage der moralischen Disposition.15

14 Auf einen ähnlichen Unterschied hebt Aristoteles in ganz ähnlichen Worten auch in EN 1142a11–20 ab, wo er erklärt, aus welchem Grund junge Leute vielleicht zwar Mathematiker, nicht aber Weise (frovnimoi) werden können: Dafür brauche es nämlich Erfahrung (ejmpeiriva) und die entstehe aus einer gewissen „Menge an Zeit“ (plh`qo~ crovnou). Wenn junge Leute sich daher zu solchen Wissensgebieten äußerten, deren Prinzipien auf Erfahrung beruhen, so sind sie nicht davon überzeugt (ouj pisteuvousin), sondern „sagen“ sie nur (levgousin).

15 Die Relation vom Wissen darum, was das Richtige zu tun ist, und dem eigenen Verhalten ist für Aristoteles nicht eine Frage des Wissens, sondern des moralischen Charakters. Tugend und Schlechtigkeit bestehen für ihn in den verschiedenen Relationen, in denen das motivationale Verhalten einer Person zu ihrem Wissen davon steht, was das Beste zu tun ist, vgl. EN 1151a15–20: „Denn die Tugend und Schlechtigkeit verdirbt teils den Ausgangspunkt (des Handelns), teils bewahrt es ihn, und bei den Handlungen ist das Worum-Willen Ausgangspunkt, so wie in der Mathematik die Hypothesen; daher ist weder dort das Argument fähig, die Ausgangspunkte zu lehren, noch hier, sondern die Tugend, die entweder natürlich oder angewöhnt ist, (lehrt) die richtige Meinung betreffs des Ausgangspunktes. Und wer so beschaffen ist, ist besonnen, zü-gellos ist dagegen der Entgegengesetzte“ (vgl. EE 1227b28–30). Der Ausgangspunkt (ajrchv) der Handlung besteht nicht allein in dem kognitiven Akt des Wissens davon, was man tun und nicht tun soll. Deswegen kann das Argument (lovgo~) den richtigen Ausgangspunkt der Handlung auch nicht lehren, sondern dies ‚lehrt‘ nur Tugend bzw. Schlechtigkeit: Der Tugendhafte ist so disponiert, dass sein Handeln mit der richtigen Meinung übereinstimmt, während beim ‚Zügel-losen‘ die ‚falsche‘ Meinung darüber, was er tun soll, der Ausgangspunkt seines Handelns ist. Der Akratiker nimmt in diesem Bild eine Mittelposition ein, da er einerseits über die tugend-hafte Disposition verfügt, der richtigen Meinung entsprechend zu handeln, es im Einzelfall aber nicht durchhält: „Es gibt aber auch einen, der aufgrund von Emotion entgegen der richtigen Beschreibung (von seiner Meinung) abweicht, den die Emotion zwar auf solche Weise besiegt, dass er nicht der richtigen Beschreibung gemäß handelt, jedoch nicht so besiegt, dass er davon

1558. Akrasie bei Aristoteles: Die erste Aporie

9. Abgleich der ersten drei Lösungen

Nachdem Aristoteles in seiner Antwort auf die erste Frage festgestellt hat, dass un-ter motivationalen Gesichtspunkten die objektive Geltung epistemischer Zustände keine Rolle spielt, und der Akratiker also auch Wissen von der richtigen Handlungs-weise haben kann, zeigen seine bisherigen drei Antworten auf die zweite Frage je-weils verschiedene Weisen auf, in der man dem Akratiker im Augenblick seines akratischen Handelns tatsächlich ein Wissen zusprechen kann. Aristoteles kann dabei auf den reichhaltigen Vorrat von Einteilungen und Unterscheidungen zurück-greifen, den ihm seine wissenschaftliche Psychologie und Epistemologie zur Verfü-gung stellt. Es bereitet ihm daher keine Mühe, gleich eine ganze Reihe von Antwor-ten zu geben.

Die ersten beiden Lösungen sind allerdings von der dritten in einer wichtigen Hinsicht verschieden: Man könnte sie ‚dialektische‘ Lösungen nennen, da sie zwar eine Antwort auf die Frage nach der Möglichkeit eines Wissens geben, das kein dementsprechendes Handeln nach sich ziehen muss, aber keine spezifischen Lö-sungen des Problems des Akratikers enthalten. Sie geben lediglich verschiedene Weisen des Wissens an, in denen es nicht voll aktualisiert bzw. nicht richtig subsu-miert wird und deshalb defizient ist. Diese Weisen des Wissens werden dann auf die Situation akratischen Handelns angewandt: Entweder wird Wissen überhaupt nicht aktualisiert (Antwort 1), oder ein Einzelgegenstand wird nicht richtig subsumiert bzw. das Wissen, dass der Einzelgegenstand unter die allgemeine Prämisse zu sub-sumieren ist, wird nicht aktualisiert und deswegen kommt es nicht zu vollem Wissen (Antwort 2). Dies gilt jedoch für alle Formen des Wissens und sagt uns deshalb nichts Spezifisches über das Wissen des Akratikers. Es sind defiziente Weisen des Wissens, deren Defizienz sich auf einen Mangel an präsenten Informationen zurück-führt. Um die Defizienz zu beheben und ihr Wissen vom Zustand der Potentialität in die Aktualität zu überführen, müssten denjenigen, die auf diese Weisen wissen, nur die entsprechenden Informationen mitgeteilt werden. Anders bei der dritten Lösung: Hier gibt Aristoteles eine spezifisch auf den Akratiker zugeschnittene Ant-wort. Diese besteht, wie wir gesehen haben, darin, dass gewisse Leidenschaften und Begierden Auswirkungen haben, die denen von Rausch, Raserei und Trunkenheit

überzeugt ist, er solle solche Lüste schlechthin (ajnevdhn) verfolgen. Dies ist der Akratiker. Er ist besser als der Zügellose und ist auch nicht ohne Qualifikation schlecht; denn das Beste bleibt bewahrt: der Ausgangspunkt.“ (EN 1151a20–26). Sowohl beim Akratiker als auch beim ‚Zü-gellosen‘ kann und wird daher durchaus auch Wissen im Sinne der richtigen Meinung darüber, was man tun soll, vorhanden sein. Es wird nur entweder vorübergehend (beim Akratiker) oder dauernd (beim ‚Zügellosen‘) nicht der Ausgangspunkt ihrer Handlungen sein, was heißt, dass sie nicht in der für entsprechendes motivationales Verhalten erforderlichen (tugendhaften) Re-lation zum Gehalt ihres Wissens stehen. Für eine Nicht-moralische Analyse irrationalen Verhal-tens, wie etwa Davidson sie vornimmt, geht es demgegenüber nicht um die Frage der Relation des Verhaltens zur richtigen Meinung, sondern zur Meinung überhaupt (‚principle of conti-nence‘); vgl. Davidson (1969), 41. Bei einer solchen Einteilung würden sowohl der ‚Zügellose‘ als auch der Tugendhafte in Übereinstimmung mit ihrer Meinung und daher auch rational han-deln. Wie es scheint, möchte Aristoteles dies in seiner Ethik nicht zulassen (vgl. EN 1151a29–b4).

156 Klaus Corcilius

ähnlich sind, indem sie den Akratiker in eine solche Relation zu dem Gehalt seines Wissens versetzen, dass er, obwohl er in dem Augenblick sogar über das vollständige Wissen verfügen kann, nicht in der Lage ist, es praktisch anzuwenden. Bloße Infor-mationen über das, was zu tun ist, können hier nichts ausrichten. Der Akratiker kann sogar über alle relevanten Informationen verfügen – er kann den Wortlaut des rele-vanten auf die Handlung bezogenen Wissens aufsagen, und er ist weder rasend, noch schläft er oder ist betrunken –, das Problem ist nur, dass er aufgrund starker Begierde nicht auch dementsprechend handelt. Hier liegt ein wichtiger Unterschied zu den ersten beiden Lösungen: Der Akratiker braucht keine Informationen, sondern ihm ist vorübergehend der Zugriff auf die Anwendung seines Wissens versperrt, er täuscht oder irrt sich daher nicht über einen Sachverhalt oder die eigene Person, sondern er ist momentan nicht in der Lage, sein Wissen davon, was man tun soll, auch zu prak-tizieren. Während die ersten beiden also leicht dadurch in aktuales Wissen überführt werden könnten, dass man ihren Informationsstand korrigiert, ist dies beim Akrati-ker vorübergehend nicht möglich; er müsste dafür erst in einen anderen physiolo-gischen Zustand übergehen.16 Die Situation des Handelns wider besseres Wissen spitzt sich in der dritten Antwort also noch zu: Dieselben Informationen über das Allgemeine und das Einzelne, die den ersten beiden Wissenden fehlen, können beim Akratiker vorhanden sein. Doch während sich für jene im Fall, dass sie die Infor-mationen bekämen, das aktuale Wissen einstellen würde (das Aristoteles mit zuwi-derlaufendem Handeln offenbar für unvereinbar hält, vgl. Abschnitt 11), ‚sagt‘ der Akratiker nur den Wortlaut des relevanten Wissensgehaltes, ohne entsprechend zu handeln. Die ersten beiden kommen als Kandidaten für das spezifische Wissens des Akratikers daher nicht in Frage. Hinzu kommt, dass für Aristoteles das Fehlen nö-tiger Informationen über die Einzelumstände einer Handlung ein Entschuldigungs-grund ist.17 Akratiker sind für ihre Handlungsweise aber voll verantwortlich.

