[2014] Grundfragen der Verwaltungsvorschriften

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VwV² 17-12-02 Academia-Fassung.docx 1 Dr. Philipp Reimer Grundfragen der Verwaltungsvorschriſten [Manuskript zu dem Beitrag in Jurissche Ausbildung (Jura) 2014, S. 678–688 (DOI 10.1515/jura-2014-0079). Korrespondierende Seitenzahlen der Druckfassung sind hier in der Marginalspalte angegeben.] Verwaltungsvorschriſten, die internen Regelungen der Verwaltungsbehörden, gelten hierzu- lande nicht als Rechtsnormen. Diese Annahme ist ebenso richg, wie sie falsch ist – während rechtstheoresch kaum ein Weg an ihrer Behandlung als Rechtsnormen vorbeiführt, verwendet die deutsche Rechtsordnung einen engeren Rechtsnormbegriff. Die den Verwaltungsvorschrif- ten meist zugewiesene Sonderstellung – sie erscheinen etwa nicht in den üblichen Darstellun- gen der „Normenpyramiden“ 1 – gibt jedenfalls Anlass zum genauen Hinschauen. Im Folgenden sollen vier zentrale Fragen beantwortet werden, die Verwaltungsvorschriſten für die verschie- denen Beteiligten – die eigentlichen Adressaten innerhalb der Verwaltung, die erlassenden Stel- len, die Gerichte – aufwerfen. I. Wie wirken Verwaltungsvorschriften? Verwaltungsvorschriſten, auch wenn sie noch immer als „die ungesicherte drie Kategorie des Rechts“ gelten 2 , sind heute anerkanntermaßen ein „Bestandteil der objekven Rechtsord- nung“ 3 . Sie wirken als abstrakt-generelle Normen des staatlichen Innenbereichs. Rechtliche Wirkungen enaltet eine Handlung – wie etwa: der Erlass einer Verwaltungsvorschriſt – jedoch nie aus sich heraus 4 ; solche können nur aus Normen der Rechtsordnung folgen, die an den Tatbestand der Vornahme einer entsprechenden Handlung besmmte Rechtsfolgen knüpfen und die man „Wirkungsnormen“ nennen kann 5 . Ohne eine solche Wirkungsnorm – die sich aus der Perspekve der handelnden Stelle als eine Ermächgungsnorm darstellt – folgt aus einer Verwaltungsvorschriſt rechtlich nichts. 1. Mögliche Normwirkungen von Verwaltungsvorschriften Schon aus dem Erfordernis einer benennbaren Wirkungs- oder Ermächgungsnorm folgt, dass die rechtlichen Wirkungen nicht einheitlich für „die Verwaltungsvorschriſt“ schlechthin be- smmt werden können, sondern von den jeweils sachlich einschlägigen Wirkungsnormen ab- hängen. Hiervon gibt es nicht eine zentrale, vergleichbar § 43 VwVfG für den Verwaltungsakt, sondern zahlreiche, wie die Bestandsaufnahme gleich zeigen wird. Verwaltungsvorschriſten 1 Siehe etwa Ossenbühl HStR V, 3. Aufl, 2007, § 103 Rn 92 f; Maurer Allgemeines Verwaltungsrecht, 18. Aufl, 2011, § 4 Rn 11. 2 Wahl FG 50 Jahre BVerwG, 2003, 571. 3 BVerfGE 40, 237 (256) [1975]. 4 Vgl Kelsen AöR 31 (1913), 53 (195–198) = Hans Kelsen Werke [im Folgenden: HKW], Bd 3, 2010, 247 (282–284), in Auseinandersetzung mit Oo Mayer. 5 Ph. Reimer Die Unabhängigkeit von Rechtswirksamkeit und Rechtmäßigkeit, erscheint demnächst in: Rechtstheorie; ders. Zur Theorie der Handlungsformen des Staates, 2008, 143 f; in Bezug auf Verwal- tungsvorschriſten ders. Richtlinien/Verwaltungsvorschriſten, Lexikon des Rechts, 149. Lfg, 2013, 6/1120. Jura 2014, 678 (678)

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VwV² 17-12-02 Academia-Fassung.docx 1

Dr. Philipp Reimer

Grundfragen der Verwaltungsvorschriften

[Manuskript zu dem Beitrag in Juristische Ausbildung (Jura) 2014, S. 678–688

(DOI 10.1515/jura-2014-0079). Korrespondierende Seitenzahlen der Druckfassung

sind hier in der Marginalspalte angegeben.]

Verwaltungsvorschriften, die internen Regelungen der Verwaltungsbehörden, gelten hierzu-

lande nicht als Rechtsnormen. Diese Annahme ist ebenso richtig, wie sie falsch ist – während

rechtstheoretisch kaum ein Weg an ihrer Behandlung als Rechtsnormen vorbeiführt, verwendet

die deutsche Rechtsordnung einen engeren Rechtsnormbegriff. Die den Verwaltungsvorschrif-

ten meist zugewiesene Sonderstellung – sie erscheinen etwa nicht in den üblichen Darstellun-

gen der „Normenpyramiden“1 – gibt jedenfalls Anlass zum genauen Hinschauen. Im Folgenden

sollen vier zentrale Fragen beantwortet werden, die Verwaltungsvorschriften für die verschie-

denen Beteiligten – die eigentlichen Adressaten innerhalb der Verwaltung, die erlassenden Stel-

len, die Gerichte – aufwerfen.

I. Wie wirken Verwaltungsvorschriften?

Verwaltungsvorschriften, auch wenn sie noch immer als „die ungesicherte dritte Kategorie des

Rechts“ gelten2, sind heute anerkanntermaßen ein „Bestandteil der objektiven Rechtsord-

nung“3. Sie wirken als abstrakt-generelle Normen des staatlichen Innenbereichs. Rechtliche

Wirkungen entfaltet eine Handlung – wie etwa: der Erlass einer Verwaltungsvorschrift – jedoch

nie aus sich heraus4; solche können nur aus Normen der Rechtsordnung folgen, die an den

Tatbestand der Vornahme einer entsprechenden Handlung bestimmte Rechtsfolgen knüpfen

und die man „Wirkungsnormen“ nennen kann5. Ohne eine solche Wirkungsnorm – die sich aus

der Perspektive der handelnden Stelle als eine Ermächtigungsnorm darstellt – folgt aus einer

Verwaltungsvorschrift rechtlich nichts.

1. Mögliche Normwirkungen von Verwaltungsvorschriften

Schon aus dem Erfordernis einer benennbaren Wirkungs- oder Ermächtigungsnorm folgt, dass

die rechtlichen Wirkungen nicht einheitlich für „die Verwaltungsvorschrift“ schlechthin be-

stimmt werden können, sondern von den jeweils sachlich einschlägigen Wirkungsnormen ab-

hängen. Hiervon gibt es nicht eine zentrale, vergleichbar § 43 VwVfG für den Verwaltungsakt,

sondern zahlreiche, wie die Bestandsaufnahme gleich zeigen wird. Verwaltungsvorschriften

1 Siehe etwa Ossenbühl HStR V, 3. Aufl, 2007, § 103 Rn 92 f; Maurer Allgemeines Verwaltungsrecht, 18. Aufl, 2011, § 4 Rn 11. 2 Wahl FG 50 Jahre BVerwG, 2003, 571. 3 BVerfGE 40, 237 (256) [1975]. 4 Vgl Kelsen AöR 31 (1913), 53 (195–198) = Hans Kelsen Werke [im Folgenden: HKW], Bd 3, 2010, 247 (282–284), in Auseinandersetzung mit Otto Mayer. 5 Ph. Reimer Die Unabhängigkeit von Rechtswirksamkeit und Rechtmäßigkeit, erscheint demnächst in: Rechtstheorie; ders. Zur Theorie der Handlungsformen des Staates, 2008, 143 f; in Bezug auf Verwal-tungsvorschriften ders. Richtlinien/Verwaltungsvorschriften, Lexikon des Rechts, 149. Lfg, 2013, 6/1120.

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entfalten insofern differenzierte Bindungswirkungen6. Das macht es notwendig, zwischen ver-

schiedenen Formen von Verwaltungsvorschriften zu unterscheiden.

