Post on 16-Jan-2023
PHILIPP SARASIN
«La Science en Famille»
Populäre Wissenschaft im 19. Jahrhundert als bürgerliche Kultur - und als Gegenstand einer
Sozialgeschichte des Wissens
I. Das Phänomen ist in der Moderne allgegenwärtig: Man spricht nicht bloss vom Wetter, sondern von Hochdrucklagen; wer an seine Gesundheit denkt, sorgt sich um den Cholesterin-Spiegel; und während einst der zweite Hauptsatz der Thermodynamik den unweigerlichen Niedergang und die Erschöpfung von Mensch und Gesellschaft evident zu machen schien, versöhnt heute die Chaostheorie das persönliche Durcheinander mit der modernen Physik, wenn nicht gar mit dem Kosmos.
Populäre Wissenschaft hat offensichtlich die Alltagssprache längst durchdrungen, hat die Diskurse aller sozialen Schichten geprägt; doch wer wissen will, wie und seit wann genau dies der Fall ist, stösst schnell auf methodische Schwierigkeiten: Wie lässt sich dieses diffuse, omnipräsente und konturlose wissenschaftliche Wissen, das in irgendwie «vereinfachter», meist auch veränderter Form virtuell allen zur Verfügung steht, als kulturelles Phänomen analysieren? Greift man nicht in Watte, wenn alles Denken und Sprechen in der Moderne in irgend einer Weise von ihm affiziert ist? Weil ich mich nicht mit der Vorstellung begnügen will, dass das wissenschaftliche Wissen wie andere kulturelle Güter der Eliten langsam, gleichsam natürlich in die unteren sozialen Schichten «absinkt», gehe ich hier von der These aus, dass Populärwissenschaft als bestimmte Form des Wissens in modernen Gesellschaften, und das heisst, als Teil der Kultur im anthropologischen Sinne des WOrtes (Geertz 1983; Daniel 1993), verstanden werden muss: als Wissen, mit welchem die Menschen versuchen, sich in der (industriellen) Welt zurechtzufinden.
Mit einem solchen Kultur- bzw. Wissenschaftsbegriff sind Fragen verbunden, die ich hier nicht diskutieren werde (insbesondere Fragen nach dem Verhältnis zwischen Wissen und Macht sowie der Verdrängung von traditionalem Wissen durch wissenschaftliches Wissen); ich möchte hier bloss darauf hinweisen, dass Michel Foucaults Diskurs-Konzept es ermöglicht, jede Form von Wissen (Wissenschaft, Populärwissenschaft, Aberglaube ... ) als Diskurs, d. h. als historisch-
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spezifische kulturelle Struktur zu begreifen, welche a) mit jeweils anderen Diskursen koexistiert bzw. sie konkurrenzieren kann, und b) dazu dient, das, was man von der «Welt» wissen kann, zu generieren, d. h. zu selektieren und zu formieren (Foucault 1969). Im Anschluss an Foucault haben Pecheux (1971) und Link (1983) die Schnittfläche bzw. «Überlappungszone» zwischen verschiedenen Spezialdiskursen mit dem Begriff des Interdiskurses bezeichnet: hier, in alltäglichen, literarischen oder eben auch populärwissenschaftlichen R~dezusammenhängen ermöglichen insbesondere zentrale Metaphern die «Kopplung» mehrerer Diskurse aneinander bzw. den Transfer von Sinn vom einen Diskurs in einen anderen. Hier treffen sich insbesondere wissenschaftliche und alltägliche Diskurse, und hier entsteht aus diesem Zusammentreffen auch Populärwissenschaft. Ebenfalls in Anschluss an Foucault hat Roger Chartier gefordert, dass man die Produktion von Sinn in einer Gesellschaft anhand der Produktion und Distribution von Texten untersuchen muss; Diskurse wären daher auch gleichsam materiell, das heisst von ihren konkreten gesellschaftlichen Produktionsbedingungen (z. B. Publikationsformen) und Aneignungsweisen (z. B. Lesegewohnheiten) her zu untersuchen (Chartier 1989).
In unserem Zusammenhang bedingt das zuerst die Erforschung einer Reihe faktischer Fragen - wer popula
Mechanische Energie von Gasen. (Aus Gaston Tissandiers «Remfations scientifiques>>
von 1882)
risierte was in welchem Medium für wen und zu welchem Zweck?-, Fragen, die ich hier kurz an mehrheitlich französischen Beispielen präzisieren werde. Im weiteren (und in Absehung von wissenschaftsgeschichtlichen Aspekten [Shinn/Whitley 1985; Fleck 1993]) möchte ich zumindest andeutungsweise zu zeigen versuchen, dass in einer an Foucault und Chartier orientierten methodischen Perspektive die populärwissenschaftlichen Diskurse sich als Ort bestimmen lassen, an dem massenwirksam «Bedeutung» entsteht. Gerade in sozialgeschichtlicher Absicht sind die «Bedeutungseffekte» (Pecheux 1971; Schöttler 1989: 101) dieses (neuen) Wissens in der Gesellschaft, d. h. die durch diese Diskurse vermittelte Herstellung von Sinn im Alltag der Menschen, wichtig: Wie die Leute handeln, was sie sagen, wovon sie träumen, was sie erhoffen und was sie fürchten, ist in der Moderne
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in einem sehr weitgehenden Masse von (populär)wissenschaftlichen Diskursen strukturiert - vom Wissen um Gesundheit und Krankheit des eigenen Körpers bis hin zu Vorstellungen über die Entwicldung von Welt und Gesellschaft.