Doch worauf gründet sich die Verantwortung des Akratikers für sein Handeln, wo doch gesagt wurde, ihm sei so wie den Betrunkenen, Schlafenden und Rasenden vorübergehend der Zugriff auf die Anwendung seines Wissens versperrt? Wie kann jemand für die Unterlassung einer Handlung verantwortlich gemacht werden, so könnte man fragen, zu der er in diesem Augenblick nicht in der Lage ist? Aristoteles hatte in der dritten Antwort die Betrunkenen, Rasenden und Schlafenden als Ver-gleichsgrößen angeführt, um zu zeigen, dass es auch beim Akratiker nicht um Wis-sensgehalte, sondern um die Relation geht, in der ein Wissensgehalt zur Person steht. Im Unterschied zu diesen führt sich beim Akratiker der physiologische Zustand, der sein Verhalten erklärt, aber nicht auf äußere oder solche Einflüsse zurück, über die

16 Vgl. EN 1147b6–9: „Auf welche Weise der Zustand der Unkenntnis beseitigt und der Akratiker wieder ein Wissender wird, hat dieselbe Erklärung, mit der man dies auch beim Betrunkenen und Schlafenden und nicht speziell für dieses Widerfahrnis erklärt; man soll sie von den Phy-siologen lernen.“ Wenn er nicht in diesem physiologischen Zustand wäre, würde er seinem Wissen gemäß handeln.

17 Vgl. EN III 2, 1110b18–1111a21. Ausgenommen ist solche Unkenntnis von Einzelumständen, für die der Handelnde selbst verantwortlich ist, weil er es z.B. versäumt, sich mit den Gesetzen seiner Stadt bekannt gemacht zu haben oder sich absichtlich berauscht und infolgedessen die Einzelumstände seiner Tat ignoriert (vgl. EN 1113b30–1114a3).

1578. Akrasie bei Aristoteles: Die erste Aporie

er keine Macht hat (wie Alkohol, krankhafte psychische Zustände und biorhyth-mische Veränderungen bei Betrunkenen, Rasenden und Schlafenden), sondern auf seine eigenen im körperlichen Normalzustand empfundenen Begierden und Emo-tionen. Dieser Unterschied scheint die volle Zurechenbarkeit der aus Begierde und Emotionen resultierenden Handlungen zu gewährleisten. Schlaf, Raserei und Trun-kenheit sind für Aristoteles dagegen entweder gar nicht oder nur in einem sehr eingeschränkten Sinn verantwortbar.18 Der Akratiker ist für seine Handlung verant-wortlich, weil, wie wir gesehen haben, sein Zustand sich auf seine eigenen im kör-perlichen Normalzustand empfundenen Emotionen und Begierden zurückführt: Für solche Empfindungen sind erwachsene Menschen Aristoteles zufolge, zumindest bis zu einem gewissen Grad, selbst verantwortlich.19

Fassen wir zusammen: Die dritte Antwort macht deutlich, dass Aristoteles akra-tisches Handeln nicht als ein genuin kognitives oder als Informationsproblem be-trachtet, sondern als ein moralisches Problem, das die Relation von Wissen und der entsprechenden Motivation betrifft. Der Akratiker ist vorübergehend nicht in der Lage, sein Wissen davon, was er tun soll, auch umzusetzen. Verantwortlich dafür sind jedoch nicht die Umstände, sondern er selbst, da es seine eigenen im körper-lichen Normalzustand empfundenen emotionalen Zustände sind, die ihn vorüberge-hend an der Umsetzung seines Wissens hindern.

10. Die vierte Antwort

Wenn die hier gegebene Darstellung richtig ist, enthält erst die dritte Antwort eine spezifische Antwort auf die Frage nach der Weise des Wissens des Akratikers. Dafür spricht, dass, wie wir sehen werden, Aristoteles dieser Antwort im weiteren Verlauf im Wesentlichen nichts mehr hinzufügt. Er bleibt dabei, dass das Wissen des Akra-tikers ein Wissen ist, zu dem er als Wissen in einer ähnlichen Relation steht wie die Betrunkenen, die Neulinge in den Wissenschaften und Schauspieler jeweils zu ihrem Wissen,20 und dass er aufgrund seiner Begierde vorübergehend nicht in der Lage ist, in der moralisch wünschenswerten Relation zu seinem Wissen zu stehen. Damit ist

18 Handlungen aus Trunkenheit gehören für Aristoteles zur Klasse der ‚gemischten Handlungen‘ (miktaiv) und darin zu den Handlungen ‚in Unkenntnis‘ (ajgnow`n). Sie sind zwar so wie alle gemischten Handlungen voll zurechenbar, jedoch nur in dem eingeschränkten Sinn, dass es in der Macht des Handelnden gestanden hätte, sich nicht zu betrinken. Im Falle der Trunkenheit wird man also für die Konsequenzen einer Handlung haftbar gemacht (nämlich des Sich-Betrin-kens), die zeitlich vor dem Zustand der Trunkenheit liegt. Der Handelnde wird deshalb haftbar gemacht, weil er mögliche Konsequenzen aus dem von ihm herbeigeführten Trunkenheitszu-stand hätte absehen können und müssen. Die Verantwortung für Handlungen aus Trunkenheit liegt also in dem der Trunkenheit vorausgehenden Zustand (vgl. EN 1113b30–33; 1110b24–27; 1114a4–9). Qua Betrunken-Sein ist der Betrunkene für Aristoteles nicht voll zurechnungsfä-hig.

19 Zur Freiwilligkeit der Emotionen, vgl. EN 1110b9–17 und 1111a24–b3. Zur Verantwortung des Akratikers, vgl. auch unten Anm. 34.

20 Vgl. später EN 1147b6–9 und ebenso EN 1152a14f. Aristoteles bleibt bei seiner in T 15 gege-benen Antwort.

158 Klaus Corcilius

das Problem des schwachen Akratikers für Aristoteles aber noch nicht vollständig gelöst. Dies zeigt die neue Perspektive, unter der er in der vierten Lösung das Pro-blem betrachtet:

T16 „Ferner kann man auch folgendermaßen auf naturphilosophische Weise die Ursache in den Blick nehmen.“ (EN 1147a24–25)

Hier fragt Aristoteles nicht mehr nach dem Wissen des Akratikers und nicht nach der Ursache dieses Wissens, sondern nach der Ursache akratischer Handlungen. Diese will er auf naturphilosophische Weise angeben (fusikw`~ ejpiblevpein th;n aijtivan).21 Offenbar reicht ihm der einseitige Bezug auf die Frage der Weise des Wissens für die Klärung des Problems nicht. Die erste Frage und die dritte Antwort auf die zweite Frage haben uns zwei Dinge gelehrt: Erstens, dass die objektive Gel-tung des Wissens des Akratikers für die Erklärung des Vorgangs keine Rolle spielt, und zweitens, dass sein ‚Wissensproblem‘ eigentlich gar kein Wissens- oder Infor-mationsproblem ist, sondern in einer fehlerhaften Relation seines motivationalen Verhaltens zu seinem Wissen davon besteht, was das Richtige zu tun ist. Damit wissen wir aber noch nicht, was passiert, wenn jemand akratisch handelt. Die dritte Antwort auf die zweite Frage könnte man, wenn man sie für sich betrachtet, sogar in der Weise missverstehen, dass Aristoteles uns damit sagen wollte, der Akratiker handle aus einer Art zwanghafter psychischer Unfähigkeit.22 Dass es nicht das ist, was er uns in T 13 und T 15 sagen will, wird erst anhand seiner Erklärung des Her-gangs akratischer Handlungen klar. Ich gehe dabei von folgender Gliederung aus: (a) In einem ersten Schritt stellt Aristoteles sein naturphilosophisches Erklärungs-modell für Handlungen generell vor (1147a25–31) und (b) wendet es in einem zweiten Schritt auf die Erklärung eines Beispielfalls einer akratischen Handlung an (1147a31–35). Vor diesem Hintergrund wendet sich der übrige Teil dann, drittens (c), erneut der Frage zu, auf welche Weise der Akratiker weiß (1147a35–b17).

(a) Das naturphilosophische Erklärungsmodell: Der ‚praktische Syllogismus‘Das Modell, mit dem Aristoteles Handlungen erklärt, ist der sogenannte ‚praktische Syllogismus‘. Was genauer unter dieser Erklärungsfigur zu verstehen ist, wird in der Forschung kontrovers diskutiert,23 und die Sache wird dadurch für uns nicht leichter, dass dabei gerade der hier diskutierten ersten Aporie häufig eine Schlüsselfunktion zugesprochen wird. Ich denke jedoch, wir können von einer Erörterung der meisten

21 Ross’ Übersetzung des Satzes („Further, we may regard the cause also in this way by reference to human nature“), der sich viele angeschlossen haben, scheint mir nicht angebracht. Aristoteles spricht hier nicht von ‚menschlicher Natur‘, sondern von der naturphilosophischen Betrach-tungsweise der Ursachen (fusikw`~ ejpiblevpein th;n aijtivan). ‚fusikw`~‘ heißt bei Aristoteles entweder ‚natürlich‘ oder ‚auf naturphilosophische Weise‘. In Verbindung mit Verben des Wahr-nehmens und Suchens heißt es letzteres (vgl. Bonitz, Ind. Arist. 835b15–22). Dies wird durch die Verbindung mit ‚aijtiva‘ noch verstärkt. Einzig EN 1170a13 bringt das ähnliche ‚fusik-wvteron ejpiskopei`n‘ in einem Sinn, der vielleicht eine gewisse Nähe zu Ross’ Übersetzung aufweist (‚mit Bezug auf die Natur der Sache‘), allerdings ohne Verbindung mit ‚aijtiva‘. Die Stelle kann zur Klärung von T 16 daher nicht beitragen.

22 Etwa von der Art, wie Hare akratisches Verhalten erklärt, vgl. Hare (1963), 77–79.23 Schon der Ausdruck ‘praktischer Syllogismus‘ ist problematisch, vgl. Kenny (1979), 111.