In Anlehnung an die Systematisierung der verschiedenen Regelungsgehalte anderer Rechts-

akte (etwa eines Urteils- oder Bescheidtenors7) ist in erster Linie zwischen befehlenden Ver-

waltungsvorschriften für das Verwaltungshandeln und gestaltenden Verwaltungsvorschriften

vor allem für die Verwaltungsorganisation zu unterscheiden. Diese inhaltliche Unterscheidung

steht einer formalen Zusammenführung beider Arten von Regelungsgehalten in einem äußer-

lich einheitlichen Rechtsakt natürlich nicht entgegen8. |

a) Befehlende („verhaltenslenkende“) Verwaltungsvorschriften. Wer über Verwaltungsvor-

schriften spricht, meint zumeist solche Verwaltungsvorschriften, die ein bestimmtes Verhalten

befehlen. Die in einer befehlenden oder auch „verhaltenslenkenden“ Verwaltungsvorschrift

ausgedrückte Verpflichtung eines Adressaten wird dann zum Bestandteil der Rechtsordnung,

wenn eine (Wirkungs-)Norm den Verwaltungsvorschriftengeber zu dieser Verpflichtung des

Adressaten ermächtigt. Solche Normen können entweder aus der Perspektive des Verwal-

tungsvorschriftengebers als Befehlsermächtigung oder aus der Perspektive des Adressaten als

Statuierung einer Befolgungspflicht formuliert sein9.

Kennzeichnend für die Verwaltungsvorschrift als rechtsaktförmige Handlungsform ist, dass ihr

nach geltendem Recht eine Bindungswirkung meist nur innerhalb der staatlichen Sphäre zu-

kommt. Wen die Bindungswirkung trifft, ist unterschiedlich; es finden sich Pflichten zur Befol-

gung von Verwaltungsvorschriften, die staatliche Organisationseinheiten (dazu aa), und sol-

che, die Bedienstete (dazu bb) treffen. Der Unterschied zwischen Verwaltungsvorschriften ge-

genüber Organisationseinheiten und solchen gegenüber Bediensteten ist dabei letztlich nur

rechtstechnischer Art, weil ja alle Normen am Ende von Menschen befolgt und angewandt

werden sollen10.

aa) Befolgungspflicht staatlicher Organisationseinheiten. Dass nachgeordnete Stellen dessel-

ben Verwaltungsträgers an Verwaltungsvorschriften gebunden sein sollen, ergibt sich meist

aus ihrem jeweiligen Organisationsrecht. Wo sich ausdrückliche Ermächtigungen nicht finden,

wird hier oft der systematische Zusammenhang der Organisationsrechtsnormen ergeben, dass

in einem mehrstufigen Behördenaufbau Weisungsrechte bestehen sollen, die auch abstrakt-

generelle Weisungen in Gestalt von Verwaltungsvorschriften tragen können. In diesem Sinne

kann etwa im Bundesbereich dem Art 65 S. 2 GG, wonach jeder Bundesminister seinen Ge-

schäftsbereich selbständig leitet, eine Weisungsbefugnis gegenüber den jeweiligen nachgeord-

neten Behörden entnommen werden, worauf auch abstrakt-generelle Verwaltungsvorschrif-

6 Ossenbühl HStR V, 3. Aufl, 2007, § 104 Rn 43. 7 Siehe nur P. Stelkens/Bonk/Sachs/U. Stelkens VwVfG, 8. Aufl, 2014, § 35 Rn 214–220. 8 Häufig finden sich beiderlei Arten von Regelungen etwa in Verwaltungsvorschriften, die als „Geschäfts-ordnung“ bestimmter Organisationseinheiten firmieren. Siehe beispielsweise die durch gleichlautende Erlasse eingeführte Geschäftsordnung für die Finanzämter (FAGO 2010) vom 16. November 2010 (BStBl I, 1315), die in „Aufbauorganisation“ und „Ablauforganisation“ gegliedert ist. 9 Vgl auch Ossenbühl Verwaltungsvorschriften und Grundgesetz, 1968, 485 f. 10 Vgl Kelsen Reine Rechtslehre, 1. Aufl, 1934 (im Folgenden: RR1), 55 f; 2. Aufl, 1960 (im Folgenden: RR2), 193 f.

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ten gestützt werden können (Entsprechendes gilt für die Verfassungen der Länder)11. Nach Art

86 S. 1 GG kann überdies die Bundesregierung „allgemeine Verwaltungsvorschriften“ gegen-

über den Bundesbehörden erlassen12.

Eine Ermächtigung zum Erlass von Verwaltungsvorschriften gibt es außer im hierarchischen

Behördenaufbau auch vielfach in (Fach-)Aufsichtsverhältnissen, wo typischerweise ein Verwal-

tungsträger die Tätigkeit eines anderen überwacht13. Für das Verhältnis Bund–Länder ist ein

solches Aufsichtsverhältnis unmittelbar im Grundgesetz angeordnet, soweit es um die Ausfüh-

rung der Bundesgesetze durch die Länder geht; hier finden sich ausdrückliche Ermächtigungen

der Bundesregierung zum Erlass sogenannter „allgemeiner Verwaltungsvorschriften“ in Art 84

II, 85 II 1, 108 VII GG neben einer Ermächtigung zur Erteilung von „Weisungen“ in Art 85 III

GG14. Innerhalb der Bundes- oder der Landesebene lassen sich dem die Fälle der verwaltungs-

rechtlichen Fachaufsicht an die Seite stellen, wie sie im Verhältnis von Staatsbehörden und

mittelbarer Staatsverwaltung oft besteht15. Auch die „Aufsicht“ der Gerichtspräsidenten über

die Notare nach § 92 BNotO wird als Ermächtigung zum Erlass von Verwaltungsvorschriften

verstanden16.

bb) Befolgungspflicht Bediensteter. Dass Bedienstete des Staates an Verwaltungsvorschriften

gebunden sind, ergibt sich als Rechtsfolge aus ihrem jeweiligen Dienstrecht17. Für diese unmit-

telbare Wirkung von Verwaltungsvorschriften gibt es insofern keine einheitliche, sondern viel-

mehr mehrere Wirkungsnormen nebeneinander. Diese aus der Perspektive der Adressaten

formulierten Wirkungsnormen des geltenden Rechts erlauben – als Ermächtigung betrachtet

– dem Dienstherrn das Aussprechen von Weisungen zu einem bestimmten Verhalten. Dieselbe

Verwaltungsvorschrift kann, wenn sie sich an Bedienstete verschiedener Statusgruppen rich-

tet, gleich|zeitig auf mehrere dieser Wirkungs- oder Ermächtigungsnormen gestützt sein; re-

levant wird dies schon in dem häufigen Falle, dass in einer Dienststelle Beamte neben Arbeit-

nehmern bedienstet sind. Angeführt seien zur Veranschaulichung die jeweils einschlägigen

Normen für Arbeits- sowie die drei wichtigsten öffentlich-rechtlichen Dienstverhältnisse:

(1) Gegenüber einem Arbeitnehmer besteht das Recht zur Inhaltbestimmung der arbeitsver-

traglichen Dienstleistungspflicht, für dessen Ausübung §§ 315 BGB, 106 GewO den Maßstab

bilden18. Unbillige oder sittenwidrige (§ 138 BGB) Weisungen brauchen nicht befolgt zu wer-

den; Straftaten oder Ordnungswidrigkeiten darf ein Arbeitnehmer auch dann nicht begehen,

wenn er dazu angewiesen wird.

11 Maunz/Dürig/Herzog GG, 68. Lfg, 2013 (Stand der Bearbeitung: 53. Lfg, 2008), Art 65 Rn 59. 12 Es kommt insoweit zu einer Überschneidung mit der Ministerkompetenz aus Art 65 S. 2 GG, die wohl dahin aufzulösen ist, dass allgemeine Vorschriften der Bundesregierung denen des Bundesministers vor-gehen, dass aber konkret-individuelle Weisungen nur letzterer erteilen kann. Vgl von Man-goldt/Klein/Starck/Burgi GG, 6. Aufl, 2010, Art 86 Rn 66 f mwN. 13 Vgl hierzu M. Jestaedt in Hoffmann-Riem/Schmidt-Aßmann/Voßkuhle, Grundlagen des Verwaltungs-rechts II, 2. Aufl, 2012, § 14 Rn 50 mwN. 14 Inwieweit auf dieser Grundlage auch abstrakt-generelle Weisungen möglich sind – und damit Über-schneidungen mit den allgemeinen Verwaltungsvorschriften des Art 85 II GG drohen –, ist nicht ganz klar. Vgl etwa BVerfGE 100, 249 (258 f) [1999]; Brodersen FS für Peter Selmer, 2004, 601. 15 Beispielsweise zwischen dem Bundesministerium der Finanzen und der Bundesanstalt für Finanz-dienstleistungsaufsicht nach § 2 FinDAG. 16 Vgl BVerfGE 131, 130 [2012]. 17 So schon Ossenbühl (Fn 9), 485. 18 Vgl einführend etwa Krause Arbeitsrecht, 2. Aufl, 2011, § 9 Rn 5–13 mN.

