Adorno über literarische Erkenntnis

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Sonderdruck aus Textgelehrte Literaturwissenschaft und literarisches Wissen im Umkreis der Kritischen Theorie Herausgegeben von Nicolas Berg und Dieter Burdorf Vandenhoeck & Ruprecht ISBN 978-3-525-30049-7

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Sonderdruck aus

TextgelehrteLiteraturwissenschaft und literarisches Wissen im Umkreis der Kritischen Theorie

Herausgegeben von Nicolas Berg und Dieter Burdorf

Vandenhoeck & RuprechtISBN 978-3-525-30049-7

Inhalt

EINLEITUNG

Nicolas Berg, Dieter BurdorfTextgelehrsamkeit. Ein Denkstil und eine Lebensweise zwischen Wissenschaft und Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9

I. Voraussetzungen und Anfänge Georg Lukács (1885–1971)

RELEKTÜRE

Gerhard ScheitDer Gelehrte im Zeitalter der »vollendeten Sündhaftigkeit«. Georg Lukács’ Theorie des Romans und der romantische Antikapitalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39

Ernst Bloch (1885–1977)

RELEKTÜRE

Dirk OschmannErzählendes Denken – Denkendes Erzählen. Ernst Blochs Spuren . . . 65

Max Horkheimer (1895–1973)

RELEKTÜRE

Susanne ZeppMax Horkheimer: Montaigne und die Funktion der Skepsis . . . . . . . 81

Siegfried Kracauer (1889–1966)

ESSAY

Mirjam WenzelVon Buchstaben, Träumen und Vorräumen. Die »Close-Up-Perspektive« Siegfried Kracauers . . . . . . . . . . . . . 91

RESPONDENZ

Silke Horstkotte»Steinchen eines Mosaiks«. Siegfried Kracauer als Bildgelehrter . . . . 103

RELEKTÜRE

Dorothee KimmichÜberleben im Niemandsland oder die Entdeckung raumzeitlicher interzones. Siegfried Kracauers Abschied von der Lindenpassage . . . . 109

II. WegeWalter Benjamin (1892–1940)

ESSAY

Bernd AuerochsText und Kommentar bei Walter Benjamin . . . . . . . . . . . . . . . . 125

RESPONDENZ

Markus WiegandtZum Beitrag von Bernd Auerochs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139

RELEKTÜRE

Andreas B. KilcherErlösung durch Spiel. Benjamin liest Kafka . . . . . . . . . . . . . . . . 143

Theodor W. Adorno (1903–1969)

ESSAY

Philipp von WussowAdorno über literarische Erkenntnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159

RESPONDENZ

Detlev ClaussenFußnoten zur Literatur. Zum Beitrag von Philipp von Wussow . . . . 185

RELEKTÜRE

Elisabetta Mengaldo»Zuflucht vor der Totale«. Dialektik und Konstellationen in zwei Texten der Minima Moralia . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195

Leo Löwenthal (1900–1993)

ESSAY

Jan SüselbeckDie Außenseiter sind die Lehrer. Leo Löwenthals Konzept einer Sozialgeschichte der Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215

RESPONDENZ

Hans-Joachim HahnKunst als Residuum des Utopischen. Zum Literaturbegriff Leo Löwenthals . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 233

Herbert Marcuse (1898–1979)

RELEKTÜRE

Toni TholenHerbert Marcuse: Über den affirmativen Charakter der Kultur . . . . . 241

III. AuseinandersetzungenGershom Scholem (1897–1982)

ESSAY

Daniel WeidnerLernen, Lesen, Schreiben. Gershom Scholem und die ›jüdische Textgelehrsamkeit‹ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 259

RESPONDENZ

Ottfried FraisseZum Beitrag von Daniel Weidner . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 281

Hannah Arendt (1906–1975)

ESSAY

Sigrid WeigelBuchstäblichkeit. Walter Benjamins und Hannah Arendts Denken auf den Spuren der Sprache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 289

ESSAY

Irmela von der LüheErzählen als ›Bewältigen‹. Hannah Arendt und die Dichtung . . . . . 309

RESPONDENZ

Elisabeth GallasZum Beitrag von Irmela von der Lühe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 321

Erich Auerbach (1892–1957)

ESSAY

Galili ShaharAuerbachs Narben. Der Monotheismus und die Frage der Literatur . . 329

RESPONDENZ

Natasha GordinskyZum Beitrag von Galili Shahar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 353

IV. AnschlüsseHans Mayer (1907–2001)

ESSAY

Dirk WerleHans Mayer zwischen Wissenschaft und Kritik. Zum Denkstil eines Außenseiters der Kritischen Theorie . . . . . . . . 361

RESPONDENZ

Anna LuxIntegration eines Außenseiters. Zum Beitrag von Dirk Werle . . . . . 383

Peter Szondi (1929–1971)

ESSAY

Andreas IsenschmidPeter Szondi. Portrait des Literaturwissenschaftlers als junger Mann . 389

RESPONDENZ

Dieter BurdorfDer letzte Textgelehrte. Bemerkungen zu Peter Szondi . . . . . . . . . 409

RELEKTÜRE

Thomas SparrPeter Szondi: Über philologische Erkenntnis . . . . . . . . . . . . . . . . 427

Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 439

Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 443

Adorno über literarische Erkenntnis 159

ESSAY

Philipp von Wussow

Adorno über literarische Erkenntnis

I. Einleitung

Dass von Musik »Erkenntnischarakter« zu fordern sei, hat Adorno bereits 1932 unmissverständlich erklärt.1 Die Konzeption ästhetischer Erkenntnis blieb zunächst auf den Gegenstand der Musik beschränkt. Erst in den 1950er Jahren, nach der Rückkehr aus dem Exil, begann Adorno, literaturkritische Essays zu publizieren, um mit ihnen in die intellektuellen Debatten der frü-hen Bundesrepublik einzugreifen. Anders als im Fall der Musik tritt Adorno hier nicht als Fachmann auf; primär verbindet sich in den Noten zur Litera­tur die Liebe zu den Texten mit dem Anspruch einer radikalen kritischen Intervention. Erkenntnisse legitimieren sich aus dem Zusammenspiel von mit unter idiosynkratischen frühen Lektüreerfahrungen und einer philo-sophisch-gesellschaftlichen Theorie; die Analysen gelten nicht so sehr den technischen Details der Werke und bleiben dadurch oftmals konventionel-ler als die musikalischen Analysen. Doch gerade im Bereich der literarischen Studien entwickelte Adorno in den 1950er und 1960er Jahren eine außeror-dentliche Produktivität – was er selbst auf seine umfangreichen Vorarbeiten aus der Zeit des Exils zurückführte2 – und verzeichnete große äußere Erfolge.

Eine Wirkungsgeschichte dieser Arbeiten zu schreiben, würde eine genaue Analyse der literarischen und gesellschaftlichen Kontexte erfordern, auf die Adornos Interventionen jeweils reagieren. Doch nicht zuletzt ist die Wen-dung zur Literatur auch in dem philosophischen Erkenntnisinteresse be-gründet, das sich durch die historischen Erfahrungen sowohl schärft als auch erweitert. Dieses Erkenntnisinteresse ist das Thema der vorliegenden Unter-suchung. Adorno stellt seine philosophische Arbeit, um eine prägnante For-

1 Theodor W. Adorno: Zur gesellschaftlichen Lage der Musik. In: ders.: Gesammelte Schrif-ten. Hg. v. Rolf Tiedemann [künftig zitiert: GS]. Bd. 18. Frankfurt/M. 1984, S. 729−777, hier S. 732.

2 Vgl. Adornos Brief an Siegfried Kracauer vom 1. September 1955. In: ders.: Briefe und Brief-wechsel. Bd.  7: Theodor W. Adorno; Siegfried Kracauer: Briefwechsel 1923–1966. Hg. v. Wolfgang Schopf. Frankfurt/M. 2008, S. 480−483, hier S. 481.

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mulierung Ernst Cassirers aufzugreifen, »unter den Imperativ des Werkes«3 und, korrelativ dazu, der Interpretation. Die Beschäftigung mit den Werken ist dabei keine bloße Ergänzung der eigentlichen Arbeit, sondern sie führt mitten in das Zentrum der theoretischen Erkenntnis hinein und mitunter auch über diese hinaus.

Eine Vergegenwärtigung dieses Programms jenseits der unmittelbaren Kontexte ist zugleich eine Aufgabe im Sinne einer post-postmodernistischen Kritik der Kritik  – einer durchaus sympathetischen Kritik, die nach dem Ende der Postmoderne die Errungenschaften der Moderne neu vergegenwär-tigen will. Vielleicht lässt sich erst außerhalb der polemischen Konstellation von Postmoderne und Moderne die Frage adäquat stellen, worum es bei die-sen Errungenschaften jeweils eigentlich ging.

Im Hinblick auf den Untersuchungsgegenstand lässt sich die Frage so stellen: Welche Art von Erkenntnis gewinnt Adorno tatsächlich durch Li-teratur? Was erfährt er aus der Literatur, das er nicht bereits vorher wusste? Darauf gibt es zwei mögliche plausible Antworten. Eine lautet, dass kein lite-rarischer Text Adornos Philosophie eine entscheidend andere Richtung hätte geben können;4 er erkennt im Grunde nichts Neues, da er den Werken eine bestimmte theoretische Begrifflichkeit aufoktroyiert, um an ihnen eine vor-gefertigte Betrachtungsweise zu legitimieren.5 Die andere Antwort lautet, dass Adorno in moderner Literatur, bei Kafka oder Beckett, etwas erkennt, das seiner Philosophie unverfügbar ist.6 Sie ergibt sich meines Erachtens aus dem Kontext der Frage nach dem Status philosophischer Erkenntnis nach Auschwitz. Gemäß der unmissverständlichen Anweisung, »daß jeder Ge-danke, der an diesen Erfahrungen nicht sich mißt, völlig ohnmächtig, völlig gleichgültig, bloßer Spaß ist«,7 versucht Adorno zu bestimmen, was an den Werken unbestimmbar ist.

3 Ernst Cassirer: Über Basisphänomene. In: ders.: Zur Metaphysik der symbolischen For-men. Nachgelassene Manuskripte und Texte. Hg. v. John Michael Krois. Bd. 1. Hamburg 1995, S. 119−195, hier S. 190.

4 Jan Philipp Reemtsma: Der Traum von der Ich-Ferne. Adornos literarische Aufsätze. In: Axel Honneth (Hg.): Dialektik der Freiheit. Frankfurter Adorno-Konferenz 2003, Frankfurt/M. 2005, S. 318–363, hier S. 346.