1598. Akrasie bei Aristoteles: Die erste Aporie

Fragen absehen, die sich in der Sekundärliteratur an diese Erklärungsfigur knüpfen, wenn wir uns strikt auf das beschränken, was für den gegenwärtigen Argumentati-onszweck erforderlich ist. Aristoteles selbst macht uns nämlich Mitteilung, was er an dieser Stelle dadurch erklärt wissen möchte:

T17 „Die eine (Art von) Meinung ist nämlich allgemein, die andere dagegen betrifft die Einzel-dinge, für die bereits Wahrnehmung zuständig ist; wenn nun eine aus ihnen wird, ist notwendig, dass dort die Seele die Konklusion sagt, während sie hier bei den praktischen (Meinungen) sofort handelt: Z.B. wenn man alles Süße kosten soll und dies hier als eines von den Einzeldingen süß ist, ist notwendig, dass wer dazu fähig ist und nicht daran gehindert wird, dies gleichzeitig auch tut.“ (EN 1147a25–31)

Es wird hier auf methodischer Ebene eine Erklärungsfigur erläutert, die offenbar die Genese von Handlungen illustrieren soll. Sie funktioniert auf der Basis einer Ana-logie zwischen dem Schließen/Affirmieren aus den (hier vorerst als Meinungen bezeichneten) Prämissen eines theoretischen Syllogismus auf der einen Seite und dem Resultieren einer Handlung aus ihren Antezedentien andererseits. Für unsere Zwecke kann zunächst offengelassen werden, ob Aristoteles unter diesen Anteze-dentien – so wie auch im theoretischen Vergleichsfall – immer zwei Prämissen mit propositionaler Struktur verstanden hat oder nicht.24 Der Text lässt keinen Zweifel, dass die Konklusion des ‚praktischen Syllogismus‘ mit einer Handlung identisch ist. Aristoteles sagt, dass dann, wenn die beiden Prämissen „zu einer werden“, „die Seele die Konklusion bejaht“ bzw. „sofort handelt“ und dass dieses Resultat in beiden Fällen notwendig eintritt. Und das Beispiel macht zusätzlich deutlich, dass das Vor-liegen der beiden ‚Prämissen‘ für die Handlung hinreichend ist, es also nicht noch einer Konklusion bedarf, die sich in irgendeiner Weise von der resultierenden Hand-lung unterscheidet: In ihm kommt nämlich gar keine Konklusion vor, sondern die Handlung resultiert direkt aus den beiden ‚Prämissen‘. In der Forschungsliteratur ist allerdings sogar dies umstritten, und es gibt viele Interpreten, die meinen, die Kon-klusion des ‚praktischen Syllogismus‘ könne unmöglich mit einer Handlung iden-tisch sein.25 Falls dies zutreffen sollte, würde es bei dieser Erklärungsfigur nicht mehr um eine Illustration der unmittelbaren Antezedentien von Handlungen gehen, was die Sache verkomplizieren und den Erklärungswert der Passage erheblich her-absetzen würde. Ich denke jedoch, man kann sich, ohne die Sache hier entscheiden zu müssen, darauf einigen, dass so oder so, entweder direkt oder indirekt, das Ex-planandum des ‚praktischen Syllogismus‘ in einer Handlung besteht und dass diese

24 Der Umstand, dass Aristoteles mit seiner Theorie der animalischen Ortsbewegung (vgl. DA 432a15ff.; MA 698a1–7) und speziell mit dem ‚praktischen Syllogismus‘ in De motu animalium (vgl. MA 701a33–36) Erklärungen für die Ortsbewegung aller Lebewesen zu geben beansprucht, spricht eigentlich gegen eine propositionale Struktur.

25 Sie berufen sich dabei häufig darauf, dass Aristoteles durch die auch hier in EN 1147a28 ver-wendete Ausdrucksweise ‚sofort‘ (eujquv~) noch zwischen Konklusion und Handlung unterschie-den habe. Diese keineswegs zwingende, und m.E. in naturphilosophischen Zusammenhängen sogar unzulässige Auslegung des Ausdrucks ‚eujquv~‘ (vgl. Bonitz, Ind. Arist. s.v., speziell 296a12–17) hat den Nachteil, dass sie dem Wortlaut der Texte widerspricht. Die Texte behaup-ten an keiner Stelle, die ‚Konklusion‘ des ‚praktischen Syllogismus‘ sei von der Handlung verschieden, im Gegenteil: Sie identifizieren die Konklusion wiederholt und ausdrücklich mit der Handlung (MA 701a12f., 20, 22f.).

160 Klaus Corcilius

Handlung dann, wenn die Prämissen gegeben sind und keine externen Hinderungs-gründe vorliegen, so oder so mit Notwendigkeit resultiert. Das heißt aber, dass der ‚praktische Syllogismus‘ in der einen oder anderen Weise motivationale und nicht rein kognitive Sachverhalte (auf Handlungen bezogene Überlegungen) illustriert. Für die hier behandelte Frage wäre Letzteres auch unpassend: Wir haben gesehen, dass Aristoteles die Frage nach der Weise des Wissens des Akratikers mit der dritten Antwort auf die zweite Frage (in T 13 bis T 15) als beantwortet betrachtet und sich dann der Frage nach der Ursache (Genese) akratischer Handlungen zuwendet.26

Halten wir fest: Mit dem ‚praktischen Syllogismus‘ beabsichtigt Aristoteles, die Genese von Handlungen aus ihren Antezedentien zu erklären. Dann, wenn die An-tezedentien gegeben sind, erfolgt die Handlung unter Normalbedingungen notwen-dig (ob direkt oder indirekt sei hier offen gelassen).27

(b) Die naturphilosophische Erklärung akratischer HandlungenIn einem zweiten Schritt wendet Aristoteles die oben vorgestellte Erklärungsmethode auf die Erklärung akratischer Handlungen an. Erklärt wird hier also die Genese akratischer Handlungen anhand eines Beispielfalles:

T18 „Wenn nun die eine allgemeine (Meinung) in (der Seele) ist, die es verhindert zu kosten, die andere (aber besagt), dass alles Süße angenehm ist, und dieses (Einzelne) hier süß ist – eben diese (Meinung über das Einzelne) aber ist aktual –, und sich gerade eine Begierde in (der Seele) befindet, so sagt die eine (von zwei das Einzelne betreffenden Meinungen) zwar, dass man dies meiden soll, die Begierde jedoch gibt den Ausschlag. Denn jeder der (Seelen-) Teile vermag in Bewegung zu setzen.“ (EN 1147a31–35)

Laut den Ausführungen zum ‚praktischen Syllogismus‘ in T 17 erfolgt die akratische Handlung dann, wenn zwei ‚praktische Meinungen‘, die eine mit einem das Allge-

26 Die Auffassung, dass der ‚praktische Syllogismus‘ kein Handeln (in entweder direkter oder indirekter Weise) impliziert, sondern nur eine motivational unverbindliche praktische Überle-gung skizziert, macht ihn als Erklärungsfigur wertlos. Sie kann hier deswegen vernachlässigt werden. M.E. stimmt die hier von Aristoteles vorgestellte Erklärungsfigur mit derjenigen über-ein, die er in De motu animalium 7, 701a7–25, gibt. Alle Anzeichen sprechen dafür, dass er für die Erklärung akratischer Handlungen in EN VII von seiner dort vorgelegten naturphilosophi-schen Erklärung der Ortsbewegung aller Lebewesen Gebrauch macht. Unwahrscheinlich ist dagegen, dass Aristoteles just dort, wo er die naturphilosophische Erklärungsweise akratischer Handlungen in die Diskussion einführt, eine von seinen naturphilosophischen Schriften abwei-chende Erklärung vorlegt, wie Woods meint (1990), 253.

27 Vielfach sieht man auch schon in der zweiten Antwort in T 12 (EN 1146b35–1147a10) einen ‚praktischen Syllogismus‘. Ob dies zutrifft oder nicht, muss hier gleichfalls nicht unbedingt entschieden werden. M.E. spricht allerdings stark gegen eine solche Auffassung, dass 1. Aristo-teles den ‚praktischen Syllogismus‘ als ein naturphilosophisches Erklärungsmodell der Ursache von Handlungen in T 16 erst einführt, was keinen Sinn machen würde, wenn er vorher schon davon Gebrauch gemacht hätte. 2. ist in T 12 von einer Konklusion nicht die Rede und 3. ist die Annahme, bei den beiden dort genannten Arten (trovpoi) von Prämissen handele es sich um Prämissen eines ‚praktischen Syllogismus‘, zum Verständnis der zweiten Antwort nicht erfor-derlich. Aristoteles geht es in T 12, wie gesagt, nicht um die Erklärung akratischer Handlungen, sondern um die Frage nach einer Weise des Wissens, das akratische Handlungsweisen zulässt. Hier bereits einen ‚praktischen Syllogismus‘ zu sehen, stellt deswegen eine Überinterpretation der Stelle dar.

1618. Akrasie bei Aristoteles: Die erste Aporie

meine, die andere mit einem das Einzelne betreffenden Inhalt, zusammenkommen („eine aus ihnen wird“, vgl. 1147a26f.). In T 18 erwähnt Aristoteles insgesamt drei Meinungen, die noch nicht mit einer anderen Meinung ‚eine geworden‘ sind: Eine, die das Einzelne betrifft, nämlich „dass dieses hier süß ist“. Von ihr sagt er, sie sei aktual (ejnergei`). Und zwei noch unverbundene allgemeine Meinungen, von denen die eine es verhindert zu kosten und die andere besagt, dass alles Süße angenehm ist. Von diesen Meinungen sagt er, sie befänden sich ‚in‘ (vermutlich) der Seele des Akratikers (ejnh/`). Aristoteles spricht also von drei noch unverbundenen Meinungen, einer aktualen, auf das Einzelne gerichteten und zwei nicht aktualen, allgemeinen Meinungen. Gegenüber der als explanatorisches Standardmodell eingeführten Ver-sion des ‚praktischen Syllogismus‘ in T 17 ergeben sich in T 18 damit folgende Besonderheiten:

Die Bewegungsrichtung ist gleichsam umgekehrt: Während in T 17 eine das Allgemeine betreffende Meinung den Anfang machte, zu der eine das Einzelne be-treffende hinzukommen musste, verhält es sich in T 18 so, dass die das Einzelne betreffende Meinung am Beginn des Prozesses steht und umgekehrt eine passende allgemeine Meinung hinzukommen muss, um die Handlung auszulösen.