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(2) Ein Beamter ist im Verhältnis zu seinen Vorgesetzten gesetzlich verpflichtet, „deren dienst-

liche Anordnungen auszuführen und deren allgemeine Richtlinien zu befolgen“ (§ 62 I 2 BBG,

§ 35 S. 2 BeamtStG); hier ist die Unterscheidung von konkret-individuellen („Anordnung“) und

abstrakt-generellen Weisungen („Richtlinien“) zwar gesetzessprachlich vorgezeichnet, ohne

dass sich hieran jedoch unterschiedliche Rechtsfolgen knüpften. Für einen Beamten ist – nach

Remonstration – auch die rechtswidrige Verwaltungsvorschrift bindend, soweit ihr Inhalt nicht

„die Würde des Menschen verletzt oder strafbar oder ordnungswidrig ist und die Strafbarkeit

oder Ordnungswidrigkeit für die Beamtinnen und Beamten erkennbar ist“ (§ 63 II 3 BBG, § 36

II 3 BeamtStG).

(3) Soweit ihre Unabhängigkeit nicht beeinträchtigt wird, gilt für Richter gemäß § 26 I DRiG

grundsätzlich Vergleichbares. Im Rahmen der danach bestehenden Dienstaufsicht, insbeson-

dere also für die äußere Ordnung19, können auch sie dienstrechtlich an Verwaltungsvorschrif-

ten gebunden sein.

(4) Ein Soldat „muss seinen Vorgesetzten gehorchen“ und „hat ihre Befehle nach besten Kräf-

ten vollständig, gewissenhaft und unverzüglich auszuführen“ (§ 11 I 1, 2 SG). Auf diese Grund-

lage können auch Verwaltungsvorschriften als abstrakt-generelle Befehle gestützt werden,

wovon praktisch insbesondere durch in der bekannten Form der „Zentralen Dienstvorschrift“

Gebrauch gemacht wird. Im Unterschied zum Beamten bindet den Soldaten auch die durch

Verwaltungsvorschrift auferlegte Pflicht, eine erkennbare Ordnungswidrigkeit zu begehen

(§ 11 I 3 SG).

b) Gestaltende Verwaltungsvorschriften. Manche Verwaltungsvorschriften weisen demgegen-

über keinen befehlenden, sondern einen gestaltenden Inhalt auf, etwa, indem sie unmittelbar

selbst Organisationseinheiten errichten. Mag man hierin zwar auch einen befehlenden Rege-

lungsgehalt insoweit erkennen, als die Verwaltungsvorschriften dann zugleich die Ausstattung,

Tätigkeit und Anerkennung der Organisationseinheit anordnen, so gestalten doch derartige

Verwaltungsvorschriften zugleich und vor allem die (Organisations-)Rechtslage um. Eine Er-

mächtigung zu (organisations)rechtsgestaltenden Verwaltungsvorschriften enthalten im Bun-

desbereich zum Beispiel Art 64 I, 65 S. 1 GG zugunsten des Bundeskanzlers für die Errichtung

der Behörde eines Bundesministers20 – in der Staatspraxis jetzt: eines Bundesministeriums21 –

, Art 65 S. 2 GG zugunsten der Bundesminister für die Organisation ihrer Behörde22 und Art 86

S. 2 GG zugunsten der Bundesregierung für die „Einrichtung der Behörden“23.

Andere Fälle rechtsgestaltender Verwaltungsvorschriften sind ebenfalls möglich, soweit sie

sich jeweils auf eine entsprechende Ermächtigungsnorm stützen können. In diese Fallgruppe

lässt sich etwa die durch Verwaltungsvorschrift erfolgende Einführung eines Beschwerdever-

fahrens nach § 24 II EGGVG einordnen, dessen Durchführung dadurch zur Sachentscheidungs-

voraussetzung der Anfechtungsklage gegen einen Justizverwaltungsakt gemacht wird24; in § 24

II EGGVG liegt dafür dann eine Ermächtigungsnorm vor.

19 Vgl BGHZ 42, 163 [1963]. 20 Vgl Maunz/Dürig/Herzog GG, 68. Lfg, 2013, Art 64 Rn 4/5 (Stand der Bearbeitung: 52. Lfg, 2008). 21 Vgl Hufeld Die Vertretung der Behörde, 2003, 42 f. 22 Vgl Detterbeck HStR III, 3. Aufl, 2005, § 66 Rn 28. 23 Vgl Maunz/Dürig/Ibler GG, 68. Lfg, 2013, Art 86 Rn 164 (Stand der Bearbeitung: 52. Lfg, 2008). 24 Zur Verfassungsmäßigkeit solcher Regelungen in einer Verwaltungsvorschrift BVerfGE 40, 237 (253–256) [1975].

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2. Zum Hintergrund der Diskussion um den Rechtsnormcharakter der Verwal-

tungsvorschriften

Nach dem eben Ausgeführten entfalten Verwaltungsvorschriften kraft gewisser Wirkungsnor-

men selbst Normwirkungen. Das rechtfertigt es aus rechtstheoretischer Sicht, sie auch selbst

als Rechtsnormen zu bezeichnen. Im (deutschen) positiven Recht und seiner Dogmatik ist dies

jedoch unüblich, weil hier ein eigener Begriff der Rechtsnorm verwendet wird, der mit dem

rechtstheoretischen nicht verwechselt werden sollte. |

a) Positivrechtlicher Begriff. Der Ausdruck „Rechtsnorm“ bezeichnet in der deutschen Rechts-

wissenschaft hergebrachterweise eine positivrechtliche Kategorie25. Zu den „Rechtsnormen“

wird im Ausgangspunkt nur die Trias von Gesetzen (einschließlich der Verfassung, auch wenn

diese meist nicht mitgenannt wird), Rechtsverordnungen und Satzungen gerechnet. Alles Wei-

tere, was man in den Begriff aufzunehmen erwägt, gilt mindestens als problematisch.

Gemeinsam haben Gesetze, Rechtsverordnungen und Satzungen, dass es sich jeweils um die

Aufstellung ausdrücklicher Regeln durch einen besonderen (Rechts-)Akt handelt, die für Au-

ßenstehende verbindlich und insbesondere auch von den Gerichten anzuwenden sein sollen26.

Alle weiteren Eigenschaften, womit die „Rechtsnormen“ oft beschrieben werden, sind demge-

genüber keine Essentialia des Begriffs. So enthalten „Rechtsnormen“ typischerweise abstrakt-

generelle Regelungen – jedoch nicht notwendigerweise, wie schon die Maßnahmegesetze27

und -verordnungen28 zeigen29; als bloße Formen können Gesetze und auch Rechtsverordnun-

gen und Satzungen beliebige Inhalte aufweisen, ohne ihre Handlungsformqualifikation zu ver-

lieren. Auch ergehen sie typischerweise durch einen einseitigen Rechtsakt – doch als „Rechts-

normen“ werden auch Tarifverträge30 und ähnliche „Normverträge“31 anerkannt.

Die so beschriebene dogmatische Kategorie passt zum positiven deutschen Recht. Denn

„Rechtsnorm“ ist in der Tat ein Begriff auch der Gesetzessprache, der interpretiert und auf

Einzelfälle bezogen werden muss. Hier begegnet der Begriff insbesondere im Rechtsmittel-

recht: nur der Verstoß der angegriffenen Entscheidung gegen eine „Rechtsnorm“ begründet

das Rechtsmittel32. Dass Tarifverträge „Rechtsnormen“ enthalten, sagt ebenfalls das Gesetz

25 „Historisch-konventioneller Rechtsnormbegriff“ nennt dies Sauerland Die Verwaltungsvorschrift im System der Rechtsquellen, 2005, 71. 26 Diesen letztgenannten Gesichtspunkt beschreibt in der Handlungsformenlehre das Leitmerkmal der „Außengerichtetheit“; vgl Reimer Handlungsformen (Fn 5), 108–120. 27 Vgl Art 14 III 2 Var 1 GG, wonach eine Enteignung „durch Gesetz“ möglich ist, sowie BVerfGE 95, 1 (17) [1996]. 28 Vgl Ossenbühl (Fn 1), § 103 Rn 47 f. 29 Anders wohl von Mutius FS für Hans Julius Wolff, 1973, 167 (184). 30 Vgl etwa ErfK/Franzen, 13. Aufl, 2013, § 4 TVG, Rn 4 („Die Rechtsnormen des [Tarifvertrags] sind [Ge-setze] im materiell-rechtl. Sinne“ – Hervorhebung nicht wiedergegeben). 31 Insbesondere die Bundesmantel- und Gesamtverträge nach § 82 SGB V; vgl. Leitherer/Hess, Kasseler Kommentar Sozialversicherungsrecht, 78. Lfg, 2013, § 82 Rn 8 f (Stand der Bearbeitung: 68. Lfg, 2010). 32 §§ 546 ZPO, 73, 93, 110 ArbGG, 337 StPO, 80 OWiG, 116 StVollzG, 139 VwGO, 164 SGG, 80 DRiG, 72 FamFG, 111 PatG. In ähnlicher Weise ist nur gegen „Bundes- oder Landesrecht“ (§ 76 I BVerfGG) die abstrakte Normenkontrolle beim Bundesverfassungsgericht und nur gegen „Satzungen“ und „andere Rechtsvorschriften“ (§ 47 I VwGO) die Normenkontrolle beim Oberverwaltungsgericht gegeben. Der Be-griff „Normenkontrolle“ selbst erscheint hier nicht im Gesetz, ist in dessen dogmatischer Beschreibung aber allgemein üblich.

