Professioneller Wahlkampf als Zusammenspiel antiker Rhetorik und modernen Marketings

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Eberhard-Karls-Universität Neuphilologische Fakultät Seminar für allgemeine Rhetorik WS 2009/2010 Seminarleiter: Dr. Gregor Kalivoda Professioneller Wahlkampf als Zusammenspiel modernen Marketings und antiker Rhetorik Abgegeben am: 20.09.2010 Benjamin Riehl Allg. Rhetorik (HF, B.A.; 6. FS) Ev. Theologie (NF, B.A.; 5. FS) Windfeldstraße 17 72072 Tübingen [email protected]

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Eberhard-Karls-Universität Neuphilologische Fakultät Seminar für allgemeine Rhetorik WS 2009/2010 Seminarleiter: Dr. Gregor Kalivoda

Professioneller Wahlkampf als Zusammenspiel modernen Marketings und antiker Rhetorik

Abgegeben am: 20.09.2010

Benjamin Riehl Allg. Rhetorik (HF, B.A.; 6. FS) Ev. Theologie (NF, B.A.; 5. FS)

Windfeldstraße 17 72072 Tübingen

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Inhalt

1 BEDEUTUNG UND VERÄNDERUNG VON WAHLKÄMPFEN ......................................................................................... 1

2 WAHLKAMPF UND ANTIKE RHETORIK ................................................................................................................. 3

2.1 Rhetorische Grundkonstellation des Wahlkampfs ............................................................................ 3

2.2 Wahlkampf in der Antike – Empfehlungen Quintus Tullius Ciceros an seinen Bruder Markus .............................................................................................................................................. 4

3 PLANUNG UND DURCHFÜHRUNG VON WAHLKÄMPFEN .......................................................................................... 5

3.1 Analyse des politischen Marktes ....................................................................................................... 7

3.1.1 Wahlkampffaktoren ........................................................................................................................... 7

3.1.2 Quantitative Marktforschung ............................................................................................................ 8

3.1.3 Qualitative Marktforschung ............................................................................................................. 11

3.1.4 SWOT-Analyse .................................................................................................................................. 17

3.1.5 Zielgruppenbestimmung unter Berücksichtigung von Wählertypen ............................................... 18

3.2 Bestimmung der Kampagnenart ..................................................................................................... 21

3.2.1 Fortführungskampagne ................................................................................................................... 21

3.2.2 Wechselkampagne ........................................................................................................................... 22

3.2.3 Negativkampagne ............................................................................................................................ 22

3.3 Entwicklung der Botschaft .............................................................................................................. 23

3.3.1 Sachliche Botschaften in der themenzentrierten Kampagne .......................................................... 24

3.3.2 Persönliche Botschaften in der personalisierten Kampagne ........................................................... 25

3.3.3 Beispiel einer Botschaftsentwicklung im CDU-Wahlkampf in Nordrhein-Westfalen 2010 ............................................................................................................................... 26

3.4 Vermarktung der Botschaft ............................................................................................................. 28

3.4.1 Moderne Vermarktungsmethoden .................................................................................................. 29

3.4.2 Beispiel einer viralen Marketingkampagne im Wahlkampf Barack Obamas: .................................. 31

4 KRITISCHE BETRACHTUNG DER PROFESSIONELLEN WAHLKAMPFFÜHRUNG ................................................................ 32

5 BEDEUTUNG DES MARKETING FÜR DIE RHETORIK ................................................................................................ 33

6 LITERATURVERZEICHNIS ................................................................................................................................ 35

1

1 Bedeutung und Veränderung von Wahlkämpfen

Die Wahlkampfführung Barack Obamas hat einen Trend der USA deutlich vor Augen

geführt: Wahlkämpfe sind professionell und aufwendig geplant, stark medialisiert, mit

diversifizierten Kommunikationsmitteln auf die gezielte Ansprache von Zielgruppen

und Wählersegmenten ausgerichtet und stärker denn je personalisiert. Professionelle

Wahlkämpfe involvieren eine große Anzahl an freiwilligen Helfern, die motiviert,

geschult und ausgerüstet werden müssen. Gerade die US-amerikanischen Wahlkämp-

fe beanspruchen ein gigantisches Budget und bedürfen daher einer eigenen Fundrai-

singkampagne. Während seines Wahlkampfes sammelte Obama über 745 Millionen

US-Dollar an Spenden,1 von denen ein signifikanter Teil aus Kleinbeträgen unter 100

Dollar lag.2

Deutsche Wahlkämpfe wirken gegenüber US-amerikanischen langsam, einfallslos und

reserviert. Sie scheinen sich den amerikanischen Verhältnissen allerdings seit einigen

Jahren anzupassen. Der Amerikanisierungsthese zufolge übernehmen deutsche

Wahlkämpfer entweder einzelne auf den deutschen politischen Markt passende

Praktiken amerikanischer Wahlkämpfe (Shoppingmodell) oder vereinen den deut-

schen Kampagnenstil dem dort üblichen (Adoptionsmodell).3

Plasser, Scheucher und Senft konstatieren eine fundamentale Veränderung der

kompetitiven Situation im europäischen Parteiensystem, aufgrund welcher sich die

politische Kommunikation der amerikanischen anpasst.4 In einem Zeitungsinterview

erklärte Rainer Strutz schon 2001: „Die Amerikanisierung der Wahlkämpfe bedeutet

Professionalisierung der Methoden und Personalisierung der Inhalte“5. Aufgabe der

politischen Kommunikation sei es, „die politischen Inhalte über glaubhafte und

vertrauenswürdige Köpfe zu vermitteln“6.

1 The Associated Press.

2 Vargas.

3 Vgl. Schulz 2008, 244.

4 Vgl. Plasser, Scheucher & Senft 1999, 92.

5 Burgard 2001.

6 Burgard 2001.

2

Gegen die These einer deutlichen Veränderung von Wahlkämpfen verwehren sich

Kuhn und andere7. Kuhn macht deutlich, dass Methoden wie „die Orientierung an

Ergebnissen der Umfrageforschung und deren Umsetzung in Wahlprogramme[n]“8

seit langem in Wahlkämpfen benutzt werden. Diese Vorgehensweise entspricht dem

Marketing-Ansatz9, einem weiteren Erklärungsmodell zu moderner Wahlkampffüh-

rung. Das Wählerverhalten wird im Marketing-Ansatz mit Konsumentenverhalten

verglichen.10

Im Marketing-Ansatz wird eine Wahlkampagne in verschiedene Phasen unterteilt, die

in dieser Arbeit als Analyse des politischen Marktes, Bestimmung der Kampagnenart,

Entwicklung der Botschaft und Vermarktung der Botschaft behandelt werden. Diese

Phasen ähneln den Redeproduktionsstadien der Rhetorik: intellectio, inventio,

elocutio, memoria, actio.

Die Betrachtung von Wahlkämpfen nach dem Marketing-Ansatz ist gerade für die

Rhetorik interessant; denn zentrales Ziel ist die Suche nach „‚relevanten Märkten‘ mit

wissenschaftlichen Methoden der Markt- und Meinungsforschung“11, um diese

zielgruppenspezifisch anzusprechen. Die Bedeutung eben dieses Adressatenkalküls

wird in der allgemeinen Rhetorik betont.

Die Rhetorik überlässt es dem ingenium des Orators, die Bedürfnisse, Neigungen und

Reaktionen seiner Adressaten zu antizipieren. Knape schreibt über ein vom Orator

verlangtes „Produktionskalkül, das sich auf die geschulte Kompetenz zum Einschätzen

der Adressaten und zum Ausschöpfen der Möglichkeiten aller in Betracht kommenden

Textsorten stützt.“12 Dies kann für den Orator je nach Komplexität der Redesituation,

Zeit, Adressaten, Thema und vieler weiterer Faktoren eine große Herausforderung

darstellen. Das empirische Adressatenkalkül – so könnte man das Adressatenkalkül

unter Einbeziehung empirischer Marktanalysemethoden nennen – kann für Wahlre-

7 So etwa Müller und Rosumek. Vgl. Schulz 2008, 243.

8 Kuhn 2007, 201.

9 Vgl. Schulz 2008, 247f.

10 Vgl. Kotler & Kotler 1999, 6.

11 Schulz 2008, 248.

12 Knape 2005, 18.

3

den, für die Entwicklung der Botschaft, für die Gestaltung und Nutzung von Medien

herangezogen werden. In dieser Arbeit soll eben dieses Modell näher dargestellt und

seine Zweckdienlichkeit für die Rhetorik deutlich gemacht werden. Der Wahlkampf in

der Antike soll anhand einer Schrift Q. Ciceros exemplarisch behandelt werden.

Des Weiteren soll Wahlkampf in Hinblick auf eben diese politische Kommunikation

unter folgenden Fragestellungen genauer beschrieben werden: Wie wird Wahlkampf

heutzutage durchgeführt? Welche Instrumente werden für Wahlkampagnen genutzt?

Welche Faktoren sind wesentlich für erfolgreichen Wahlkampf?

Darüber hinaus wird expliziert, welche Instrumente und Medien hinsichtlich verschie-

dener Erfordernisse für erfolgreichen Wahlkampf nützlich sind. Die angeführten

Methoden und Entwicklungen werden schließlich einer kritischen Bewertung unterzo-

gen sowie Überlegungen getroffen, wie der Wahlkampf der Zukunft aussehen könnte.

2 Wahlkampf und antike Rhetorik

2.1 Rhetorische Grundkonstellation des Wahlkampfs

Der Wahlkampf ist der Kampf um die Stimmenmehrheit am Wahltag. Parteiliche

Redner und Kontrahenten – Parteien oder Kandidaten – ringen um die Gunst des

Wählers.13 Da dieser im Mittelpunkt steht, wird er zum entscheidungsmächtigen

Adressaten, vergleichbar dem Kunden als König und damit dem Zentrum aller

Bemühungen in der Wirtschaft. Ziel der Kontrahenten als Oratoren ist es, persuasiv

auf die Adressaten einzuwirken, indem sie sie informieren, überzeugen und mobilisie-

ren. Dabei wird die eigene Position durch die Demonstration von Kompetenz, Einfluss,

Charisma etc. gestärkt, die gegnerische evtl. durch negative campaigning (‎3.2.3)

geschädigt.

13

Vgl. Klein 2009, Sp. 1255.