II. Bernard B. de Fontenelles Entretiens sur la Pluralite des mondes (1686) markieren den Anfang einer Tradition popularisierter Wissenschaft, die im 18. Jahrhundert in sehr unterschiedlichen Formen Einfluss auf das wachsende Lesepublikum gewann. Zweifellos an der Spitze dieser Bewegung stand das erfolgreichste Werk der Aufldärung, die Encyclopedie von Diderot und d'Alembert, welches in erster Linie, das heisst noch vor jeder subversiven Absicht, eine gewaltige Anstrengung war, das gesamte Wissen der Epoche allgemeinverständlich darzustellen. Auf einer ganz anderen Ebene und mit ganz anderen Formen agierte gleichzeitig die wohl wichtigste Gattung der akademischen Volksaufldärung: Eine grosse Zahl von Ärzten hat sich schon seit dem 17. Jahrhundert die Verbreitung von Gesundheitsregeln zur Aufgabe gemacht (etwa Tissot in seinen Avis au peuple sur sa santevon 1761 oder Hufeland mit der Kunst, das menschliche Leben zu verlängern von 1797, um nur die berühmtesten zu nennen) (Porter 1992; Fischer 1933: 455-462).
Die Popularisierung von Wissenschaft und Technik hatte dann im 19. Jahrhundert ihr age d'or (Raichvarg/Jacques 1991: 14): Noch nie haben so viele Autoren (meist Männer) für so viele Leser(innen) über nicht-religiöse und nicht-fiktionale Themen geschrieben. Der wachsende Markt für Populärwissenschaft bot Erläuterungen auf jedem Niveau über jedes Thema, das als Erfolg oder Versprechen auf eine bessere Zukunft, als entdeckte Exotik, erforschtes Geheimnis oder gelöstes Problem den säkularen Glauben an den «Fortschritt» propagieren oder bestärken konnte. Dazu kamen die Ratgeber fürs savoir foire, fürs «Selbermachen»: traditionell waren dies die unzähligen Schriften für eine medecine par soimeme und für Gartenpflege; neu Verbreitung fanden in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts neben anderem etwa Anleitungen zur Herstellung von Photographien (als Form populärer Chemie und populärer Kunst), Belehrungen zur Rationalisierung der Ernährung oder Schriften zur Technik und Physiologie des Fahrradfahrens.
Insbesondere die neu aufkommende Physiologie galt als gelehrtes Wissen, das sich jede und jeder aneignen könne bzw. müsse, um den eigenen Körper - also sich selbst -, befreit von kirchlichen Vorurteilen, kennenzulernen. Typisch in diesem Sinne zeigt etwa das Titelkupfer von Alexis Clercs «Hygiene et Medecine des deux sexes, Seiences mises a la portee de tOUS» von 1882 ein Knäblein, das aus einem zerbrochenen Vagelei heraussteigt («Generation» - im Werk selbst dann durchaus noch realistischer. .. ), flankiert von einem Knochenmann («Anatomie»)
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und einem Muskelmann («Physiologie»); den Sinn der Darstellung illustriert die Gravure auf der nächsten Seite, wo über der «Introduction» finstere Kirchenmänner mit Rüschenkragen, langen Hüten und schwarzen Gewändern vor den Strahlen aus einem aufgeschlagenen Buch fliehen: vor der «science moderne» ...
Auf diesem Wissensmarkt bildeten Bücher (quantitativ nach Titeln) das wichtigste Medium; ihre Auflagezahlen waren teilweise beeindruckend: Vom fast 900seitigen «Buch vom gesunden und kranken Menschen» des Leipziger Professors für pathologische Anatomie Carl Ernst Bock, welches 1855 zum erstenmal erschien, wurden «in wenigen Jahren weit über hunderttausend Exemplare ( ... ) abgesetzt» (Bock 1876: VII). Ernst Haeckels «Welträtsel», jene zwar «gemeinverständlichen», aber dennoch durchaus nicht einfach zu lesenden 470seitigen «Studien über Monistische Philosophie», erschien 1911 allein in der Kröner'schen Taschenbuchausgabe im 300. Tausend. Der Astronom Camille Flammarion freute sich 1885 im Vorwort zur achten Auflage seiner Merveilles celestes: «Qui pourrait douter du progres et de la victoire definitive de l'instruction positive? Qui pourrait douter du developpement actuel des gouts scientifiques dans toutes les classes de la societe (sie!), lorsqu' on voit, par exemple, que quarante-quatre mille exemplaires de ce modeste petit volume ont deja ete demandes par autant de lecteurs desireux de s'instruire, lorsqu' on voit un ouvrage philosophique comme La Pluralite des mondes habites parvenu a sa trente-cinquieme edition et un traite complet d'astronomie comme L'Astronomie populaire acclame par la sympathie de soixante-dix mille souscripteurs?» (zitiert in: Raichvarg/Jacques 1991: 12). Die Beispiele Hessen sich mehren.