5 Manfred Jurgensen: Adornos Literaturkonzept. In: Axel Honneth; Albrecht Wellmer (Hg.): Die Frankfurter Schule und die Folgen. Berlin; New York 1986, S. 339–352, bes. S. 347; Ger-hard van den Bergh: Adornos philosophisches Deuten von Dichtung. Ästhetische Theo-rie und Praxis der Interpretation: Der Hölderlin-Essay als Modell. Bonn 1989, S. 19 f. u. 196.

6 Wolfram Ette: Adorno und Beckett. Zur Gegenwart des Existentialismus in Adornos Den-ken. In: ders. u. a. (Hg.): Adorno im Widerstreit. Zur Präsenz seines Denkens. Freiburg; München 2004, S. 339–362.

7 Theodor W. Adorno: Zur Lehre von der Geschichte und von der Freiheit. Frankfurt/M. 2001, S. 280.

Adorno über literarische Erkenntnis 161

Diese beiden Möglichkeiten sind nicht bloß zwei verschiedene Lesarten, vielmehr handelt es sich um zwei widerstreitende Impulse in Adornos Theo-rie literarischer Erkenntnis selbst. Der eine Impuls drängt darauf, Erkennt-nis als gesellschaftliche Erkenntnis zu fassen, und zwar als Erkenntnis über die Beschaffenheit der kapitalistischen Gesellschaft; sie besteht vor allem in der doppelten Einsicht, wie schlimm es wirklich ist und warum es ganz an­ders sein könnte. Dem anderen Impuls zufolge besteht das Erkenntnispoten-tial der Literatur gerade in der Unbestimmtheit dessen, was zu erkennen sei. Demnach werden durch Literatur Erfahrungen und Erkenntnisse vermit-telt, die sich nur mühevoll in das Paradigma der Gesellschaft – die zur Theo-rie gewordene zweifache Erwartung von Ungerechtigkeit und Ausbeutung8 – zurückübersetzen lassen. Die Spannung zwischen den beiden Konzeptionen, ihre Unvereinbarkeit, aber auch die unerwarteten Einsichten, die Adorno aus dem Widerstreit der Impulse gewinnt – dies ist der kritische Leitfaden für die vorliegende Untersuchung.

Doch tatsächlich handelt es sich auch um zwei Lesarten, die beide den Status von Adornos Interpretationen in der Öffentlichkeit reflektieren. So ist in einer Reihe von Untersuchungen zur »Wahrheitspraxis« der Kritischen Theorie auf dem Weg zur Frankfurter Schule die These vertreten worden, dass Adornos Essays zur Literatur nur im Rahmen von Paradigmenkämp-fen im Bereich der Kultur- und Sozialwissenschaften zu verstehen seien.9 Demnach dienen Adornos Beiträge zur Literatur der Positionierung eines bestimmten ›progressiven‹ Intellektuellentyps in den ästhetischen und ge-sellschaftlichen Diskursen der Bundesrepublik, der sich selbst als »fortge-schrittenstes Bewusstsein«10 versteht. Durch die progressive Interpretation der großen Werke und die Schaffung eines neuen Literaturkanons ent-lang der Idee eines gleichermaßen gesellschaftlichen und immanent-ästheti-schen Fortschritts wird eine Neuausrichtung der Kultur auf die Gesellschaft vorbereitet.11

So verstanden, ist literarische Erkenntnis weitgehend die Wiederholung von etwas bereits anderweitig Erkanntem. Sie dient als Medium in politi-

8 Siehe Hannah Arendt: The Crisis in Culture. In: dies.: Between Past and Future. Eight Exercises in Political Thought. New York 1993, S. 197–226, hier S. 200.

9 Alex Demirović: Der nonkonformistische Intellektuelle. Die Entwicklung der Kriti-schen Theorie zur Frankfurter Schule. Frankfurt/M. 1999; siehe auch Clemens Albrecht u. a.: Die intellektuelle Gründung der Bundesrepublik. Frankfurt/M. 1999; Stefan Müller-Doohm: Adorno. Eine Biographie. Frankfurt/M. 2003, S. 535–554.

10 Theodor W. Adorno: Wozu noch Philosophie. In: ders.: GS 10.2 (1977), S. 459−473, hier S. 472.

11 Zu dieser Neuausrichtung siehe Theodor W. Adorno: Kulturkritik und Gesellschaft. In: ders.: GS 10.1 (1977), S. 11–30.

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schen und sozialen Kämpfen, die in der Kultur ausgetragen werden, nachdem die politische Ordnung der liberalen Demokratie nicht mehr zur Disposition steht. Die Werke werden in die kulturellen Kämpfe hineingezogen und mit-hilfe soziologischer und psychoanalytischer Kategorien umcodiert.

Eine solche Politisierung der Kultur reagiert darauf, dass es bereits an-dere Interpretationen derselben Werke gibt.12 So sieht sich Adorno auch des-halb zur Interpretation genötigt, weil es bereits die existentialistischen Inter-pretationen gibt, die dem Publikum weismachen wollen, dass die Welt in Ordnung sei; er erkennt seine Aufgabe darin, diese Deutung durch eine neue Interpretation beiseitezuschaffen, in der die Elemente auf eine andere, bes-sere Gesellschaft ausgerichtet sind. Er wird, nach einer Formulierung Walter Benjamins, zum »Strategen im Literaturkampf«.13

Vieles an Adornos literaturkritischen Arbeiten lässt sich durch eine sol-che ›wahrheitspolitische‹ Lektüre erschließen, sie enthalten jedoch auch eine ganz andere Perspektive, die das genaue Gegenteil einer solchen Politisierung der Kunst bildet (und diese Perspektive erscheint der ersten letztlich weitaus überlegen). Denn paradoxerweise hat die intensive Befassung mit moderner Literatur gerade auch den gegenteiligen Effekt einer Entpolitisierung. Diese paradoxe Funktion steht im Zusammenhang mit dem interpretative turn und zeigt eine bestimmte Stellung der Kritik zu den interpretierten Werken an.

Adorno hat viel dazu beigetragen, die Literaturkritik auf die Werke zu len-ken und das gesellschaftliche Interesse an den Veränderungen der Kultur mit genuinen Einsichten in die Funktionsweisen ästhetischer Formensprachen zu verbinden. Seine zentrale Forderung ist, nicht »von oben«14 herab über die

12 Vgl. dazu Michel Foucault: Nietzsche, Freud, Marx [frz. 1967]. In: ders.: Schriften in vier Bänden. Dits et Ecrits. Hg. v. Daniel Defert; François Ewald. Bd.  I: 1954–1969. Frankfurt/M. 2001, S. 727–743.

13 Walter Benjamin: Einbahnstraße. In: ders.: Gesammelte Schriften. Hg. v. Rolf Tiede-mann; Hermann Schweppenhäuser. Bd. IV.1. Frankfurt/M. 1972, S. 83−148, hier S. 108.

14 So schreibt Adorno über den Begriff der bestimmten Negation: »Sie basiert auf der Er-fahrung der Ohnmacht von Kritik, solange sie im Allgemeinen sich hält, etwa den kri-tisierten Gegenstand erledigt, indem sie ihn von oben her einem Begriff als dessen blo-ßen Repräsentanten subsumiert.« (Theodor W. Adorno: Drei Studien zu Hegel. In: ders.: GS 5 [1971], S. 247−381, hier S. 318) Adorno leitet die Formel ›von oben her‹ oder ›von oben herab‹ von Husserl her, dem zufolge man »nicht von obenher postulieren oder dekretieren [kann]« (Edmund Husserl: Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologi-schen Philosophie. Erstes Buch. In: ders.: Gesammelte Werke. Hg. v. Walter Biemel. Bd. 3. Den Haag 1950, S. 44): »Man sehe sich doch die Phänomene selbst an, statt von oben her über sie zu reden und zu konstruieren.« (Edmund Husserl: Die Idee der Phänomenologie. In: ders.: Gesammelte Werke. Hg. v. Walter Biemel. Bd. 2. Den Haag 21973, S. 60). Die Zen-tralität des Topos in Adornos Philosophie bezeugt ihr phänomenologisches Erbe – trotz aller Husserl-kritischer Exerzitien, die bereits 1934–1937 eine gigantische Textmenge pro-duzierten und erst 1956 in Buchform erschienen (Theodor W. Adorno: Zur Metakritik der

Adorno über literarische Erkenntnis 163

Werke zu sprechen. Es sollen nicht »Etiketten von außen aufgeheftet«15 wer-den – ein Verfahren, bei dem »mit komischer Bedeutsamkeit […] immer wie-der, differenzlos, das Gleiche herausgelesen« wird.16 Vielmehr soll sich die Interpretation dem »Wahrheitsanspruch« der Werke stellen.17 Die Möglich-keit, dass die Interpretation bloß eine Wiederholung des Subjekts sei, kann als das Grundproblem von Adornos Theorie der Interpretation und Kritik gelten. Dieses Problem erscheint gänzlich ungelöst, da auch Adorno oftmals dasselbe aus verschiedenen Texten herauszulesen scheint. Dieser Eindruck drängt sich besonders dort auf, wo er ein Werk unter ökonomiekritische Oberbegriffe wie den der »kapitalistischen Spätphase« subsumiert.18 Doch gerade an dem Zusammenhang zwischen der Einsicht in die Unzulänglich-keit der Subsumtion und der offensichtlichen Unmöglichkeit, dieser Einsicht im Erkenntnisprozess überall zu folgen, erweist sich, dass in Adornos Theo-rie literarischer Erkenntnis eine bestimmte Urteilsform verhandelt wird; diese Urteilsform wird von ihm in ihrer politischen Dimension bestimmt. Meiner These zufolge zeichnet sich die von Adorno anvisierte Urteilsform dadurch aus, dass sie den unmittelbaren politischen Anspruch der Literatur-kritik zurücknimmt. Diese zurücknehmende Geste verdankt sich der Ein-sicht in die Unmöglichkeit einer vollen diskursiven Einholung des Gehalts literarischer Werke und ist eine Konsequenz aus der philosophischen Dia-gnose einer in sich dialektischen Aufklärung.

II. Erkenntnis

Adorno zufolge ist der Weg von Erkenntnistheorie, »immer mehr an Objekti-vität aufs Subjekt zurückzuführen. Eben diese Tendenz wäre umzukehren.«19 Das bezieht sich wörtlich auf den Neukantianer Heinrich Rickert, dem Adorno 1940 eine Rezension gewidmet hatte, wird aber so weit verallge-meinert, dass dieser letzte große Idealist unwissentlich das Prinzip der

Erkenntnistheorie. In: ders.: GS 5 [1971], S. 7–245). Adorno hielt diese Studie für eine sei-ner wichtigsten, gerade auch im Hinblick auf das Verhältnis von »immanenter« philo-sophischer Kritik und gesellschaftlicher Analyse.