4

2.2 Wahlkampf in der Antike – Empfehlungen Quintus Tullius

Ciceros an seinen Bruder Markus

In seinem Brief an seinen Bruder Markus, der sich für das Konsulat bewirbt, gibt

Quintus Tullius Cicero zahlreiche Hinweise und erstellt eine Systematik, wie ein

Wahlkampf geführt werden muss.14 Darin macht er auf gegnerisches Vorgehen

aufmerksam, gegen das sein Bruder „omnem rationem et curam et laborem et

diligentiam“15 (jede Methode und Sorge und Mühe und Sorgfalt) aufwenden muss.

Ciceros Überlegungen sind heute noch wertvoll. Er spricht die Frage an, warum

jemand, der einen Kandidaten nicht kennt, diesen wählen sollte16 und betont:

„Eximiam quandam gloriam et dignitatem ac rerum gestarum magnitudinem esse

oportet in eo, quem homines ignoti nullis suffragantibus honore adficiant“17 (Ein

gewisser Ruhm, eine gewisse Würde und eine gewisse Größe vollbrachter Taten

müssen in demjenigen vorhanden sein, den die Menschen mit einem Ehrenamt

versehen, wenn ihn niemand unterstützt). Ein Mittel, für sich zu werben, sei die

Empfehlung berühmter, angesehener, einflussreicher Menschen. Markus müsse eine

ständige Begleitung jeder Herkunft, jedes Standes und jeden Alters nutzen,18 da diese

zu einer hohen Meinung und zu großer Würde führe.19

Dabei empfiehlt Cicero seinem Bruder, von allen Bürgern, die ihm in irgendeiner

Weise verpflichtet sind, die Unterstützung einzufordern. Diejenigen, die ihm nichts

schuldig seien, solle er werben, indem er ihnen Hoffnung auf zukünftige Gefälligkeiten

mache.20

Des Weiteren erstellt Cicero eine Gegnertypologie:21 Er differenziert zwischen

Menschen, die sich von einem Kandidaten verletzt fühlen, solchen, die ihm ohne

Grund nicht verbunden sind, und solchen, die Freunde von Mitbewerbern sind. Für

14

Vgl. Cicero 2001, 56. 15

Cicero 2001, 64. Übersetzung Verfasser. 16

Vgl. Cicero 2001, 72. 17

Cicero 2001, 72. 18

Vgl. Cicero 2001, 76. 19

Vgl. Cicero 2001, 78. 20

Vgl. Cicero 2001, 68. 21

Vgl. Cicero 2001, 80.

5

jeden Typus entwickelt er eine Werbestrategie: Gegenüber denjenigen, die sich

verletzt fühlen, müsse man sich mit dem Verweis rechtfertigen, dass die Handlung

pflichtgemäß und notwendig gewesen sei; den Unverbundenen müsse man Gefällig-

keiten erweisen und Erwartungen in ihnen wecken; den Freunden von Mitbewerbern

müsse man Wohlwollen für den Mitbewerber bekunden.

Jackob resümiert Strategien aus dem commentariolum petitionis konzise:

„professionelle Meinungsmobilisation, Rücksichtnahme auf die Befindlichkeiten der Bevölkerung, Identifikation und Mobilisation von Meinungsführern und Mul-tiplikatoren in allen relevanten Regionen und sozialen Schichten, Angebote und Versprechen an alle relevanten Zielgruppen und Wählerpotenziale, Entsachli-chung bzw. Depolitisierung durch bewussten Verzicht auf tagespolitische Stel-lungnahmen, pompöse Inszenierung, die Rekrutierung einer motivierten, öffentlich präsenten und zahlreichen Anhängerschaft, regelmäßige öffentliche Auftritte, Emotionalisierung, Personalisierung sowie letztlich ein gewisses Maß an Opponentendiffamierung, an Heuchelei und Schauspiel.“22

3 Planung und Durchführung von Wahlkämpfen

In Analogie zur Wirtschaft differenziert Karp in einem Wahlkampf drei wesentliche

Ausrichtungen auf die Wählerschaft:

„Eine ‚Produktorientierung‘ der Partei argumentiert für die politische Idee, für die sie steht und an die sie glaubt. Ihre Strategie geht davon aus, dass sie die Bevölke-rung von ihrem bereits gefassten politischen Programm überzeugen kann. Dieser Parteientyp würde seine Ideen nicht ändern, auch wenn dies Wählerstimmen kos-tet.

Eine ‚verkaufsorientierte‘ Partei fokussiert ihre Bemühungen auf den Verkauf ih-rer Argumente gegenüber ihren Wählern. Sie entwickelt ein eigenständiges und innerparteilich mehrheitsfähiges Produkt, versucht aber auch ihr Produkt mit modernen Kommunikationsstrategien den Wählern nahezubringen. Dieser Par-teientyp versucht die Wähler weniger von der Richtigkeit zu überzeugen, als viel-mehr von ihrer Politik zu beeindrucken.

Eine ‚marktorientierte‘ Partei schafft ein Produkt, das an den Bedürfnissen der Wähler orientiert ist. Die Marktorientierung wendet sich konsequent an die Be-dürfnisse der Kunden und richtet daran ihre Interessen aus. Sie greift die Wün-sche der Bürger auf, indem sie ihre Dienstleistung – d. h. ihre Regierungspolitik – an den Bedürfnissen der Wählerschaft anpasst.“23

Für die Rhetorik ist diese Unterteilung von großer Bedeutung. Denn diese Orientie-

rungen stellen verschiedene persuasorische Ansätze dar. Will eine Partei von der

eigenen Meinung überzeugen, dass sie Recht hat, dass ihre Weltanschauung die

richtige ist? Will sie ein Konzept entwickeln und die Wähler von diesem Konzept

22

Jackob 2002, 9. 23

Karp 2004, 9.

6

überzeugen? Oder will sie die Meinung der Wähler übernehmen, ihnen somit nach

dem Munde reden, um möglichst viele Stimmen zu erhalten?

Produktorientiert kann man ideologische Parteienwahlkämpfe nennen. In gewisser

Weise ist der Wahlkampf ein parteienideologischer Kampf, eine oppositive Auseinan-

dersetzung verschiedener Weltanschauungen. Dieser parteienideologische Unter-

schied (Sozialismus vs. Kapitalismus, Liberalismus vs. Keynesianismus) gibt den

Wählern Orientierung; denn bei der Konfrontation von Extremen fällt die Wahl ihnen

leichter. Diese Extreme nehmen jedoch zunehmend ab, die Politik wird einheitlicher.

Als wesentlichen Antriebsfaktor der Vereinheitlichung der Politik sieht Koziol die

wachsende Komplexität auf vielen gesellschaftlichen Ebenen.24 Zudem engen die

hohen Zinsen im Haushalt den Handlungsspielraum für Staatsausgaben ein. Gleiche

Politik führt zu einer höheren Bereitschaft der Wähler, eine andere Partei zu wählen.

Daher konstatiert Karp: „Entideologisierung und eine zunehmende Wählervolatilität

zwingen die Parteien zu einem stärker pragmatisch marktorientierten Vorgehen“25.

Freter begründet die wachsende Bedeutung strategischen Polit-Marketings mit der

Entwicklung der Parteien zu Volksparteien, der wachsenden Zahl an Wechselwählern,

Wählerunzufriedenheit und Politikverdrossenheit sowie sonstigen globalen Entwick-

lungen.26

Da Entideologisierung und Vereinheitlichung der Politik einen produktorientierten

persuasorischen Ansatz erschweren, ist es nicht verwunderlich, dass die Mehrheit der

europäischen Consultants bei einer Umfrage angab, zentrale Aufgabe politischen

Marketings sei zielgruppenspezifische Kommunikation der Botschaft (engl. message).27

Einer von vier europäischen Experten sagte einen Anstieg der Bedeutung von Techni-

ken wie Database Marketing, Direct Mail, und Telephone Marketing voraus. Die

Grundlage dieser Techniken jedoch – so Plasser, Scheucher und Senft – bildet eine

bessere Kenntnis der Bedürfnisse und Nöte der Wähler.28

24

Vgl. Koziol 2007, 31-39. 25

Karp 2004, 10. 26

Vgl. Freter 2001, 316. 27

Vgl. Plasser, Scheucher & Senft 1999, 95. 28

Vgl. Plasser, Scheucher & Senft 1999, 96.

7

Ausgehend von einem marktorientierten persuasorischen Ansatz sollen in den

folgenden Abschnitten die Planung und Durchführung eines Wahlkampfes verdeut-

licht werden. Paradigmatisch wird betrachtet, wie zentrale adressatenspezifische

Botschaften gefunden, entwickelt und kommuniziert werden können.

Ein Wahlkampf weist typische Merkmale eines Projektes auf: Er bringt Veränderung,

ist ein abgegrenztes Vorhaben, innovativ, komplex, schwierig zu planen und zu

steuern, benötigt Ressourcen an Wissen, Personal und Finanzen etc.29 Die Grundpha-

sen eines jeden Projektes sind: Initialisierung, Vorstudie, Konzept, Realisierung,

Einführung.30 Auf das Projekt Wahlkampf bezogen können diese Phasen in Stichpunk-

ten in einer Übersicht dargestellt werden (Abbildung 1):31

Abbildung 1: Wahlkampfphasen

In den folgenden Abschnitten werden die einzelnen Phasen besprochen.

3.1 Analyse des politischen Marktes

3.1.1 Wahlkampffaktoren

Zu einer Analyse des politischen Marktes gehört primär die Untersuchung der

Rahmenbedingungen – des rhetorischen settings sozusagen. Diese lassen sich in

variante und invariante untergliedern:

29

Kuster, Huber, Lippmann u. a. 2008, 4. 30

Vgl. Kuster, Huber, Lippmann u. a. 2008, 13, detailliert 37-77. 31

Ähnlich: Kotler & Kotler 1999, 8; Baines 1999, 410.

8

a. Invariante Wahlkampffaktoren: das Wahlsystem (relative/absolute Mehrheits-

wahl, Verhältniswahl) und die Wahlebene (Bund, Land, Kommune), sowie Be-

stimmungen, Feiertage, Abgabetermine, Anmeldefristen u. ä.

b. Variante Wahlkampffaktoren: die politische Konkurrenz sowie die politische

Unterstützung – beispielsweise in der eigenen Partei –, die potentielle Wähler-

schaft, die Stimmung der Wählerschaft, finanzielle Mittel, das Mediensystem,

Sachthemen, das eigentliche Wahlziel u. a.32

Nur wer die Rahmenbedingungen einer Kampagne untersucht, kann eine angemesse-

ne Botschaft erarbeiten. Die wichtigsten Faktoren für die Wahlkampagne sind die

Ressourcen Geld und Zeit. Eine umfangreiche Marktanalyse, Werbekosten etc.

erschöpfen ein Budget sehr schnell.