Neben den Büchern (mit eigentlichen Bestsellern, die allerdings bis auf Ausnahmen nicht mit den Auflagehöhen von Romanen konkurrenzieren konnten [Lyons 1987: 85-104]) existierte eine schwer überschaubare Zahl von Zeitschriften für die Popularisierung von Wissenschaft und Technik1
; daneben erschienen in Tageszeitungen, illustrierten Blättern und Familienzeitschriften Ratgeberspalten und wissenschaftliche Feuilletons (Messerli/Mathieu 1992; Dröge/Wilkens 1991). Die Inhalte der speziell für die Vulgarisation scientifique publizierten Blätter reichten, grob gesagt, meist vom Kochrezept über technische Anleitungen bis zu den sehr verbreiteten Berichten aus den Sitzungen der Academie des Sciences. Es ist ein Charalcteristikum dieser Wissenskultur und ihrer Publikationen, dass «alles» kunterbunt nebeneinander erscheint: Elektrizität, Entwicldungsgeschichte oder Anilinfarben, «Kongo-Neger», tropische Pflanzen oder Infektionskrankheiten, schnelle Dampflokomotiven, Eisenbrücken oder Vulkane, Planetensysteme, das menschliche Gehirn oder die neue Zellularpathologie ... Die Welt, über die hier berichtet wird, ist kaum mehr fremd, sondern entdeckt, erforscht, verstanden - und lädt daher immer auch
I Siehe für Frankreich das (nicht vollständige) Titelverzeichnis in Raichvarg/Jacques 1991: 265-266.
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zur privaten Aneignung ein: Die bescheiden aufgemachte Science en fomille beispielsweise berichtete in ihrer Nummer 7 von 1897 auf 16 Seiten u. a. über «I: Aquarium d' appartement», die «Photographie en trois couleurs», in der Rubrik A travers la science über «La plus puissante pompe a vapeur» oder in der Ratgeberecke La science pratique über einen «Gomme arabique artificielle» oder die «Conservation des viandes par l' electricite» ... Ebenso die bei G. Masson in Paris verlegte und vom Wissenschaftsjournalisten und Ballonfahrer Gaston Tissandier herausgegebene Zeitschrift La Nature (1873-1939), welche sich an ein gebildetes Publikum richtete: sie war in der Dritten Republik neben der knochentrockenen Revue Scientifique (und vor dem Erscheinen von La Science et Ia Vie ab 1913) die wichtigste und erfolgreichste Zeitschrift, die auf hohem Niveau über die Entdeckungen, Erkenntnisse und Fortschritte aus den Natur- und Ingenieurwissenschaften schrieb -angereichert durch ethnographische Reiseberichte und archäologische Erfolgsmeldungen sowie durch eine (offensichtlich für die Dame des Hauses zum Herausnehmen konzipierte) Ratgeber-Beilage mit science pratique, Kochrezepten und Hygienetips. - Das gesamte Feld populärer Wissenschaft war allerdings grösser als der Markt für entsprechende Publikationen. Nicht ausschliesslich, aber doch mit besonderer Hinsicht auf jene sozialen Schichten, die wenig oder kaum lasen, organisierten Akademiker populäre Vorträge und Kurse zur Erwachsenenbildung, bemühten sich Gewerkschaftsfunktionäre um die Bildung
Zentrifugalkraft und Reibungswiderstand. (Aus Gaston Tissandiers «Recreations scientifiques»
von1882)
von Arbeiter(innen) oder liessen belehrende Theaterstücke aufführen. Diese Wissenskultur ist als Ganzes noch kaum erforscht2
; Produzenten, Publikum und Medien sowie Formen, Ziele und «Effekte» populärer Wissenschaft lassen sich im Rahmen einer Sozialgeschichte des Wissens in der Moderne nur sehr
2 Für Frankreich liegt das ausgesprochen materialreiche, zugleich aber auf die blasse Darstellung beschränkte Buch von Daniel Raichvarg und Jean Jacques vor (1991); soweit ich sehe, gibt es hingegen für Deutschland noch keine grössere Untersuchung zur Geschichte der Populärwissenschaft. Für die Schweiz haben Messerli/Mathieu (1992) auf populäre Zeitschriften als Quelle hingewiesen und erste Resultate über eine Auswahl von in der Schweiz gelesenen Blättern veröffentlicht. Systematisch wurde das Thema in dem von Shinn/Whitley herausgegebenen Sammelband «Expository Science» (1985) diskutiert.
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ObeJjlächenspannung des Wtsm>. (Aus Gaston TissandieiJ «Recreations scientifiques"
von 1882)
vage bestimmen. War sie «bürgerlich», Teil der bürgerlichen Kultur? Dass dies hinsichtlich ihrer Produzenten weitgehend zutrifft, scheint mir angesichts der ldassenspezifischen Verteilung der Bildungsgüter im 19. Jahrhundert auf der Hand zu liegen (ohne dass damit eine empirische Überprüfung obsolet wäre). Die Autor(innen) sollen uns daher im Folgenden nicht beschäftigen (auch wenn die Frage, wer als Autor(in) «das Wort ergreift», im Hinblick auf die Sozial- und Wissensgeschichte des Bürgertums wichtig wäre); hingegen möchte ich hier kurz die komplexe Frage des Publikums skizzieren.
