Widerstand als Ereignis. Der Märtyrer als Beispiel für einen nicht-intentionalen,...
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Erschienen in: Julian Junk/Christian Volk (Hg.): Macht und Widerstand in der globalen Politik, Nomos Baden-‐Baden 2013.
Philipp Wüschner
Widerstand als Ereignis?
Der Märtyrer als Beispiel für einen nicht-intentionalen, nicht-subjektiven
Widerstandsbegriff
1. Einleitung
Was könnte eine theologisch-philosophische Beschäftigung mit dem Märtyrer für die
Politikwissenschaft leisten? Nichts, sofern nicht die theologisch-philosophische Seite des
Märtyrers in ihrer politischen Wirksamkeit selbst dabei zur Sprache kommt. Dann aber, so die
hier leitende Vermutung, könnte der Märtyrer als Beispiel für eine Form des Widerstands
firmieren, der weder die schwierige Kategorie des intentionalen Handelns, noch den
dazugehörigen subjektiven Akteur voraussetzt. Ein solcher nicht-intentionaler, nicht-
subjektiver Widerstandsbegriff erhebt keinen Anspruch auf ubiquitäre Gültigkeit, könnte aber
einen Zugang zu einer Dimension der Macht eröffnen, welche den sozialen und politischen
Wissenschaften in der Regel versperrt bleibt, und den ich in Anschluss an Michel Foucault
Mikrophysik der Macht nenne. Von hier aus ließe sich dann im besten Fall eine Erklärung
finden für die unwahrscheinliche Wirkung singulärer und lokal begrenzter Ereignisse auf
komplexe und globale Vorgänge.
Der Märtyrer ist immer Doppelgestalt: Heiliger und Ketzer, Erlöster und Verlorener, Retter
und Terrorist. Die symbolische Wucht seines Aktes und die gelegentlich wörtlich zu
verstehenden Sprengkraft machen ihn zum Objekt der Fiktion und Legenden.1 Es wundert
daher nicht, dass er aktuell außer in der Theologie hauptsächlich in der Literatur- und
Kulturwissenschaft (Weigel 2007) diskutiert wird, obwohl die nicht lange zurückliegenden
Ereignisse des arabischen Frühlings die politische Bedeutung von Martyrien eindrücklich vor
Augen führten. Die Kultur- und Literaturwissenschaften, denen die Wirkmächtigkeit des
Fiktiven und Symbolischen nicht fremd ist, kommen zu Ergebnissen, die auch für die
Politikwissenschaft systematisch von Belang sein könnten – deren Transfer bisher aber
1 Siehe auch: Wüschner (2011).
ausbleibt. Umgekehrt finden sich in den Veröffentlichungen der politischen Philosophie,
unter die sich der hiesige Artikel einordnet, kaum Nennenswertes zum Märtyrer jenseits der
Debatte um Terrorismus und Fundamentalismus, die aber bisweilen (Trimondi/Trimondi
2006) im hier vertretenen Sinn geführt wird. Das Anliegen dieser Untersuchung ist es also,
den Märtyrer als eine Figur zu zeigen, anhand welcher wir die erklärungsbedürftigen
Auswirkungen raum-zeitlich begrenzter Ereignisse und individueller Taten von
Einzelpersonen auf die Makroebene der politischen Wirklichkeit diskutieren können. Dies
wird dann erfolgreich gelingen, wenn sich die Sozial- und Politikwissenschaften nicht
scheuen, auf theologische und philosophische Begriffe zurückzugreifen und diese
weiterzudenken. Soziologische (Riddle 1931), historische (Bowersock 2002), und
psychologische (Schmidbauer 2003) Deutungen der Märtyrerfigur fehlen zwar nicht – aber
auch sie verfehlen zumeist den hiesigen Punkt, indem sie den symbolischen Anspruch des
Martyriums, sei er vom Märtyrer selbst festgehalten oder ihm nachträglich zugesprochen,
nicht als politisch wirksam beschreiben, sondern als Pathologie oder soziale und historische
Konstruktionen rational auflösen. Das Martyrium als politischer Akt (des Widerstandes) wird
dabei kaum diskutiert und allenfalls unter den Kategorien des Opferdiskurses auf der einen