3.1.2 Quantitative Marktforschung

Quantitative Umfragen richten sich an eine große Menge einzelner Personen, die

zusammen repräsentativ für eine Gruppe sind. Diese Umfragen sind wichtig, um mehr

über Zielgruppen und das Wählerpotential zu erfahren, um die Kampagne effektiv

auszurichten.

Viele Daten liegen bei Statistikämtern, Rathäusern, Landratsämtern etc. vor. Anhand

der Daten vergangener Wahlen kann man z. B. erfahren, in welchen Gebieten eine

Partei verloren hat, wo sie ihre Hochburgen hat. Daraus wiederum können taktische

Maßnahmen abgeleitet werden. So muss in einem Gebiet, in dem die eigene Unter-

stützung hoch ist, weniger aktive Überzeugungsarbeit geleistet werden als in hart

umkämpften Gebieten. Für den Einsatz von Medien und Wahlkampfhelfern ergeben

sich aus der Auswertung dieser verfügbaren – oft kostenlosen – Daten weitreichende

Konsequenzen.

Darüber hinaus können weitere Umfragen gemacht werden, um Informationslücken

zu schließen. Will eine Partei beispielsweise wissen, wie Wähler über eine Idee

denken, so kann sie eine Befragung durchführen bzw. durchführen lassen.

32

Vgl. Plasser, Scheucher & Senft 1999, 91.

9

Dabei ist wichtig, dass die Umfragen repräsentativ sind. Schädlich sowohl für die

Ressourcen als auch für die Ableitungen aus einer Umfrage wäre eine Befragung von

300 Tübinger Studenten zum Thema Kindertagesstättenversorgung in Deutschland

und eine anschließende Folgerung auf die Meinung aller Deutschen. Studenten haben

in der Regel eine andere Meinung als Berufstätige, Arbeitslose oder Rentner. Auch ist

eine Meinung aus nur einem Bundesland und dort einer Stadt nicht repräsentativ für

die Stadt- und Landbevölkerung in allen Bundesländern.

Wichtig für die Güte einer Umfrage ist, „wie genau das Stichprobenergebnis sein muss

(Streuung) und mit welcher Sicherheit die Aussage getroffen werden soll (Wahr-

scheinlichkeit).“33 Für eine Streuung von ± 5 % und einer Wahrscheinlichkeit von 99,7

% ist ein Stichprobenumfang von 900 erforderlich – dies unabhängig von der Grundge-

samtheit, solange diese nicht zu klein ist.34

Das Fehlerpotential bei Umfragen durch Laien ist dabei recht hoch. Fehler in der

Erhebungsplanung, Verfahrensauswahl, Auswertung, Interpretation, sowie Beeinflus-

sung, suggestive Fragen auf Seiten des Interviewers oder Nicht- bzw. Falschbeantwor-

tung von Fragen sind nur einige Ursachen systematischer Fehler.35 Daher kann an

dieser Stelle nicht en détail auf die eigentliche Durchführung solcher Umfragen

eingegangen werden. Die Durchführung von Umfragen sollte – vorausgesetzt, die

finanziellen Mittel sind vorhanden – professionellen Marktforschungsinstitutionen

überlassen werden.

Nicht ohne Grund wird „die Fragebogengestaltung […] oft als Kunstlehre bezeichnet“,

die „neben einschlägigen Erfahrungen und Kenntnissen aus Psychologie und Soziolo-

gie eines hohen Maßes an Kreativität, Einfühlungsvermögen und Sprachgefühl“36

bedarf. Befragte Personen antworten oftmals gemäß dem, was politisch korrekt ist,

doch wählen letztlich anders als sich aus dem Fragebogen ergibt. Ferner werden sie

33

Berekoven, Eckert & Ellenrieder 2009, 60. Hervorhebung im Original. 34

Vgl. Berekoven, Eckert & Ellenrieder 2009, 60. 35

Vgl. Berekoven, Eckert & Ellenrieder 2009, 61-62. 36

Berekoven, Eckert & Ellenrieder 2009, 92.

10

durch äußere Umstände, durch die befragende Person und menschliche Unzulänglich-

keiten wie ihr Verständnis- oder Verbalisierungsvermögen beeinträchtigt.37

Bei der Erstellung von Fragebögen gilt es, das rhetorische aptum einzuhalten. Werden

Experten befragt, so sind Fachtermini diesen klar; es können auch komplizierte Fragen

gestellt werden. Ein Fragebogen, der auf Laien zielt, muss dagegen allgemeinverständ-

lich sein, zumal sich die Stichprobe bei repräsentativen Umfragen aus unterschied-

lichsten Personenkreisen zusammenstellt. Allgemeinverständlichkeit, die Auslassung

von Fachtermini und eventuell nötiger Definitionen können jedoch zu verschiedenen

Interpretationen von Fragen führen. Durch professionelle und wissenschaftliche

Vorgehensweisen können manche dieser Beeinträchtigungen umgangen werden.

Beispielsweise wird es als beschämend empfunden, keine Antwort auf Fragen zu

geben, deren Inhalt einem fremd ist oder zu dem man sich schwer äußern kann. Um

zu vermeiden, dass meinungslose Menschen irgendetwas antworten, können Filter-

fragen wie „Haben Sie dazu eine Meinung?“ eingebaut werden. In Untersuchungen

wurde nachgewiesen, dass sich die Ergebnisse zwischen gefilterten und ungefilterten

Fragen z. T. beträchtlich unterscheiden.38

Quantitative Umfragen enthalten oft ausschließlich geschlossene Fragen, da offene

Fragen zu einer unbrauchbaren Varianz an Antworten führen können. Wenn vor einer

Wahl gefragt würde: Was muss in Deutschland geändert werden, so könnten sich

manche Befragten über den Abzug aus Afghanistan, andere über die Schließung einer

Schule in Frankfurt a. M. und andere über mehr Spielplätze äußern. Doch reicht es in

Umfragen, geschlossene Fragen zu stellen? Eine Umfrage, die ausschließlich geschlos-

sene Fragen enthält, überprüft lediglich Hypothesen. Kotler und Kotler monieren, dass

„some Candidates feel that they already know voters‘ opinions and that dollars invested in marketing research would mean fewer dollars available for advertis-ing. But even if a candidate could guess the major issues in a campaign, he or she is not likely to know their relative importance to various groups or how the vot-ers feel about the issues without research.”39

37

Vgl. Berekoven, Eckert & Ellenrieder 2009, 94. 38

Vgl. Berekoven, Eckert & Ellenrieder 2009, 95. 39

Kotler & Kotler 1999, 13.

11

In einer Marktsituation, die durch zunehmende Individualisierung, Diversifizierung von

Biographiemustern und wachsende Komplexität gekennzeichnet ist, müssen Elemente

qualitativer Marktforschung genutzt werden, um mehr über Motivationen, Meinun-

gen und deren Hintergründe zu erfahren und um neue Erkenntnisse zu gewinnen, die

bisher außerhalb des Tellerrands der Forscher und der Politiker gelegen haben.

3.1.3 Qualitative Marktforschung

In der qualitativen Marktforschung gibt es eine Vielzahl von Methoden: Focus Groups,

Gruppendiskussionen, Experteninterviews, Tiefeninterviews, Beobachtungen und

Prognosen, assoziative und projektive Verfahren, Lob-, Beschwerde- und Szenario-

techniken etc. In einer Befragung bewerteten über 70 Experten aus ihrer Erfahrung

Focus Groups, Gruppendiskussionen und Experteninterviews als die wichtigsten

Instrumente qualitativer Marktforschung.40 Focus Groups bzw. Fokusgruppen lassen

sich theoretisch in Gruppeninterviews und in Gruppendiskussionen teilen. Jedoch

erweist es sich „in der Praxis […] als sinnvoll, […] sowohl Interview- als auch Diskussi-

onselemente zum Einsatz zu bringen“41. Die oben genannte Befragung richtete sich

nicht auf nützliche Elemente für den politischen Wahlkampf. Eine solche Befragung

liegt nicht vor. Daher werden Focus Groups und qualitative Interviews als bestbewer-

tete Instrumente im Folgenden für den Wahlkampf näher betrachtet.

Qualitative Interviews

Qualitative Interviews definieren Aghamanoukjan, Buber und Meyer als „speziell für

die Erhebungssituation evozierte Kommunikation“, deren Methoden sich explizit zum

traditionellen standardisierten Fragebogen abgrenzen, die also „primär keine quanti-

tativen Daten, sondern Texte“ 42 erheben. Der Interviewer muss eine Vertrauensbe-

ziehung zu den Befragten aufbauen, „was zu gesteigerter Aussagewilligkeit, spontanen

Äußerungen und damit entsprechend vielfältigen Einsichten in die Denk-, Empfin-

dungs- und Handlungsweise der Interviewten führt“43.

40

Vgl. Buber & Klein 2009, 53. 41

Breitenfelder & Zeglovits 2009, 1105. 42

Aghamanoukjan, Buber & Meyer 2009, 417. 43

Aghamanoukjan, Buber & Meyer 2009, 419.

12

Qualitative Interviews können sehr unterschiedlich geführt und interpretiert werden.

Vertraut der Interviewer der interviewten Person, so wird er anders vorgehen, als

wenn er Informationen hinterfragen, Motivationen und Hintergründe untersuchen

will. In dem einen Fall fragt er Informationen lediglich ab, in dem anderen lässt er die

befragte Person frei erzählen und assoziieren.44

Dieser Vorgehensweise liegt die Prämisse zugrunde, dass Menschen sich bestimmter

Sachverhalte wie ihrer Wirklichkeitskonstruktion, Triebe, Motive und Emotionen nicht

bewusst sind, auf diese aber durch systematische Fragen rückgeschlossen werden

kann.45 Der Mensch wird nicht als homo oeconomicus betrachtet, sondern als „Wesen,

[das] vor allem von […] Emotionen und unbewussten Motiven beeinflusst“46 wird.