III. Das Epitheton «populär» erweckt den trü-gerischen Eindruck, es korrespondiere not
wendig mit einer soziologischen Kategorie; so spricht auch «Meyers Konversations-Lexikon» von 1869 in bezugauf das Publikum schlicht vom «Volle», welches «emporzuheben» Aufgabe der Populärwissenschaft sei (Meyer's 1869: 110). Roger Chartier hält dieser Vorstellung den Befund entgegen, dass gerade weitverbreitete, explizit als populär präsentierte Bücher mit hohen Auflagen soziale Schranken überspringen und keineswegs nur Leser(innen) aus den «classes populaires» zu fesseln vermögen (Chartier 1987: 11). -Wer also gehörte zu den Konsument(innen) populärwissenschaftlicher Darstellungen?
Schon in der Encyclopedie wurden zwei verschiedene Lesergruppen anvisiert und dementsprechend sogar zwei parallele Lesesysteme geboten, ein gelehrtes und ein populäres. Für die von d'Alembert im Discours preliminaire (1751) vorgestellte «multitude» möglicher Leser(innen) hielt sich die Encyclopedie - popularisierend - als Dictionnaire an das Klassifikationsschema des Alphabets. Die für die ldeine Gruppe der «gens eclain6s» hingegen konzipierte Verwendungsweise der Encyclopedie war keineswegs populärwissenschaftlich: diese «Aufgeldärten» sollten durch den Arbre encyclopedique, das «Strukturmodell» des Werks, angeleitet werden, das System des Wissens als enzyldopädisches Ganzes sich anzueignen (Encyclopedie 1751: XIX).
Im 19. Jahrhundert veränderten sich die Vorstellungen vom Publikum solcher Texte. An die Stelle der ehemaligen «Aufgeldärten» traten nun verschiedene Gruppen von Leser(innen): Zum einen der bürgerliche, literarisch gebildete «let-
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tre», der zugleich in bezugauf die sciences bestenfalls ein «demisavant» war; diese Leute lasen, wie 1866 die einschlägige Revue Cosmos schrieb, des grands journaux quotidiens: ce sont des fonctionnaires, des industriels, des marchands, des flaneurs et des rentiers» (zitiert in Raichvarg/Jacques 1991: 30). Neben dieser städtisch-bürgerlichen Elite von wissenschaftlichen Laien gehörten aber auch Wissenschaftler selbst zum anvisierten oberen Publikumssegment, Wissenschaftler, die zur Deckung ihres Informationsbedarfs jenseits ihres immer enger begrenzten Fachgebietes selbst auf populärwissenschaftliche Medien angewiesen waren (bzw. sind) (Whitley 1985: 12-13).
Zugleich entwickelte sich, und nicht allein zur medizinischen Volksaufklärung, der publizistische Markt «pour tous», «für alle Stände» (während die «multitude» d'Alemberts de facto eine sehr kleine Gruppe von Leser(innen) darstellte). Dafür spricht zuerst, wenn auch als grober Indikator, die expansive Ausdehnung der Buchproduktion. Der französische Buchmarkt ist nie mehr so stark gewachsen wie in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts (mit einer Zunahme von rund 7000 auf rund 14 000 Titel pro Jahr); generell hat sich zwischen dem 18. und dem Ende des 19. Jahrhunderts die Produktion um etwa das 70fache gesteigert - die Bevölkerung Frankreichs hingegen verdoppelte sich im selben Zeitraum nicht einmal ganz ... (Estivals 1965: 412-415). Trotz dieses beeindruckenden «Triomphe du livre» (Lyons 1987) muss man die euphemistische Vorstellung einer Buchproduktion «für alle Stände» relativieren und versuchen, die einzelnen Leser(innen)-Schichten zu differenzieren, die - möglicherweise -populärwissenschaftliche Darstellungen konsumierten. Denn es gilt wahrscheinlich auch hier, was Schenda für populärliterarische Bücher und Broschüren mit Nachdruck betont: Mehrheitlich fanden im 19. Jahrhundert die populären Lesestoffe ihre Leser(innen) nicht im «Volk», sondern im allerdings auch nicht durchwegs gebildeten Bürgertum (Schenda 1970: 456-457). Die tatsächlich wachsende Zahl jener, die überhaupt lasen, ist also regional, konfessionell sowie klassen- und geschlechtsspezifisch zu differenzieren, und überdies wäre zu berücksichtigen, dass verschiedene Leser(innen) zum Teil unterschiedliche Medien nutzten. Die Schwierigkeiten eines solchen Programms sind allerdings beträchtlich: Subskriptionslisten wie für die Encyclopedie und ihre diversen Nachdrucke (Darnton 1993) gab es für die Bestseller und die billigen Reihen des 19. Jahrhunderts natürlich nicht mehr, so dass die Frage nach den Leser(innen) populärwissenschaftlicher Darstellungen empirisch nur etwa anhand von Ausleihlisten in Volksbibliotheken untersucht werden kann. Für eine breitere, wenn auch notwendig deduktivere Analyse muss man sich daher auf die Vorstellung vom jeweiligen Zielpublikum in den Vorworten von entsprechenden Publikationen stützen.