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selbst33. Bekannt ist auch der Sprachgebrauch pars pro toto, der definiert: „Gesetz […] ist jede

Rechtsnorm“34, und damit den alten dogmatischen Begriff des „materiellen Gesetzes“ positi-

viert. „Das in einem anderen Staat geltende Recht, die Gewohnheitsrechte und Statuten“ sind

ebenfalls „Rechtsnormen“35; „Vereinssatzungen“, und damit wohl erst recht andere Privat-

rechtsgeschäfte, stehen diesen dagegen gegenüber36. In jedem dieser Fälle37 ist es eine Ausle-

gungsfrage, was der Gesetzgeber mit dem Begriff der „Rechtsnorm“ jeweils gemeint hat. Wie

stets kann der Begriff in verschiedenen Gesetzen auch unterschiedlich zu verstehen sein.

b) Rechtstheoretischer Begriff. Der heutige dogmatische Sprachgebrauch geht auf die ältere

Rechtstheorie zurück, die einen nach zwei Richtungen hin eingeschränkten Rechtsnormbegriff

verwendete. Die erste Einschränkung betrifft eine bestimmte Dimension des Norminhalts,

nämlich die Allgemeinheit des Regelungsgehalts38. Nur eine abstrakt-generelle Regelung sollte

Rechtsnorm sein, während die konkret-individuelle Regelung eines Einzelfalls durch ein Urteil

in einem Rechtsstreit oder durch einen Verwaltungsakt nur als (abgesehen von etwaigen Er-

messensspielräumen) gleichsam mechanische Umsetzung der abstrakt-generellen Regelung

galt39. Diese Dichotomie von Rechtsetzung einer- und Rechtsanwendung andererseits40 wurde

in der Theorie überwunden durch die Lehre vom Stufenbau der Rechtsordnung, die auf jeder

Stufe der Rechtserzeugung jeweils zugleich Anwendung höheren Rechts und Rechtsetzung für

die nachfolgenden Stufen sieht41. Die zweite Einschränkung des älteren Rechtsnormbegriffs

betrifft die Normadressaten. Rechtsnormen sollten lediglich Regelungen der Beziehungen zwi-

schen Rechts|personen darstellen können,42 nicht dagegen die der Beziehungen innerhalb der

Rechtsperson „Staat“,43 die vielmehr als „impermeabel“ galt44. Die lediglich innerhalb der

Staatsorganisation – gegenüber nachgeordneten Behörden, gegenüber Bediensteten oder ge-

genüber Anstaltsunterworfenen – erhobenen Geltungsansprüche von Verwaltungsvorschrif-

ten erschienen auf dieser Grundlage nicht als Recht45. Spätere Ansätze haben für eine rechts-

wissenschaftliche Durchdringung auch dieses Bereichs den Begriff des „Innenrechts“ geprägt,

33 § 1 I TVG. 34 §§ 12 EGZPO, 7 EGStPO, 4 AO. 35 § 293 ZPO. 36 § 2 II BGremBG. 37 Siehe außerdem beispielsweise §§ 613a BGB, 2 EStG, 80 BVerfGG, 363 AO, 330 SGB III, 100 SGB VI, 30, 31 AufenthG. 38 Siehe etwa O. Mayer Deutsches Verwaltungsrecht I, 3. Aufl, 1924, 74; auch Kelsen Hauptprobleme der Staatsrechtslehre entwickelt aus der Lehre vom Rechtssatze, 1911, 212 = HKW 2, 2008, 21 (327). 39 Anders aber schon Bülow Gesetz und Richteramt, 1885. 40 Die sich auch noch im Frühwerk Kelsens findet, vgl. etwa bei dems. (Fn 38), 561 f = HKW 2, 2008, 21 (714 f). 41 Grundlegend Merkl Das doppelte Rechtsantlitz (1918), in: ders. Gesammelte Schriften I/1, 1993, 227 (bes. 231–234); weiter ausgearbeitet dann etwa Kelsen, RR1 (Fn 10), 73–89; RR2 (Fn 10), 228–282. 42 Etwa Laband Das Staatsrecht des Deutschen Reiches II, 5. Aufl, 1911, 181. 43 Vgl Rupp Grundfragen der heutigen Verwaltungsrechtslehre, 2. Aufl, 1991, 19–38. 44 Vgl Krebs HStR V, 3. Aufl, 2007, § 108 Rn 32 mN. 45 Siehe noch BVerwGE 107, 338 (340) [1998]: Verwaltungsvorschriften kein „materielles Recht“.

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das dem „Außenrecht“ – dem Recht der Beziehungen zwischen Rechtspersonen – gegenüber-

gestellt wurde46.

Die moderne rechtstheoretische Sicht der Dinge stellt sich radikal einfacher dar: die Unter-

scheidung von Innen- und Außenrecht ist allein rechtsinhaltlicher Art, also eine Unterschei-

dung, die in einer Rechtsordnung getroffen sein kann, aber nicht muss. Aus rechtstheoretischer

Sicht sind vielmehr alle Normen einer Rechtsordnung einander insofern gleich, als sie ein Ver-

halten als gesollt vorschreiben und sich für die Ingeltungsetzung dieses Sollens auf andere

Rechtsnormen stützen, mit denen zusammen sie einen vielgestaltigen Rechtserzeugungszu-

sammenhang bilden47. Diese Überlegung nimmt dem Sonderstatus der Verwaltungsvorschrif-

ten die Fundamentalität und verweist ihn von der Stufe rechtstheoretischer Fragen („kann so

etwas überhaupt Recht sein?“) auf die Stufe der Dogmatik („ist diese Vorschrift ein Bestandteil

dieser konkreten Rechtsordnung?“). Denn den subjektiven Sinn von Normen haben auch Ver-

waltungsvorschriften, weil sie ihrem Inhalt nach ihren jeweiligen Adressaten – die andere sein

mögen als diejenigen eines Gesetzes – ein bestimmtes Verhalten als gesollt vorschreiben wol-

len; und insoweit, als dieser Sinn von ermächtigenden Rechtsnormen der deutschen Rechts-

ordnung in Bezug genommen wird, erscheinen auch Verwaltungsvorschriften als Normen der-

selben Rechtsordnung48. Solche Ermächtigungsnormen finden sich (wie gesehen) in der deut-

schen Rechtsordnung verschiedentlich, was den Rechtstheoretiker dazu zwingt, die darauf zu

stützenden Verwaltungsvorschriften ebenfalls als Normen dieser Rechtsordnung zu begrei-

fen49.

II. Unter welchen Voraussetzungen dürfen Verwaltungsvorschriften erlassen wer-

den?

Eine andere Frage als die eben erörterte, ob Verwaltungsvorschriften wirksam erlassen sind,

also die intendierten Rechtsfolgen hervorbringen können, geht dahin, ob die erlassende Stelle

sich mit dem Erlass auch innerhalb des Rahmens ihres rechtlichen Dürfens hält. Ein Verstoß

gegen die Anforderungen an Form und Inhalt muss der Verwaltungsvorschrift nicht in jedem

Falle auch die Wirksamkeit nehmen, also die Adressaten von der (dienst- oder organisations-

rechtlichen) Befolgungspflicht entbinden. Die Grenzen der Befolgungspflicht – einschließlich

der „Fehlerfolgen“ bei rechtswidrigem Erlass – ergeben sich ausschließlich aus den (unter I.1.a

beschriebenen) Wirkungsnormen50.

Anforderungen an die Erlassung und den Inhalt von Verwaltungsvorschriften können aus allen

Normen folgen, an die die erlassende Behörde gebunden ist. Betrachtet seien verfassungs-

rechtliche, gesetzliche und binnenrechtliche Vorgaben, die für die erlassende Behörde gelten

können.

46 Hierzu Hansen Fachliche Weisung und materielles Gesetz, 1971, 95–108; vgl. auch Freund Innenrecht und Außenrecht, 1984, Pöcker JZ 2006, 1108, sowie Gärditz Hochschulorganisation und verwaltungs-rechtliche Systembildung, 2009, 71–75. 47 Vgl Kelsen, RR1 (Fn 10), 63–66; RR2 (Fn 10), 228. 48 Merkl Allgemeines Verwaltungsrecht, 1927, 121 f. Zu subjektivem und objektivem Sinn der Normen und zur Norm als Deutungsschema vgl. Kelsen, RR1 (Fn 10), 3–5; RR2 (Fn 10), 2–4. 49 Ebenso Sauerland (Fn 25), 82. 50 Vgl auch Reimer Unabhängigkeit (Fn 5).