Wenn der Mensch nicht lediglich rationale Entscheidungen trifft, um seinen Nutzen zu

maximieren, so muss man aus rhetorischer Perspektive für die Argumentation

postulieren, dass das utile-Argument, welches den Nutzen des Gegenübers betont, für

die Überzeugung nicht ausreicht. Es genügt ebenso nicht, über Themen zu diskutieren

und fachliche Kompetenz vorzuweisen. Die Wähler müssen auch emotional und

persönlich angesprochen werden. Dies wird vor allem durch eine personenzentrierte

Kampagne erreicht (siehe ‎3.3.2).

In der Wirtschaft dienen qualitative Interviews dazu, „Markenpräferenzen, Einstellun-

gen zu bestimmtem Kauf- und Verwendungsverhalten, Kaufhemmnisse, konsumen-

tentypologische Merkmale“47 etc. zu erfahren. Im Wahlkampf wird entsprechend

versucht, Wählertypologien zu erstellen, zu erkunden, welche Personen welche Partei

warum wählen oder nicht wählen bzw. was sie dazu bewegen könnte, sich umzuent-

scheiden. Wählertypologien können auch entsprechend vorhandener Typologien wie

dem Sinus-Modell erstellt werden. Im Sinus-Modell wird die Bevölkerung in Gruppen

wie Postmaterielle, Konservative, Etablierte und DDR-Nostalgische eingeteilt und ihre

jeweiligen bevorzugten Programm-Genres, überdurchschnittlich ausgeprägte Musikin-

44

Vgl. Aghamanoukjan, Buber & Meyer 2009, 417. 45

Vgl. Aghamanoukjan, Buber & Meyer 2009, 418f. 46

Aghamanoukjan, Buber & Meyer 2009, 418f. 47

Berekoven, Eckert & Ellenrieder 2009, 89.

13

teressen, Themen- und Zeitschriftenpräferenzen etc. zugeordnet. Darauf basierend

können Zielgruppen spezifisch adressiert werden.

Während man beim qualitativen Interview „einen tiefen Einblick in individuelle

Verhaltensweisen, Meinungen und Einstellungen gewinnen möchte“, soll „die

Gruppendiskussion in relativ kurzer Zeit ein möglichst breites Spektrum von Meinun-

gen, Ansichten und Ideen von mehreren Personen im gemeinsamen Gespräch zutage

fördern.“48

Fokusgruppen

Fokusgruppen sind kleine Gruppen von idealerweise „6 bis 10 Mitgliedern, die je nach

Thema und Zielsetzung unter Leitung eines qualifizierten Moderators diskutieren,

wobei die Protokollierung ggf. mittels Tonband oder Video erfolgt.“49 Die Gruppen

sollten so zusammengesetzt werden, dass sie repräsentativ für die Wählersegmente

stehen, welche eine Partei während eines Wahlkampfes adressieren will. In der

Annahme, dass Hemmungen der Teilnehmer während der Diskussion schwinden, „so

dass sich die Teilnehmer gegenseitig zu detaillierten Äußerungen anregen“50, hofft

man, unbewusste Sachverhalte sichtbar zu machen und aus spontanen Reaktionen

Rückschlüsse auf Motivationen, Emotionen, Einstellungen etc. ziehen zu können,

weswegen sich Gruppendiskussionen besonders zur Erforschung heikler Themen

eignen.51

Quantitative und qualitative Methoden sind dabei nicht hinsichtlich ihrer Güte zu

unterscheiden, wie umgangssprachlich qualitativ gegenüber nur quantitativ als

höherwertig gilt. Vielmehr stehen „verschiedene Erkenntnisinteressen und Umsetz-

barkeit der Forschungsergebnisse“52 im Vordergrund.53

Dennoch ist die Kritik gerade qualitativer Marktforschung relativ groß. Da Ergebnisse

durch eine geringe Anzahl an Personen zustande kommen, stellt sich die Frage, wie

48

Berekoven, Eckert & Ellenrieder 2009, 90. Hervorhebungen im Original. 49

Berekoven, Eckert & Ellenrieder 2009, 91. 50

Berekoven, Eckert & Ellenrieder 2009, 91. 51

Vgl. Berekoven, Eckert & Ellenrieder 2009, 91. 52

Breitenfelder & Zeglovits 2009, 1105. 53

Vgl. auch Buber & Klein 2009, 61.

14

repräsentativ die Ergebnisse qualitativer Marktforschung sind. Zudem sind Ergebnisse

nicht so offensichtlich wie bei einer ja/nein-Befragung. „Weitgehende Subjektivität

und mangelnde Wiederholbarkeit der Ergebnisse“54 verstärken die Kritik und lassen

die Methoden unwissenschaftlicher erscheinen als quantitative. Als Gütekriterien für

die Messung erzeugter Daten nennen Berekoven, Eckert und Ellenrieder Objektivität,

Reliabilität und Validität.55 Hinsichtlich der Durchführungsobjektivität können qualita-

tive Methoden wegen zu großer „sozialer Interaktion zwischen Auskunftsperson und

Untersuchungsleiter“56 kritisiert werden, hinsichtlich der Auswertungsobjektivität

wegen mangelnder Standardisierung und hinsichtlich der Interpretationsobjektivität

wegen eines zu hohen „Freiheitsgrade[s] der Untersuchungsleiter bei der Interpretati-

on der Messergebnisse“57. In Bezug auf die Reliabilität sind inkonstante Messbedin-

gungen und mangelnde Wiederholbarkeit, in Bezug auf die Validität die fragliche

Repräsentanz qualitativer Methoden zu kritisieren.

Auch an quantitativen Umfragen kann Kritik geäußert werden: So sind bei schriftlichen

Befragungen häufig zu geringe Rücklaufquoten, Stichprobenprobleme und mangelnde

Kontrolle des Antwortvorgangs zu monieren.58 Der Gestaltung des Fragebogens

kommt daher eine wichtige Funktion zu. Berekoven u. a. betonen, dass Fragebögen

möglichst interessant, kurz, verständlich und einfach sein und daher möglichst nur

geschlossene Fragen enthalten sollten.59 Der Fragebogenaufbau solle insgesamt

möglichst spannend sein. Denn wenn Kunden selbst Interesse an einer Studie haben,

sind sie eher bereit an dieser zu partizipieren – sei es im Interview oder durch das

Ausfüllen von Fragebögen:

„Die Ausschöpfungsquote (Stichprobenumfang minus Verweigerer) ist dabei sehr themenabhängig. Wo gleich unangenehme Empfindungen i. w. S. entstehen, liegt sie u. U. bei nur 10 %, wo Interesse gegeben ist, kann sie 80 % und mehr betra-gen. Mitentscheidend für den Befragungserfolg ist deshalb die Art und Weise des Gesprächseinstiegs (Interesse wecken, Hemmungen abbauen).“60

54

Buber & Klein 2009, 56. 55

Vgl. Berekoven, Eckert & Ellenrieder 2009, 80-82. 56

Berekoven, Eckert & Ellenrieder 2009, 80. 57

Berekoven, Eckert & Ellenrieder 2009, 80. 58

Vgl. Berekoven, Eckert & Ellenrieder 2009, 110. 59

Vgl. Berekoven, Eckert & Ellenrieder 2009, 111. 60

Berekoven, Eckert & Ellenrieder 2009, 103. Diese Aussage bezieht sich auf Telefonumfragen, kann aber sicherlich auf die Mehrheit quantitativer Umfragen bezogen werden.

15

Damit weisen sie indirekt auf die Relevanz rhetorischer Mittel und Strategien wie der

virtutes elocutionis, des attentum parare in jedem Fragebogen hin. Im Internet

kommen weitere Faktoren wie Interaktivität und Schnelligkeit für Textgestaltung und

Auftritt hinzu.61

Bei der Themenfindung ist es ohnehin üblich, dass sich der Parteivorstand mit

weiteren politischen und anderen Experten unterhält, was einer qualitativen Umfrage

ähnelt. Geeignete Themen und Vorgehensweisen werden selektiert und getestet.

Diese und andere Verfahren lassen sich durch Methoden qualitativer Marktforschung

verbessern, wiewohl es auch Kritikpunkte geben mag. Eine Gruppendiskussion ist für

den Informationsgewinn hinsichtlich Argumentation, Emotionalität und Assoziationen

der Diskutanten selbst dann von Interesse, wenn zuvor genannte Gütekriterien wie

Objektivität, Reliabilität und Validität nicht eingehalten werden können. Die gewon-

nen Eindrücke können in weiteren Schritten durch quantitative Umfragen bestätigt

oder als Einzelmeinungen aufgedeckt werden.

Generell ist die Kombination (Mix) beider Verfahren nützlich und notwendig, um

sichere Ergebnisse zu erlangen. So kann innerhalb einer Fokusgruppe zunächst eine

Gruppendiskussion moderiert und im Anschluss ein Fragebogen zur Überprüfung der

Einzelmeinungen ausgefüllt werden, bevor die ermittelten Daten durch eine repräsen-

tative Umfrage überprüft werden.

Der eigentliche Wahlkampf findet nur einige Wochen vor der Wahl statt; in den

Wochen vor dem Wahlkampf müssen eigene Themen – je nach Rezeption – in der

Presse gehalten oder aus der Mediendiskussion genommen werden. Bereits Wochen

vorher müssen diese Themen parteiintern diskutiert und verabschiedet werden. Ein

gesamtes Programm muss Monate vor dem Wahltag erstellt, oftmals geändert und

angepasst, schließlich verabschiedet werden – möglichst nicht, ohne vorher ggf.

Spitzenkandidaten für die Wahl zu nominieren. Weit vor der Programmerstellung

müssen jedoch die ersten Umfragen erstellt und durchgeführt werden, um die

Ergebnisse in weiteren Umfragen zu verfeinern, zu verifizieren oder zu falsifizieren.

61

Vgl. Schmid 2007, 153-156.

16

Daher ist der Beginn einer Wahlkampagne auf eineinhalb bis zwei Jahre vor dem

Wahltag anzusetzen. In der Praxis beträgt der Planungszeitraum oft lediglich ein

halbes bis ein Jahr.62

Breitenfelder und Zeglovits teilen eine Legislaturperiode in eine Nachwahlphase, eine

Zwischenwahlphase und eine Kampagnenphase ein. Letztere betrifft die Wahlkam-

pagne von der Planung bis zum Wahltag und steht daher für diese Arbeit im Vorder-

grund. Die Marktforschung beginnt in der Kampagnenphase „mit explorativen, eher

offen und breit angelegten Forschungselementen“, um „in einem nächsten Schritt

entwickelte Hypothesen zu überprüfen und zu verfestigen“, im weiteren Verlauf

„Themen, Botschaften und Werbemittel[n]“63 zu testen, zu korrigieren usw. In einer

Übersicht stellen sie den Forschungsprozess einer Wahlkampagne dar (Abbildung 2)64.