und des fundamentalen Terrorismus (Türcke 2003: Vorwort und Kap. 1) auf der anderen
theoretisch gefasst. Eine Ausnahme bildet hier die Juli-Ausgabe der Zeitschrift für politische
Theologie, Wort und Antwort von 2011. Wenn im Folgenden von Widerstand die Rede ist, so
orientiert sich der Begriff an der anhaltenden Debatte um den Foucaultschen
Widerstandsbegriff, wie er etwa in den Sammelbänden von Daniel Hechler und Axel Philipps
(Hechler/Philipp 2008) oder von Axel Honneth und Martin Saar (Honneth/Saar 2003)
diskutiert wird. Auf andere, möglicherweise konkretere, Auffassungen von Widerstand wird
dabei nicht eingegangen. Der festgestellte Mangel an anschlussfähiger Literatur ist jedoch
keine Kritik an der Methode oder den Ergebnissen der genannten Wissenschaften, sondern
lediglich ein Hinweis, dass es einen Unterschied darstellt, ob man den symbolischen Gehalt
des Märtyrers zum Explanandum oder zum Explanans der Auseinandersetzung macht. Eine
Untersuchung, die, wie hier, das Letztere in Angriff nimmt, kommt dabei um begriffliche
Rückgriffe auf die Theologie(n)2 nicht herum. In diesem Rückgriff und nach einem Plädoyer
für eine offene Märtyrerdefinition (Abschnitt 2) soll die Figur des Märtyrers, die sich nicht in
Opferfigur und Terrorist auflösen lässt, skizziert werden: erstens in ihrem Verhältnis zum
2 Die Anwendung christlicher Terminologie auf Märtyrer, die aus dem islamischen Kulturkreis kommen, ist nicht unproblematisch, und bedürfte einer Auseinandersetzung. Eine Übertragbarkeit ist aber prinzipiell nicht ausgeschlossen.
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Foucaultschen Widerstandsbegriff (Abschnitt. 3); zweitens bezüglich des Körpers des
Märtyrers (Abschnitt 4); drittens anhand von Beispielen (Abschnitt 5) und schließlich
hinsichtlich ihrer Kollektivierung (Abschnitt 6), Virtualisierung und Medialisierung
(Abschnitt 7). Diese Schritte bauen aufeinander auf, sind aber nicht streng voneinander
abhängig. Die hiesige Methode ist also weniger die einer deduktiven Erklärung, als die eines
induktiven Zeigens – anders lässt sich diesem großen Thema auf so engem Raum kaum
gerecht werden. Das gleiche gilt für die lehrreiche Frage nach den Bedingungen des
Scheiterns von Martyrien. Ich lasse mich bei der Frage nach der Durchschlagskraft des
Märtyrers von der Überlegung leiten, dass im Martyrium die von Foucault festgestellte
Verschränktheit von Macht und Widerstand eine – lokal und zeitlich begrenzte – Auflösung
erfährt. Das Martyrium erscheint so als ereignishafte Form des Widerstands, die gleichzeitig
nachhaltig oder vorrübergehend formatierend3 auf die Machtordnung einwirkt. Eine
sorgfältige Anwendung der Ergebnisse einer zugegebenermaßen oft opaken
Ereignisphilosophie, wie man sie vor allem in der französischen poststrukturalistischen
Philosophie4 vorfindet, auf die Politikwissenschaft ist damit zwar nicht einmal im Ansatz
verwirklicht, zumindest aber in ihrem Potential angedeutet.
2. Definitorische Schwierigkeiten
»Das aber ist eine neue Art zu sterben, wo der Henker darum gebeten wird
zuzuschlagen. Der Tod wird eingeladen zu kommen. Das ist eine neue Trauer, ein
neues Unglück« (De Voragine 1988: 127).
Mit diesen Worten missbilligt in der Legende des Heiligen Sebastian die Mutter zweier
Christen die Verantwortungslosigkeit der Märtyrer hinsichtlich ihrer Nachkommen. Dass die
Märtyrer ihren Tod nicht verhindern, sondern ihn unter Umständen sogar freudig suchen,
bringt das Martyrium in die prekäre Nähe zu zwei konkurrierenden Todesarten: zum
Selbstmord auf der einen Seite und zum Amoklauf auf der anderen. Die Grenzen sind
fließend und erzeugen Grenzgängerfiguren, deren Zuordnung schwer fällt.