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1. Vorbehalt(e) des Gesetzes

Bestimmte Regelungen dürfen von Verfassungs wegen nur durch Gesetz oder zumindest nicht

ohne besondere Ermächtigung durch Gesetz getroffen werden51; insoweit besteht ein Vorbe-

halt des Gesetzes, der entsprechende Regelungen durch Verwaltungsvorschrift unzulässig

macht52.

Dies gilt zunächst für Eingriffe in Freiheitsgrundrechte. Verwaltungsvorschriften dürfen des-

halb insbesondere nicht aus eigenem Recht belastende Maßnahmen gegenüber Dritten, etwa

Anstaltsunterworfenen treffen, wie dies früher in Schule und Strafvollzug weithin üblich war.

Ein institutioneller Vorbehalt des Gesetzes gilt sodann für be|stimmte Organisationsakte. Im

Bundesbereich gehört hierzu namentlich die Errichtung der in Art 87 I 2, III GG genannten Be-

hörden. Ein Vorbehalt unmittelbar gesetzlicher Regelung gilt nach h. M. schließlich auch für

andere unter dem Gesichtspunkt von Rechtsstaats- und Demokratieprinzip „wesentliche“ Re-

gelungen. Was „wesentlich“ ist, kann nur schwer abstrakt bestimmt werden; „die Zuständig-

keiten und das Verfahren der leistungsgewährenden Verwaltung“, oft geregelt in Verwaltungs-

vorschriften, sollen dazu beispielsweise nicht gehören53. Der rechtsstaatlich-demokratische

Vorbehalt des Gesetzes wird mit dem freiheitsgrundrechtlichen eng verbunden, denn für die

Wesentlichkeit „vermittelt der Schutz der Grundrechte einen wichtigen Gesichtspunkt“54. In

den wenigen Bereichen, die außerhalb dieser weiten Vorbehalte des Gesetzes verbleiben,

kann eine Behörde ihre Tätigkeit grundsätzlich autonom gestalten und ist sie dementspre-

chend auch hinsichtlich des Inhalts ihrer Verwaltungsvorschriften freier; das betrifft in erster

Linie den Bereich der Daseinsvorsorge und der sonstigen Leistungsverwaltung, hier besonders

den der Wirtschaftsförderung durch Subventionsvergabe.

2. Gesetzesbindung, Art 20 III GG

Soweit gesetzliche Vorgaben für den Inhalt oder für die Art und Weise des Zustandekommens

von Verwaltungsvorschriften gemacht sind, haben alle Stellen der vollziehenden Gewalt diese

gemäß Art 20 III GG zu beachten. Gleichwohl sind Beamte gesetzlich verpflichtet, grundsätzlich

auch dienstliche Anordnungen zu gesetzwidrigem Tun zu befolgen, wenn diese auf ihre Re-

monstration hin bestätigt werden; insoweit derogiert die bestätigende Anordnung auf Grund

des Dienstrechtsgesetzes – wenn auch wohl noch nicht die Verwaltungsvorschrift selbst55 –

dann die Pflicht zur Befolgung des Fachgesetzes56.

Gesetzliche Vorgaben für den Inhalt von Verwaltungsvorschriften bestehen insbesondere dort,

wo die Verwaltungsvorschrift ihre Adressaten beim Vollzug eines Gesetzes anleiten will, sei es

als auslegungslenkende („norminterpretierende“) oder als ermessenslenkende Verwaltungs-

vorschrift. Hier muss sich die Verwaltungsvorschrift vor allem im Rahmen des zu vollziehenden

51 Zur Systematisierung grundlegend Böckenförde Die Organisationsgewalt im Bereich der Regierung, 1964, 89–103. 52 Dazu etwa Saurer DÖV 2005, 587. 53 BVerfGE 8, 155 (167) [1958]. 54 BVerfGE 47, 46 (79) [1977]; vgl auch BVerfGE 41, 251 (259–266) [1976]; 45, 400 (417 f) [1977], wo sämtlich auch Art 12 I GG als grundrechtlicher Vorbehalt des Gesetzes hätte bemüht werden können. 55 Jarass JuS 1999, 105 (106). 56 Siehe § 63 II BBG, § 36 II BeamtStG; weitergehend noch § 11 SG für Soldaten.

Jura 2014, 678 (683)

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Gesetzes selbst halten57 – was freilich nicht unbedingt Bindung an die höchstrichterliche Inter-

pretation des Gesetzes bedeutet (worüber anhand der „Nichtanwendungserlasse“ der Finanz-

verwaltung in Bezug auf Urteile des Bundesfinanzhofs immer wieder diskutiert wird)58. Dem zu

vollziehenden Gesetz kann außerdem zu entnehmen sein, dass ein der Verwaltung eingeräum-

tes Ermessen erst im Einzelfall und nicht durch ermessenslenkende Verwaltungsvorschrift

(„generell“) ausgeübt werden darf – so etwa in § 15 I VersG, wenn es dort heißt „nach den zur

Zeit des Erlasses der Verfügung erkennbaren Umständen“59.

Vorgaben für die Art und Weise des Zustandekommens von Verwaltungsvorschriften enthalten

etwa Verfahrensvorschriften wie § 48 BImSchG, wonach eine allgemeine Verwaltungsvor-

schrift erst „nach Anhörung der beteiligten Kreise“, oder § 103 I BHO, wonach eine Verwal-

tungsvorschrift zur Durchführung der Haushaltsordnung erst nach Anhörung des Bundesrech-

nungshofs erlassen werden darf.

3. Binnenrechtliche Vorgaben für die erlassende Behörde

Wo Verwaltungsvorschriften das Verhalten der Behörde verbindlich bestimmen, können sie

auch für dasjenige behördliche Verhalten, das im Erlass von Verwaltungsvorschriften besteht,

Regelungen treffen. Rechtliche Anforderungen an Verwaltungsvorschriften können sich dem-

entsprechend auch aus dem Binnenrecht ergeben. Derartige Verwaltungsvorschriften über

Verwaltungsvorschriften betreffen praktisch ebenso die formale Gestaltung wie die inhaltliche

Ausrichtung60. |

III. In welchen Fällen sind Verwaltungsvorschriften von einem Gericht anzuwen-

den?

Nicht berührt wurde in den bisherigen Überlegungen eine Frage, die für die wissenschaftliche

Diskussion ebenso wie für die verwaltungsrechtliche Praxis (und Klausur) von entscheidender

Bedeutung ist: die Frage nach dem Stellenwert der Verwaltungsvorschriften im (verwal-

tungs)gerichtlichen Verfahren. Damit, dass Verwaltungsvorschriften Rechtsnormen im rechts-

theoretischen Sinne sind und dass sie kraft gewisser Ermächtigungsnormen rechtliche Wirkun-

gen für ihre Adressaten auslösen, ist schließlich noch nichts darüber ausgesagt, ob und inwie-

weit sie auch vor Gericht, also nach dem geltenden Prozessrecht, eine Rolle spielen. Auf die

möglichen prozessualen Bedeutungen der Verwaltungvorschriften sei deshalb nun der Blick

gerichtet. Anders als sonst oft anzutreffen soll dabei nicht pauschal nach der „Beachtlichkeit“

oder „Verbindlichkeit“ von Verwaltungsvorschriften für Gerichte gefragt, sondern nach den

oben herausgearbeiteten verschiedenen Wirkungen von Verwaltungsvorschriften

57 Dies ist freilich nicht unmittelbarer Inhalt des Normbefehls dieses Gesetzes, das typischerweise in ganz andere Richtung wirken soll. Das Verbot der „Anstiftung“ zu gesetzwidrigem Verwaltungsvollzug muss wohl vielmehr ein eigenständiger Regelungsgehalt des Art 20 III GG angesehen werden. 58 Vgl Desens Bindung der Finanzverwaltung an die Rechtsprechung, 2011. 59 Vgl M. Jestaedt in Erichsen/Ehlers, Allgemeines Verwaltungsrecht, 14. Aufl, 2010, § 11 Rn 59. 60 Beispiele aus dem Bereich der Bundesverwaltung sind für ersteres etwa die Richtlinie der Bundesre-gierung zur Gestaltung, Ordnung und Überprüfung von Verwaltungsvorschriften des Bundes (VwVR) (GMBl 1990, 39) und die §§ 69–71 GGO, für letzteres etwa die Grundsätze für Förderrichtlinien vom 20. September 1983 (MinBlFin 1983, 217, mit späteren Änderungen).

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unterschieden werden. Hierdurch können zunächst zwei Problemebenen abgeschichtet wer-

den, die sich als verhältnismäßig einfach zu lösen erweisen.