Abbildung 2: Forschungsprozess einer Wahlkampagne nach Breitenfelder und Zeglovits

62

Vgl. Breitenfelder & Zeglovits 2009, 1104. 63

Breitenfelder & Zeglovits 2009, 1104. 64

Breitenfelder & Zeglovits 2009, 1106.

17

3.1.4 SWOT-Analyse

Neben Untersuchungen zu Wählern und Sachthemen sollten in einer Wahlkampagne

Untersuchungen zu den Kandidaten gemacht werden. In einer SWOT-Analyse werden

strengths (S), weaknesses (W), opportunities (O), und threats (T) der eigenen und der

gegnerischen Kandidaten oder Partei untersucht (Abbildung 3):65

Abbildung 3: SWOT- Analyse

Im Wesentlichen ist die SWOT-Analyse ein Instrument, um Argumente zu finden.

Dabei werden eigene Stärken für die eigene Positionierung gesucht, gegnerische

Schwächen für das negative campaigning (siehe ‎3.2.3), eigene Schwächen und

gegnerische Stärken, um Gegenargumente zu finden und argumentative Sackgassen

zu kennen. Bei jeder Kategorie kann auf bekannte rhetorische Topoi – z. B. die loci a

persona – zurückgegriffen werden:

aetas: Aus dem Alter lässt sich auf die Reife schließen.

educatio et disciplina: Aus Bildung und Werdegang lässt sich auf Kompetenz im

Amt schließen.

conditio: Die soziale Stellung einer Person, die Tatsache, dass jemand verheira-

tet ist und sich bei der Erziehung mehrerer Kinder bereits bewährt hat, ragt

gegenüber jenem Kandidaten heraus, der mehrfach geschieden ist oder nie-

mals Familie hatte.

65

Vgl. Kuster, Huber, Lippmann u. a. 2008, 347.

18

animi natura: Das Wesen einer Person kann besonders in Fernsehinterviews

Bedeutung gewinnen. Ein ruhiger, lustiger, charmanter, sachlicher, authenti-

scher, fester, schlagfertiger Charakter gewinnt erfahrungsgemäß gegenüber

einem jähzornigen, schnell aufbrausenden, missmutigen und zynischen Kandi-

daten.

ante acta dicta: Die Vorgeschichte eines Kandidaten kann große Leistungen

und Verdienste in der Vergangenheit zeigen, sie ist jedoch besonders dann

wichtig, wenn eine Negativkampagne von der Konkurrenz zu erwarten ist. Es

ist gewiss ratsam, die Vorgeschichten – wie die Schwächen – eines Kandidaten

zu kennen. Scheidungen, Steuerhinterziehungen oder Anklagen, die durch ei-

nen Vergleich schnell unter den Teppich gekehrt wurden, in den USA auch

Kriegsdienstverweigerung bzw. -umgehung – manche dieser Vorgeschichten

sollten direkt angesprochen werden, um dem Gegner wenig Angriffsfläche zu

bieten, bei manchen gilt es, Vorbereitungen zu treffen, falls die Presse über sie

berichtet bzw. Fragen stellt.

3.1.5 Zielgruppenbestimmung unter Berücksichtigung von Wählerty-

pen

Vor der Produkteinführung handelt das Marketing gemäß dem dreistufigen Schema

Segmentierung, Targeting, Positionierung (kurz: STP): Bei der Marktsegmentierung

„werden Individuen aufgrund ihrer Ähnlichkeit und/oder Identität bezüglich sozioöko-

nomischer, demografischer und psychografischer Merkmale zu möglichst homogenen

Clustern bzw. Marktsegmenten zusammengefasst.“66

Targeting (engl. für Anvisieren/Zielen) bedeutet, aus den verschiedenen homogenen

Gruppen diejenigen auszuwählen, die am ehesten auf ein Produkt ansprechen. Dies

garantiert erstens, adressatenorientiert und damit angemessen und effizient zu

handeln, da bei der vorherigen Segmentierung die Merkmale der einzelnen Gruppen

herausgearbeitet worden sind. Hinsichtlich Argumentation, Kundenservice, Gestaltung

des Produkts etc. kann auf diese Merkmale Rücksicht genommen werden. Zweitens

66

Berekoven, Eckert & Ellenrieder 2009, 213.

19

verhilft das zielgruppenorientierte Marketing, Gruppen auf unterschiedliche Weise

anzusprechen. Wenn analysiert worden ist, in welcher Gruppe welche Bedürfnisse,

Hemmungen etc. dominieren und über welche Medien diese Gruppen erreichbar sind,

kann für das gleiche Produkt unterschiedlich argumentiert werden. Eine politische

Partei bzw. ein Amtsbewerber kann durch Nutzung verschiedener Medienkanäle auf

den ersten Blick disparat scheinende Aussagen treffen und mehrere Gruppen für sich

gewinnen, ohne anderen Gruppen durch seine Botschaft unsympathisch zu werden.

Beispiel: Studenten und Erwachsene bis kommunizieren 34 häufig über Facebook,

während die Zahl der Benutzer ab einem Alter von 45 vergleichsweise gering ist.67

Wähler unter 35 können also gezielt mit Themen, die sie interessieren, auf Facebook –

und anderen Internetportalen – angesprochen werden, wobei Aspekte wie Zukunft,

Wachstum, Macht im Vordergrund stehen. Rentner dagegen können z. B. über

Seniorenbriefe erreicht werden können, wobei Aspekte der Sicherheit und Gesundheit

im Vordergrund der Argumentation stehen.

Stünde nur ein Medium zur Verfügung, müsste die Botschaft so formuliert werden,

dass Sie allen Zielgruppen gleichzeitig gerecht wird. Das erklärt, warum Parteien ihre

Programme – die an alle Schichten adressiert sind – oft „verschwommen und doppel-

deutig“68 gestalten.

Dabei ist es nicht notwendig, alle Gruppen anzusprechen. In der Wirtschaft bieten

Unternehmen wie Ferrari oder Mercedes überdurchschnittlich teure Produkte mit

überdurchschnittlichem Komfort und hoher Leistung an. Die Spezialisierung verein-

facht die Produktion und das Marketing, das sich auf die gut verdienende und

anspruchsvolle Bevölkerung beschränkt. Bündnis 90/die Grünen – als Beispiel für

politische Parteien – sprechen vor allem umweltbewusste Wähler an und propagieren

die Notwendigkeit von Umweltbewusstsein. Durch die Spezialisierung auf ein Thema

wirkt diese Partei auf ihrem Gebiet qua Ausrichtung authentischer und fachkompeten-

ter als die großen Volksparteien, die sich an die Mehrzahl der Menschen – mit all ihren

verschiedenen Ansichten und Bedürfnissen –wenden.

67

Vgl. Facebook. 68

Strohmeier 2001, 84-85.

20

Durch Marktanalysen kann eine Partei erforschen, welche Bevölkerungsgruppen sie

derzeit wählen. Sie analysiert deren politische Einstellung und Grundwerte, erstellt

eine Wählertypologie und generiert Botschaften die sich auf diese Gruppen konzent-

rieren. Die traditionellen Stammwähler jedoch reichen meist nicht, um einen Wahlsieg

zu erlangen. Auch andere Wählertypen müssen berücksichtigt werden. Diese lassen

sich nach Parteibindung und Rationalität als Wahlentscheidungsgrundlage aufteilen

(Abbildung 4)69:

Abbildung 4: Wählertypen

Der traditionale Stammwähler entscheidet nach Gewohnheit, wählt also, was er schon

immer gewählt hat oder was bereits seine Großeltern gewählt haben. Der wertratio-

nale Stammwähler entscheidet nach Werten, der zweckrationale Wechselwähler

wählt gemäß einer Kosten-Nutzen-Rechnung und der affektuelle nach emotionalen

Eindrücken.70 Die Strategie zur Gewinnung der verschiedenen Wählertypen unter-

scheidet sich entsprechend.

Während der traditionale Stammwähler beispielsweise durch ein Wir-Gefühl mobili-

siert werden kann,71 hängt die Mobilisierung des wertrationalen Stammwählers

„maßgeblich von der – am besten exklusiven – Vermittlung einschlägiger Werte,

Weltanschauungen und Verhaltensnormen in Abgrenzung zur politischen Konkurrenz

69

Strohmeier 2001, 76. 70

Vgl. Strohmeier 2001, 77. 71

Vgl. Strohmeier 2001, 79.

21

ab.“72 Dies geschieht am besten durch Feindbildkreation: „Wertrationale Stammwäh-

ler können insbesondere dann mobilisiert werden, ‚wenn sie gegen eine Welt voll

Teufel kämpfen‘.“73 Oppositivität als Mobilisierungsfaktor stellt somit eine essentielle

rhetorische Kategorie für den Wahlkampf dar. Unter den Wechselwählern wiederum

sind die zweckrationalen durch pragmatische Kompetenzvermittlung, die affektuellen

durch personalisierten Wahlkampf zu gewinnen.74 Letztere stellen – laut Strohmeier –

die „wichtigste Zielgruppe für moderne Wahlkampagnen“75 dar.

3.2 Bestimmung der Kampagnenart

Der Begriff Kampagne wird nicht einheitlich verwendet. Wahlkampagne wird in dieser

Arbeit als Umfang aller Maßnahmen von der Zielsetzung und strategischen Ausrich-

tung bis zum Wahltag definiert. Im Folgenden werde drei strategische Grundausrich-

tungen einer politischen Kampagne behandelt.

3.2.1 Fortführungskampagne

Wenn eine Partei aktuell regiert, ist ihr Ziel im Wahlkampf die Fortführung des Status

quo. Sie muss daher positive Aspekte und Errungenschaften der momentanen

Legislaturperiode hervorheben, muss unterstreichen, unter wie viel Druck und Last sie

gelegen und dennoch Deutschland gestärkt aus der Krise gesteuert hat. Im Falle einer

Koalition müssen naturgemäß diejenigen Entscheidungen hervorgehoben werden, die

die eigene Partei innerhalb der Koalition gegen Widerstand der Koalitionspartner

durchgesetzt hat, um sich von ihnen abzugrenzen, da sie bei der Wahl konkurrieren

werden. Der Vorteil der regierenden Parteien besteht in ihren zahlreichen Aktivitäten,

im Rahmen derer die Presse über sie berichtet: Gesetzesbeschlüsse, Besuche bei

bedeutenden Politikern im Ausland, Konferenzen, Reformen.