15 Theodor W. Adorno: Einleitung in die Musiksoziologie. Zwölf theoretische Vorlesungen. In: ders.: GS 14 (1973), S. 169−433, hier S. 407.

16 Theodor W. Adorno: Notiz über Geisteswissenschaft und Bildung, In: ders.: GS 10.2 (1977), S. 495−498, hier S. 498.

17 Theodor W. Adorno: Drei Studien zu Hegel. In: ders.: GS 5 (1971), S. 247−381, hier S. 251.18 Theodor W. Adorno: Aufzeichnungen zu Kafka. In: ders.: GS 10.1 (1977), S. 254−287, hier

S. 268.19 Theodor W. Adorno: Negative Dialektik. In: ders.: GS 6 (1973), S. 7−412, hier S. 178.

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abend ländischen Geistesgeschichte angegeben habe. Die Formalisierung des Denkens soll als Konsequenz der Dialektik von Aufklärung (als Entmytho-logisierung) kenntlich werden, in der das Subjekt mehr und mehr die Objekte und dadurch auch sich selbst verliert. Es bleibt – in Rickerts Worten – ein »hirnloses Subjekt«20 zurück, das, von allen empirischen, heteronomen Be-stimmungen gereinigt, sich radikal selbst zu begründen vermag; doch dabei fällt immer mehr von dem zum Opfer, was es eigentlich zu erkennen gilt. Um diese Dialektik zu unterbrechen, so Adorno in seiner Antrittsvorlesung, solle Philosophie »den Weg zu den rationalen Voraussetzungen nicht zu Ende ge-hen, sondern dort stehen bleiben, wo irreduzible Wirklichkeit einbricht; be-gibt sie sich weiter in die Region der Voraussetzungen, so wird sie diese al-lein formal und um den Preis jener Wirklichkeit erlangen können, in welcher ihre eigentlichen Aufgaben gelegen sind.«21 Die philosophiegeschichtliche Pointe von Adornos Antrittsvorlesung ist denn auch, dass alle vorherrschen-den Richtungen und Schulen den Kontakt mit der Wirklichkeit verloren haben.22 Seine frühen interpretationstheoretischen Schriften stehen aus-drücklich im Kontext der Krise der Wirklichkeit23 und lassen sich als eine zwar späte, aber schlagkräftige Antwort auf die Diagnosen der Kulturkritik in der Weimarer Republik lesen. Dabei werden von ihm zwei Wirklichkeits-begriffe auf eine Weise miteinander verschränkt, die nicht zuletzt die heute so beliebte Vorstellung von einer Welt als Text, als unendliches Reservoir von Signifikanten angreift. Wirklichkeit wird dem Subjekt zunächst als leibliche Erfahrung und als logische Aporie zugänglich. Es ist der Wirklichkeitsbe-griff von der »erfahrenen Widerständigkeit des Gegebenen«, wie sie von Blu-menberg präzise beschrieben wird: Wirklichkeit ist »das dem Subjekt nicht

20 Heinrich Rickert: Der Gegenstand der Erkenntnis. Einführung in die Transzendental-philosophie. Tübingen 61928, S. 34. Adornos Rezension von Unmittelbarkeit und Sinndeu­tung in: ders.: GS 20.1 (1986), S. 244–250.

21 Theodor W. Adorno: Die Aktualität der Philosophie. In: ders.: GS 1 (1973), S.  325−344, hier S.  343. Zu Adornos Überlegungen zum »Einbruch der Realität« in die »scheinbar auto nomen Fragestellungen des Geistes« siehe das Gesprächsprotokoll Wissenschaft und Krise. Differenz zwischen Idealismus und Materialismus. Diskussionen über Themen zu einer Vorlesung Max Horkheimers (1931/32). In: Max Horkheimer: Gesammelte Schriften. Hg. v. Alfred Schmidt. Bd. 12. Frankfurt/M. 1985, S. 349−397, hier S. 363.

22 Adorno: GS 1 (1973), S. 326–331.23 Zum Topos siehe Otto Gerhard Oexle: »Wirklichkeit« – »Krise der Wirklichkeit« – »Neue

Wirklichkeit«. Deutungsmuster und Paradigmenkämpfe in der deutschen Wissenschaft vor und nach 1933. In: Frank-Rutger Hausmann (Hg.): Die Rolle der Geisteswissenschaf-ten im Dritten Reich 1933–1945. München 2002, S.  1–20; ders.: Krise des Historismus – Krise der Wirklichkeit. Eine Problemgeschichte der Moderne. In: ders. (Hg.): Krise des Historismus – Krise der Wirklichkeit. Wissenschaft, Kunst und Literatur 1880–1932. Göt-tingen 2005, S. 11–116.

Adorno über literarische Erkenntnis 165

Gefügige, ihm Widerstand Leistende, und dies nicht nur als Erfahrung des Berührens, der trägen Masse, sondern auch und in letzter Zuspitzung in der logischen Form des Paradoxes.«24 Von Adorno ist hierzu zu erfahren, dass die Gestalt jener Wirklichkeit in das Denken »einbricht« und auf diese Weise »je-den Anspruch der Vernunft niederschlägt«.25 Sie ist demnach nicht bloß wi-derspenstig, sondern prinzipiell »irreduzibel«, das heißt, sie kann nicht wie-der auf formale Denkvoraussetzungen zurückgeführt werden.

Um die schicksalhaften Implikationen einer solchen »vorgefundenen« Wirklichkeit26 zu vermeiden, betont Adorno andererseits den operationel-len Charakter von Wirklichkeitserkenntnis. Danach ist Wirklichkeit das Er-gebnis einer bestimmten Darstellungsweise, die die irreduzible Wirklichkeit zur Erscheinung bringt. Im Zentrum dieser Reflexion stehen hier die Art der Verknüpfung des Materials und die Weise, wie »Wirkliches in die Begriffe einging«. So heißt es zu Beginn der Kierkegaard-Studie (1933):

Das Formgesetz der Philosophie fordert die Interpretation des Wirklichen im stim-migen Zusammenhang der Begriffe. Weder die Kundgabe der Subjektivität des Den-kenden noch die pure Geschlossenheit des Gebildes in sich selber entscheiden über dessen Charakter als Philosophie, sondern erst: ob Wirkliches in die Begriffe ein-ging, in ihnen sich ausweist und sie einsichtig begründet.27

Erkenntnis entsteht demnach aus einem bestimmten Zusammenhang, durch eine Weise der Verknüpfung von mitunter heterogenem Material; in der Phi-losophie wird dieser Zusammenhang durch Begriffe gestiftet. »Indem die Be-griffe um die zu erkennende Sache sich versammeln, bestimmen sie poten-tiell deren Inneres, erreichen denkend, was Denken notwendig aus sich ausmerzte.«28 Durch ihre Anordnung gewinnen die Begriffe einen spezifi-schen Wirklichkeitscharakter. Dies ist die für Adornos Lehre von der Dar-stellung zentrale Idee der Konstellation.29

Der doppelte Wirklichkeitsbegriff in seiner Verschränkung von Diagnose und Darstellung ist gleichsam die methodische Vorbedingung, um Erkennt-nisse von jener Art gewinnen zu können, wie sie in der Ausgangsfrage in

24 Hans Blumenberg: Wirklichkeitsbegriff und Möglichkeit des Romans [1964]. In: ders.: Ästhetische und metaphorologische Schriften. Hg. v. Anselm Haverkamp. Frankfurt/M. 2001, S. 47–73; hier S. 68, S. 53. Hervorhebung im Orig.

25 Adorno: GS 1 (1973), S. 343 und 325.26 Ebd., S. 338.27 Theodor W. Adorno: Kierkegaard. Konstruktion des Ästhetischen. In: ders.: GS 2 (1979),

S. 9. 28 Adorno: GS 6 (1973), S. 164 f.29 Zu Adornos Begriff der Konstellation vgl. Philipp von Wussow: Logik der Deutung.

Adorno und die Philosophie. Würzburg 2007, S. 141–143 u. 192 f.

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Horkheimers und Adornos Dialektik der Aufklärung angezeigt sind: »warum die Menschheit, anstatt in einen wahrhaft menschlichen Zustand einzutre-ten, in eine neue Art von Barbarei versinkt.«30 Es ist ratsam, die anschlie-ßenden methodischen Reflexionen der Vorrede ernst zu nehmen, um die außerordentlichen Schwierigkeiten einer solchen Erkenntnis nachzuvollzie-hen. Hier wird geltend gemacht, dass die Frage (für die Autoren zweifellos die wichtigste Frage schlechthin) innerhalb der »geltenden sprachlichen und gedank lichen Anforderungen« des »Wissenschaftsbetrieb[s]«31 nicht zu be-antworten, nicht einmal zu stellen wäre. Der Grund ist, dass wissenschaft-liches Denken jene Erkenntnis, auf die es zielt, durch die eigene Form verhin-dert. Als primäre Aufgabe des Denkens wird deshalb die »Selbstbesinnung über seine eigene Schuld« bestimmt. Diese Schuld artikuliert sich in der Re-flexion auf die Weise, wie es Zusammenhänge zwischen den Dingen her-stellt, durch das Urteil Form stiftet. Dabei erkennt es, dass es das, was es ana-lysiert, durch die eigene Verfahrensweise reproduziert.

Horkheimer und Adorno fassen diese Erkenntnis als »Eingedenken der Natur im Subjekt«, in der die Aufklärung zu »mehr als Aufklärung« wird und »der Herrschaft überhaupt entgegengesetzt« ist:

Solchen Schein [der vernünftigen Gesellschaft], in dem die restlos aufgeklärte Mensch-heit sich verliert, vermag das Denken nicht aufzulösen, das als Organ der Herrschaft zwischen Befehl und Gehorsam zu wählen hat. Ohne sich der Verstrickung, in der es in der Vorgeschichte befangen bleibt, entwinden zu können, reicht es jedoch hin, die Logik des Entweder-Oder, Konsequenz und Antinomie, mit der es von Natur radikal sich emanzipierte, als diese Natur, unversöhnt und sich selbst entfremdet, wiederzu-erkennen. Denken, in dessen Zwangsmechanismus Natur sich reflektiert und fort-setzt, reflektiert eben vermöge seiner unaufhaltsamen Konsequenz auch sich selber als ihrer selbst vergessene Natur, als Zwangsmechanismus. […]

[Der Begriff] distanziert nicht bloß, als Wissenschaft, die Menschen von der Na-tur, sondern als Selbstbesinnung eben des Denkens, das in der Form der Wissen-schaft an die blinde ökonomische Tendenz gefesselt bleibt, läßt er die das Unrecht verewigende Distanz ermessen.32

Diese Stellen, die zu den zentralen Auskünften des Buchs gerechnet wer-den können, werfen die Frage nicht nur nach dem modus operandi und nach den Quellen, sondern auch nach der prinzipiellen Möglichkeit eines Den-kens auf, das über das Denken hinausführt, ohne seine Bedingungen ra-dikal überschreiten zu können. Die Schwierigkeiten lassen sich auflösen,

30 Max Horkheimer; Theodor W. Adorno: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Frag-mente. In: Adorno: GS 3 (1984), S. 11.