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Schliesslich lassen mit allen Vorbehalten auch Preise, Aufmachung, Sprache und intellektueller Stil gewisse Rückschlüsse auf das Zielpublikum zu. Dabei zeigt sich dann doch deutlich zumindest der Wille zur Massenwirksamkeit. Vor
allem die periodische Presse zielte nicht nur auf die durch eine höhere Ausbildung oder eine qualifizierende Berufstätigkeit gebildeten männlichen Segmente des wachsenden Lesepublikums, sondern schrieb auch - schematisch gesagt - für
bürgerliche Jugendliche und Frauen (vgl. dazu Otto 1990) sowie für ldeinbürgerliche Kreise (Messerli/Mathieu 1992). Leser(innen) aus den eigentlichen «classes populaires» als Abonnent(innen) zu gewinnen war hingegen wohl eher der rhetorisch evozierte Traum in den Editorials dieser Presse als eine reale Möglichkeit.
Wie auch immer: Hier musste Wissenschaft praktisch und unterhaltend sein,
und wenn diese Blätter auf dem umkämpften Markt eine Chance haben wollten, mussten sie mit einer einfachen Sprache möglichen Verständnisschwierigkeiten der anvisierten breiten Leser(innen)schichten entgegenkommen, welchen diese
Presse Teilnahme an der grossen Welt des wissenschaftlichen Fortschritts ver
sprach. Das ephemere Blatt La Science moderne verkündete in seinem Editorial vom
1. 3. 1891 etwa: «Pour la modique somme de dix Centimes le numero, deux fois par semaine, nos lecteurs seront tenus au courant de toutes les manifestations de la science ( ... ).» Und das, ohne die Klassen- und Geschlechterschranke der
höheren Bildung auszuspielen, im Gegenteil: «Il faut que 1' article offre un tout complet, sans que le lecteur soit oblige de recourir a un dictionnaire ou un traite
classique, pour qu'il saisisse en une fois ce qu'illit.»
IV. Welches sind die Gründe für die populärwissenschaftliche Welle in der zweiten
Hälfte des 19. Jahrhunderts? Vordergründig entsteht «das Streben nach Popularisierung der Wissenschaft» (Helmholtz o. J.: 25) aus einem sprachlichen Problem: Seit spätestens der Mitte des 19. Jahrhundert bestanden im Gebiet der Naturwissenschaften wachsende Wissens- und Verständnisdifferenzen zwischen Speziali
sten und auch gebildeten Laien. Popularisierung als, wie Hermann von Helmholtz es nannte, das «Streben (. .. ), den gebildeten Klassen Einsicht in die Art
und die Erfolge der naturwissenschaftlichen Forschung soweit (zu geben), als es
ohne eigene eingehende Beschäftigung mit diesen Fächern überhaupt möglich ist» (Helmholtz o. J.: 29), ist allerdings mehr als das Überwinden von Sprach
und Kenntnisdifferenzen. Ich möchte hier drei Hypothesen formulieren: Erstens verfolgen die Popularisierer bestimmte Zwecke, die über das selbstlose «Einsichtgeben» hinausgehen; zweitens besteht eine von diesen Zwecken unabhängige
Nachfrage; drittens schliesslich verbergen sich unter den manifesten Differenzen
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zwischen gelehrten und populären Diskursen wahrscheinlich die Gemeinsamkeiten einer kulturellen Ordnung, der sie beide angehören; solche Gemeinsamkeiten' bedeuten, dass sich die Wissenschaft über das Medium der Popularisierung auch
aus diesen populären Diskursen nährt (Fleck 1993). Ich will nur kurz auf die ersten beiden Hypothesen eingehen (für die dritte
wäre eine moderne Wissenschaftgeschichte zuständig). Mit Daniel Raichvarg und
Jean Jacques (1991: 17-28) lassen sich im wesentlichen vier Gründe für die Vu!garisation scientifique anführen:
1. der Versuch, die Versöhnung von Wissenschaft und Religion als möglich
Schwerkraftexperiment. (Aus Gaston Tissandiers «Recreations scientifiques» von 1882)
darzustellen, ein Versuch, der
in der zweite Jahrhunderthälfte zweifellos ein Rückzugsgefecht war3;
2. die Demonstration der gesellschaftlichen Nützlichkeit der
Wissenschaft und damit die Beschaffung politischer Legitimation für deren öffentliche Finan
zierung (vgl. Whitley 1985); 3. die Emanzipation oder soziale Besserstellung durch Wissen,
a) als emanzipatorische, ja revolutionäre Geste «von unten», etwa in Arbeiterbildungsver-
einen der Gewerkschaften, be-ziehungsweise auch als bürgerlich-liberale Kritik, z. B. an den überkommenen spätfeudalen Verhältnissen in Deutschland (vgl. Bayertz 1985: 218); b) als Morali
sierung der classes populaires durch bürgerliche Philanthropen «von oben» (allerdings beschränkte sich dies im wesentlichen auf Hygiene, Krankenpflege und Ernährung, vgl. z. B. Frevert 1985);
4. das Bedürfnis nach Unterhaltung und der Versuch, Wissenschaft als Teil der Massenkultur zu etablieren.