2.1. Die exemplarische Definition durch den Märtyrer selbst (oder durch seine
3 Den Ausdruck des »formatierenden Ereignisses« verdankt sich einem Diskussionsbeitrag von Sebastian Schindler. Zu einer mehr weltlichen Form des Ereignisses siehe: Schindler in diesem Band. 4 Für einen Überblick siehe Rölli (2004).
Nachfolger)
Während ich den Amok hier zunächst einmal beiseite lassen möchte, weil er weniger
zielgerichtet scheint und vor allem den eigenen Tod zwar manchmal in Kauf nimmt, aber
nicht voraussetzt, lässt sich aus dem heiklen Verhältnis des Märtyrers zum Selbstmord ein
erster inhaltlicher Punkt gewinnen. Zunächst ist es auffällig, wie der Kulturwissenschaftler
Thomas Macho feststellt, dass in Gesellschaften mit hoher Achtung vor dem Martyrium und
einer stark ausgeprägten Märtyrer-Kultur, oft eine proportional starke Ablehnung oder
Verdammung des Selbstmordes einhergeht (Macho 2011: 150). Für den Märtyrer steht somit
mit der Anerkennung seines Martyriums schlechterdings alles auf dem Spiel: sofortige
Verdammung oder weitgehende Verehrung. Diese Grenzen sind, wie einige Beispiele noch
zeigen sollen, prinzipiell nicht scharf zu ziehen. Dass führt beispielsweise dazu, dass sich
gewisse Märtyrer(gruppen) wechselseitig ausschließen können, obwohl sie möglicherweise
begrifflich beide in die Märtyrerkategorie fallen. So zum Beispiel die Piloten der Flugzeuge
des 11. Septembers und die in den Trümmern des WTC verstorbenen Feuerwehrleute. Die
Anerkennung des Martyriums einer Gruppe, negiert gleichzeitig die mögliche Anerkennung
der anderen. So ist das, was alle Märtyrer eint, auch das, was sie trennt: der Versuch, durch
den eigenen Tod exemplarisch einen ehrenvollen Tod von einem unehrenhaften zu scheiden.
Man muss in der Tat, wie Friederick Pannewick zeigt, gerade in den fließenden Grenzen von
edlem und unedlem Sterben, das bestimmende Moment der Märtyrerfigur schlechthin sehen
(Pannewick 2004: 2). Erfreulich deutlich stellt Wolfgang Wischmeyer in seinem Lexikon-
Eintrag über den Märtyrer in Religion in Geschichte und Gegenwart (RGG) fest:
»Eine eigentliche Definition des Begriffes liegt also allein im realen oder fiktiven Akt
des bekennenden Zeugnisses […], nicht auf der interpretierenden und applizierenden
Ebene seiner lit. Beschreibung. Dabei wird im allgemeinen der eigene Drang zum
freiwilligen Martyrium für obsolet gehalten« (Wischmeyer 2002: Sp. 863).
2.2. Möglichkeiten eines engen Märtyrerbegriffs
Entgegen der Auffassung Wischmeyers, der Märtyrer habe exemplarisch die
Definitionsmacht über sein eigenes Auftreten, gibt es wissenschaftlich betrachtet die
Möglichkeit, den Märtyrer anhand objektiver Kriterien zu bestimmen. Auch
Religionsgruppen, die ein Interesse daran haben, das Auftreten von Martyrien zu
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kontrollieren, haben verschiedene, aber nicht unähnliche, Versuche zur kategorialen
Bestimmung von Märtyrern unternommen. Es bieten sich prima facie verschiedene
miteinander kombinierbare Demarkationslinien für einen solchen engen Märtyrerbegriff an.
Folgende Liste zeigt die häufigsten Kriterien, beansprucht aber keine Vollständigkeit:
− Historisierung: Als Märtyrer werden nur die Erscheinungen einer bestimmten Epoche
(bspw. des christlichen Mittelalters) gewertet, bei früheren und späteren
Erscheinungen handelt es sich um Vorläuferfiguren und Epigonen.
− Aktivität/Passivität: Mit der häufigste Versuch, den Märtyrerbegriff zu begrenzen läuft
darauf hinaus, aktive ›Gotteskrieger‹, die den Tod anderer in Kauf nehmen zugunsten
der passiven Opfer auszuschließen.