72

Strohmeier 2001, 80. 73

Strohmeier 2001, 80. 74

Vgl. Strohmeier 2001, 79. 75

Strohmeier 2001, 81.

22

3.2.2 Wechselkampagne

Eine Oppositionspartei sucht die Änderung des Status quo, sie will den Wechsel, will

selbst an die Macht. Daher wird sie versuchen, Schwachstellen und Kritikpunkte an

allen Reformen, Gesetzesbeschlüssen und -vorhaben zu finden. Vorhaben der

Regierung werden als Aktionismus deklariert, Maßnahmen als Schießen mit Kanonen

auf Spatzen stigmatisiert, die Politik als Politik für Reiche diskreditiert; sollte die

Regierung einmal etwas richtig machen, geschehe dies entweder viel zu spät oder es

gehe nicht weit genug – zumindest aber habe die Opposition das geplante Vorhaben

schon vor langer Zeit vorgeschlagen. Der Wahlkampf der Oppositionspartei beginnt

damit schon ab Antritt der Regierung. Der Vorteil in dieser Position ist deutlich:

Kritisieren ist immer leichter als eigene Vorschläge zu machen.

Obama ist das wahrscheinlich berühmteste und erfolgreichste Beispiel einer Wechsel-

kampagne. Seine Kritik am System der Machthaber von dort oben in Washington und

sein ständiger Ruf nach change, der eine Masse von Helfern mobilisiert hat, ist ein

gutes Beispiel nicht nur für professionell geführten Wahlkampf. Obamas Kampagne

verdeutlicht auch die Oppositivität des politischen Diskurses, die Erzeugung eines

Feindbildes und die Mobilisation der Unterstützer durch Schaffung eines Wir-Gefühls.

3.2.3 Negativkampagne

Um einen viel diskutierten Teil der Wahlkampfführung nicht auszulassen, sollen

Negativkampagnen kurz erwähnt werden. Diese Schmutzkampagnen, die in den USA

sehr viel prominenter sind als in Deutschland, zielen auf die Herabsetzung des

Gegners. Schulz bezeichnet das negative campaigning als „eine Strategie […], die

darauf abstellt, die Schwächen der Mitbewerber herauszustellen, ihre Ziele und

eventuell auch ihre Person zu diskreditieren oder herabzusetzen.“76 Die Argumentati-

onsweise dieser Strategie entspricht dem argumentum ad hominem in der Rhetorik.

Die rhetorische Grundkonstellation – parteilicher Redner, Kontrahent und entschei-

dungsmächtiger Adressat (siehe ‎2.1) – fördert das negative campaigning als verstärk-

ten oppositiven Diskurs, der der Demokratie als Kontrollfunktion dient.

76

Schulz 2008, 255.

23

In den USA gibt es Menschen, die Schmutzkampagnen in dem Sinne wörtlich führen,

dass sie in den Mülltonnen der politischen Gegner wühlen, um nutzbares Material für

die eigene Partei zu finden. Varoga und Rice nennen sie dumpster divers (engl. für

Müllcontainertaucher):

„Dumpster divers are the midnight marauders who take their opponent’s trash and go through it after it has been thrown away. Their activity falls into the cate-gory of ‚legal but stupid‘ – legal because voters hate campaigns that get down (lit-erally) in the gutter. […] Their Holy Grail is finding a discarded memo or candidate schedule or some elusive campaign secret that will turn the entire elec-tion to their candidate.“77

Wie weit verbreitet diese Praxis in Deutschland ist, ist nicht bekannt. Offen ist auch,

inwieweit die Presse oder gegnerische Parteien Themen wie Spendenaffären oder

Dienstfahrten ins Ausland antreiben; denn einerseits profitieren politische Parteien

von der schlechten Presse der Opponenten – beispielsweise, wenn sie als selbster-

nannte Moralapostel erklären, dass eine Handlung oder ein bestimmter Politiker

untragbar sei –, andererseits verschlechtern wochenlang in der Presse thematisierte

Fehler von einzelnen Politikern das Bild der Politik insgesamt. Auf ein sich verschlech-

terndes Bild der Politik weist eine Statistik hin, in der 61 % der Befragten im Jahr 2009

angaben, sie hielten Politiker für keine moralischen Vorbilder – ein Zuwachs von 19 %

gegenüber 2002.78 Die Presse hingegen profitiert von den Schlagzeilen, die das

Interesse der Bevölkerung verstärken und somit ihren Absatz erhöht.

Althaus definiert eine Wahlkampagne als kommunikativen Feldzug, der „geplant

Aufmerksamkeit erregen, eine einheitliche Botschaft in Wort und Bild in kurzer Zeit

auf den Markt bringen“79 muss. Wie diese Botschaft entwickelt und anschließend

vermarktet wird, soll nun paradigmatisch dargestellt werden.

3.3 Entwicklung der Botschaft

Die Entwicklung der Botschaft bzw. message ist wesentliches Ziel aller Bemühungen

im Wahlkampf. Die Botschaft ist der zentrale Gedanke, den es dem Wähler zu

kommunizieren gilt. Die Botschaft muss die Verbindung zum Wähler aufbauen, zu

77

Varoga & Rice 1999, 245. 78

Vgl. Stiftung fürZukunftsfragen. 79

Althaus 2002, 115.

24

seinen Sorgen und Ängsten, zu seinen Wünschen und Bedürfnissen; sie begründet

idealerweise nachdrücklich, warum der Wähler eine Partei – und nur diese eine –

wählen muss. Dazu muss sich die Botschaft einer Partei von den Mitbewerbern

abgrenzen und die zentralen zwei Fragen eines Wählers beantworten: Warum sollte

ich wählen gehen? Wen sollte ich wählen?80

In der Botschaftsentwicklung fließen die aus der Marktanalyse gewonnen Informatio-

nen zusammen. Die jeweiligen Zielgruppen werden mit heteromorphen Aussagen,

Wahlslogans und Wahlversprechen adressiert, die zusammen in der Botschaft als

Quintessenz konvergieren. Die in zentralen Aussagen ausformulierte Botschaft muss

verständlich, kontrastierend, emotional, ausgeschmückt, überzeugend, angemessen

und ebenso ansprechend sein (siehe ‎3.4‎3.4). Die Botschaft kann auf sachlicher oder

persönlicher Ebene kommuniziert werden, wobei die Personalisierung der Botschaften

zunimmt.

3.3.1 Sachliche Botschaften in der themenzentrierten Kampagne

Auf sachlicher Ebene spricht die Botschaft die ratio der Wähler an. Der Wähler muss

verstehen, wofür eine Partei steht, was ihre Ziele und Wahlversprechen sind. Wertra-

tionale Stammwähler werden durch sachliche Themen in ihrer Einstellung und damit

in ihrer Parteibindung bestätigt, zweckrationale Wechselwähler werden auf rationaler

Ebene überzeugt. Die Ansicht der Partei zu Themen wie Sicherheit, Freiheit, Arbeit,

Familie und Innovationen steht im Vordergrund.

Als sachliche Themen eignen sich besonders Nischenthemen, d. h. Themen, deren

Problematik unbestritten ist, für die es in der Gesellschaft jedoch keine Lobby gibt.

Wichtig ist dabei – zumindest bei einem marketingorientierten Ansatz –, dass der

Wurm dem Fisch schmecken muss, nicht dem Angler. So sollte eine Partei keine

intellektuell anspruchsvollen Botschaften generieren, die ihre potentiellen Wähler

überfordert.

80

Vgl. Althaus 2002, 123.

25

Abbildung 5: Wahlplakat der Grünen

Beispiel: Die Wähler der CDU setzen sich vor allem aus

älteren und mittelgebildeten Menschen zusammen, die

Wähler der Grünen dagegen sind vorrangig mittleren Alters

und höhergebildet.81 Daher können sich die Grünen ein

Plakat wie in Abbildung 582 erlauben. Es spielt auf den

Sicherheitswahn des damaligen Innenministers Schäuble an,

auf eine Kernauseinandersetzung zwischen Freiheit und

Sicherheit an. Die Gestik Schäubles ähnelt dabei der Gestik

von Uncle Sam (I want You in the Army). Die Zusammen-

hänge, die ein Wähler nachvollziehen muss, sind für das

Zielpublikum der Grünen angemessen; für die CDU hinge-

gen eignen sich einfache Schlagworte wie Wir haben die

Kraft (Abbildung 6)83.

Themen und Botschaften orientieren sich an den Wählern.

Auch werden Themen, die eigentlich nicht aktuell sind,

inszeniert und künstlich ins Gespräch gebracht, um den

Schein der Notwendigkeit einer Debatte in einem Bereich zu

erzielen, in dem man kompetent auftreten und in dem man

Kritikpunkte und Lösungsvorschläge für vermeintliche Probleme nennen kann.84

3.3.2 Persönliche Botschaften in der personalisierten Kampagne

Die Personalisierung der Botschaft ist keine Erfindung der Neuzeit. Schon in der Antike

waren der persönliche Kontakt zu Wählern und Multiplikatoren wichtig und die

Botschaft auf die Person ausgerichtet. Bewerber auf das römische Konsulat wurden

von einer Schar berühmter und angesehener Bürger zum Forum begleitet. Diese

dienten ihnen gewissermaßen als Claqueure, sodass das Volk – durch die Inszenierung

beeindruckt – ähnlich überzeugt wurde wie viele Wähler heute durch Auftritte von

Schauspielern bei Wahlveranstaltungen in den USA. Doch nicht nur eine solche

81

Vgl. Bundesministerium für politische Bildung a; Bundesministerium für politische Bildung b. 82

Bündnis 90/Die Grünen. 83

CDU. 84

Vgl. Kuhn 2007, 200.