Pauschalisierend lässt sich also sagen: Wissenschafter oder spezialisierte Jour
nalisten gaben nicht nur einem grösseren Publikum «Einsicht», sondern verfolg-
3 Die Revue du Foyer etwa richtete sich an die «gens du monde, qui veulent conserver intacts a leur foyer les croyances religieuses, le culte de la famille et l'amour du devoir, mais ne peuvent ignorer, ou laisser ignorer autour d' eux, le mouvement intellectuel si prodigieux a notre epoque>>, während sie gleichzeitig über den Schund und Betrug wetterte, der die Druckerzeugnisse mehrheitlich präge (La Revue du Foyer, Nr. 1, 3. 11. 1888, s. 1).
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ten professions- oder allgemein wissenschaftspolitische Ziele, oder sie stellten sich in den Dienst ideologi
scher bzw. moralisierender Absichten; die Konsument(innen) ihrerseits nahmen populäre Wissenschaft als Deu
tungsraster für eigene Ziele in Anspruch oder nutzten sie für ihre Unterhaltungsbedürfnisse. Ich möchte
aus Platzgründen nur den vierten Punkt diskutieren, der mir einerseits reichlich vage erscheint, andrerseits aber in eine interessante Richtung
zielt, weil hier bestimmte Intentionen der Produzenten ebenso wie die Nach
frage, die Bedürfnisse der Konsument(innen), mit impliziert zu sein
scheinen. Das erldärte Ziel von La Nature, das
Schwerkmftexperiment. (Aus Gaston Tissandiers «Recreations scientifiques»
von1882)
diese mit der gesamten populärwissenschaftlichen Literatur teilte, war es, «de faire comprendre a tous que le sol de l'investigation scientifique, loin d'etre aride et froid,
est au contraire fertile, hospitalier, - veritable terre promise, toujours accessible a l'esprit laborieux» ... (La Nature, Nr. 1, 1873: VII). Wie zeigt man das? Indem man die Wissenschaft ins bürgerliche Wohnzimmer bringt - als «Physique sans appareils», als «Recreations scientifiques», als «chimie sans laboratoire» -, oder indem
man den «amateun> zur «science en plein air» bzw. «en vacances» anleitet. Unter diesen Titeln erschienen in La Nature Artikelserien, die 1880 auch als Buch ediert
wurden) (Tissandier 1882). Physikalische oder chemische Zusammenhänge und Gesetzmässigkeiten wurden anhand einfachster Anordnungen und mittels Alltagsgegenständen nachvollziehbar, «erlebbar» gemacht: harte Eier, die durch gezieltes
Blasen von einem Bordeaux-Glas ins andere springen (i. e.: mechanische Energie von Gasen); Servietten-Ringe, die, vor dem Hintergrund einer entkorkten Cham
pagnerflasche, durch Rotation an einem nach unten gerichteten Finger einer Frau
enhand haften bleiben («Force centrifuge et resistance de frottement»); zwei Gabeln in einem Korken, welcher, so im Gleichgewicht gehalten, auf der Ausgusskante einer Weinflasche während dem Einschenken stabilisiert bleibt («Experience sur le
centrede gravite»); Silberlöffel, die, an Fäden aufgehängt, welche in die Ohren eingeführt werden, ihre Eigenschaften als Schallkörper demonstrieren («Conductibilite du son par les corps solides»), und so fort ... (alle Beispiele Tissandier 1882).
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Zwei Dinge fallen hier auf: Erstens wurde die Physik, die Grundlage all jener wissenschaftlichen und technischen Errungenschaften, über welche La Nature wöchentlich berichtete, als im Prinzip von jederman handhabbar beschrieben, indem sie als ldeines Spiel (vgl. Kocka 1988: 31) vorgeführt wird, als gefahrloser Zeitvertreib, als angenehm-zwecldose Belehrung. Das waren, wie Gaston Tissandier betonte, keine Tricks, keine Scherze, die ihren «veritable mode d' operer» ver
hüllen, sondern vielmehr seriöse Experimente, «rigoureusement bases sur la
methode scientifique» (La Nature, Nr. 389, 1880: 370f.). Die jeux scientifiques schaffen so Kontinuitäten und Vertrautheiten zwischen der industriellen Welt und der familiären Intimität, indem sie nahelegen, dass die Gesetze der Physik, welche die «grosse Maschinerie» (Marx) der Industrie in Gang halten, auch diese ldeinen Spiele regieren, die erlöschenden Kerzen, hüpfenden Eier und zuweilen
zerspringenden Gläser im bürgerlichen Salon ... Sie sind Kultur im anthropologischen Sinne des Wortes, indem sie - einerlei, ob nachvollzogen oder bloss lesend konsumiert - den bürgerlichen Leser(innen) von La Nature eine auch ohne uni
versitäre Bildung adaptierbare V<ltthrnehmungsform für die äussere Wirldichkeit anbieten, und zudem, indem sie, durch die Demonstration der Allgemeingültigkeit von Naturgesetzen, dieser Wirldichkeit auch Sinn verleihen.