− Konfessionelle Demarkation: Märtyrer werden als genuin zu einer bestimmten
Religionsgruppe gehörig bestimmt; es gelten dann deren Kriterien zur Klärung der
Frage, ob ein Martyrium vorliegt oder nicht.
− Psychologisierung: Als Märtyrer gelten nur solche Fälle, in denen davon ausgegangen
werden kann, dass der Märtyrer auch wirklich vorhatte, für seine Wahrheit zu sterben,
und darüber hinaus keine psychische Störung als Erklärung hinreicht.
Diesen Punkten ist bei aller Unterschiedlichkeit gemein, dass sie eine klare Unterscheidung
zwischen Märtyrern und Nicht-Märtyrern zieht. Für gewisse Kontexte ist so ein Vorgehen
sicher unerlässlich, es unterschlägt aber notwendig die Einsicht darin, dass genau diese
eindeutige Unterscheidung, gar nicht auf neutralem Boden getroffen wird, sondern bereits
eine Anerkennung oder Ablehnung bestimmter Kriterien voraussetzt. Gerade aber die Frage,
wann und ob ein Martyrium anerkannt wird, steht ja für jeden Einzelfall immer wieder aufs
Neue auf dem Spiel; sie macht ja einen Großteil des Risikos aber auch der Wirkung des
Märtyrers erst aus.
2.3. Plädoyer für eine offene Märtyrer-Theorie
Daher taugen alle diese Punkte, so wichtig sie für die Diskussion um den Märtyrer im
Einzelnen sind, als ausschließliche Definitionen nicht. Ich möchte nur drei kurze Argumente
nennen,5 warum jeder enge Märtyrerbegriff schnell an seine Grenzen gerät. Erstens: Gerade
5 Vgl.: Gerlitz (1992: 197–202).
in den historisch bedeutendsten Fällen geht das Martyrium als Religionsstiftung der
Schaffung von konfessionellen Kriterien historisch und logisch voraus. Zweitens: Alle auf die
psychische Verfassung des Märtyrers rekurrierenden, Definitionsversuche sind nicht nur
schlecht prüfbar, sondern erklären darüber hinaus jene Fälle nicht, in denen das Martyrium
eine nachträgliche Zuschreibung darstellt. Drittens: Die meisten Eingrenzungsversuche
scheinen ihrerseits politisch oder konfessionell motiviert. Das heißt sie erscheinen weniger als
Definitionsversuche, denn als normative Reaktion auf ein schon vorangegangenes
Martyriumsgeschehen. Die Anerkennung des Martyriums bleibt gebunden an die
Anerkennung dessen, wofür der Märtyrer gestorben ist – sie ist somit nicht einfach
Verhandlungsmasse der wissenschaftlichen Debatte, sondern findet selbst auf
heißumkämpftem Gebiet statt, wie Samuel Klausner richtig feststellt: »The societies of the
slayer and the slain struggle to control the meaning of the slaying: is it to be understood by
the world as martyrdom or as judicial retribution« (Klausner 1987: 230-238).
Alle diese Gründe sprechen für eine offene Märtyrertheorie, welche die Exemplarität von
Martyrien zunächst einmal ernstnimmt. Ich plädiere also dafür, Märtyrer – so gut es eben geht
– nur über ihre Familienähnlichkeit6 zu bestimmen und darüber hinaus lediglich ihren
faktischen Tod als notwendige Bedingung anzunehmen. Im Folgenden soll nun der
Überlegung nachgegangen werden, ob das gezeigte Definitionsproblem und damit auch der
Beispiel- und Vorbildcharakter des Märtyrers damit zusammenhängt, dass im Martyrium eine
Auflösung der Verschränkung von Macht und Widerstand, wie sie Michel Foucault auf den
Punkt brachte, versprochen und unter Umständen auch verwirklicht wird.
3. Der Märtyrer zwischen Widerstand und Emanzipation
3.1. Der Foucaultsche Machtbegriff als Dilemma
Foucault verweigert sich bekanntlich dem Repressionsmodell der Macht, nach dem
Machtausübung immer mit Unterdrückung einhergeht, zugunsten eines Produktionsmodells,
6 Ludwig Wittgenstein führt 1953 den Begriff der ›Familienähnlichkeit‹ ein, um die Grenzen taxonomischer Definitionsversuche zu umgehen. Seiner Meinung nach lassen sich einige Begriffe, wie bspw. ›Sprache‹ oder ›Spiel‹ nicht anhand von Kriterien klar bestimmen, sondern nur über Ähnlichkeit- oder Äquivalenzrelationen der einzelnen Beispiele erklären. Märtyrer sind dieser Logik zufolge nicht durch ein essentielles Kriterium mit einander verbunden, sondern durch eine Reihe von überlappenden Ähnlichkeiten, wobei kein Kriterium allen Typen gemein sein muss.