Wir haben es hier nicht mehr mit nur einer, sondern mit zwei allgemeinen Mei-nungen zu tun, die beide dafür geeignet sind, als ‚Obersätze‘ für die das Einzelne betreffende ‚praktische Meinung‘ zu dienen.

Da insgesamt nur von drei unverbundenen Meinungen die Rede ist, wird hier nicht die Formierung zweier ‚praktischer Syllogismen‘ beschrieben,28 sondern nur die Genese eines einzigen, allerdings so, dass es im Verlauf seiner Entstehung vor-übergehend zur Präsenz zweier allgemeiner Meinungen als Kandidaten für die Formulierung des ‚Obersatzes‘ kommt. Hieraus schließe ich, dass Aristoteles die naturphilosophische Ursache akratischen Handelns als eine im Vergleich zum Stan-dardmodell von T 17 relativ komplizierte Genese eines einzigen ‚praktischen Syl-logismus‘ auffasst: Eine Meinung, die das Einzelne betrifft, liegt bereits aktual vor. Was für die Entstehung eines ‚praktischen Syllogismus‘ noch fehlt, ist das ‚Hinzu-kommen‘ einer entsprechenden ‚Prämisse‘ allgemeinen Inhalts, die den Zweck der konkreten Handlungsweise vorgibt, und hierfür gibt es in der Seele des Akteurs zwei unterschiedliche Meinungen als Kandidaten. Je nachdem, welche er davon zu einer ‚praktischen‘ Meinung macht, indem er sie als die relevante allgemeine Beschrei-bung für den süßen Gegenstand wählt, wird er ihn entweder kosten oder das Kosten unterlassen (im ersteren Fall könnte das ‚Eins-Werden‘ der beiden ‚Meinungen‘ etwa

28 Wie häufig angenommen wird. Wenn die hier angedeutete Interpretation des ‚praktischen Syl-logismus‘ als einer Figur zur Erklärung der Genese von Handlungen (bzw. animalischen Orts-bewegungen) richtig ist, dann können auch nicht zwei ‚praktische Syllogismen‘ zur gleichen Zeit vorliegen, weil die Konklusion mit einer Handlung identisch ist und weder zwei Handlun-gen zur gleichen Zeit vorgenommen, noch zwei verschiedene Handlungsgenesen zur selben Zeit in demselben Individuum stattfinden können. Eine Handlung (bzw. animalische Ortsbewegung) ist demnach immer – auch im Fall des Akratikers – durch zwei Prämissen zu erklären, wie in T 17 angegeben; T 18 und T 19 erklären uns demgegenüber nur, was im Falle der akratischen Handlungen von dem normalen Verlauf der Handlungsgenese, wie er in T 17 beschrieben wur-de, abweicht bzw. hinzukommt.

162 Klaus Corcilius

lauten: ‚dies hier ist als ein angenehmer Gegenstand zu kosten‘, im zweiten Fall: ‚dies hier ist als gesundheitsschädlich zu meiden‘). Da sich nun in ihm eine Begierde nach Süßem befindet und er akratisch ist, gibt seine Begierde29 den Ausschlag30 darüber, welche allgemeine Meinung er als die relevante Beschreibung seiner Tat wählt. Er wählt die Meinung ‚alles Süße ist angenehm (und als solches zu kosten)‘. Der gesuchte ‚Obersatz‘ für den ‚praktischen Syllogismus‘ ist gefunden, und es kommt, so oder so, zur Vereinigung beider ‚Meinungen‘ und damit zur Handlung.

Damit ist jedoch nicht gesagt, dass der Akratiker nicht wüsste, dass er den süßen Gegenstand meiden soll; er wählt dieses Wissen nur nicht als die praktisch relevante allgemeine Beschreibung für den von ihm begehrten Einzelgegenstand, oder er steht, anders gesagt, vorübergehend nicht in der erforderlichen Relation zu diesem Wissen, damit es als ‚praktische Meinung‘ zur Prämisse eines ‚praktischen Syllogismus‘ wird und sein Handeln bestimmt: Der Satz in 1147a34 („so sagt die eine (von zwei das Einzelne betreffenden Meinungen) zwar, dass man dies meiden soll (…)“) enthält im Gegensatz zu den drei unverbundenen Meinungen bereits zwei Meinungen, die „zu einer“ geworden sind. Da er besagt, dass dieser süße Gegenstand (z.B. als ge-sundheitsschädlich) gemieden werden soll, und der Akratiker den süßen Gegenstand ja genießt, kann es sich bei dem durch diesen Satz ausgedrückten Wissen nicht um eine ‚praktische‘ Meinung handeln. Es hätte sonst zur entsprechenden Handlung kommen müssen, weil das ‚Eins-Werden‘ einer allgemeinen und einer das Einzelne betreffenden Meinung laut T 17 für das Auslösen der Handlung hinreichend ist. Der Satz beschreibt daher nicht den ‚Untersatz‘ eines ‚praktischen Syllogismus‘, sondern eine den einzelnen süßen Gegenstand beschreibende (vernünftige) Meinung, die nur verbalen Charakter hat (levgei) und das Handeln gerade nicht bestimmt. Der ‚prak-tische Syllogismus‘ ist, wie wir gesehen haben, eine Figur zur Erklärung der Genese von Handlungen. Als solche erklärt er (direkt oder indirekt) motivationale Vorgänge. Dies schließt es aber nicht aus, dass gleichzeitig mit der vom Akteur als relevant anerkannten Meinung, die in den ‚praktischen Syllogismus‘ einfließt, andere Mei-nungen vorhanden sind, die nicht ‚praktisch‘ sind, aber denselben Gegenstand be-treffen und im Prinzip in einen ganz anderen ‚praktischen Syllogismus‘ (nämlich den der guten Handlung) einfließen könnten (es aber nicht tun). Der schwache Akra-tiker scheint ein solcher Fall zu sein. Sein langfristiges (vernünftiges) handlungsbe-zogenes Urteil wird trotz seiner akratischen Verhaltensweise und der ihr zugrunde liegenden Beschreibung aufrechterhalten. Beide Urteile können, wie Aristoteles in T 19 sagen wird, als Meinungen problemlos nebeneinander bestehen. Aber nur eine

29 Angesichts des Umstandes, dass Aristoteles in seinen motivationstheoretischen Schriften die Akrasie als einen Konflikt einer Begierde (ejpiqumiva) mit einer rationalen Strebung (bouvlhsi~) beschreibt (DA 433b5–10; 434a10–15; aber auch EN 1166b7f.), die verschiedenen Seelenteilen zugehörig sind und jeweils für sich in der Lage sind, das Lebewesen in Bewegung zu setzen, deutet alles darauf, ‚e{kaston‘ in 1147a35 (kinei`n ga;r e{kaston duvnatai tw`n morivwn) zum Subjekt und nicht zum Objekt des Satzes zu machen und also zu übersetzen wie oben und nicht mit dem an dieser Stelle uninformativen (wie manche wollen) „denn sie [die Begierde] vermag jeden einzelnen der Körperteile in Bewegung zu setzen.“

30 EN 1147a34 a[gei, eigentlich: „leitet“ oder „führt“.

1638. Akrasie bei Aristoteles: Die erste Aporie

von beiden kann in dem Sinne ‚praktisch‘ werden, dass sie sich zum Zeitpunkt des Handelns als die relevante handlungsanleitende Beschreibung durchsetzt.

Auswertung: Wenn man davon ausgeht, dass der Akratiker einerseits seinen guten Vorsatz nicht aufgibt (a) und andererseits, bevor er in seinen Zustand gerät, nicht der Meinung ist, er werde seinem Vorsatz zuwider handeln (b),31 ergibt sich aus T 18 folgendes Bild: Der Akratiker hat eine langfristige Handlungsdisposition (eine überlegte Strebung, proaivresi~), süße Gegenstände als z.B. gesundheitsschäd-lich zu meiden. Angesichts der Konfrontation mit einem begehrten süßen Gegen-stand sucht er jedoch, um ihn dennoch genießen zu können, nach einer anderen allgemeinen Beschreibung als die, die ihm seine langfristige Handlungsdisposition in diesem Augenblick vorgibt. Dabei scheint charakteristisch für den schwachen Akratiker zu sein, dass er in dieser Lage überhaupt nach einer anderen allgemeinen Beschreibung sucht. Er könnte den süßen Gegenstand ja auch einfach genießen, ohne nach einer allgemeinen Begründung für seine Handlungsweise zu suchen, oder er könnte sich offen eingestehen, dass er mit seinem Vorsatz bricht, bzw. er könnte einen seinem alten Vorsatz offen widerstreitenden neuen Vorsatz fassen. In ersterem Fall würde er in etwa so handeln, wie in MA 701a25–b1 von Aristoteles die unre-flektiert ablaufende Handlung beschrieben wird. Eine solche unreflektierte Handlung liegt hier aber nicht vor, da der Akratiker ja bereits über eine allgemeine Beschrei-bung für die von ihm begehrte Handlungsweise verfügt. Es geht hier also nicht um ein Fehlen von Reflexion über das eigene Handeln, sondern darum, angesichts der Versuchung durch einen begehrten Gegenstand dessen bisher für gültig befundene allgemeine Beschreibung durch eine andere zu ersetzen, die den Genuss des be-gehrten Gegenstandes erlaubt. Und im letzteren Fall hätten wir es deswegen nicht mit einer akratischen Handlung zu tun, weil das offene Eingestehen, dass man seinen Vorsätzen zuwider handelt, einen Bruch mit diesen voraussetzt. Dies ist aber eher Merkmal des ‚Zügellosen‘, der nicht nur schlecht handelt, sondern dies auch aus Vorsatz tut. Der schwache Akratiker will sich gerade nicht eingestehen, dass er ver-werflich handelt. Und eben dies scheint charakteristisch für ihn zu sein. Deutlich wird dies daran, dass er nicht nach irgendeiner beliebigen neuen allgemeinen Be-schreibung sucht, sondern nach einer solchen, die es ihm zwar einerseits gestattet, den begehrten Gegenstand zu genießen, andererseits aber seiner langfristigen Hand-lungsdisposition nicht direkt widerspricht:

T19 „Folglich ergibt sich, dass man gewissermaßen durch Vernunft und Meinung akratisch wird, die aber nicht per se der richtigen Beschreibung entgegengesetzt ist, sondern akzidentell – denn die Begierde ist (ihr) entgegengesetzt, nicht aber die Meinung. Folglich sind aus diesem Grund auch die Tiere nicht akratisch, weil sie keine allgemeine Annahme haben, sondern nur die Vor-stellung und Erinnerung von (konkreten) Einzeldingen.“ (EN 1147a35–b5)

Der Gegensatz der beiden Beschreibungen/Meinungen führt sich nicht auf ihre Ge-halte zurück. Es stellt kein Problem dar, dass beide Meinungen gleichzeitig im

31 Zu (a), vgl. EN 1151a25f.: „denn das Beste bleibt bewahrt: der Ausgangspunkt.“ Wenn er seinen guten Vorsatz durch einen anderen ersetzen würde, wäre er nicht mehr akratisch, sondern ‚zü-gellos‘. Zu (b), EN 1145b30f.: „Denn dass derjenige, der sich akratisch verhält, jedenfalls nicht glaubt (er werde dies tun), bevor er in diesen Zustand geraten ist, ist klar.“

164 Klaus Corcilius

Akteur präsent sind. Die beiden Sätze, dass alles Süße angenehm ist und dass man alles Süße als z.B. gesundheitsschädlich meiden soll, können ohne Weiteres neben-einander bestehen. Als theoretische Sätze sind sie miteinander konsistent. Sie sind einander nur aufgrund des für sie kontigenten Umstandes (kata; sumbebhkov~ (1147b1f.)) entgegengesetzt, dass der Akratiker nur einen von beiden als allgemeine Beschreibung für die von ihm begehrte Handlungsweise verwenden, d.h. ihn zu einer ‚praktischen Meinung‘ machen kann. Praktische Konsistenz, könnte man sa-gen, ist von theoretischer Konsistenz verschieden, weil das, was theoretisch mitein-ander konsistent ist, zur Rechtfertigung einander ausschließender Handlungsweisen dienen kann. Wichtig scheint mir, dass es aufgrund dieser theoretischen Konsistenz beider allgemeiner Beschreibungen zu keiner direkten Konfrontation kommt. Dies würde nämlich voraussetzen, dass der schwache Akratiker sich dem Konflikt stellt und in dem Augenblick seiner Handlung im vollen Bewusstsein ihrer moralischen Implikationen wäre. Er müsste sich bewusst für eine der beiden Meinungen entschei-den und könnte sich dann der Einsicht, dass er seinem generellen Vorsatz zuwider handelt, nicht mehr entziehen. Dies scheint aber gerade nicht der Fall zu sein. Statt-dessen greift er sich offenbar einen mit seinem allgemeinen Vorsatz kompatiblen, moralisch aber nicht ausschlaggebenden Aspekt der Sache heraus und erhebt ihn zur relevanten Beschreibung, ohne sich in diesem Moment die praktische Unverträg-lichkeit mit seinem Vorsatz einzugestehen. Es handelt sich damit um eine Form der Selbsttäuschung, die auf der Verwechslung der unterschiedlichen Konsistenzkrite-rien für theoretische Sätze einerseits und Handlungsanweisungen andererseits ba-siert. Sie liefert dem Akratiker eine (fadenscheinige) Rechtfertigung für die von ihm begehrte Handlungsweise, weil sie eine allgemeine Beschreibung liefert, die nur als theoretischer Gehalt seinem Handlungsvorsatz nicht widerspricht (ihm in ihrer handlungsanleitenden Funktion jedoch entgegengesetzt ist). Und er gibt sich damit zufrieden, weil er durch die Aussicht, den begehrten Gegenstand hier und jetzt zu erlangen, korrumpiert ist. In dieser Genügsamkeit, sich selber mit einer nur prima facie unverfänglichen Rechtfertigung abzuspeisen, liegt vermutlich für Aristoteles ein Teil der spezifischen Verfehlung des schwachen Akratikers: Er kann sich im Augenblick seines akratischen Verhaltens sogar sagen, dass er diesen Gegenstand als (z.B.) gesundheitsschädlich meiden soll (1147a34), ohne sich den Konflikt, den dies mit seiner tatsächlichen Handlungsweise bedeutet, zu vergegenwärtigen. Mög-lich ist dies, weil er seine Handlungsweise durch die von ihm gewählte allgemeine Beschreibung als gerechtfertigt ansieht. Es handelt sich um eine Selbsttäuschung, die man soweit als ein ‚Schönreden‘ einer begehrten, aber verbotenen Handlungs-weise vor der Tat bezeichnen könnte.32

32 Ich meine damit nicht (bzw. nicht nur) das, was man in der modernen Diskussion häufig als ‚fokussieren’ auf bestimmte Aspekte der begehrten Handlungsweise bezeichnet. Zwar fokussiert auch der Aristotelische schwache Akratiker auf bestimmte Aspekte seiner Handlungsweise (und blendet andere damit aus), er tut dies jedoch immer mit Blick auf seine längerfristige Absicht, da er nach solchen allgemeinen Aspekten sucht, die ihm einerseits den Genuss des begehrten Gegenstandes gestatten, ihm andererseits aber keine direkte Kollision mit seinen langfristigen Handlungsvorsätzen eintragen. Er blendet also nicht einfach die eine relevante Handlungsbe-schreibung aus und fokussiert auf eine andere, sondern er sucht dabei, modern gesprochen,

1658. Akrasie bei Aristoteles: Die erste Aporie

Dadurch, dass der Akratiker eine allgemeine Meinung für die Beschreibung seiner Tat gebraucht, kann man auf gewisse Weise (pw~, 1147b1) sagen, er handle aus Vernunft und Meinung. Er hat eine allgemeine Beschreibung für seine Hand-lungsweise, er weiß also, was er tut und ist deswegen für seine Handlung verant-wortlich. Er kann sein Verhalten vor der Tat durch Rekurs auf einen allgemeinen Satz rechtfertigen und handelt weder impulsiv noch aus zwanghafter psychischer Unfähigkeit oder unfreiwillig.33 Die von ihm bzw. seiner Begierde gewählte Be-schreibung seiner Handlungsweise ist zwar nicht die, die der ‚richtigen Beschrei-bung‘, dem ojrqo;~ lovgo~, entspricht, doch es ist immer noch ein lovgo~, mit dem er seine Handlungsweise begründet. Der Akratiker handelt deswegen als voll verant-wortliche Person, allerdings mit der Einschränkung,34 dass er einen solchen allge-meinen Satz als Beschreibung seiner Tat gebraucht, von dem er wissen müsste, dass er der richtigen Beschreibung seiner Handlung, entsprechend dem ojrqo;~ lovgo~, nicht gerecht wird und ihr in den praktischen Konsequenzen sogar entgegengesetzt ist.35 Darin, dass er dies in dem Augenblick seines Handelns nicht bzw. nur in der

seine moralische Integrität bzw. das Selbstbild eines moralisch integren Charakters, der nicht mit seinen Vorsätzen bricht, zu wahren.

33 Vgl. EN 1152a15f.: „Und (der Akratiker) handelt freiwillig, denn auf gewisse Weise weiß er sowohl was er tut als auch worum willen.“ Man könnte sagen, die formalen Kriterien, die für bewusstes, zurechenbares Handeln gelten, werden durch den Akratiker erfüllt, weil er Ursprung der Handlung ist, Kenntnis ihrer Einzelumstände hat und sie vor der Tat durch einen allgemei-nen Handlungszweck begründet. Angesichts der Erfüllung dieser Kriterien scheint der Umstand, dass er aus Begierde eine ‚falsche‘ Meinung als Zweck für seine Handlung akzeptiert, für Aris-toteles sekundär zu sein. Man muss deswegen nicht unbedingt so weit gehen, dem Akratiker eine Entscheidung (proaivresi~) für seine Handlungsweise zuzuschreiben. Es reicht, dass er aus so etwas wie einer proaivresi~ bzw. aus einem der proaivresi~ analogen Vorgang heraus handelt (vgl. das ‚uJpo; lovgou pw~‘ in 1147b1). Aristoteles äußert sich hierzu nicht eindeutig. Daraus jedenfalls, dass er dem Akratiker in EN III 1111b13f. abspricht, aus proaivresi~ zu handeln, folgt nicht unbedingt, dass er für ihn nicht auch aus so etwas wie einer Entscheidung handelt. Der obige Text spricht m.E. für Letzteres. Verstärkt wird dies dadurch, dass in EN 1151a3 die schwachen Akratiker im Gegensatz zu den impulsiven charakterisiert werden als „nicht vorher nicht mit sich zurate gegangen (oujk ajprobouvleutoi)“ Damit läge laut EN 1135b8–11 eine proaivresi~ und entsprechend auch freiwilliges Handeln vor (vgl. die folgende Anm.). Zu den verschiedenen Bedeutungen des Terms ‚proaivresi~‘, vgl. Sorabji (1980b), 201–205.