Zweitens aber, und dazu durchaus widersprüchlich, fällt auf, dass jeder explizite Bezug dieser ldeinen Experimente zur Realität der industriellen Produktion in diesen Artikeln sorgsam vermieden wird. Das «verheissene Land» der Wissen
schaft und - wie es im Untertitel von La Nature und der meisten anderen Periodika dieser Art heisst - ihrer «applications aux arts et a l'industrie», diese «terre promise», die jedem «esprit laborieux» zugänglich sei, erscheint vielmehr in die
ser physique sans appareils ganz ohne konkrete Arbeit, sondern allein mit einem ldein wenig esprit betretbar. Ja im Grunde immer schon betreten: Das gefüllte
Glas und die paar Münzen, mit welchen sich die Oberflächenspannung des Wassers demonstrieren lässt (Tissandier 1882: 60), sind im bürgerlichen Salon jederzeit zur Hand, die Einsicht ins Naturgesetz folgt zwanglos und unmittelbar aus
einer ldeinen Veränderung ihres alltäglichen Arrangements ... Es geht hier nicht um die Frage nach der Realität von Arbeit im 19. Jahrhun
dert und um die Stellung der Bürger im Produktionsprozess, sondern um die Vorstellungen über den Zusammenhang von Natur bzw. Welt, Wissenschaft, Arbeit
und Produktion in dieser Form der Popularisierung: Denn nicht bloss in den jeux scientifiques, sondern überhaupt in den Artikeln von La Nature verschwindet die konkrete industrielle Arbeit tendenziell vollständig hinter den Beschreibungen von technischen Vorrichtungen oder wissenschaftlich entwickelten Gesetzen, entsteht das ideale Bild einer Wissenschaft und Technik, die Natur widerstandslos
zur Welt umformt, welche direkt mit der «Bürgerlichkeit» (Kocka) bildender
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Lektüre im Kreis der Familie kongruent ist. Und dies gilt, soweit ich sehe, für die
gesamte Popularisierungsliteratur: ihr Diskurs behauptet die wundersame Verän
derung der Welt einzig durch entdeckte Naturgesetze.
Es wäre banal, festzustellen, dass damit die negativen, ökologisch, sozial oder
kulturell bedrohlichen Aspekte der Technik verschwiegen werden bzw. in der Form
von Unglücksfällen der Sensationspresse und als decadence der konservativen Kul
turkritik überlassen blieben. Interessanter ist m. E. das, was ich eingangs die «Be
deutungseffekte» populärer Wissenschaft genannt habe. Die Ausblendung von rea
ler Arbeit und (weitgehend proletarischer) Mühe, und das heisst auch vom Zusam
Scha/lkörperexperiment. (Aus Gaston Tissandiers «Recrtations scientifiques>>
von 1882}
menhang zwischen der «sozialen Frage» und
der «Anwendung» der Naturgesetze eben
nicht im Salon, sondern in der Industrie,
wäre - eine genauere Analyse vorausgesetzt
- ein spezifisch bürgerlicher «Bedeutungsef
fekt»: er idealisiert die Industrie zum Labor
und er-zeugt eine Wahrnehmungslücke, in
welcher die Industriearbeiter verschwinden
- ein Effekt mit den bekanntlich allergröss
ten politischen Auswirkungen ...
Ein anderes Beispielliefert die interessante
Beobachtung Dieter Langewiesches, dass
die proletarischen Benutzer(innen) von
Leihbibliotheken und Teilnehmer(innen)
an gewerkschaftlichen Bildungsveranstal
tungen sich kaum für Naturwissenschaft
interessierten - mit der wichtigen Ausnah
me der insbesondere von Haeckel propa
gierten Entwicldungslehre (ebenso: Stein
berg 1979). Der Zusammenhang, den
Langewiesehe zwischen diesem Phänomen
und der in der Zweiten Internationalen vorherrschenden mechanistischen Lehre
eines naturgesetzlich notwendigen Fortschreirens der Gesellschaft zum Sozialis
mus herstellt, wäre, die Differenzierung und Erhärtung dieser Hypothese voraus
gesetzt, ebenfalls ein signifikanter «Bedeutungseffekt» populärer Wissenschaft,
welcher die deutsche Arbeiterbewegung der Jahrhundertwende tiefgehend prägte.
Dabei kommt es m. E. auf eine methodische Präzisierung an: Die populärwissen
schaftlichen Diskurse sind in diesen ldassenspezifischen Kontexten nicht bloss ein
Reflex oder Ausdruck einer «realen» Situation, sind nicht bloss eine Bestätigung
«realer» Erfahrungen (etwa, wie Langewiesehe schreibt: « ... die proletarischen
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Hörer in diesen Kursen [konnten so] ihre eigene subjektive Lebenserfahrung und
ihre Form der Weltdeutung als wissenschaftlich begründbar erfahren» [Lange
wiesche 1985: 451]), sondern sie strukturieren diese Erfahrungen einer realen so
zialen Situation (die sie zugleich natürlich zu ihrer Voraussetzung haben). Mit
anderen Worten: Die «Bedeutungseffekte» populärer Wissenschaft sind Teil der
sozialen Wirldichkeit, verstanden als ein zirkuläres Verhältnis von Erfahrung und
Struktur, Bedeutung und «Realität» (Berger/Luckmann 1977); sie präformieren
die Wahrnehmung der Welt, ohne von «aussen» zu kommen; sie vermögen Ver
hältnissen Sinn zu verleihen, weil sie selbst als Diskurse gleichzeitig an diese Ver
hältnisse angebunden sind, wie sie eine kulturelle Eigenlogik besitzen, welche erst
Interpretation, Bedeutungsstiftung, möglich macht (Rabinow 1993).