31 Ebd., S. 12 u. 11.32 Ebd., S. 56 u. 57 f.

Adorno über literarische Erkenntnis 167

indem man zwei verschiedene Modi desselben Denkens unterscheidet, die von Adorno an anderer Stelle ›Deutung‹ und ›Forschung‹ genannt werden.33 Verkürzt lässt sich der Unterschied folgendermaßen bezeichnen: Während wissenschaftliche Forschung blind für das Moment des Urteils im Erkennt-nisprozess bleibt und damit den eigenen »Zwangsmechanismus« nicht zu erkennen vermag, ist Deutung eine Form des Urteils, das sich des Urteils-charakters bewusst ist und damit den eigenen Zwangscharakter durchbricht. Dabei kommt der Deutung zugute, dass sie es vorzugsweise mit Werken zu tun hat, die durch ihre Beschaffenheit den Prozess der »Formalisierung der Vernunft« (Horkheimer)34 unterbrechen: Als ›Gebilde‹ jenseits des Gegen-satzes von Eigenem und Fremdem verweigern sie sich der Versuchung des Denkens, Objektives auf das Subjekt zurückzuführen; sie machen vor, wie sich Subjekt und Objekt verschränken, und fordern auf diese Weise das Ur-teil heraus, das sich ebenfalls einer solchen Verschränkung von Subjekt und Objekt verdankt.

Sofern literarische Werke eine Funktion für das begriffliche Denken ha-ben  – was Adorno zugleich mit guten Gründen bestreitet  –, besteht diese Funktion in der Verinhaltlichung des Denkens. Darin steht das Paradigma literarischer Erkenntnis in einem engen Zusammenhang mit der VI. These der Elemente des Antisemitismus, dass bei den Antisemiten die Verschrän-kung von Ich und Welt, von Eigenem und Fremdem unterbrochen ist. »In nichts anderem als in der Zartheit und dem Reichtum der äußeren Wahr-nehmungswelt besteht die innere Tiefe des Subjekts. Wenn die Verschrän-kung unterbrochen wird, erstarrt das Ich.«35 Die »falsche[] Projektion«, in der der Antisemit »immer nur sein zur abstrakten Sucht entäußertes Selbst zu wiederholen«36 vermag, ist die äußerste Konsequenz dieser Erstarrung. Demgegenüber fordern die Werke durch ihre Beschaffenheit eine bestimmte »aktiv-passive« Haltung des Lesers – eine Forderung, in deren Zentrum die Anweisung steht, »daß man sich beweglich macht«.37

33 Adorno: GS 1 (1973) S. 334.34 Max Horkheimer: Zur Kritik der instrumentellen Vernunft. In: ders.: Gesammelte Schrif-

ten. Bd. 6, Frankfurt/M. 1991, S. 31 u. passim.35 Adorno: GS 3 (1984), S. 214.36 Ebd., S. 211 u. 215.37 Theodor W. Adorno: Anweisungen zum Hören neuer Musik. In: ders.: GS 15 (1976),

S. 188−248, hier S. 210.

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III. Wozu Literatur? Einige Motive

Die zweite Funktion der für Adorno wesentlich funktionslosen Literatur steht ebenfalls in einem engen Zusammenhang mit dem Wirklichkeits-begriff und betrifft ihr Darstellungsmoment. Literatur soll – in ihrem eige-nen Medium und nach Maßgabe ihrer eigenen Formensprache – sagen, wie es ist. Ihr diese Aufgabe zuzuweisen, ist nur scheinbar trivial. Sie erfordert genaue Rechenschaft über das Verhältnis von Fiktion und Wirklichkeit im Erzählen.

Adornos Theorie des Erzählens geht von der Aporie aus, dass sich in der Moderne nicht mehr erzählen lässt, während die Romanform doch der Er-zählung bedarf. Die Situation des Erzählens wird ihm in Abgrenzung dazu fassbar, was er in Analogie zum bürgerlichen Theater die »Guckkasten-bühne« des traditionellen Romans nennt: »Der Erzähler lüftet einen Vor-hang: der Leser soll Geschehenes mitvollziehen, als wäre er leibhaft zuge-gen. Die Subjektivität des Erzählers bewährt sich in der Kraft, diese Illusion herzustellen«.38 Die Illusion des Romans durch eine reine Sprache und den Verzicht auf Reflexion herzustellen, sei am glücklichsten bei Flaubert ge-lungen. Nach Flaubert sei sie nicht mehr möglich; bereits bei Stifter münde der Versuch in manische Obsession. In neueren Romanen werde durch Re-flexion die Immanenz der Form durchbrochen, womit der Erzähler (Proust, Gide, Musil oder der späte Thomas Mann) gegen die Lüge des Erzählens Par-tei ergreife, also gleichsam gegen sich selbst denke. Seine künstlerische Auf-gabe bestehe nun darin, dieses reflexive Element »durch abermalige Re-flexion der Sache selbst einzuverleiben, anstatt sie als stofflichen Überhang zu tolerieren«.39

Adorno konstatiert einen Funktionswandel des Erzählens durch das im-mer größer werdende Missverhältnis zwischen der Wirklichkeit und der Möglichkeit von deren adäquater Beschreibung – eine Entwicklung, die ihre genaue Entsprechung in der Theorie hat.40 Beide drohten an ihrer Aufgabe zu scheitern, zu sagen, wie es ist. Der Roman müsse nun, um seinem realis-tischen Erbe treu zu bleiben, auf den Realismus verzichten: Um sagen zu

38 Theodor W. Adorno: Standort des Erzählers im zeitgenössischen Roman. In: ders.: GS 11 (1974), S. 41−48, hier S. 45. Analog spricht Adorno in der Negativen Dialektik von der »Guckkastenmetaphysik«, ders.: GS 6 (1973), S. 143.

39 Theodor W. Adorno: Ästhetische Theorie. In: ders.: GS 7 (1970), S. 226.40 Vgl. etwa Theodor W. Adorno: Erpreßte Versöhnung. In: ders.: GS 11 (1974), S. 251−280,

hier S. 273.

Adorno über literarische Erkenntnis 169

können, wie es ist, müsse Literatur hinausgehen über das, was ist.41 So be-richte Kafka, »wie es eigentlich zugeht«, indem er den objektiven Wahn darstelle.42

Adornos literaturhistorische Strategie besteht nun darin, zu zeigen, dass der Bruch, der bei Kafka, Beckett oder Celan so manifest wird, schon nach Flaubert, in der Mitte des 19. Jahrhunderts, auftritt, ja, bereits in den Anfän-gen griechischer Epik, in der homerischen Odyssee angelegt ist. Diese ge-schichtsphilosophische Denkfigur, deren Kenntnis für jegliches Verständnis von Adornos Analysen unabdingbar ist, lässt sich nur schwer in eine regu-läre Literaturgeschichte zurückübersetzen, denn sie folgt dem (explizit von Historismus und Philologie abgegrenzten) methodischen Prinzip, »daß von den jüngsten Phänomenen her Licht fallen soll auf alle Kunst«.43 Dabei kehrt sich die Leserichtung um: Was an der Avantgarde sichtbar wird, so lautet die Denkfigur in Kurzform, zeichnet sich schon in der Mitte des 19. Jahrhunderts ab, gilt aber auch bereits für alle frühere Kunst. Von der Avantgarde bezieht Adorno ein bestimmtes Muster des Zusammenspiels von Tradi tionsbruch und Traditionsbewahrung. Er untersucht jede Konzeption im Hinblick dar-auf, wie aus der Tradition übernommene Inhalte durch neue formale Ele-mente reflektiert und dabei in ihrer Bedeutung revidiert werden, aber auch, wie inhaltliche Momente durch Formzwänge hindurchbrechen, schließlich wie formale Elemente zu Inhalten gerinnen. Durch diese Aufmerksamkeit auf die Verschränkungen von Inhalt und Form beschreiben die Analysen ein Pattern der kulturellen Reproduktion, das, in eine Konzeption literarischen Fortschritts eingebunden, sich an seiner Spitze umkehrt und rückwirkend die Problematik von Literatur überhaupt erschließt.

Angesichts dieses Prinzips des Rückwärtslesens der Geschichte ist es nicht weiter erstaunlich, dass Adorno in Über epische Naivetät die Denkfigur der Dialektik der Aufklärung, die die Verwerfungen des 20.  Jahrhunderts er-klären soll, in einer Analyse der homerischen Odyssee in die Literaturge-schichte einführt. Dass die Befreiung aus dem Naturzwang in die Herrschaft über Natur umschlägt, hat demnach seine Entsprechung im Erzählen: Es ver-sucht der Immergleichheit des Mythos etwas Einmaliges, Erzählenswertes abzugewinnen, das es durch die eigene Form wieder zunichtemacht. Durch die Fixierung auf den Gegenstand der Erzählung ahmt es den Mythos nach,

41 Adorno: GS 11 (1974), S. 43; vgl. Theodor W. Adorno: Balzac-Lektüre. In: ders.: GS 11 (1974), S. 139−157, hier S. 147: »Um durchschaut zu werden, kann die Welt nicht mehr angeschaut werden.«

42 Adorno: GS 10.1 (1977), S. 280.43 Adorno: GS 7 (1970), S. 533.

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um die Furcht vor dem Gegenstand zu brechen, und wird dadurch mit my-thischer Dummheit geschlagen.

Adorno stellt hier offensichtlich die Kontinuität zwischen Logik und Poetik heraus,44 indem er dasjenige, was üblicherweise dem reflektierenden Denken vorbehalten ist, dem Erzählen zuschreibt. So sei die »rationale und kommunikative Rede des Erzählers samt ihrer subsumierenden Logik« be-reits von einem »gleichsam positivistischen Bestreben« getragen, wenngleich sie zugleich dessen Gegenteil enthalte, den – allerdings vergeblichen – Ver-such, das Besondere zu retten. Auch das Erzählen ist also in die Dialektik der Aufklärung verflochten, wenngleich auf eine andere Weise als das reflek-tierende Denken: Anstatt formalistisch zu werden, rettet es das gegenständ-liche Moment der Erkenntnis, doch die Gegenständlichkeit führt es an den Abgrund des Wahns (von Stifter bis Kafka).