Abbildung 6: Wahlplakat der CDU

26

Testimonialwerbung85, die Zeugnisse von außenstehenden Personen benötigt, wird

eingesetzt. Die Kandidaten selbst werden heute in der Presse inszeniert. Beliebte

Politiker wie der amtierende Verteidigungsminister zu Guttenberg treten auf Veran-

staltungen wie Podiumsdiskussionen, Gebäudeeinweihungen, Betriebsbesichtigungen,

in TV-Interviews und Talkshows auf, repräsentieren ihre Partei, fassen wesentliche

Forderungen, Versprechen und Kritikpunkte in Umgangssprache zusammen und

machen somit abstrakte Politik für die Mehrheit der Wähler greifbar.86

In heutigen Wahlen geht es für den Wähler oft nicht um große ideologische Themen

wie Freiheit statt Sozialismus, sondern um die Frage Schröder oder Stoiber, Koch oder

Ypsilanti. Obama gelang es, seine Person mit seiner Botschaft change zu verbinden.

Sein Wahlslogan Yes, We Can ist heute so eng mit ihm verbunden wie das Wirt-

schaftswunder mit Ludwig Erhard oder die deutsche Wiedervereinigung mit Helmut

Kohl.

Der Personenwahlkampf wird umso wichtiger, je gleicher die Parteipolitik den

Wählern scheint. Manche Parteien gestalten ihre Programme absichtlich diffus, um

ein irrationales Wahlverhalten – wie die Persönlichkeitswahl oder die Nachfolge

traditioneller Wahlgewohnheiten – zu fördern.87

Im Folgenden sollen strategische Überlegungen und die Botschaft des NRW-

Wahlkampfes 2009 beispielhaft betrachtet werden. Er dient auch als Beispiel für eine

Negativkampagne.

3.3.3 Beispiel einer Botschaftsentwicklung im CDU-Wahlkampf in

Nordrhein-Westfalen 2010

Die NRW-CDU hatte für den Landtagswahlkampf eine Negativkampagne geplant. Sie

betrieb in der Wahl eine Strategie der asymmetrischen Demobilisierung.88 Man

rechnete mit vier Millionen potentiellen CDU- und sechs Millionen potentiellen SPD-

85

Vgl. Butter, Fuchs & Srnka 2002, 235. 86

Vgl. Butter, Fuchs & Srnka 2002, 235. 87

Vgl. Strohmeier 2001, 84-85; Kuhn 2007, 200. 88

Die folgenden Informationen entstammen einem Workshop der Konrad-Adenauer-Stiftung am 21. Januar 2010. Matthias Heidmeier, damaliger Leiter von Presse, Politik und Kommunikation der CDU in NRW äußerte sich dort bereits vor der Landtagswahl zu strategischen Überlegungen für NRW.

27

Wählern. Da die Wahl somit selbst bei einer totalen Mobilisierung der potentiellen

Wählerschaft nicht leicht hätte gewonnen werden können, setzte man darauf, die

Wählerschaft der SPD von der Wahl abzubringen, sie zu demobilisieren. Asymmetrisch

heißt, dafür zu sorgen, dass möglichst wenige SPD-, dagegen möglichst viele CDU-

Wähler zur Wahl gingen. Die Botschaft wurde daher in mehreren Schritten entwickelt:

1. Die Politik des damaligen Ministerpräsidenten Rüttgers wurde als sozial gerecht

apostrophiert und diese Kennzeichnung immer wieder betont. Es sollte sachliche

Nähe zu dem SPD-Fahnenwort Soziale Gerechtigkeit hergestellt werden, indem die

Politik der neuen Sicherheit als CDU-Begriff etabliert wurde. Begriffe wie Rentenabsi-

cherung im Kontrast zur alten (Staats-)Sicherheit, Eigeninitiative, Verlässlichkeit,

Planbarkeit, Zuverdienstmöglichkeiten, Arbeitslosengeldversicherung sollten in den

Medien gestreut werden. Da unter den sechs Millionen potentiellen SPD-Wählern vor

allem traditionale Stammwähler vermutet wurden, würden diese zwar nicht über-

zeugt, die CDU zu wählen, zumindest aber – so das Kalkül – würden sie überzeugt,

dass es nicht schlimm wäre, wenn die CDU an die Macht käme, da sie nichts anderes

täte als die SPD auch.

Auf persönlicher Ebene sollte Rüttgers als kompetent, sozial gerecht und nahe an den

Menschen erscheinen. Dafür sollte eine parteiungebundene Zuhörerfragetour

durchgeführt werden – ähnlich machte es Stefan Mappus Anfang September 2010 in

Baden-Württemberg.

2. Um die Negativkampagne der Opposition in Schach zu halten, sollte häufig betont

werden, was in der vergangenen Legislaturperiode erreicht worden war: 50 % weniger

Unterrichtsausfall, 8 000 neue Lehrer etc.

3. Um die SPD-Wähler zu demobilisieren wurde direkt und indirekt vor Rot-Rot

gewarnt. Dazu wurde zum einen die Inkompetenz der Linken in NRW betont, zum

anderen darauf hingewiesen, dass die SPD nur zusammen mit den Linken an die

Macht käme. Die noch nötige Prämisse für die Schlussfolgerung, dass die SPD mit den

Linken zusammenarbeiten würde, die Wahl der SPD das Land demnach ins Chaos

stürzen würde, war der stete Verweis auf Ypsilanti in Hessen, die ihr Wahlversprechen

28

nicht hielt und mit den Linken zusammenarbeiten

wollte (Abbildung 7)89.

Zu kommunizierende Gedanken waren, die CDU

stehe für die Einheit der Gesellschaft, für den

Ausgleich zwischen vernünftiger Wirtschaftspolitik

und sozialer Gerechtigkeit, für Stabilität mit Jürgen

Rüttgers statt Chaos mit Rot-Rot. Die Botschaft war:

NRW muss stabil bleiben.

Hinsichtlich der asymmetrischen Demobilisierung

hat es innerhalb der CDU Kritik gegeben. Kürzlich

kritisierte Stefan Mappus als amtierender Ministerpräsident in Baden-Württemberg,

manche Parteifreunde hätten den einschläfernden Bundestagswahlkampf mit eben

dieser Strategie gerechtfertigt. Den negativen „Nebeneffekt, dass auch die eigenen

Leute zu Hause geblieben sind“90 bezeichnet Mappus als „eine symmetrische Demobi-

lisierung“91.

3.4 Vermarktung der Botschaft

Sind die Wählergruppen segmentiert, die Zielgruppen ausgewählt und die Botschaft

auf deren Bedürfnisse hin differenziert ausgearbeitet, muss diese Botschaft schließlich

vermarktet werden. Für die Vermarktung der Botschaft können als Medien – definiert

als „Einrichtung zum Speichern und Senden von Texten“92 – das Fernsehen, das Radio,

das Internet, Plakate, Briefe, aber auch die Parteimitglieder, die auf der Straße Rede

und Antwort stehen, genutzt werden. Für die Vermarktung müssen Parteien ihre

Mitglieder motivieren und schulen, Spenden für die Kampagne sammeln und ihre

Zielgruppen durch verschiedene Medien ansprechen (vgl. ‎3.1.5).

Die politische Rede stellt ein wirksames Instrument für Wahlkämpfe dar. Sie verdeut-

licht das Potential einer Zusammenarbeit von Rhetorik und Marketing. Die Rhetorik

89

NGZ online. 90

Muschel 2010. 91

Muschel 2010. 92

Knape 2005, 22.

Abbildung 7: CDU Wahlplakat im NRW-Landtagswahlkampf 2010

29

ermöglicht Politikern, in Wahlreden „das klassische Spektrum politischer Argumenta-

tionstopik [zu] entfalten: Sachverhalte skizzieren und bewerten, Prinzipien, Werte und

die ganz großen Ziele (<Visionen>) beschwören und die Handlungskonsequenzen

daraus propagieren.“93

Mittels Marktanalysen, Berücksichtigung des settings etc. kann der Redner bzw.

Redenschreiber ein Adressatenkalkül erstellen und eine angemessene Rede konzipie-

ren. Um den Erfolg der Rede nicht Fortuna zu überlassen, kann sie in Form eines

Video- oder Tonbandes Fokusgruppen oder einzelnen Personen, die dem zukünftigen

Publikum entsprechen, vorgespielt werden. Diese sollen die Rede kontinuierlich

bewerten, indem sie ihre Meinung durch Drücken von Knöpfen auf einer Skala von

sehr positiv bis sehr negativ kundtun. Ein Abgleich der ermittelten Daten zeigt, welche

Aussagen, Witze, Stilfiguren etc. dem Publikum gefallen werden und welche Passagen

verbessert werden müssen.

3.4.1 Moderne Vermarktungsmethoden

Die Schwierigkeit bei der Vermarktung der Botschaft besteht jedoch nicht nur in der

Wahl geeigneter Medien, sondern auch in der Weise, wie die Wahlwerbung platziert

wird. Ca. 33 Prozent der Bevölkerung in Deutschland interessiert sich für Politik.94

Strohmeier spricht von einer „marginalen politischen“ Elite von Politikinteressierten,

die aus zweckrationalen und wertrationalen Wählern bestehe.95 Folglich haben über

drei Viertel der Bevölkerung wenig oder kein Interesse an Politik und müssen in

besonderem Maße geworben werden. Gleichzeitig ist „die Werbedichte […] so

gewaltig, dass jeder Konsument pro Tag mit 2 500 bis 5 000 Werbebotschaften

konfrontiert wird.“96 Daher ist die Wirksamkeit von einfachen Plakaten – diese und

andere Printmedien werden in den USA für Wahlkampf kaum genutzt –97 und die mit

ihr verbundene Hoffnung, die bloße Wiederholung der Botschaft bewirke Wunder,

fraglich.

93

Klein 2009, Sp. 1259. 94

Vgl. Althaus 2002, 120; Statista. Der Erhebungsraum der Statista-Umfrage liegt im Jahr 2008. 95

Strohmeier 2001, 81. 96

Langner 2009, 13. 97

Vgl. Filzmaier & Plasser 2005, 95.

30

Aus diesem Grund werden innovative Vermarktungsmethoden wie Guerilla Marke-

ting, Viral Marketing, Ambient Marketing, Sensation Marketing und Ambush oder

Flashmob Marketing bedeutender. Diese suchen die schwindende Aufmerksamkeit

der Konsumenten – hier: der Wähler – wiederzugewinnen. Sie sind „unkonventionell,

überraschend, originell/kreativ, frech/provokant, kostengünstig/effektiv, flexibel,

ungewöhnlich/untypisch, witzig, spektakulär, ansteckend“98.