1. Rechtsgestaltung durch Verwaltungsvorschriften mit Wirkung erga omnes

Die Besonderheit der Rechtsgestaltung liegt auch im Falle der Verwaltungsvorschriften darin,

dass sie anders als der nur nachgeordnete Stellen und Bedienstete bindende Befehl erga om-

nes wirkt, also von nun an von jedermann zugrunde zu legen ist61. Insofern besteht gewisser-

maßen eine „Außenwirkung kraft Inhalt und Funktion“ der Verwaltungsvorschriften62. Errich-

tet etwa der Bundeskanzler in Ausübung seiner Art 65 S. 1 GG entnommenen Befugnis durch

Organisationserlass ein Bundesministerium, so ist die rechtliche Existenz dieser Behörde nicht

nur von Bundesbeamten anzuerkennen, sondern sie ist auch von Bedeutung etwa für die ver-

waltungsgerichtliche Zuständigkeit in Verfahren der Bundesrepublik Deutschland, die diese

neue Behörde betreffen (vgl. § 52 Nr 2 VwGO), und damit auch für Gerichte (und die Privaten,

die sie anrufen) unmittelbar beachtlich. In gleicher Weise muss das Gericht einen Antrag auf

gerichtliche Entscheidung nach § 23 EGGVG als unzulässig ablehnen, wenn die Justizverwal-

tung durch Verwaltungsvorschrift nach § 24 II EGGVG das Erfordernis eines Vorverfahrens auf-

gestellt und ein solches im Einzelfall nicht stattgefunden hat.

2. Ausgestaltung der Dienstleistungspflicht: Verwaltungsvorschriften in Diszipli-

narverfahren

Eine Art Rechtsgestaltung enthalten auch befehlende Verwaltungsvorschriften, die an Be-

dienstete gerichtet sind, indem sie deren Dienstleistungspflicht tatbestandlich ausgestalten63.

Wenn ein Gericht mit der Frage einer Dienstpflichtverletzung befasst ist, kann es dementspre-

chend auf derartige Verwaltungsvorschriften entscheidend ankommen. In der Verwaltungsge-

richtsbarkeit kann das vor allem gerichtliche Disziplinarverfahren gegen Beamte betreffen;64

bei Arbeitnehmern können die Arbeitsgerichte etwa auf Klage gegen eine verhaltensbedingte

Kündigung (vgl § 1 II 1 Var 2 KSchG) mit einer entsprechenden Vorfrage befasst werden.

3. Auslösung von „Rechtswidrigkeit“ durch Verwaltungsvorschriften

Nach Abschichtung der erga omnes wirkenden rechtsgestaltenden Verwaltungsvorschriften

sowie der Disziplinarverfahren bleibt noch der Großteil der Fälle übrig: hier geht es um den

Stellenwert befehlender Verwaltungsvorschriften in Verfahren, die nicht gerade die Pflicht ei-

nes Bediensteten zu deren Befolgung zum Gegenstand haben. Dabei geht es dann um die

Frage, ob von Privaten oder gegenüber Privaten vor Gericht geltend gemacht werden kann,

eine bestimmte Maßnahme oder Unterlassung sei rechtswidrig, weil durch eine Verwaltungs-

vorschrift verboten. Die Möglichkeit dieser Rüge wird für das geltende deutsche Recht

61 Zu dieser Wirkung gerichtlicher Rechtsgestaltung vgl Gottwald/Rosenberg/Schwab Zivilprozessrecht, 17. Aufl, 2010, § 91 Rn 14 f; Pietzner/Ronellenfitsch Das Assessorexamen im Öffentlichen Recht, 12. Aufl, 2010, § 9 Rn 1; zum gestaltenden Verwaltungsakt P. Stelkens/Bonk/Sachs/U. Stelkens VwVfG, 8. Aufl, 2014, § 35 Rn 216. 62 Ossenbühl (Fn 9), 502. 63 Ossenbühl (Fn 9), 485. 64 Gleiches gilt für die soldatenrechtlichen Disziplinarverfahren der Truppendienstgerichte und des Bun-desverwaltungsgerichts nach der WDO sowie für die Disziplinarverfahren der Dienstgerichte für Richter.

11

grundsätzlich ver|neint;65 die Gründe für diese (im Ergebnis überzeugende) Auffassung sollen

an dieser Stelle aber noch etwas eingehender unter die Lupe genommen werden.

Wie schon in Bezug auf die „Rechtsnorm“ die Unterscheidung zwischen einem dogmatischen

und einem theoretischen Begriff herausgestellt wurde,66 muss auch im Hinblick auf die

„Rechtswidrigkeit“ vor der Homonymiefalle gewarnt werden. Zwar scheint die Rechtswidrig-

keit als zentrales Werturteil über das Verhalten der Rechtssubjekte jeder denkbaren Rechts-

ordnung vorgegeben; ja, es wird sogar behauptet, hier bestehe eine unmittelbare Verbindung

zum Problem der Gerechtigkeit67. Ein derartiger – rechtstheoretischer – Begriff ist in der Tat

möglich und in vielen Fällen auch sinnvoll; er könnte etwa in der Weise gebildet werden, dass

eine Handlung dann rechtswidrig ist, wenn das handelnde Rechtssubjekt mit ihrer Vornahme

eine (Verbots-)Norm verletzt – die Verletzung eines durch Verwaltungsvorschrift ausgespro-

chenen Verbots würde dann ebenfalls zur Rechtswidrigkeit in diesem Sinne führen. Diese the-

oretische Begriffsbildung kann jedoch nicht über den gerichtlichen Prüfungsmaßstab entschei-

den, der vielmehr dem positiven Recht zu entnehmen ist. Für die Verwaltungsgerichtsbarkeit

ist dies in erster Linie § 113 I, V VwGO, der für die verwaltungsaktbezogenen Klagearten die

Begründetheit unter anderem daran knüpft, dass der Verwaltungsakt beziehungsweise seine

Ablehnung oder Unterlassung „rechtswidrig“ ist. Dieser positiv-verwaltungsprozessrechtliche

Rechtswidrigkeitsbegriff bedarf der Auslegung68.

In Bezug auf das hier interessierende Thema lautet die Auslegungsfrage also, ob der Verstoß

gegen eine Verwaltungsvorschrift ein behördliches Handeln „rechtswidrig“ im Sinne von § 113

I, V VwGO machen kann.

a) „Rechtswidrigkeit“ wegen Verstoßes gegen die Verwaltungsvorschrift selbst. Unstreitig

„rechtswidrig“ macht der Verstoß gegen ein Gesetz, auch gegen eine Rechtsverordnung oder

Satzung – kurzum: der Verstoß gegen eine „Rechtsnorm“ im dogmatischen Sinne. Nicht fern

liegt daher ein Verständnis des Gesetzesbegriffs „rechtswidrig“ dahin, dass damit der „Verstoß

gegen eine Rechtsnorm“ – gegen „materielles Recht, zu dem Verwaltungsvorschriften nicht

gehören“69 – gemeint sei70. Dafür spricht angesichts des ständigen Vorkommens dieser Voraus-

setzung im Rechtsmittelrecht71 nicht zuletzt auch die Strukturähnlichkeit zwischen der Anfech-

tungsklage und der Revision, die beide auf eine rechtliche Überprüfung von Entscheidungen

65 Vielzitiert BVerfGE 78, 214 (227) [1988]: „Verwaltungsvorschriften mit materiell-rechtlichem Inhalt sind grundsätzlich Gegenstand, nicht jedoch Maßstab richterlicher Kontrolle“. 66 Siehe oben I.2. 67 So H.-R. Horn, Untersuchungen zur Struktur der Rechtswidrigkeit, 1962, 13. 68 Zur Möglichkeit unterschiedlicher positivrechtlicher Rechtswidrigkeitsbegriffe etwa Bumke Relative Rechtswidrigkeit, 2004, 254 f. 69 BVerwGE 107, 338 (340) [1998]. 70 Freilich könnte die Beschränkung auf Verstöße gegen „Rechtsnormen“ insofern zu kurz greifen, als auch die Zuwiderhandlung etwa gegen eine durch Zusicherung oder öffentlich-rechtlichen Vertrag über-nommene Pflicht die Klage begründet machen sollte und derlei Rechtsakte nicht dem dogmatischen Rechtsnormbegriff unterfallen. Diese Fälle lassen sich immerhin in den des Gesetzesverstoßes einbezie-hen, wenn man sie zugleich als Zuwiderhandlung gegen die gesetzlichen Wirkungsnormen der Einzel-fallrechtsakte, also etwa §§ 38 und 54 VwVfG, auffassen will; andernfalls landet man bei einem zwei-gliedrigen Rechtswidrigkeitsbegriff, der alternativ einen Verstoß entweder gegen eine „Rechtsnorm“ o-der gegen einen Einzelfallrechtsakt voraussetzt. 71 Siehe die in Fn 32 genannten Bestimmungen.

Jura 2014, 678 (685)

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durch eine Kontrollinstanz gerichtet sind72. Der Verstoß gegen eine Verwaltungsvorschrift als

solcher würde dann nicht zur Herbeiführung der „Rechtswidrigkeit“ genügen73.