Nach dem Bruch im Denken des 19.  Jahrhunderts ist Wirklichkeit bloß noch »durchs Subjekt hindurch« erreichbar. Das Paradigma einer solchen Objektivität, die erst dann wieder erreichbar ist, wenn sie »vollends durchs Subjekt hindurchgegangen« und vom Ausdruck neu hervorgebracht wor-den ist,45 ist die Lyrik. Als »Sphäre des Ausdrucks«46, in der das Subjektivste sich objektiviert, zeugt die Lyrik am reinsten von dem »Bruch« zwischen Ich und Welt. Sie wiederholt den Gegensatz in ihrem eigenen Medium, der lyrischen Sprache, indem darin Ausdruck und Mitteilung auseinandertreten. Adorno konstatiert, dass bereits der späte Goethe mit diesem Widerspruch konfrontiert wurde, der dann bei Heine eine »Wunde« klaffen lässt, bis er von der Kulturindustrie und vom Jargon der Eigentlichkeit planvoll ausgebeu-tet wird. Die daraus resultierende »zweite babylonische Verwirrung«47 kann als das Grundthema von Adornos Lyrikinterpretationen gelten. Sein Heine- Essay ist hierfür besonders aufschlussreich, da er die geschichtsphilosophi-sche Figur des Bruchs in zweierlei Hinsicht konkretisiert, nämlich ökono-misch und im Hinblick auf die moderne jüdische Geschichte.

In Heines Gedichten erkennt Adorno zunächst, wie sich Ware und Tausch des Lauts bemächtigen, der sie zuvor negiert hatte. Sie würden der »Gewalt einer fertigen, präparierten Sprache« erliegen, sich »fungibel« und »verkäuf-

44 Anders dagegen Reemtsma 2005 (wie Anm. 4), S. 323, der die Dialektik von Dichtung und Mythos bei Adorno strikt von der Dialektik der Aufklärung ausnimmt, indem er die poe-tische Rede eindeutig von der diskursiven Rede trennt.

45 Theodor W. Adorno: Im Jeu de Paume gekritzelt. In: ders.: GS 10.1 (1977), S. 321−325, hier S. 323.

46 Theodor W. Adorno: Rede über Lyrik und Gesellschaft. In: ders.: GS 11 (1974), S. 48−68, hier S. 49.

47 Theodor W. Adorno: Aufzeichnungen zu Kafka. In: ders.: GS 10.1 (1977), S. 259.

Adorno über literarische Erkenntnis 171

lich« machen und damit der »Verdinglichung« verfallen.48 Zugleich enthiel-ten sie bereits den Versuch (der dann bei Baudelaire durchgeführt sei), die kapitalistischen Bedingungen in die poetische Form zu überführen, sie also zum Gestaltungsprinzip zu erheben. Heine, so heißt es, »hat gleichsam eine dichterische Technik der Reproduktion, die dem industriellen Zeit-alter entsprach, auf die überkommenen romantischen Archetypen ange-wandt« und auf diese Weise »den bislang latenten Warencharakter [der Spra-che] hervorgekehrt«.49 Adorno argumentiert, gerade hierauf würden sich die Scham und die Wut der Nachgeborenen beziehen – und sich dabei sadistisch gegen das Scheitern der jüdischen Emanzipation richten. Der Wechsel von der Kapitalismuskritik zur Kritik der jüdischen Emanzipation vollzieht sich also über ein rezeptionsgeschichtliches Argument, dem zufolge die jüdische Thematik von den Feinden Heines als seine »schwächste Stelle« ausgemacht wurde, während ihr Hass eigentlich dem Warencharakter seiner Gedichte gilt, der wiederum auf die bislang ausgebliebene »Befreiung der Menschen« verweist.50

Doch die Transposition der jüdischen in eine allgemeine Frage misslingt. Denn die Richtung dieser (recht trivialen) Argumentation wird in der Ana-lyse von Heines Stellung zur Sprache genau umgekehrt: Sie führt vom Wa-rencharakter der Sprache zur jüdischen Fremdheit gegenüber der deutschen Sprache – eine Fremdheit, die Heine davon abgehalten habe, die Spannung zwischen Ausdruck und Mitteilung auszutragen.

Denn seine von der kommunikativen Sprache erborgte Geläufigkeit und Selbstver-ständlichkeit ist das Gegenteil heimatlicher Geborgenheit in der Sprache. Nur der verfügt über die Sprache wie über ein Instrument, der in Wahrheit nicht in ihr ist. […] Dem Subjekt […], das die Sprache wie ein vergriffenes Ding gebraucht, ist sie sel-ber fremd. Heines Mutter, die er liebte, war des Deutschen nicht ganz mächtig. Seine Widerstandslosigkeit gegenüber dem kurrenten Wort ist der nachahmende Über-eifer des Ausgeschlossenen. Die assimilatorische Sprache ist die von mißlungener Identifikation.51

Auch wenn diese Befunde nicht wiederum in eine Analyse von Heines Ge-dichten umgesetzt werden, ist die jüdische Thematik historisch wie poeto-logisch viel konkreter als die Kategorien der politischen Ökonomie, die über einen Befund zur allgemeinen Situation zur Mitte des 19. Jahrhunderts nicht wesentlich hinausgelangen. Doch den hier sichtbaren Konflikt zwischen dem

48 Theodor W. Adorno: Die Wunde Heine. In: ders.: GS 11 (1974), S. 95−100, hier S. 97.49 Ebd.50 Ebd.51 Ebd., S. 98.

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ökonomiekritischen und dem jüdischen Paradigma versucht Adorno wiede-rum in einer universalhistorischen Perspektive aufzulösen. Das Argument lautet in Kurzform: Alle Menschen sind heimatlos geworden und beschädigt, insofern steht Heines Lyrik für die Menschheit; die Heimatlosigkeit der Welt wird erst durch die Befreiung der Menschheit überwunden, und die Wunde Heine schließt sich erst durch die Versöhnung.52

Die Sprache ist der Gegenstand, an dem Adorno sich über seine eigene Stellung zum deutsch-jüdischen Komplex klar wurde. Er hat sich nicht bloß zu keiner Zeit als »deutscher Jude« verstanden  – jenes Sinnbild einer ge-glückten Identifikation von Deutschtum und Judentum war nach dem Schei-tern der jüdischen Emanzipation nicht mehr anschlussfähig –, ebenso we-nig verstand er sich je auf eine andere Weise positiv als Deutscher oder Jude. Seine Reflexionen zu diesem Komplex entfalten vielmehr die Denkfigur der doppelten Negation im Sinne einer doppelten Nichtpositionierung53: weder Jude noch Deutscher. Doch so konsequent Adorno diese Nichtpositionierung durchhielt, so sehr hat die Frage ihre Spuren an anderen Stellen hinterlassen: insbesondere an seinen Reflexionen zur Sprache. So verschiebt er immer wie-der jüdische Erfahrungen auf die Sprache, um sie nicht als eigene Erfahrun-gen zu artikulieren. Damit transponiert er sie aus dem eigensten, partikula-ren Bereich in eine allgemeine Frage. Auch die Transposition der Frage nach der spezifischen Stellung zur deutschen Sprache in die Frage nach dem Wa-rencharakter von Sprache überhaupt weist in diese Richtung. Man ist geneigt, in dieser Verschiebung – in Analogie zur Formel von der »Wunde Heine« – die Wunde Adorno zu erkennen.

Adorno hat seine Doppelstellung als Nichtdeutscher und Nichtjude vor al-lem an der Stellung von Fremdwörtern im Deutschen diskutiert. Sein eigener Übereifer im Sprachgebrauch, der sich mit der Beschreibung Heines eng be-rührt, dürfte den Schlüssel liefern. So berichtet er über seinen Schulfreund Erich und sich: »[Wir] meinten, in unseren aparten Fremdwörtern den unab-kömmlichen Patrioten Pfeile entgegenzuschleudern aus unserem ge heimen Königreich, das weder vom Westerwald erreicht werden konnte, noch auf andere Art, wie jene es zu nennen liebten, eingedeutscht.«54 Fremdwörter spiegeln das Scheitern der jüdischen Emanzipation im Medium der deut-schen Sprache. Adorno zufolge stechen sie »unassimiliert heraus«, anstatt

52 Ebd., S. 100.53 Zum Begriff der doppelten Negation vgl. den Abschnitt Kritik der positiven Negation in:

Adorno: GS 6 (1973), S. 161–163.54 Theodor W. Adorno: Wörter aus der Fremde. In: ders.: GS 11 (1974), S. 216−230, hier S. 218;

vgl. ders.: Über den Gebrauch von Fremdwörtern. In: ders.: GS 11 (1974), S. 640–646.

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von der deutschen Sprache auf produktive Weise aufgenommen zu werden; damit schaffen sie aber »eine Art Exogamie der Sprache, die aus dem Um-kreis des Immergleichen, dem Bann dessen, was man ohnehin ist und kennt, heraus möchte«.55 In Minima Moralia heißt es schließlich knapp: »Fremd-wörter sind die Juden der Sprache.«56 Dennoch hat Adorno seine Rückkehr nach Deutschland durch seine besondere Beziehung zur deutschen Sprache erklärt, denn Darstellung als die der Intention angemessene Form des Aus-drucks sei allein in der eigenen Sprache möglich. So wiederholt er unermüd-lich, »daß wir die entscheidenden Dinge nur in der eigenen Sprache sagen können«.57

Die besondere Beziehung zur deutschen Sprache verweist zugleich auf die enge Verwandtschaft von Adornos Philosophie zur Literatur, die wesentlich in ihrem Darstellungscharakter begründet ist. Philosophie erkennt in Lite-ratur zunächst, dass sie selbst sprachlich verfasst ist. Sie muss dabei aber zu-gleich erkennen, was sie nicht ist. In Der Essay als Form, dem Eingangstext der Noten zur Literatur, ist dieses Nichtseinkönnen nachdrücklich bezeich-net. Adorno warnt vor einem zu ungebrochen positiven Bezug der Philo-sophie auf die Literatur, der sich von einer Vermischung der Formen und Diskurse Zugang zu einer höheren Erkenntnis erhofft:

Wo Philosophie durch Anleihe bei der Dichtung das vergegenständlichende Denken und seine Geschichte […] meint abschaffen zu können und gar hofft, es spreche in einer aus Parmenides und Jungnickel montierten Poesie Sein selber, nähert sie eben damit sich dem ausgelaugten Kulturgeschwätz.58

Unverkennbar gegen Heidegger gerichtet, macht die Stelle die »Verpflich-tung des begrifflichen Denkens«59 geltend und bezeichnet die Gefahr einer un bekümmerten Mischung der Diskurse: Durch die Anleihe bei der Litera-tur nähere die philosophische Sprache »dem Kunstgewerbe sich an«.60 Phi-losophie reproduziere damit eben jene Entwicklung, die sich in der Mitte des 19.  Jahrhunderts bei Heine vollziehe, anstatt ihr durch das Gefüge der Begriffe zu widerstehen; die Vermischung mit Literatur bringe die Philoso-phie also nicht einer höheren Erkenntnis näher, sondern gliedere sie in die Kultur industrie ein. So lässt sich der Eingangsessay der Noten zur Literatur

55 Adorno: GS 11 (1974), S. 218.56 Theodor W. Adorno: Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben. In:

ders.: GS 4 (1980), S. 125.57 Adorno 2008 (wie Anm. 2), S. 461, vgl. ebd., S. 484 u. 500.58 Theodor W. Adorno: Der Essay als Form. In: ders.: GS 11 (1974), S. 9−33, hier S. 13.59 Ebd.60 Ebd., S. 14.