Werbebotschaften werden bei diesen Vermarktungsmethoden „klassisch über Mund-

zu-Mund-Propaganda, über mobile Dienste (wie SMS, MMS und Bluetooth), E-Mail-

Weiterleitungen oder -Empfehlungen, Tell-A-Friend Buttons im Internet, Chat-,

Forum- oder Blog-Attacken, über Portale und soziale Netzwerke (wie z. B. YouTube,

Facebook etc.)“99 gestreut.

Die Vertrauenswürdigkeit von Botschaften wird dadurch gesteigert, dass die Botschaf-

ten vor allem innerhalb freundschaftlicher oder familiärer Beziehungen weitergege-

ben werden;100 sie steigern die Aufmerksamkeit, indem sie durch „ein unglaubliches

Gerücht, eine spannende Geschichte oder ein[en] abgefahrenen Werbespot“101 die

Neugier der Masse ansprechen.

Langner konstatiert, dass der potenzielle Käufer nicht „auf die Empfehlung der

Werbung, auf die liebevoll gestalteten und durchdachten Verkaufsargumente“102

vertraue; diese seien ihm „zu kommerziell, zu austauschbar, zu komplex, zu insze-

niert.“103 Gerade in der Rhetorik kann dieses Argument leicht verstanden werden.

Aufgrund des Verdachts, man manipuliere die Adressaten, heißt es in der Rhetorik:

Ars est artem cellare (frei übersetzt: Die Kunst besteht darin, die Kunst zu verbergen).

Unternehmen oder Parteien initiieren Maßnahmen, indem sie z. B. ein unterhaltsames

Werbevideo auf YouTube stellen und den Link an Kunden bzw. Mitglieder versenden.

Der Prozess wird durch die Adressaten untereinander fortgesetzt, indem sie den

98

Nufer & Bender 2008, 5. 99

Nufer & Bender 2008, 14. 100

Vgl. Nufer & Bender 2008, 14. 101

Langner 2009, 31. 102

Langner 2009, 15. 103

Langner 2009, 15.

31

Videolink an Freunde schicken. Dadurch umgehen moderne Marketingtechniken das

Problem, dass sich Kunden manipuliert fühlen. Freunde – nicht Personen, die auf der

Gehaltsliste der jeweiligen Unternehmen stehen – werben Kunden, ohne es zu wissen.

Im Vordergrund solcher Kampagnen stehen Vergnügen, Unterhaltung, Neuartigkeit,

Einzigartigkeit, außergewöhnliche Nützlichkeit, die kostenlose Bereitstellung sowie die

einfache Übertragbarkeit bspw. von Add-Ons, Demoversionen von Software und

Videos.

Natürlich muss beim Wahlkampf berücksichtigt werden, dass sich das Ausmaß der

Vermarktungsmöglichkeiten je nach Wahlebene, finanziellen und personellen

Ressourcen stark unterscheidet. Gerade neue Marketingmethoden wie Viral Marke-

ting bieten jedoch die Möglichkeit, günstig zu werben. Diese Methoden verbessern

natürliche und lang angewandte Methoden. Bereits vor einem Jahrhundert gab es

sicherlich Mundpropaganda. Diese jedoch gezielt auszulösen und über das Internet –

zumindest teilweise – zu kontrollieren, bedarf einer größeren Planung und Expertise.

3.4.2 Beispiel einer viralen Marketingkampagne im Wahlkampf

Barack Obamas:

Um Interessierte durch Newsletter informieren zu können, erbat Obama auf seiner

Kampagnen-Homepage die E-Mail-Adresse und Postleizahl. Da die Daten schnell und

unkompliziert eingegeben werden konnten, waren viele Wähler bereit, ihre Daten

preiszugeben. Den eigenen E-Mail-Versand optimierte Obama104, indem er ihn an die

Internetaktivität und Freizeitgewohnheiten der Adressaten anpasste.

Auf diese Strategie führen Nufer und Schattner zurück, dass Obama während des

Wahlkampfs über 13 Millionen E-Mail-Adressen sammelte, sein Konkurrent Kerry vier

Jahre zuvor lediglich drei Millionen.105 „Erreicht eine E-Mail den Empfänger in dieser

[den Adressatengewohnheiten angepassten] Zeitspanne, ist die Wahrscheinlichkeit

104

Wiewohl Obama seinen Wahlkampf wohl wesentlich durch ein Wahlkampfteam führen ließ, seine Website nicht selbst schrieb etc., wird er als Verantwortlicher in diesem Abschnitt als Subjekt verwendet. 105

Vgl. Vargas.

32

groß, dass der Nutzer sich mit der Nachricht beschäftigt und diese an Freunde und

Bekannte weiterleitet.“106

Auch gebrauchte er SMS mit der „virale[n] Aufforderung ‚please forward this messa-

ge‘“107, um die potentiellen Wähler zur Verbreitung des Inhalts anzuregen. Der Vorteil

der SMS besteht darin, dass sie einen Großteil der Bevölkerung erreichen kann, wobei

die Nachricht noch schneller gelesen wird als bei E-Mails, da die Mehrheit der

Handybesitzer ihr Handy stets bei sich trägt und SMS unmittelbar nach Erhalt liest.108

Gleichzeitig nutzte Obama Incentives (Anreize), über die Newsletter-Abonnenten stets

als erste erfuhren, sowie Internetplattformen wie MySpace, Twitter, Facebook oder

YouTube. Dabei war er seinen Konkurrenten McCain und Clinton um ein Vielfaches an

Freunden voraus.109

4 Kritische Betrachtung der professionellen Wahl-kampfführung

Professioneller Wahlkampf – wie er heute geführt und in dieser Arbeit paradigmatisch

behandelt wird – bietet für die Rhetorik neue Einsichten in Bezug auf Adressatenkalkül

sowie auf Entwicklung und Vermarktung einer Botschaft. Hinsichtlich der Folgen auf

die Entwicklung der Demokratie gibt es indessen Kritikpunkte:

Professionelle Wahlkämpfe kosten sehr viel Geld und Arbeitszeit. Im Wetteifer der

Parteien übersteigen die Ausgaben für Medien und Mobilisierung von Helfern (grass

root campaigning) in den USA mittlerweile Milliardenbeträge. In Deutschland ist ein

ähnliches Wettrüsten der Professionalität zu befürchten. Dabei stellt sich die Frage, ob

stetig steigende Professionalität und die mit ihr einhergehenden Kosten wirklich

notwendig sind. Erhöht sich die Wahlbeteiligung langfristig durch die Milliardenausga-

ben der Parteien und Kandidaten oder gewöhnen sich Wähler an die zunehmende

Professionalität und stumpfen ab?

106

Nufer & Schattner 2010, 11. 107

Nufer & Schattner 2010, 12. 108

Vgl. Nufer & Schattner 2010, 12. 109

Vgl. Nufer & Schattner 2010, 13.

33

Kuhn weist auf den Mangel an Kritik hinsichtlich dieser Folgen hin und beanstandet,

dass sich selbst einschlägige Kampagnenliteratur lediglich mit den aktuellen Metho-

den auseinandersetze oder der Selbstdarstellung professioneller Politikberater

diene.110

5 Bedeutung des Marketing für die Rhetorik

Die Rhetorik als ars persuadendi muss sich in der heutigen Zeit fachübergreifender

Methoden bedienen, wenn sie ihr persuasives Potential ausschöpfen will. Die theore-

tischen Kenntnisse, die der Rhetorik seit der Antike vorliegen, wurden durch empiri-

sche Beobachtungen formuliert. Dabei gilt mit Knape zu hinterfragen, „wie begrenzt

uns heute der theoretische Horizont jener Zeit vorkommt.“111

Gewiss hat die Farbbeutelrede Fischers den Turning Point des Tages ausgemacht;

sicherlich war die Bedeutung der Rede Obamas in Kairo (Juni 2009) für die Versöh-

nung der muslimisch-arabischen Welt mit den USA groß; noch bedeutender waren die

Reden Obamas während seines Wahlkampfs für seinen Wahlsieg. Der Rhetorik ist im

Wahlkampf bei politischen Reden und bei der Gestaltung von Botschaften eine

wichtige Rolle beizumessen. Gerade hier sind die rhetorischen modi Logos, Ethos,

Pathos wichtig. Das Ethos der Spitzenkandidaten, die Förderung des Parteiimage

durch Werben (conciliare) und Unterhalten (delectare) in vielen Medien, die Argu-

mentation auf rationaler wie irrationaler Ebene sowie das Erreichen der Wählerschaft

durch Emotionalisierung – dies alles liegt im Kernbereich der Rhetorik. Mit dem Appell

an Sicherheit und Gerechtigkeit, an Ängste und andere Emotionen erzeugt sie im

Wähler ein Bewusstsein für Gefahren, für die notwendigen Änderungen in der

Familienpolitik etc. Insofern wirkt die Rhetorik als wirklichkeitskonstituierende Größe.

Rede- und Überzeugungskraft sowie Charisma und gute Ideen müssen jedoch von

einer medienwirksamen Kampagne begleitet werden, wenn sie aus der Masse an

Gegen- und Nebenwerbung hervorstechen wollen. Die moderne Rhetorik muss sich

öffnen: für Marketingmethoden, für empirische Analysen und für die Vorgehensweise,

110

Vgl. Kuhn 2007, 39-40. 111

Knape 2005, 22.

34

aus Statistiken und qualitativen Analysemethoden wie den Focus Groups Botschaften

zu entwickeln. Denn nur durch solche Methoden ist es möglich, ein empirisches und

damit sicheres Adressatenkalkül zu erstellen und den Erfolg einer Rede nicht dem

ingenium des Orators zu überlassen. Mit den Erkenntnissen aus der Marktforschung

kann ein „Desiderat“ der Rhetorik- und Medienforschung, nämlich die Antwort auf die

Frage, „was Medien als Medien leisten, welches ihrer Leistungsprofile sich für welche

kommunikativen Ziele eignet“112 und die damit verbundenen „prognoseartige[n]

Aussagen über […] die Effizienz bestimmter Medien“113 durch die in dieser Arbeit

lediglich exemplarisch behandelten Marketingmethoden zumindest teilweise erfüllt

werden. Eine wichtige Kommunikationsfrage kann mit empirischen Mitteln situations-

spezifisch beantwortet werden: Was muss wer vor wem wie durch welche Medien

kommunizieren, um zu überzeugen?

112

Knape 2005, 38. 113

Knape 2005, 39.

35

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