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in dem Macht von vielfältigen Punkten, herrschenden und beherrschten, aus wirksam wird.
Macht ist der Name eines anhaltenden multipolaren Kriegszustandes, sodass die Front nicht
mehr zwischen Klassen verläuft, sondern zwischen allen Individuen und in diesen selbst:
»Und es gibt immer irgendetwas in uns, das etwas anderes in uns bekämpft« (Foucault 1978:
141). Macht wird in diesem Sinne nicht von Subjekten oder Institutionen ergriffen, erworben,
verloren, abgegeben, sondern vollzieht sich auf nahezu unheimliche Weise an ihnen.7
Machtzustände sind also gleichzeitig »intentional und nicht-subjektiv« (Foucault 1983: 115).
Dieser Machtbegriff steht quer zu einem Widerstandsmodell, welches annimmt, dass nach
erfolgtem (und moralisch gebotenem) Widerstand die repressive Macht beseitigt und dadurch
Emanzipation8 errungen sei. Dieses Modell, welches Emanzipation und Widerstand
zusammendenkt, oder noch stärker: Emanzipation als Resultat von Widerstand deutet, ist
weder mit der Ubiquität der Foucaultschen Macht vereinbar, noch mit ihrer mikrophysischen
Wirkweise. Foucaults Auffassung von Macht gilt daher vor allem derjenigen
Politikwissenschaft häufig als Dilemma, die auf einen reflektierten, normativen Standpunkt
nicht verzichten möchte.
Die strukturelle Ähnlichkeit zwischen diesem Dilemma und der theologischen Frage nach
Leid und Erlösung, wie sie sich im Martyrium stellt, lässt die Vermutung zu, dass der
besondere Reiz der Märtyrerfigur mit dem Versprechen zusammenhängt, exemplarisch für die
Vereinbarkeit von Emanzipation und Widerstand in extremis zu stehen. Viel grundlegender
als der Selbstmord stellt das Martyrium die symbolische Ordnung seiner Umgebung in Frage.
Das Beispiel vom 11. September zeigt das eindrücklich: Als Angriff auf die politische und
militärische Macht der USA waren die Anschläge zu vernachlässigen,9 als Angriff auf die oft
genannte westlich–demokratische Ordnung und ihren angeblichen perversen Werteverfall,
sowie auf die Hybris weltlicher Machtausübung generell hingegen überaus erfolgreich.
3.2. Der Märtyrer übt Widerstand nicht gegen die Macht, sondern gegen die Ordnung der
Macht
Michel Foucault trennt gerne die Fragen, ob politischer Widerstand möglich sei und die
7 Vgl. Foucault (1983: 115). 8 ›Freiheit‹ wäre der wohl gängigere Begriff, auf den ich aber wegen seiner zahllosen Konnotationen verzichte. 9 Vgl. Peter Sloterdijks Äußerung im österreichischen Standard: »Man darf nicht vergessen, der 11. September ist ein Ereignis, das man in einer Unfallstatistik des Landes gar nicht wahrnehmen würde. Zwei oder dreitausend Tote innerhalb eines Tages liegen innerhalb der natürlichen Varianz«.
Frage, wie er möglich sei.10 Zwar gebe es »mögliche, notwendige, unwahrscheinliche,
spontane, wilde, einsame, abgestimmte, kriecherische, gewalttätige, unversöhnliche,
kompromissbereite, interessierte oder opferbereite …« (Foucault 1983: 96) Widerstände, sie
seien aber immer nur »möglich als Teil derjenigen Ordnung, gegen die er und innerhalb derer
er sich artikuliert« (Kupke 2009: 75). Hier soll nun eben der Überlegung nachgegangen
werden, ob der Märtyrer in dieser Dialektik von Macht und Widerstand insofern eine Lücke
darstellt, als dass er die Ordnung, innerhalb derer sich Macht abspielt, selbst angreift, indem
sie für diese unangreifbar wird. Die christlichen Martyrien in der römischen Antike sind dafür
durchaus paradigmatisch. Ihre Bedrohung für den römischen Staat lag ja nicht in
revolutionären Ambitionen, sondern darin, dass sie sich durch die – fiktive oder echte –
Bereitschaft, ihr Leben an eine höhere Macht hinzugeben, der weltlichen Macht entzogen.