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als ein Warnschild verstehen, das vor den literarischen Analysen aufgerichtet ist, um vor einer Literarisierung der philosophischen Erkenntnis zu warnen.

Wenn Adorno in der Antithese geltend macht, der Gegensatz von Kunst und Wissenschaft sei »auch nicht zu hypostasieren«, so bezieht sich dies al-lein darauf, dass auch in der Dichtung »notwendige und zwingende Erkennt-nisse« zu gewinnen seien.61 Entscheidend ist, wie solche Erkenntnisse dem philosophischen Denken zugänglich werden können, ohne dass dieses den Fehler einer zu unmittelbaren Übertragung literarischer Verfahrensweisen in die eigene Form unternimmt.

IV. Hermeneutik der Form

Adornos Reflexionen zur Hermeneutik der Kunst entfalten das Paradox, dass Kunst der philosophischen Deutung bedarf, während sie sich doch be-reits selbst deutet und insofern der Deutung durch die Philosophie wider-strebt. Dies ist eine der Paradoxien bei Adorno, die nicht als unauflösliche Aporie oder als Konkurrenz zweier unversöhnlicher Paradigmen stehen-bleiben, sondern durch einen Übergang verschwinden. Denn Kunst ist Deu-tung allein durch ihre eigene Form. Adorno insistiert darauf, dass diese Deu-tung »urteilslos«62 bleibt und ihrerseits der philosophischen Deutung bedarf, während die philosophische Deutung die urteilslose Selbstdeutung der Kunst aufgreift und urteilend artikuliert, wobei sie zugleich die Selbstherrlichkeit des Urteilens ablegt und sich der eigenen Unzulänglichkeit bewusst wird.

Wie entsteht also literarisches Wissen oder Wissen aus Literatur? Nicht nur durch Einsicht in literarische Formen, sondern viel mehr noch durch die Form, die Literatur ist; nicht unabhängig, aber doch jeweils zu unterscheiden von ihrem Inhalt.

Adornos anspruchsvolle Theorie der Form enthält demnach einen wich-tigen Schlüssel zum Thema der literarischen Erkenntnis. Ihr Kern besteht darin, zu zeigen, wie sich in der Form inhaltliche Aspekte sedimentiert ha-ben. Adornos Konzeption von Literatur als Form ist in einer materialen Ana-lyse in der Ästhetischen Theorie dargestellt, und zwar dort, wo er das Moment der Errettung des Inhalts durch die Form bezeichnet, die damit zugleich selbst einen inhaltlichen Aspekt gewinnt. In dem Abschnitt Nichts unver­wandelt kommentiert er Mörikes Mäusefallen­Sprüchlein:

61 Ebd., S. 14 f.62 Adorno: GS 7 (1970), S. 363.

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Das Kind geht dreimal um die Falle und spricht:

Kleine Gäste, kleines Haus. Liebe Mäusin, oder Maus, Stell dich nur kecklich ein Heut nacht bei Mondenschein! Mach aber die Tür fein hinter dir zu, Hörst du? Dabei hüte dein Schwänzchen! Nach Tische singen wir Nach Tische springen wir Und machen ein Tänzchen: Witt witt! Meine alte Katze tanzt wahrscheinlich mit.63

Adorno unterscheidet darin zwischen dem »diskursiven Inhalt« (der sadisti-schen Phantasie eines Tanzes von Kind, Katze und Maus) und dem eigent-lichen künstlerischen Gehalt, der zwanglos in den »gesellschaftlichen« und geschichtlichen Gehalt übergeht. Es ist offensichtlich, dass dieser Gehalt hier in der literarischen Form als solcher begründet ist. Adorno zufolge – und dies ist entscheidend – ist der Hohn der letzten Zeile »nicht länger das letzte Wort, das er behält«; denn durch den »Gestus, der darauf deutet«, dass es so ist, wie es ist, »verklagt« das Gedicht, »wie es ist«. Der Gehalt der Werke liegt dem-nach genau darin, wie die Form auf den Inhalt deutet, ihn reflektiert und re-vidiert: »Die Form, welche die Verse zum Nachhall eines mythischen Spruchs fügt, hebt deren Gesinnung auf.«64

Es ist die Form, die nichts unverwandelt lässt von dem, was inhaltlich in das Kunstwerk eingeht. Darin ist sie der Deutung oder Interpretation ver-wandt, genauer: Sie wird selbst als Deutung erkennbar. Und indem Form den Inhalt deutet, finden jene kleinen Versetzungen der Elemente statt, denen Adorno zeitlebens nachspürt: »Die Elemente jenes Anderen sind in der Rea-lität versammelt, sie müßten nur, um ein Geringes versetzt, in neue Konstel-lation treten, um ihre rechte Stelle zu finden. Weniger als daß sie imitierten, machen die Kunstwerke der Realität diese Versetzung vor.«65

Vieles deutet darauf hin, dass in dieser Formgeste der spezifische »Wahr-heitsgehalt« der Werke zu suchen ist – und dass dessen Übersetzung die Not-wendigkeit der philosophischen Interpretation begründet. Adornos Auf­zeichnungen zu Kafka (1953) umkreisen immer wieder die Stelle, an der das

63 Ebd., S. 187 f.64 Ebd., S. 186–188.65 Ebd., S. 199.

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inhaltliche Wort von der Geste der Form aufgegriffen und verschoben oder revidiert wird. Die Eindeutigkeit der Geste durchbricht die unendliche Viel-deutigkeit von Kafkas Prosa:

Oft setzen Gesten Kontrapunkte zu den Worten: das Vorsprachliche, den Intentio-nen Entzogene fährt der Vieldeutigkeit in die Parade, die wie eine Krankheit alles Bedeuten bei Kafka angefressen hat. […] Solche Gesten sind die Spuren der Erfah-rungen, die vom Bedeuten zugedeckt werden.66

Die Geste ist also das Moment, durch das die erfahrene Wirklichkeit in die Dichtung einbricht, nachdem sie von den Bedeutungen »zugedeckt« wor-den ist. Gestisches Denken soll die Sphäre der Bedeutsamkeit und des Sinns (Adorno zufolge die Sphäre des Immergleichen, in der die Welt in Ordnung scheint) durchbrechen und auf Spuren leiblicher Erfahrungen stoßen, die un-ter dem Zwang gesellschaftlicher Anpassung verdrängt wurden. Diese Idee eines »Hinzutretenden«67 durch leibliche Affekte ist zuerst in einem Brief an Walter Benjamin anlässlich von dessen Kafka-Interpretation aufgekom-men. Hier heißt es: »In den Kafkaschen Gesten entbindet sich die Kreatur, der die Worte von den Dingen genommen worden sind.«68 Gerade an dem Motiv der Geste lässt sich erkennen, inwiefern Adorno Benjamins Kafka-Aufsatz voraussetzt und revidiert. Wie stets in seinen Weiterentwicklungen Benjamin’scher Motive schränkt Adorno auch hier die semantische Offen-heit ein, die das Motiv bei Benjamin besitzt,69 indem er es an einen starken Wirklichkeitsbegriff zurückbindet (in der Geste stellt sich Wirklichkeit dar). Indem Adorno gegenüber Benjamin vehement die Eindeutigkeit der Geste geltend macht, gibt er bereits eine politische Differenz zu erkennen, die seine Arbeit am Kanon moderner Literatur weiterhin bestimmen wird. Doch ge-rade im Vernehmen der Geste, durch die sich in Literatur etwas ausdrückt, das sich nicht umstandslos sprachlich artikulieren lässt, erkennt Adorno auch die Grenzen der Deutbarkeit. Wenn überhaupt, so kann man hier von einer Dialektik der Interpretation sprechen: Gerade indem Adorno gegen-

66 Adorno: GS 10.1 (1977), S. 258 f.67 So der spätere einschlägige Begriff in der Negativen Dialektik; Adorno: GS 6 (1973), S. 226

(»ein Ruck erfolgt«); vgl. Eckart Goebel: Das Hinzutretende. Zur Negativen Dialektik. In: Frankfurter Adorno Blätter. Bd. IV. München 1995, S. 109–116.

68 Theodor W. Adorno: Brief an Walter Benjamin, 17.12.1934. In: ders.: Briefe und Briefwech-sel. Bd. 1.: Theodor W. Adorno; Walter Benjamin. Briefwechsel 1928–1940. Hg. v. Henri Lonitz. Frankfurt/M. 1994, S. 89–98, hier S. 94. – Zu Benjamins Kafka-Essay siehe auch den Beitrag von Andreas B. Kilcher in diesem Band, S. 143–157.

69 Vgl. Walter Benjamin: Franz Kafka. Zur zehnten Wiederkehr seines Todestages. In: ders.: Gesammelte Schriften. Hg. v. Rolf Tiedemann; Hermann Schweppenhäuser. Bd.  II.2. Frankfurt/M. 1977, S. 409–438, insbesondere S. 427 und S. 435 f.

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über Benjamin die Vieldeutigkeit der Interpretation angreift, gelangt er zur Einsicht in die konstitutive Unbestimmtheit des literarischen Gegenstands. Die Grenze der Deutbarkeit, die Adorno bei Kafka erkennt, bestärkt ihn zu-gleich in der Überzeugung, dass Kafkas Werk der Deutung bedarf. Doch diese Deutung ist nicht mehr jene, in der sich durch eine bestimmte kons-tellative Anordnung der Elemente ein kohärentes Bild zuverlässig einstellt.