34 Auf eine leichte Einschränkung der Verantwortlichkeit des Akratikers könnte EN 1168b34-1169a1 deuten: „‚selbstbeherrscht‘ (ejgkrathv~) und ‚unbeherrscht‘ (ajkrathv~) wird ausgesagt, um dadurch das Herrschen (kratein) bzw. nicht (Herrschen) der Vernunft (nou~) zu bezeichnen, in der Annahme, dass diese (Vernunft) die jeweilige Person ausmacht. Und sie (die Menschen) scheinen das im höchsten Maße (mavlista) selbst und freiwillig getan zu haben, was sie mit Vernunft getan haben.“

35 Selbsttäuschung ist offenbar auch das, was Aristoteles in EN 1149b15–18 im Sinne hat, wo er u.a. Ilias 11, 217, zitiert, um die ‚Hinterlist‘ (ejpivboulo~) akratischen Verhaltens aus Begierde gegenüber akratischem Verhalten aus Zorn (qumov~) herauszustellen: „Zurede (pavrfasi~), die auch dem scharf Denkenden den Sinn raubt“. Der Akratiker vollzieht keinen offenen Bruch mit seinen Vorsätzen, sondern versucht sich aus dem offenen moralischen Konflikt herauszureden. Es ist nicht so, dass er das tut, von dem er weiß, dass er es nicht tun soll. Dies wäre verwerfliches Handeln aus Vorsatz. Eher könnte man sagen, dass er das, von dem er weiß, dass er es tun soll, nicht tut, um dann etwas anderes zu tun, von dem er sich in dem Moment der Illusion hingibt, dass es seinem Vorsatz nicht widerspricht, vgl. EN 1136b7–9: „(…) sondern er (der Akratiker)

166 Klaus Corcilius

besagten, den Betrunkenen, Schlafenden und Rasenden ähnlichen Weise weiß, scheint die spezifische, moralisch tadelnswerte Verfehlung des schwachen Akratikers zu liegen.36

Tiere haben demgegenüber keine allgemeinen Annahmen, sondern nur Vorstel-lungen und Erinnerungen von konkreten Einzeldingen. Wenn sie einen Gegenstand vorstellen oder erinnern, so können sie ihn nur als Einzelgegenstand repräsentieren. Ein- und denselben Gegenstand unter verschiedene Beschreibungen zu bringen oder auch nur zur gleichen Zeit in verschiedenen Hinsichten zu erstreben ist ihnen nicht möglich. Damit fehlen ihnen die für akratisches Handeln erforderlichen Vorausset-zungen (vgl. DA 433b5–10).

(c) Erneute Diskussion der Frage nach dem Wissen des AkratikersIn T 18 hat Aristoteles die Frage nach der Genese akratischer Handlungen auf na-turphilosophische Weise beantwortet. Es ergab sich, dass es für den schwachen Akratiker charakteristisch ist, zwei Kandidaten für den ‚Obersatz‘ des (so oder so) zur Handlung führenden ‚praktischen Syllogismus‘ zu haben, von denen jedoch nur eine ‚praktisch‘ werden, d.h. für die konkrete Tat als relevante Beschreibung ausge-sucht werden kann. Beim Akratiker ist dies die Beschreibung, die die Befriedigung seiner Begierde gestattet. Die andere Beschreibung – die, die seiner langfristigen rationalen Strebung entspricht – wird deswegen aber nicht etwa gar nicht gewusst, sondern nur nicht als die in dieser Situation relevante Beschreibung akzeptiert. Als Meinung ist sie in der Seele des Akratikers also gegenwärtig, oder, wie Aristoteles sich ausdrückt, sie ‚spricht‘ zwar in ihm (levgei), zur Handlung ‚anleiten‘ jedoch, bzw. ‚den Ausschlag geben‘ (a[gei; 1147a34), tut die andere Meinung. In T 19 ver-weist er darauf, dass auch die akratische Handlung in rechtfertigender Weise durch einen allgemeinen Satz beschrieben wird. Dann geht er auf das Verhältnis der beiden Sätze ein: Als theoretische Sätze sind sie miteinander kompatibel, nicht aber als handlungsanleitende Sätze. Damit ist eigentlich alles gesagt, was eine Erklärung der (schwachen) akratischen Handlung als Selbsttäuschung mindestens fordert. Aristo-teles fährt aber fort. Er ist nun in einer Position, die es ihm erlaubt, die in T 13 und T 15 gegebene Antwort auf die Frage nach der Weise des Wissens des Akratikers mithilfe der naturphilosophischen Erklärung zu präzisieren. Dies geschieht in T 20.

T20 „Da die letzte Prämisse eine Meinung über einen wahrnehmbaren Gegenstand und für die Handlungen ausschlaggebend ist, hat (der Akratiker die der richtigen Beschreibung entspre-chende Meinung) entweder nicht, da er sich in der Emotion befindet, oder er hat sie auf solche Weise, dass das Haben nicht hieß zu wissen, sondern aufzusagen, so wie der Betrunkene Verse des Empedokles aufsagt. Und deswegen, weil der äußerste Term weder gleichermaßen allgemein noch wissenschaftlich zu sein scheint wie der allgemeine, scheint sich auch das zu ergeben, was Sokrates beschäftigte: Das Widerfahrnis (der Akrasie) ereignet sich nämlich nicht in der Anwe-

handelt an seinem Wunsch vorbei (parav), denn niemand wünscht etwas, von dem er nicht glaubt, es sei gut, und der Akratiker tut das nicht, von dem er glaubt, er solle es tun.“ Es heißt nicht, ‚er tut das, von dem er glaubt, er solle es nicht tun‘.

36 Sie ist kurzfristiger Natur. Nach der Tat bereut der Akratiker seine Handlung (EN 1150b30f.).

1678. Akrasie bei Aristoteles: Die erste Aporie

senheit dessen, was eigentliches Wissen zu sein scheint, und dieses wird auch nicht aufgrund der Emotion herumgeschleppt, sondern das Wahrnehmungswissen.“ (EN 1147b9–17)

Zunächst: Bei der hier gegebenen Deutung braucht Aristoteles in T 20 der in T 18 und T 19 vorgebrachten Erklärung keine wesentlichen neuen Punkte hinzuzufügen. Stattdessen geht es darum, die in T 13 und T 15 bereits geklärte Frage nach der Weise des Wissens, wider das der schwache Akratiker handelt, auf die naturphilosophische Erklärung von T 18 und T 19 anzuwenden. Es ergibt sich folgendes Bild: Unter der „letzten Prämisse“ (teleutaiva provtasi~) ist an dieser Stelle am natürlichsten der das Einzelne betreffende ‚Untersatz‘ eines ‚praktischen Syllogismus‘ zu verstehen. Die hier relevante Frage nach dem Wissen des Akratikers bezieht sich auf seine Meinung, die der richtigen Beschreibung (ojrqo;~ lovgo~) der von ihm begehrten Tat entspricht. Sie ist diejenige Meinung, die gerade nicht in den ‚praktischen Syllogis-mus‘ einfließt bzw. ‚praktisch‘ wird (vgl. 1147a34: „so sagt die eine (von zwei das Einzelne betreffenden Meinungen) zwar, dass man dies meiden soll (…)“). Denn, täte sie dies, müsste es zur ‚richtigen‘ Handlung kommen, weil der ‚Untersatz‘ „für die Handlungen ausschlaggebend“ ist (1147b10).37 Auf welche Weise wird diese Meinung also vom Akratiker gewusst? Aristoteles zieht zwei Möglichkeiten in Be-tracht: Entweder er weiß sie gar nicht oder er weiß sie mit der in T 15 gemachten Einschränkung (in der Weise der Betrunkenen …). Nun kommt der erste Fall für den schwachen Akratiker nicht in Frage, denn Wissen, das aufgrund starker Emotionen vorübergehend nicht abrufbar ist, kann auch nicht zur praktisch relevanten Beschrei-bung von Handlungsweisen dienen. In T 18 wurde aber ein Fall beschrieben, bei dem das richtige Wissen als Meinung über den Einzelgegenstand durchaus vorhan-den ist.38 Es bleibt also nur Möglichkeit zwei: Der schwache Akratiker weiß in ähnlicher Weise wie die Schauspieler (1147a22–24). Er hat zwar das vollständige relevante Wissen, ist aber aufgrund der starken Begierde nicht fähig, den praktischen Bezug zum eigenen Verhalten auf eine solche Weise herzustellen, dass er auch ent-sprechend handelt. Dies alles ist uns aus T 15 hinlänglich bekannt. Was in T 20 gegenüber T 15 hinzukommt, ist, dass wir hier erfahren, dass das relevante Wissen nur solches Wissen betrifft, das als möglicher ‚Untersatz‘ eines ‚praktischen Syllo-

37 Dies ergibt sich auch aus der Auffassung des ‚praktischen Syllogismus‘, wie sie hier vertreten wird: Wenn die Konklusion eine Handlung ist (bzw. so oder so notwendig auf sie führt), dann sind mit dem Vorliegen des Untersatzes die hinreichenden Bedingungen für das Stattfinden der Handlung gegeben.