Allerdings steht dem Gesetzgeber, der an Dogmatik nicht gebunden ist, grundsätzlich – das

heißt im Rahmen seiner verfassungsrechtlichen Bindungen74 – die Möglichkeit offen, be-

stimmte Verwaltungsvorschriften mit der Wirkung auszustatten, dass Private sich auf diese

ebenso berufen können sollen wie auf ein Gesetz selbst75. Er befähigt auf diese Weise die Ver-

waltungsvorschriften, „Rechtswidrigkeit“ auszulösen,76 und stattet damit im Ergebnis die Ver-

waltung wie im Falle des Beurteilungsspiel|raums mit einem gerichtlich nicht überprüfbaren

Eigenbereich aus77. Derartige Verwaltungsvorschriften werden (mit einem wenig abgrenzungs-

kräftigen Ausdruck) meist als „normkonkretisierende Verwaltungsvorschriften“ bezeichnet78.

In der höchstrichterlichen (Verwaltungs-)Rechtsprechung sind solche normkonkretisierenden

Verwaltungsvorschriften erstmals anerkannt worden auf dem Gebiet des Atomrechts79; das

Bundesverfassungsgericht hat dies freilich als „Sonderfall“ bezeichnet und eine grundsätzliche

Skepsis gegenüber der Annahme normkonkretisierender Verwaltungsvorschriften erkennen

lassen.80 Im Schrifttum sind die normkonkretisierenden Verwaltungsvorschriften im Sinne des

Wyhl-Urteils denn auch kontrovers diskutiert worden.81

b) „Rechtswidrigkeit“ wegen Verstoßes gegen eine andere Norm. Soweit nicht ausnahmsweise

der Gesetzgeber eine Verwaltungsvorschrift mit den „Rechtsnormen“ gleichgestellt hat, erge-

ben die vorstehenden Überlegungen, dass der Verstoß gegen eine Verwaltungsvorschrift das

72 Vgl Wacke AöR 79 (1953), 158 (163–170); Menger System des verwaltungsgerichtlichen Rechtsschut-zes, 1954, 134–165; aus jüngerer Zeit A.-B. Kaiser Die Kommunikation der Verwaltung, 2009, 98, 288 f. 73 Schoch/Schneider/Bier/Gerhardt VwGO, 24. Lfg, 2012 (Stand der Bearbeitung: Grundwerk, 1996), § 113 Rn 13 (dies gelte „[a]ls selbstverständlich“). Zum materiell-verwaltungsrechtlichen Rechtswidrig-keitsbegriff in § 48 I VwVfG entsprechend Kopp/Ramsauer VwVfG, 12. Aufl, 2011, § 48 Rn 54. 74 So fragt es sich etwa, ob nicht Art 80 GG, der der Ermächtigung von Behörden zum Erlass von Rechts-ordnungen enge Grenzen zieht, gegenüber einer gesetzlichen Ausstattung von Verwaltungsvorschriften mit dieser Wirkung nicht vielleicht eine Sperrwirkung entfaltet; vgl dazu etwa Saurer VerwArch 97 (2006), 249 (263 f) mN. 75 Das ist die Erkenntnis der „normativen Ermächtigungslehre“; vgl. Maunz/Dürig/Schmidt-Aßmann, GG, 68. Lfg, 2013, Art 19 IV Rn 185 (Stand der Bearbeitung: 42. Lfg, 2003); sprachlich freilich ist dieser Name eher unglücklich – nicht die Lehre ist normativ, sondern die Ermächtigung, und diese ist auch nicht nur normativ (wie jede Ermächtigung), sondern vor allem gesetzlich. Differenzierte Kritik bei Elsner Das Er-messen im Lichte der Reinen Rechtslehre, 2011, 207–210. 76 Dieser Konstruktion bedarf es vor allem im Hinblick auf die Landesgesetzgebung; denn während der Bundesgesetzgeber § 113 I, V VwGO durch ein Fachgesetz auch einfach partiell derogieren könnte, muss der Landesgesetzgeber sich der Mittel des ihm vorgegebenen Bundesprozessrechts bedienen. 77 Vgl Guckelberger Die Verwaltung 35 (2002), 61 (87). 78 Entsprechend BVerwGE 72, 300 (320) [1985]: „normkonkretisierende Funktion“; anders gemeint noch die ähnliche Formulierung „konkretisierende Verwaltungsvorschriften“ bei Ossenbühl (Fn 9), 545. 79 BVerwGE 72, 300 (320) [1985], betreffend die „Allgemeine Berechnungsgrundlage für Strahlenexpo-sition bei radioaktiven Ableitungen mit der Abluft oder in Oberflächengewässer (Richtlinie zu § 45 StrlSchV)“ des Bundesministers des Innern vom 15. August 1979 (GMBl, 371). Im Wyhl-Urteil wurde zugleich die Annahme abgelehnt, eine Außenwirkung lasse sich prozedural, über die Würdigung als „an-tizipiertes Sachverständigengutachten“, begründen; dafür hatten sich R. Breuer AöR 101 (1976), 46 (83–88), und noch BVerwGE 55, 250 [1978], ausgesprochen. 80 BVerfGE 78, 214 (227) [1988]. 81 Vgl befürwortend Gerhardt NJW 1989, 2233; Hill NVwZ 1989, 401; Jachmann Die Verwaltung 28 (1995), 17; kritisch etwa J. Wolf DÖV 1992, 849; Lange NJW 1992, 1193; Guttenberg JuS 1993, 1006; Hwang KritV 2011, 97.

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behördliche Handeln nicht „rechtswidrig“ im Sinne von § 113 I, V VwGO macht. Die Rüge, eine

bestimmte Maßnahme oder Unterlassung sei rechtswidrig, weil durch eine Verwaltungsvor-

schrift verboten beziehungsweise geboten, kann danach für das Verwaltungsgericht nur noch

dann erheblich sein, wenn die Verletzung der Verwaltungsvorschrift zugleich einen Verstoß

gegen eine „Rechtsnorm“ im positivrechtlichen Sinne darstellt.

aa) Art 3 I GG („Selbstbindung der Verwaltung“). Als eine solche gleichsam mitbetroffene

„Rechtsnorm“ wird vor allem der allgemeine Gleichheitssatz des Art 3 I GG herangezogen, der

zu einer „Selbstbindung der Verwaltung“ und dadurch zu einer vor Gericht beachtlichen Bin-

dung an Verwaltungsvorschriften führen kann82. Art 3 I GG verbietet der vollziehenden Gewalt

ungerechtfertigte nachteilige Ungleichbehandlungen. Wenn eine Behörde also gegenüber ei-

nem Privaten V in bestimmter Weise tätig wird – etwa einen Verwaltungsakt erlässt –, dann

darf sie von der entsprechenden Behandlung eines anderen Privaten U wegen Art 3 I GG nur

absehen, wenn zwischen U und V ein Unterschied besteht, der diese Ungleichbehandlung tra-

gen kann83. Auf diese Weise macht jeder Präzedenzfall eine spätere Abweichung rechtferti-

gungsbedürftig. Verwaltungsvorschriften werden im Rahmen des Art 3 I GG also auf Tatbe-

standsebene ins Spiel gebracht. Als „antizipierte Verwaltungspraxis“84 oder, treffender, als „In-

diz der Praxis“85 soll die Verwaltungsvorschrift, wonach im Falle A die Maßnahme B zu treffen

ist, die Ermittlung einer konkreten Vergleichsperson V, der gegenüber U ungleichbehandelt

wird, entbehrlich machen. Der Sache nach handelt es sich dabei also um eine Art Beweiser-

leichterung zugunsten desjenigen, der sich auf Art 3 I GG berufen will.