Hier lässt sich tatsächlich von einer Entwicklung innerhalb des weitge-hend monolithischen Werks von Theodor W. Adorno sprechen: Die Opera-tionalisierbarkeit der vorgefundenen Wirklichkeit im konstellativen Bild zer-geht an der hermetischen Literatur. Die Studien zu Kafka, Beckett70 oder Hans G. Helms71 haben diese Revision vorbereitet, die sich wiederum rück-wirkend auch auf die Interpretation älterer Literatur und auf die von Wirk-lichkeit überhaupt auswirkt.

V. Literarische Erkenntnis nach Auschwitz

Vielleicht die wichtigste Forderung, die Adornos Noten zur Literatur an das Denken stellen, ist, sich dem »Zwang des Gebildes«72 zu unterwerfen und die Interpretation durch »Versenkung« in die Werke jener Sprache anzu nähern, die diese Werke von sich aus sprechen. An einer eher obskuren Stelle über Georg Simmel wird das entscheidende Moment dieses Programms entfal-tet: »Er hütet sich, durch die Versenkung ins Inkommensurable des Objekts zu entdecken, was dem Menschen an ihm selber verborgen wäre, und was er vom Objekt nicht ohnehin schon weiß.«73 Es soll hier nicht beurteilt wer-den, ob Simmel tatsächlich gar nicht oder doch zu oberflächlich interpretiert. Entscheidend ist die Implikation der These, es gelinge Simmel, indem er an den Objekten bloß das vorfinde, was er bereits mitgebracht habe, auch nicht, etwas darin Verborgenes zu erfahren. Denn umgekehrt heißt das: Durch In-terpretation wird dem Subjekt etwas sichtbar, was ihm an ihm selber verbor-gen ist. Der Satz ist grammatisch unbestimmt: Die Verborgenheit kann sich auf das Subjekt wie das Objekt beziehen. Man muss Adornos Auffassung von der geschichtsphilosophischen Dignität grammatischer und orthogra-phischer Details nicht vorbehaltlos zustimmen, um in der grammatischen

70 Theodor W. Adorno: Versuch, das Endspiel zu verstehen. In: ders.: GS 11 (1974), S. 281–321.71 Theodor W. Adorno: Voraussetzungen. Aus Anlaß einer Lesung von Hans G. Helms. In:

ders.: GS 11 (1974), S. 431–446.72 Theodor W. Adorno: Parataxis. In: ders.: GS 11 (1974), S. 447−491, hier S. 448.73 Theodor W. Adorno: Henkel, Krug und frühe Erfahrung. In: ders.: GS 11 (1974), S. 556−566,

hier S. 561.

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Unbestimmtheit keine Unachtsamkeit des Autors, sondern einen Reflex der Lehre von der wechselseitigen Bestimmung von Subjekt und Objekt auf der textuellen Ebene zu finden. Doch Adorno verweist zugleich darauf, dass je-nes interpretierende Wissen, das sich in der komplexen Relation zwischen dem Erkennenden und dem Werk abspielt, etwas konstitutiv Verborgenes an dieser Relation einschließt. Damit kann die Interpretation zu dem Modus werden, in dem nach 1945 das Undarstellbare darstellbar wird.

Zu Beginn des Essays Zur Schlußszene des Faust gibt Adorno das Pro-gramm eines kommentierenden Philosophierens:

Für den Alexandrinismus, die auslegende Versenkung in überlieferte Schriften, spricht manches in der gegenwärtigen Lage. Scham sträubt sich dagegen, metaphy-sische Intentionen unmittelbar auszudrücken; wagte man es, so wäre man dem ju-belnden Mißverständnis preisgegeben. Auch objektiv ist heute wohl alles verwehrt, was irgend dem Daseienden Sinn zuschriebe, und noch dessen Verleugnung, der of-fizielle Nihilismus, verkam zur Positivität der Aussage, einem Stück Schein, das wo-möglich die Verzweiflung in der Welt als deren Wesensgehalt rechtfertigt, Auschwitz als Grenzsituation. Darum sucht der Gedanke Schutz bei Texten.74

Die Form der Interpretation und des Kommentars, so die zentrale Aus-kunft, bietet dem Denken »Schutz«, und zwar in subjektiver wie objektiver Hinsicht. Subjektiv schützt sie vor einem zu unmittelbaren Ausdruck meta-physischer Intentionen. Durch den Hinweis auf die Erwartung »jubelnden Mißverständnis[ses]« wird nahegelegt, dass es sich zunächst um Schutz vor den Kollegen handelt. Adorno präsentiert – um eine Formel von Leo Strauss zu benutzen  – das Kommentieren als eine vergessene Art des Schreibens (allerdings nicht in einer Weise, auf die sich Strauss’ Unterscheidung zwi-schen exoterischem und esoterischem Schreiben beziehen lässt).75 Die Frage, warum Strauss seinen Begriff exoterischen Schreibens inmitten einer libe-ralen Demokratie entfaltet, in der der Philosoph weniger denn je der Gefahr politischer Verfolgung ausgesetzt ist, wird implizit durch Adorno beantwor-tet: Es handelt sich nicht mehr um äußere Zensur (wenngleich Adorno das editing mitunter in die Nähe von Zensur und politischer Verfolgung zu rü-cken scheint76), sondern um verinnerlichte Repression gegen das Denken;

74 Theodor W. Adorno: Zur Schlußszene des Faust. In: ders.: GS 11 (1974), S.  129−138, hier S. 129.

75 Leo Strauss: Persecution and the Art of Writing, Chicago 1952; ders.: On  a Forgotten Kind of Writing. In: ders.: What is Political Philosophy? and other Studies. Chicago 1959, S. 221–232.

76 Vgl. Horkheimer/Adorno 1984 (wie Anm. 30), S. 13; Theodor W. Adorno: Auf die Frage: Was ist Deutsch. In: ders.: GS 20.2 (1977), S. 691–701, hier S. 698.

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nicht um politische Verfolgung, sondern um Kämpfe im Bereich von Wissen-schaft und Kultur. Ebenso wie das Diktieren dazu verhelfe, dem »Druck der Konformität« zu widerstehen77, werde das verinnerlichte Verbot, sich durch noch ungedeckte philosophische Absichten zu exponieren, durch die Form des Kommentars umgangen. Hier müssen die Thesen nicht direkt artikuliert werden, sondern können sich im Schutz des fremden Textes entwickeln. In-dem sie temporär der Selbstkontrolle entzogen sind, werden sie nicht vorei-lig mit Konsistenzforderungen belastet – und erst dadurch kann die Interpre-tation etwas darstellen, das dem Denken ansonsten selber verborgen bliebe.

Den »Schutz« anzunehmen, den die Texte gewähren, ist Adorno zu-folge aber »auch objektiv« geboten. Diesen Anspruch versucht er an Ort und Stelle durch das – im weitesten Sinn ideologiekritische – Argument einzu-lösen, dass der unmittelbare Ausdruck metaphysischer Intentionen dem Da-sein einen positiven Sinn zuschreibe; dies gelte übrigens gleichermaßen für die Behauptung der Sinnlosigkeit des Daseins. Vor diesem doppelten ideo-logiekritischen Einwand gegen die Annahme der Sinnhaftigkeit des Da-seins und gegen den Nihilismus als deren Verleugnung sieht Adorno sich selbst geschützt durch die Einsicht in die untilgbare Differenz zwischen In-terpretation und Wahrheit (man kann sagen: zwischen literarischer und me-taphysischer oder theologischer Erkenntnis), deren Negativität sich bis zur Behauptung der »Unmöglichkeit« des gesamten Verfahrens steigert. Das Re-sultat ist eine Theorie metaphysischer Erkenntnis im Konjunktiv, ihre Aus-sageform »ein O wär’ es doch, gleich weit von der Versicherung, daß es so sei, wie von der, es sei nicht.«78 Das Verschwimmen der Grenzen zwischen Eige-nem und Fremdem geht über in eine Unbestimmtheit im Verhältnis von Sein und Nichtsein der metaphysischen Erkenntnis.

Diese Unbestimmtheit ist nicht das letzte Wort Adornos zur Möglich-keit metaphysischer Erkenntnis aus Literatur. In dem letzten der Kleinen Proust­Kommentare findet sich eine Variation zu dem Gedankengang, die je-nen »objektiven« Einwand gegen die unmittelbare Rede von den letzten Din-gen präzisiert: »Das ohnmächtige Wort, das sie selber nennt, schwächt sie selbst; Naivetät sowohl wie trotzige Unbekümmertheit im Ausdruck meta-physischer Ideen verrät deren Mangel an Verbürgtheit.«79 Zweierlei wird hier geltend gemacht: dass die letzten Dinge durch ihre unmittelbare Nennung geschwächt werden; und dass die Erkenntnis von diesen Dingen auf eine zu-

77 Adorno: GS 4 (1980), S. 30.78 Adorno: GS 11 (1974), S. 129.79 Theodor W. Adorno: Kleine Proust-Kommentare. In: ders.: GS 11 (1974), S. 203−215, hier

S. 213.

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nächst nicht näher bestimmte, aber an dem unbekümmerten Ausdruck ne-gativ zu erkennende Weise verbürgt sein muss.

Der Unterschied zwischen einer unbekümmerten und einer verbürg-ten Erkenntnis- und Darstellungsweise liegt in der Reflexion der Form der Kunst, die solche Erkenntnis ermöglicht. Bei Proust sieht Adorno die Rede von den letzten Dingen durch die Form der Kunst auf eine Weise verbürgt, dass an ihrer Dignität nicht zu zweifeln sei. Dies wird aus seiner nachfolgen-den Interpretation eines einzigen Satzes aus Prousts Die Gefangene ersicht-lich: »Der Gedanke, Bergotte sei nicht für alle Zeiten tot, ist demnach nicht völlig unglaubhaft.«80 Er berührt die Vorstellung von einer Abschaffung des Todes, die Gunzelin Schmid Noerr als einen »neuralgischen Punkt« der Kritischen Theorie erkannt hat.81 Im vorliegenden Zusammenhang ent-scheidend ist jedoch die hieran anschließende proustische Reflexion, »daß die moralische Kraft des Dichters […] einer anderen Ordnung als der natür-lichen angehöre und darum verheiße, diese sei nicht die letzte. Vergleichbar wäre diese Erfahrung der an großen Kunstwerken: daß ihr Gehalt unmöglich nicht wahr sein könne; daß ihr Gelingen und ihre Authentizität selber auf die Realität dessen verwiesen, wofür sie einstehen.«82

Der Verweis auf die Kunst ist nur scheinbar ein Vergleich, vielmehr han-delt es sich um eine Explikation, denn es sind die großen Kunstwerke, die vormachen, wie der bestehenden Ordnung eine andere Ordnung entgegen-gesetzt wird. Als Formen treten sie in eine »Gegenposition« zur gesellschaft-lichen Form und kritisieren diese damit »durch ihr bloßes Dasein«.83 Es ist eine solche Kritik, die eine größtmögliche Radikalität in der Artikulation mit einem grundsätzlichen Vorbehalt verbindet.