38 Im Falle des nicht vorhandenen Wissens geht es offenbar um den in EN 1150b19–22 beschrie-benen Fall ‚impulsiver‘ Akrasie (propevteia). Auch hier ist das betreffende ‚richtige‘ Wissen zwar irgendwie vorhanden, jedoch so, dass es aufgrund starker Begierde vorübergehend voll-ständig ausgeblendet wird. Der impulsive Akratiker hat die richtige allgemeine moralische Überzeugung, seine Begierde ist jedoch so stark, dass es in der konkreten Situation gar nicht erst dazu kommt, seine richtige allgemeine Überzeugung (den ojrqo;~ lovgo~) abzurufen (sie sich zu vergegenwärtigen). Es findet also auch keine Selbsttäuschung statt. Aristoteles stellt die impulsiven Akratiker deswegen moralisch über die schwachen Akratiker; vgl. EN 1151a1–3: „Unter diesen (gemeint sind die Akratiker) sind die, die außer sich geraten, besser als diejenigen, die zwar die (richtige) Beschreibung haben, aber nicht bei ihr bleiben: Denn sie unterliegen einer geringeren Emotion und sind nicht vorher nicht mit sich zurate gegangen wie die ande-ren.“

168 Klaus Corcilius

gismus‘ in Frage kommt, und dass es sich dabei nicht um allgemeines Wissen als solches handelt, sondern um allgemeines Wissen, das auf einen konkreten Gegen-stand angewendet wird. Es geht dabei um Wissen von der Form ‚a ist F‘, wobei a einen wahrnehmbaren Gegenstand bezeichnet und F dessen allgemeine Beschrei-bung. Die Art von Wissen, die für ‚Untersätze‘ ‚praktischer Syllogismen‘ in Frage kommt, ist somit Wissen, das in Prämissen zum Ausdruck kommt, deren einer Term (o{ro~; 1147b14) nicht allgemein ist. Damit handelt es sich auch für Aristoteles nicht um ‚Wissen‘ im emphatischen, wissenschaftlichen Sinn des Wortes. Solches Wissen ist für ihn notwendig und allgemein.39 Praktisches Wissen betrifft dagegen immer konkrete Einzeldinge und ist nur als solches korrumpierbar.40 Nicht echtes Wissen im Sinne der Wissenschaft, sondern nur Wissen von konkreten Einzeldingen kann also ‚herumgeschleppt‘ werden, wie Sokrates sich ausdrückte. Wenn ich richtig liege, deutet Aristoteles dieses ‚Herumgeschleppt-Werden‘ des Wissens so, dass der schwache Akratiker die (moralisch richtige) allgemeine Beschreibung eines von ihm stark begehrten Einzelgegenstandes als die für sein Handeln entscheidende Beschrei-bung durch eine andere (moralisch falsche) allgemeine Beschreibung ersetzt. Das vernünftige Wissen vom Einzelgegenstand wird so von seiner Position als ‚prakti-sches‘, d.h. handlungsanleitendes Wissen ‚weggeschleppt‘, und zwar, wie wir gese-hen haben, auf solche Weise, dass die neue Beschreibung der alten (als theoretischer Gehalt) nicht direkt widerspricht und es dem Akratiker so (prima facie) erlaubt, den begehrten Einzelgegenstand zu genießen, ohne seinen Vorsatz aufzugeben.

Vor dem Hintergrund dieser Erklärung kann Aristoteles sich abschließend wie-der Sokrates’ Sicht der Akrasie zuwenden. Sokrates’ Leugnung des Phänomens ist für ihn insofern nachvollziehbar, als sie auf einer richtigen Beobachtung basiert: Es ist, wie sich herausgestellt hat, tatsächlich nicht das eigentliche Wissen, dem zuwi-der gehandelt wird. Das allgemeine Wissen der Wissenschaft wird durch den Akra-tiker nicht korrumpiert. Aristoteles ist hier bemüht, die Gemeinsamkeiten mit der Sokratischen Position herauszustellen. Hinter seiner versöhnlichen Formulierung verbirgt sich jedoch, wie ich glaube, ein Begriff des Wissens, der zumindest in einer Hinsicht nicht verschiedener von dem Sokratischen Wissensbegriff hätte sein kön-nen: Während Sokrates Aristoteles zufolge dachte, echtes Wissen könne niederen Impulsen deswegen nicht unterliegen, weil es ‚das Stärkste‘ sei und also selbst in irgendeiner nicht näher bestimmten Weise motivational wirken könne (motivational hinreichend sei41), ist für Aristoteles das allgemeine Wissen nur deswegen von der

39 Apo. 87b38f.; 88b31f.; DA 417b22f.; EN 1140b31ff. Auf den verschiedenen Weisen des Wis-sens, je nachdem, ob es sich um allgemeine oder Einzelsätze handelt, basierte auch schon das Argument in T 12.

40 Vgl. EN 1140b13-16: „Nicht jede Art von Annahme nämlich verdirbt und verzerrt das Lustvol-le und das Leidvolle, wie z.B. dass das Dreieck eine Winkelsumme von zwei rechten Winkeln hat oder nicht hat, sondern solche, die mögliche Gegenstände von Handlungen betreffen.“ Das allgemeine Wissen der Wissenschaft ist also nicht korrumpierbar. Mögliche Gegenstände von Handlungen sind konkrete Einzeldinge (EN 1147a3f. und 1143a25ff.). Die Grund für die Be-hauptung scheint zu sein, dass Wissen von Einzeldingen deswegen korrumpierbar ist, weil Einzeldinge Objekte von Lust/Leid – Empfindungen sein können, was typischerweise für die Gegenstände unserer Handlungen, nicht aber für allgemeine und abstrakte Objekte gilt.

41 Vgl. Anm.3.

1698. Akrasie bei Aristoteles: Die erste Aporie

Korrumpierung durch akratische Akteure ausgenommen, weil es für sich genommen, als allgemeines Wissen und ohne Anwendung auf den Einzelfall, motivational so gut wie irrelevant ist.42 Aristoteles schließt sich hier also nicht etwa der Sokratischen Position an, sondern erklärt nur auf der Grundlage seiner eigenen Theorie, wie für Sokrates der Eindruck entstehen konnte, der ihn zu seiner falschen Annahme ge-bracht hat.

11. Nachtrag zum Wissen des schwachen Akratikers

1) Der hier vorgeschlagenen Lösung zufolge ist das eigentliche Wissen bei Aristo-teles deswegen von der Korrumpierung durch Lust und Leid ausgenommen, weil es als allgemeines wissenschaftliches Wissen konkrete Einzeldinge nicht direkt betrifft. Dem scheint entgegenzustehen, dass Aristoteles in seinen verschiedenen Anläufen zur Beantwortung von Frage 2 nicht nur das allgemeine Wissen von der Korrumpie-rung durch starke Emotionen ausgenommen hat, sondern darüber hinaus auch noch andere Formen des Wissens. Dies waren das aktuale Wissen und der aktuale Syllo-gismus in T 11 und T 12. In T 12 wurde sogar eine Form des Wissens als Wissen des Akratikers ausgeschlossen, die sich ausdrücklich auch auf konkrete Einzeldinge richtet. Dies war das Beispiel in 1147a7 „(…) aber (das Wissen), ob dies hier von dieser Art ist, hat er entweder nicht oder gebraucht es nicht.“ Damit scheint, wie oben bereits gesagt, solches Wissen gemeint zu sein, das vorliegt, wenn man einen Schluss (Syllogismus) zieht, also das Wissen, das vorliegt, während man einen Sachverhalt, der einen konkreten Einzelgegenstand betrifft, intellektuell so erfasst, dass man ihn gerade aktual begreift. Während dieser Augenblicke schließt Aristote-les ein auf dieses Wissen bezogenes akratisches Verhalten aus. Doch warum sollte dies der Fall sein, wenn Aristoteles, wie gerade erwähnt wurde, der Meinung war, Wissen per se habe keine motivationalen Implikationen? Hier verhält es sich in der Tat so, dass eine andere Begründung für die Nicht-Korrumpierbarkeit dieses Wissens herangezogen werden muss. Wir werden aber sehen, dass es sich dabei keineswegs um eine Begründung handelt, die Aristoteles Zugeständnisse in Richtung auf Sok-rates’ motivationale Implikation des Wissens abfordert.

Mit ‚Wissen‘ (ejpisthvmh) bezeichnet Aristoteles nämlich nicht nur einen auf gewisse Weise (durch Beweis) gerechtfertigten epistemischen Zustand, sondern ebensosehr auch eine intellektuelle Tugend, die in dem Vollzug dieses Wissens be-steht (EN 1139b18–36): Eben deswegen, weil es eine Tugend ist, ist es im Augen-blick des Wissensvollzugs nicht möglich, dass man gleichzeitig mit Bezug auf dieses Wissen verwerflich handelt. Akratiker handeln verwerflich. Aktual Wissende können daher nicht akratisch handeln. Nichts hindert jedoch, dass dieselbe Person dieses Wissen im nächsten Augenblick für ihre moralisch verwerflichen Zwecke instrumentalisiert oder ihm auf akratische Weise zuwider handelt. Die Ausnahme des aktualen Begreifens von Sachverhalten, die konkrete Einzeldinge betreffen, beinhaltet also keine These hinsichtlich einer motivationalen Relevanz des Wissens.

42 Vgl. EN 1139a35f.; DA 432b26–433a6, a23, 433a14f.; MA 700b24–28.

170 Klaus Corcilius

Es ist eine These, die sich auf den Vollzug des Wissens im Augenblick des aktualen Begreifens beschränkt. Aristoteles nimmt zwar bestimmte Formen des Wissens von der Möglichkeit aus, dass man ihnen zuwider handelt, doch dies bedeutet nicht, dass diese Weisen des Wissens für ihn motivationale Implikationen im Sinne eines diesem Wissen entsprechenden Handelns hätten. Es ist also nicht so, dass, hätte der schwa-che Akratiker das eigentliche Wissen, er auch dementsprechend handeln würde, sondern nur so, dass er in dem Moment des aktualen Begreifens von Sachzusam-menhängen nicht verwerflich handeln kann. Auf diesen Umstand führt sich m.E. die distanzierte Formulierung in EN 1147b15f. zurück („Das Widerfahrnis (der Akrasie) ereignet sich nämlich nicht in der Anwesenheit dessen, was eigentliches Wissen zu sein scheint ….“ (ouj ga;r th`~ kurivw~ ejpisthvmh~ ei\nai dokouvsh~ parouvsh~)): Wis-sen, das nicht gerade aktual begriffen wird, ist potentielles Wissen. Eigentliches Wissen besteht für Aristoteles in dem aktualen Vollzug von Wissen. Da es sich dabei um eine Tugend handelt, kann es nicht das Wissen des Akratikers sein. Deswegen scheint es sich auch bei dem allgemeinen Wissen des Akratikers nur um eigentliches Wissen zu handeln.43 Wir sind bei der Frage nach der Weise des Wissens des Akra-tikers also gehalten, die Aristotelischen Unterscheidungen zwischen aktualem und potentiellem Wissen zu berücksichtigen, die unserem (und vielleicht Sokrates’) Alltagsverständnis von ‚Wissen‘ nicht unbedingt entsprechen, aber den Grund dafür abgeben, dass er bestimmte Weisen des Wissens von akratischem Handeln aus-schließt.