Die „Selbstbindung“ über Art 3 I GG endet jedenfalls dort, wo eine Ungleichbehandlung ge-

rechtfertigt ist, also zwischen den betrachteten Fällen ein relevanter Unterschied besteht. Die-

ser Zusammenhang gestattet in Ansehung von Art 3 I GG die Abweichung von einer Verwal-

tungsvorschrift, „wenn eine wesentliche Besonderheit des Einzelfalles [diese] rechtfertigt“86;

auf diese Weise wird die Selbstbindung insbesondere für atypische Fälle durchbrochen. Ein

relevanter Unterschied kann aber auch schon in der bloßen Verschiedenheit des Zeitpunkts

liegen, wenn die Verwaltungsvorschrift zwischenzeitlich geändert worden ist, also die Verwal-

tung sich in genereller Weise umentschieden hat87.

bb) Rechtsstaatsprinzip. Neben dem allgemeinen Gleichheitssatz wird gelegentlich auch das

integral verstandene Rechtsstaatsprinzip des Grundgesetzes, hier in der Ausprägung als Ver-

trauensschutzgebot, zur Begründung einer „Rechtswidrigkeit“ des Verstoßes gegen Verwal-

tungsvorschriften herangezogen88. |

cc) § 657 BGB analog. Für Subventionsrichtlinien wird schließlich auch erwogen, eine rechts-

geschäftliche Bindung der Leistungen in Aussicht stellenden Verwaltung, etwa in Analogie zur

82 Siehe schon BVerwGE 8, 4 (10) [1958]; aus dem Schrifttum etwa Ossenbühl (Fn 6), § 104 Rn 53–75. 83 Vgl Kempny/Ph. Reimer Die Gleichheitssätze, 2012, 114. 84 BVerwG DÖV 1971, 748; kritisch Lange NJW 1992, 1193 (1195); Sauerland (Fn 25), 196 f. 85 BVerwG DVBl 1981, 1149. 86 BVerwGE 19, 48 (55) [1964]. 87 Vgl Kempny/Reimer (Fn 83), 123 f, 135 f. 88 BVerwGE 104, 220 (223, 227–229) [1997]; Schwerdtfeger NVwZ 1984, 486 (488 f); P. Stel-kens/Bonk/Sachs VwVfG, 8. Aufl, 2014, § 40 Rn 104 mwN.

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Auslobung des bürgerlichen Rechts (vgl § 657 BGB), zu konstruieren89. Eine solche Analogie

müsste man dann als genügenden Ersatz für eine „Rechtsnorm“ auffassen, um im Falle eines

Verstoßes gegen die Subventionsrichtlinien zur Annahme der „Rechtswidrigkeit“ im Sinne von

§ 113 VwGO zu gelangen.

4. Ergebnis

Für die Beachtlichkeit von Verwaltungsvorschriften für die Gerichte ergibt sich insgesamt ein

differenziertes Bild. Weder erweist sich diese Rechtsaktsform als schlechthin unbeachtlich

noch als generell beachtlich. Vielmehr können verschiedene Wirkungen beobachtet werden,

die den Verwaltungsvorschriften unmittelbar beigelegt sind. Wo diese Wirkungen nicht hinrei-

chen, kommt die Hilfskonstruktion vor allem über Art 3 I GG in Betracht, die zur Transformation

einer Verwaltungsvorschriftswidrigkeit in eine „Rechtswidrigkeit“ im Sinne von § 113 VwGO

entwickelt worden sind.

IV. Kann eine EU-Richtlinie durch Verwaltungsvorschrift umgesetzt werden?

Die vierte hier anzusprechende Frage ist von den bisherigen Überlegungen deutlich zu trennen,

denn sie beurteilt sich ausschließlich nach Unionsrecht. Das Thema „Richtlinienumsetzung

durch Verwaltungsvorschrift“ ist eine Frage der Auslegung von Art 288 III AEUV, wonach

Rechtsakte der Unionsorgane in der Form von Richtlinien für die Mitgliedstaaten „hinsichtlich

des zu erreichenden Ziels verbindlich“ sind, „jedoch den innerstaatlichen Stellen die Wahl der

Form und der Mittel“ überlassen. Das Unionsrecht unterscheidet also grundsätzlich nicht zwi-

schen den innerstaatlichen Handlungsformen, mit denen Richtlinien umgesetzt werden – so-

lange die gewählten Formen und Mittel nur eben das vorgegebene Ziel erreichen können.

In dieser letztgenannten Hinsicht haben die Verwaltungsvorschriften im Sinne des mitglied-

staatlichen deutschen Rechts bei den europäischen Institutionen Zweifel geweckt, in deren

Folge heute eine deutsche Richtlinienumsetzung in der Form der Verwaltungsvorschrift meist

nicht mehr für zulässig gehalten wird90. Dem liegen insbesondere Fälle zugrunde, in denen

nach Richtlinien Privaten durchsetzbare Rechtpositionen im Hinblick auf die Einhaltung von

Grenzwerten für den Schadstoffgehalt in der Luft eingeräumt werden sollten91. Die Bundesre-

publik Deutschland wollte diese Vorgabe durch eine Änderung der (damaligen) TA Luft umset-

zen und wurde daraufhin im Jahre 1991 vom EuGH – der insbesondere die Berufung der Bun-

desregierung auf eine „normkonkretisierende Wirkung“ der Verwaltungsvorschriften ange-

sichts des dazu in Deutschland geführten dogmatischen Streits nicht gelten lassen wollte – we-

gen unzureichender Umsetzung verurteilt92.

89 Das erwägt – letztlich zugunsten von Art 3 I GG ablehnend – BVerwGE 59, 348 (353 f) [1980]. Vgl Schwerdtfeger (Fn 88), 487 f; Sauerland (Fn 25), 208 f. 90 Vgl Calliess/Ruffert EUV/AEUV, 4. Aufl, 2011, Art 288 AEUV, Rn 38–40 mwN. 91 Richtlinie 80/779/EWG des Rates vom 15. Juli 1980 über Grenzwerte und Leitwerte der Luftqualität für Schwefeldioxid und Schwebestaub (ABl L 229, 30); Richtlinie 82/884/EWG des Rates vom 3. Dezem-ber 1982 betreffend einen Grenzwert für den Bleigehalt in der Luft (ABl L 378, 15). Das vom EuGH später angenommene Subjektivierungsgebot ergibt sich nicht aus dem Wortlaut der Richtlinien. 92 EuGH Slg. 1991, I-2596; Slg. 1991, I-2626.

15

Bereits seit 199093 gibt es in Reaktion auf diese Entwicklungen94 im Immissionsschutzrecht mit

§§ 48 und 48a BImSchG je eine Ermächtigung zum Erlass von allgemeinen Verwaltungsvor-

schriften und von Rechtsverordnungen, wobei die letztere „zur Erfüllung von bindenden

Rechtsakten […] der Europäischen Union“ gegeben ist. Die Zweispurigkeit des untergesetzli-

chen Bundesimmissionsschutzrechts aus Rechtsverordnungen und Verwaltungsvorschriften –

in §§ 7, 23 einerseits gegenüber § 48 BImSchG andererseits von Anfang an angelegt – wurde

damit intensiviert.

V. Fazit

1. Verwaltungsvorschriften sind Rechtsnormen – jedenfalls im rechtstheoretischen Sinne die-

ses Begriffs. Hiervon ist der dogmatische Rechtsnormbegriff zu unterscheiden, dem die Ver-

waltungsvorschriften, letztlich aus historischen Gründen, nicht zugeordnet werden. Dieser

Umstand hindert aber nicht daran, den Platz der Verwaltungsvorschriften als Normen der

deutschen Rechtsordnung im Rechtserzeugungszusammenhang zu ergründen. Denn le|diglich

rechtsinhaltlicher, nicht rechtswesentlicher Art sind die Besonderheiten, die das positive Recht

der Handlungsform der Verwaltungsvorschriften hinsichtlich deren Wirkung und Zulässigkeit

zuordnet.

2. Als Normen können Verwaltungsvorschriften rechtlich wirken, soweit Ermächtigungen zu

ihrem Erlass bestehen; hierzu bedarf es anderer Normen, die den Verwaltungsvorschriften be-

stimmte rechtliche Wirkungen beilegen („Wirkungsnormen“). Solche Wirkungsnormen finden

sich im geltenden Recht vor allem für befehlende Regelungsgehalte gegenüber nachgeordne-

ten Organisationseinheiten und gegenüber Bediensteten (hinzu kommen einzelne Ermächti-

gungen zur Rechtsgestaltung). Gänzlich hiervon zu trennen sind dagegen die Normen, die für

die Zulässigkeit des Erlasses von Verwaltungsvorschriften gelten; auch eine Verwaltungsvor-

schrift kann – wie etwa ein Verwaltungsakt – ihren Adressaten binden (also wirksam sein),

obwohl ihr Erlass verboten war.

3. Handelt ein Adressat einer befehlenden Verwaltungsvorschrift zuwider, so genügt dieser

Normverstoß dem geltenden Prozessrecht grundsätzlich nicht, um zur Annahme von „Rechts-

widrigkeit“ im Sinne etwa von § 113 I, V VwGO zu gelangen, weil dieser positivrechtliche Begriff

nur den Verstoß gegen Rechtsnormen im positivrechtlichen Sinne erfasst. Erst aus diesen Zu-

sammenhängen ergibt sich die Notwendigkeit, für die Zulassung einer Rüge der Verwaltungs-

vorschriftswidrigkeit die „Rechtswidrigkeit“ vermittelt über eine andere Rechtsnorm als die

Verwaltungsvorschrift selbst zu begründen – erst hier kann etwa der im Zusammenhang mit

den Verwaltungsvorschriften viel bemühte Art 3 I GG („Selbstbindung“) zum Tragen kommen.

93 Art 1 Nr 2 Gesetz vom 11. Mai 1990 (BGBl I, 870). 94 Vgl Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicher-heit, BT-Drucks. 11/6633, 47.

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