Denn auch wenn die natürliche Ordnung nicht die letzte ist, denkt Adorno stets mit, dass jene andere Ordnung nicht die wahre ist. Dies wird nur schein-bar vom zweiten Satz wieder zurückgenommen, der ja auf die Realität jener anderen Ordnung zumindest verweist  – allerdings im Modus der doppel-ten Negation (»unmöglich … nicht«). Der Sachverhalt wird nur verständ-lich, wenn man die Pointe von Adornos interpretatorischen Wendungen be-greift, auch wo sie nicht expliziert ist. Sie könnte lauten: dass es möglich ist,

80 Ebd., S. 213 f. 81 Vgl. Gunzelin Schmid Noerr: Abschaffung des Todes? Ein neuralgischer Punkt der Kri-

tischen Theorie. In: ders.: Das Eingedenken der Natur im Subjekt. Zur Dialektik von Vernunft und Natur in der Kritischen Theorie Horkheimers, Adornos und Marcuses. Darmstadt 1990, S. 230–275; zur Unausdenkbarkeit des Todes vgl. Adorno: GS 6 (1973), S. 364.

82 Adorno: GS 11 (1974), S. 214.83 Adorno: GS 7 (1970), S. 335.

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heißt noch nicht, dass es ist. Es ist ein politischer Vorbehalt, der in Adornos Theorie und Praxis literarischer Erkenntnis eingebaut ist. In ihm manifes-tiert sich Adornos Bruch mit Walter Benjamins Politisierung der Kunst, voll-zogen durch eine strikte Trennung der Sphären von Ethik und Politik.84 Die moralische Kraft des Dichters ist deshalb derjenigen des »Strategen im Lite-raturkampf« überlegen, weil er auf die Realität dessen, was er beschreibt, ver-weist, ohne diese Realität als bereits gegeben oder als unmittelbar erreichbar zu behaupten. Diese verweisende Geste ist das Muster eines politischen Ver-haltens, das im Kern auf eine Entpolitisierung zielt, indem es den eigenen Anspruch auf jedwede revolutionäre Praxis zurücknimmt.

Zugespitzt formuliert: Inmitten einer demokratischen Ordnung der Ge-sellschaft an der Idee einer anderen Ordnung festzuhalten, ist allein durch die Werke möglich, denn nur sie vermitteln Erkenntnisse von einer anderen Ordnung, die derart beschaffen sind, dass die Erfahrung ihrer Möglichkeit dem Bewusstsein nicht wieder verstellt werden kann, die aber zugleich erlau-ben, als Mitglied der demokratischen Ordnung zu leben. Das Wissen, dass das, was möglich ist, nicht wirklich ist, bildet die genaueste Entsprechung zu der Einsicht, dass die radikale Aktion zu einer Fortsetzung dessen füh-ren würde, was sie abschaffen will.85 Adornos Utopie der Versöhnung und Überwindung menschlicher Herrschaft rechtfertigt deshalb keine politische Position, die über die demokratische Ordnung hinausführt; sie zeigt – wie Michael Hirsch treffend sagt – allein »die Richtung einer ›progressiven‹ poli-tischen Veränderung an. Diese Veränderung aber muss strikt mit den beste-henden konstitutionellen Formen der liberalen Demokratie vereinbar sein. Das Ziel einer solchen ›reformistischen‹ Veränderung konvergiert mit der an-archo-kommunistischen Utopie. Sie zielt auf die größtmögliche Reduktion politischer Herrschaft, mit den gegebenen und legalen Mitteln der demo-kratischen politischen Macht.«86

Diese politische, genauer gesagt: antipolitische Unterscheidung ist bei Adorno eng verbunden, wenn nicht gar angelegt in der unscheinbaren Ab grenzung zwischen Fiktion und Wirklichkeit, Werk und Gesellschaft. Adorno führt diese Trennung wiederum als proustischen Vorbehalt gegen

84 Vgl. Michael Hirsch: Adorno nach Benjamin. Politik des Geistes, in: Zeitschrift für kriti-sche Theorie 18/19 (2004), S. 239–263.

85 »Der Radikalismus, der sich alles von einer Veränderung des Ganzen erwartet, ist ab-strakt: auch in einem veränderten Ganzen kehrt die Problematik des Einzelnen hart-näckig wieder.« Theodor W. Adorno: Kultur und Verwaltung. In: ders.: GS 8 (1972), S. 122−146, hier S. 141.

86 Hirsch 2004 (wie Anm. 84), S. 253.

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jegliche Positivität ein: »Die Idee von Unsterblichkeit wird nur geduldet an dem, was selber […] vergänglich ist, den Werken«.87

Literatur vermittelt die Erfahrung der Möglichkeit einer anderen Ord-nung, allerdings nur in der Formgeste, jener spezifischen Stelle, in der Adorno den Wahrheitsgehalt der Kunst verortet. Elementare Gesetze der Na-tur wie der Tod könnten außer Kraft gesetzt werden: Die Kunst mache vor, dass es möglich ist, aber das Denken erkenne zugleich, dass es nur in der Kunst möglich ist. So ist denn auch die letzte Erkenntnis, dass »[j]ede Inter-pretation der Stelle […] hinter ihr zurück[bleibt]«.88

Adorno hat im fünften Kapitel der Meditationen zur Metaphysik an seine Interpretation der Stelle angeknüpft und in der von Proust ausgedrückten »Hoffnung auf die Auferstehung« ein Argument gegen die Lebensphiloso-phie gefunden, deren Idee von der Fülle des Lebens sich angesichts des Todes als eitel erweise; sie könne nicht getrennt werden von Gier, Herrschaft und Gewalt. Auch hier findet sich eine Denkfigur der Entpolitisierung; in ihrem Zentrum steht wiederum die Reflexion auf die eigene Schuld, die sich wohl nicht zufällig an der Schuld des vom Holocaust »Verschonten«89 entzündet:

Die Schuld des Lebens, das als pures Faktum bereits anderem Leben den Atem raubt, einer Statistik gemäß, die eine überwältigende Anzahl Ermordeter durch eine mi-nimale Geretteter ergänzt […], ist mit dem Leben nicht mehr zu versöhnen. Jene Schuld reproduziert sich unablässig, weil sie dem Bewußtsein in keinem Augenblick ganz gegenwärtig sein kann. Das, nichts anderes zwingt zur Philosophie. Diese er-fährt dabei den Schock, daß, je tiefer, kräftiger sie eindringt, desto mehr der Arg-wohn sich anmeldet, sie entferne sich von dem, wie es ist; die oberflächlichsten und trivialsten Anschauungen vermöchten, wäre das Wesen einmal entschleiert, recht zu behalten gegen jene, welche auf das Wesen zielen.90

An dieser Stelle verschiebt Adorno den Schock von den Überlebenden auf die Philosophie. Noch die extremsten Erfahrungen scheinen ihm stets vor allem etwas über die Philosophie zu verraten, wenngleich nur negativ. Hier meldet sich mit dem Schock die Furcht an, jene trivialen Anschauungen der Wirklichkeit könnten dem philosophischen Denken überlegen sein. Mit je-der Denkbewegung, die es in die Wirklichkeit unternimmt, erfährt es, dass die Wirklichkeit schon da ist und sich »in keinem Augenblick ganz« erfas-sen lässt. Mehr noch, es zeichnet sich die Möglichkeit ab, dass, je tiefer es »eindringt«, es sich desto mehr von dem entfernt, »wie es ist«. Die unerwar-

87 Adorno: GS 11 (1974), S. 214.88 Ebd.89 Adorno: GS 6 (1973), S. 356.90 Ebd., S. 357.

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tete Wendung dieser Stelle ist, dass genau dieser Umstand »zur Philosophie zwingt«, und zwar Adorno zufolge zu einem solchen philosophischen Den-ken, das gegen sich selbst denkt, um zu einem »andere[n] Begriff von Wahr-heit« zu gelangen.91

Die Präsenz der Schuld des Lebens im Denken ist  – als Erfahrung und Erkenntnis – vielleicht die Quintessenz dessen, was sich für Adorno durch Auschwitz verändert hat. In der Reflexion dieser Präsenz erkennt das Den-ken einen blinden Fleck an sich selbst, eine Unbestimmbarkeit, die sich nicht weiter auflösen lässt. Adorno zufolge ist es jedoch möglich, diese Unbe-stimmtheit zu bestimmen, und zwar durch den Umweg über die Werke, die ebenfalls durch Arbeit am Unbestimmbaren im Medium der Form gekenn-zeichnet sind.

Man kann sagen, Literatur lehrt solche Unbestimmbarkeit. So schreibt Adorno über Paul Valéry, einen seiner Hauptzeugen für die Erkenntniskraft der ästhetischen Form:

»Das Schöne erfordert vielleicht die sklavische Nachahmung dessen, was in den Din-gen unbestimmbar ist« […], lautet der schönste Satz der Windstriche. Das Unbe-stimmbare ist das Unnachahmliche, und die ästhetische Mimesis wird zu einer des Absoluten, indem sie im Bedingten solches Unnachahmliche nachahmt.92

Es ist eine wahrlich paradoxe und fragile Situation, in der das Bedingte mi-metisch am Absoluten teilhat, indem es nachahmt, was sich nicht nachah-men lässt. Sie wird vollends prekär für den Philosophen, der diese Geste interpretiert und dabei erkennt, dass die eigene Erkenntniskraft nicht aus-reicht, um ihren vollen Gehalt zu explizieren. Doch in ihrer radikalen Kon-sequenz drückt sich die Schwere der Aufgabe aus, die Adorno dem philoso-phischen Denken mit der Figur der Selbstreflexion gestellt hat. Das Denken der Unbestimmbarkeit hat die paradoxe Funktion, die Grenzen zwischen Philosophie und Literatur zu bestimmen, wobei eine eindeutige und scharfe Abgrenzung jedoch misslingt. Hier lassen sich die beiden Lesarten von Ador-nos Theorie literarischer Erkenntnis zusammenführen. Tatsächlich erkennt Philosophie in Literatur sich selbst, allerdings nicht im Modus der Identifika-tion und der Wiederholung, sondern nur negativ und im Sinne der Re flexion der eigenen Form – eine Form, mit der sie die Art von Erkenntnis, die ihr vorschwebt, immer wieder verhindert.

91 Ebd.92 Theodor W. Adorno: Valérys Abweichungen. In: ders.: GS 11 (1974), S. 158−202, hier S. 200.