2) Bei der hier gegebenen Deutung könnte man es vielleicht für problematisch ansehen, dass Aristoteles an mindestens zwei Stellen dem Akratiker die Fähigkeit zur prämeditierten, planvollen Durchführung seiner akratischen Absichten zuspricht (EN 1142b18–20, 1152a10–14).44 Denn, so könnte man fragen, wie sollte der Akra-tiker noch dazu fähig sein, sein Ziel planvoll umzusetzen, wenn er durch die wahr-nehmbare Präsenz eines von ihm stark begehrten Gegenstandes so korrumpiert ist, dass er sich selbst über die moralische Qualität seiner Absicht täuscht (i)? Erschwe-rend kommt hinzu, dass der Akratiker ja nicht aus Vorsatz verwerflich handelt: Wie kann man aber planvoll etwas tun, ohne den entsprechenden Vorsatz zu haben (ii)? Zu (i): Das Denken des Akratikers ist nicht schlechthin korrumpiert, sondern nur in Hinsicht auf den begehrten Gegenstand. Und hier auch nicht auf den Gegenstand als solchen, sondern nur als Gegenstand seiner Handlung (praktovn; vgl. das oben in Anm. 40 schon zitierte EN 1140b13–16). Komplizierten Zweck/Mittel – Erwägun-gen zur Realisierung seines Zieles steht daher nichts im Wege, weil sie nur das Sachwissen über die Welt und den begehrten Einzelgegenstand betreffen, nicht aber dessen moralische Rechtfertigung in Form einer allgemeinen Beschreibung dessel-ben. Nur diese ist von der Korrumpierung betroffen. (ii) kann mit derselben Unter-

43 Es ist also nicht so (wie man vielfach annimmt), dass Aristoteles in T 20 deswegen Sokrates’ These zustimmen kann, weil für beide das wissenschaftliche Wissen Wissen von allgemeinen Prämissen ist. Dies ist für ihn genau genommen immer noch potentielles Wissen. Für echtes Wissen braucht es den Vollzug von Syllogismen, d.h. auf gewisse Weise begründenden Arran-gements mehrerer Prämissen (zum Wissen, vgl. Apo I 2, 71b9ff.).

44 Darauf, dass diese Stellen ein Problem für die hier vorgetragene Sicht darstellen könnten, hat mich in der Diskussion Hendrik Lorenz aufmerksam gemacht.

1718. Akrasie bei Aristoteles: Die erste Aporie

scheidung innerhalb des Handlungszwecks aufgelöst werden: Der Handlungszweck ist teils ein konkreter Gegenstand, über den es als solchen konkretes Sachwissen gibt, teils dient er der Realisierung eines bestimmten Zwecks, der in (relativ) allge-meinen Termen beschrieben wird und moralisch bewertbar ist.45 Der Akratiker macht sich selbst etwas vor nur hinsichtlich der moralischen Beschreibung seiner Hand-lungsweise; darüber, welchen konkreten Einzelgegenstand er begehrt, macht er sich nichts vor. Wenn er also prämeditiert handelt, handelt er zwar schlecht und er handelt aus Vorsatz, er handelt jedoch nicht prämeditiert aus schlechtem Vorsatz (vgl. EN 1151a5ff.), d.h. er kann zwar planvoll bei der Realisierung seines akratischen Zwecks vorgehen, er kann aber nicht planen, akratisch zu handeln. Wenn es vom Akratiker also heißt, er setzt sein Handlungsziel planvoll um, so bezieht sich dies nur auf die Herbeiführung des konkreten Gegenstandes, nicht aber auf das planvolle Durchführen einer moralisch verwerflichen Absicht. Im Gegenteil: Der schwache Akratiker ist ja gerade derjenige, der sich selbst täuscht, um sich seine moralisch verwerfliche Handlungsweise nicht eingestehen zu müssen.

12. Schluss

Die erste Aporie zur Akrasie in EN VII beantwortet zwei Fragen, nämlich (i) ob es sich beim Wissen des Akratikers tatsächlich um Wissen handelt und (ii) welches die Weise des Wissens ist, über das der Akratiker verfügt.

Die erste Frage beantwortet Aristoteles damit, dass er prinzipiell Fragen der objektiven Rechtfertigung von Wissen von Fragen der Handlungserklärung trennt. Aus der motivationalen Perspektive betrachtet ist es unerheblich, ob das Wissen, über das der Akratiker verfügt, gerechtfertigt bzw. wahr ist oder nicht, wichtig ist nur, ob er davon überzeugt ist.

Die zweite Frage wird beantwortet, indem Aristoteles zunächst 3 Weisen nennt, in denen man von Wissen sprechen kann, die mit akratischem Handeln kompatibel sind. Dabei stellt erst die dritte Antwort eine spezifisch für den schwachen Akratiker gültige Antwort dar, weil nur bei ihr das relevante Wissen während der Tat im Akteur präsent ist: Im Augenblick ihres Handelns wissen die Akratiker auf solche Weise die vernünftige Beschreibung ihrer Handlung, wie Betrunkene, Neulinge in der Wissen-schaft und Schauspieler ‚wissen‘. D.h. sie stehen in einer Relation zu dem gewussten Gehalt, der dem Gehalt ihres Wissens nicht gerecht wird. Für die Schauspieler be-deutet dies, dass sie den Text ihrer Rolle zwar sprechen, aber nicht im Ernst auf ihre eigene, nicht-fiktionale Person beziehen, für die Betrunkenen, dass sie zwar die Verse des Empedokles aufsagen können, jedoch ohne sie zu verstehen; für den schwachen Akratiker schließlich bedeutet es, dass sein motivationales Verhalten nicht mit seinem Wissen davon, was er tun soll, übereinstimmt. Dann wird die Ge-nese einer akratischen Handlung mithilfe des naturphilosophischen Erklärungsmo-dells des ‚praktischen Syllogismus‘ erklärt. Der schwache Akratiker wird beschrie-ben als jemand, der für einen gegebenen Einzelgegenstand eine starke, mit perzep-

45 Vgl. EE 1217a35–39.

172 Klaus Corcilius

tiver Lust verbundene Begierde empfindet, jedoch gleichzeitig über eine (vernünf-tige) allgemeine Beschreibung der von ihm begehrten Handlungsweise verfügt, die ihm diese untersagt. Das Spezifische des schwachen Akratikers besteht darin, dass er der Strebung, die sich auf die vernünftige Beschreibung des begehrten Gegen-standes bezieht, nicht Folge leistet und stattdessen nach einer anderen Beschreibung sucht, die folgende Kriterien erfüllt: Einerseits soll sie dem Akratiker den Genuss der begehrten Handlungsweise erlauben und andererseits darf sie nicht in offenem Gegensatz zu seinem guten Vorsatz stehen. Schwache Akrasie ist daher eine Art der Selbsttäuschung über Handlungsgegenstände vor der Tat. Nichtsdestotrotz kann der schwache Akratiker während seiner akratischen Handlung auch die vernünftige Beschreibung seiner Handlungsweise wissen. Er steht aber in einer moralisch feh-lerhaften Relation zu diesem Wissen, in deren Konsequenz er sich den praktischen Widerspruch zu seinem Verhalten nicht klar macht.

Aristoteles beschreibt mit der Akrasie ein moralisches Problem (ein verwerfli-ches Verhalten), das sich auf eine bestimmte fehlerhafte Relation des motivationalen Verhaltens einer Person zu ihrem Wissen davon, was das Richtige zu tun ist, zurück-führt. Dies unterscheidet seine Erklärung von der Masse der modernen Diskussionen des Themas seit Davidson.46 Ein weiterer wichtiger Unterschied liegt in seinem sehr spezifischen und differenzierten Wissensbegriff. Am wichtigsten scheint mir zu sein, dass er die (Sokratischen) Voraussetzungen rationaler Urteilstheorien der Intention nicht teilt; schwache Akrasie stellt deswegen keine wirkliche Herausforderung für seine Handlungstheorie dar (oder stellt zumindest keine größere Herausforderung an ihn als die anderen fünf Aporien zur Akrasie): Aristoteles hat nicht das große handlungstheoretische Problem, dass, wer akratisch handelt, aus gar keinem Grund oder aus einem schlechteren47 Grund handelt, sondern nur das kleine Problem, dass jemand nicht aus dem Grund handelt, den er moralisch für den besseren hält.

46 Vgl. Davidson (1969), 30, Anm.14.47 Die von Davidson für Situationen interner Konflikte als typisch angesehene Struktur kompara-

tiver Urteile (im Falle des Akratikers: ‚A ist besser als B‘ und getan wird B; vgl. Davidson (1969), 35f.) entspricht für Aristoteles nicht der Struktur moralischer Konflikte (die für ihn Konflikte zwischen zwei Strebungen sind), sondern hat eine deliberative Struktur (vgl. DA 434a7–15). Die Frage, ob jemand in einer gegebenen Situation moralisch handeln soll, ist für ihn keine Frage, die sich durch einen Deliberationsprozess entscheiden lässt, weil der erstrebte Handlungszweck, dessen allgemeine Beschreibung die Handlung moralisch erst bewertbar macht, Voraussetzung der Deliberation ist (EN 1112b11ff.) und von der Tugend bzw. Schlech-tigkeit des Akteurs bestimmt wird (EN 1151a15–19). In diesem Punkt spricht Aristoteles der menschlichen Überlegung vielleicht weniger Kompetenzen zu, doch spricht dies noch keines-falls gegen seine Theorie: Die Probleme, die in der modernen Diskussion mit der Akrasie ver-bunden sind, hat Aristoteles mit seiner Erklärung des schwachen Akratikers jedenfalls nicht. Und ob durch die Struktur der rationalen Güterabwägung die typische Struktur interner Konflikte adäquat beschrieben wird, kann man bezweifeln.