Dazu kommt ein Letztes, auf das ich nur noch hinweisen möchte: Populärwis
senschaftliche Diskurse stiften nicht nur ldassenspezifische, gleichsam «regionale»
Bedeutungen, sondern vermitteln auch das Bild einer von homogenen Prinzipien
regierten Welt. Trotz unterschiedlicher Aneignungsweisen sind sie damit Teil jenes
sälcularen Prozesses, der im Zuge der industriellen Revolutionen regionale Traditio
nen und Kulturen tendenziell vereinheitlichte und eine wissenschaftlich-technische
Weltkultur geschaffen hat. - Die dabei allerdings nicht aufgelöste Spannung zwi
schen der weltkulturellen Tendenz der Populärwissenschaft und ihrer «regionalen»,
ja individuellen Aneignungen, zwischen medialen Diskursen und alltäglichen Be
deutungen ist m. E. Grund genug, damit sich Sozialhistoriker für solche Formen
von Wissen zu interessieren beginnen, welche bis jetzt meist unter der falschen Eti
kette drittldassiger «geistesgeschichtlicher» Phänomene ignoriert werden konnten.
Literatur und Quellen
- Bausinger, Hermann: Volkskultur in der technischen Welt. Frankfurt/New York 1986.
- Bayertz, Kurt: Spreading the Spirit of Science. Social Determinants of the Popularisation of Science in Nineteenth-Century Germany; in: Shinn/Whitley: 1985.
- Berger, Peter L., und Thomas Luckmann: Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie. Frankfun/M. 1977 (Garden City, N.Y. 1966).
Bock, Carl Ernst: Das Buch vom gesunden und kranken Menschen. Elfte, mit der zehnten gleichlautende Auflage. Leipzig 1876.
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Freizeit und Musse
DELI GYR (HG.)
oll und Hab n Festgabe für Paul Hugger zum 65. Geburtstag Alltag und Lebensformen bürgerlicher Kultur
Offizin Verlag 1995
Diese Publikation wurde in grasszügiger Weise unterstützt durch
die Genossenschaft zum Baugarten, Zürich, und BuchsDruck, Buchs/SC.
© 1995 Offizin Verlag Zürich und Autoren
Gestaltung/Produktionsbetreuung: Peter Zimmermann, Zürich
Satz/ Lithos I Druck: Buchs Druck, Buchs/SC
Einband: Buchbinderei Burkhardt AG, Mönchaltorf/ZH
ISBN 3-907495-63-2
Umschlag: Bürgerlicher Salon um 1900, vermutlich Villa in Thalwil, Sammlung Paul Hugger, Zürich
Inhaltsverzeichnis
Ueli Gyr: Einleitung: Bürgerlichkeit und Alltagskultur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7
Berufswelt und Standeskultur Ruth-E. Mohrmann: Der braunschweigische Samenhändler Ernst Christian Conrad Wrede. Ein bürgerliches Leben der Goethezeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 Othmar Birkner: Bürgerliche Lebenswelten zwischen Cholera und Revolution. Mit besonderer Berücksichtigung der Wiener Beamten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31 Roland Girt!er: Bürgerliches Freiheitsideal, Vagantenturn und Rituale des Trinkens, . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47
Bildungs- und Erziehungsstile Beatrix Le Wita: Der Rekurs auf die Tradition im französischen Bürgertum . . . . . 63 Gottßied Korffi Hase & Co. Zehn Annotationen zur niederen Mythologie des Bürgertums . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77 Phitipp Sarasin: «La Science en famille». Populäre Wissenschaft im 19. Jahrhundert als bürgerliche Kultur- und als Gegenstand einer Sozialgeschichte des Wissens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97
Freizeit und Musse Albert Tanner: Freizeitgestaltung und demonstrativer Müssiggang im Bürgertum .. 113 Hermann Bausinger: Bürgerliches Massenreisen um die Jahrhundertwende ...... 131 Martine Segalen: Der Langstreckenlauf- ein bürgerlicher Sport? ................. 149
Photographie als bürgerliches Medium Timm Star!: Themen und Motive der privaten Fotografie ........................ 161 Peter Herzog: Die Photographie als Mittel bürgerlicher Selbstdarstellung ........ 179
Wandel materieller Kultur Martin Fröhlich: Schulhäuser als Selbstdarstellungen der bürgerlichen Gesellschaft ........................................................................ 201 Georg Kreis: Aufbruch und Abbruch: Die «Entfestigung» der Stadt Basel ........ 213 Ingrid Ehrensperger: Gutbürgerliche Küche. Sparherd statt offener Feuerstelle ... 229
Bürgertum und gesellschaftliche Entwicklung Klaus Roth: Bürgertum und bürgerliche Kultur in Südosteuropa. Ein Beitrag zur Modernisierungstheorie .......................................... 245