Wenn nicht einmal mehr die körperliche Folter und die Androhung des Todes als direkteste
Ausübung weltlicher (Bio-)Macht bei ihren Objekten verfängt, dann wird in der Tat die
Macht selbst für eine bestimmte Zeit, es können Augenblicke sein, aufgehoben und in ihrer
Struktur verändert. Diese Veränderungen können minimal sein und lokal begrenzt, oder eben
global und epochal – wie es die Christologie für das Kreuzigungsgeschehen bekanntermaßen
behauptet. Im Martyrium zeigt sich also eine Form des Widerstands, die es vermag, die
Verschränktheit von Macht und Widerstand zumindest zeitweise auszusetzen.
Die politischen Notwendigkeiten und Geschehnisse innerhalb derer der Märtyrer lebt, werden
als prinzipiell unvereinbar mit der wie auch immer gearteten höheren Wahrheit zu der sich der
Märtyrer bekennt empfunden. Wenn ein Austreten aus diesen Machtgefügen aus egal welchen
Gründen nicht möglich ist, und die Formen möglichen Widerstands im Sinne Foucaults als
Komplizen der Macht verstanden werden müssen, gerät die gesamte Existenz des Märtyrers
zu einer permanenten Erfahrung von Grausamkeit. Der Märtyrer leidet weniger an den
Ausübungen der Macht, sondern an ihrer Existenz selbst. Und zwar weil er Angehöriger
zweier Ordnungen ist, die miteinander im Konflikt stehen. Er fühlt sich beispielsweise als
Angehöriger des römischen Staates und als Vertreter des christlichen Gottesstaates – was an
einigen Punkten zu lebensbedrohlichen Konflikten führt. Deswegen wird sich sein
Widerstand auch nicht gegen die Formen der Macht richten, sondern gegen ihre Ordnung als
Grundlage ihrer Existenz. Ist der Widerstand motiviert durch den Wunsch nach Überwindung
der Macht – das, was ich Emanzipation nenne – wird die Verschränkung von Macht und
Widerstand zu einem echten und im Leben des Märtyrers spürbaren Konflikt. Wie aber
10 Vgl. Kupke (2009).
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kommt es, dass gerade die Grausamkeit des körperlich durchlittenen Martyriums als Lösung
für diesen Konflikt angenommen wird? Wie kann der unter Umständen aktiv herbeigeführte
aber passiv erlittene Schmerz als eine Form von Widerstand aufgefasst werden, der zu
Emanzipation führen soll?
Am Körper wird Macht erfahrbar und hier wird Erlösung ersehnt. Auch Foucault rückt unter
dem Stichwort Biomacht den Körper als Austragungsort oder Bühne der Macht in den
Vordergrund. Besser noch als an den Handlungen politscher Akteure lässt sich für ihn die
Mikrophysik der Macht an den Körpern des Individuums beschreiben. Es gilt also zunächst
das besondere Verhältnis des Märtyrers zu seinem Körper zu klären, und im Anschluss an
einigen Beispielen zu beschreiben.
4. Widerstand als Widerfahrnis: Organisation, Desorganisation, Reorganisation des
Körpers
Der ungewohnte Gedanke, dass Widerstand etwas sein könnte, was den Widerständler passiv
ergreift, führt diese Untersuchung zu einer Betrachtung des Märtyrer-Körpers als Bühne für
diesen Widerstand. Damit soll deutlich werden, dass dieses Ergriffenwerden sehr konkret als
körperliches Leid auftritt und erfahren wird. Der Grund, warum der Märtyrer exemplarisch
für die Vereinbarkeit von Widerstand und Emanzipation steht, liegt also unter Umständen
darin, dass sein Widerstand nicht zwangsläufig als Handlung verstanden werden muss.
Ähnlich wie sich Macht laut Foucault intentional und doch nicht-subjektiv vollzieht – also
kein Handeln ist, vollzieht sich der Widerstand am Märtyrer, wobei dessen Bereitschaft dazu
noch nicht mal vorausgesetzt werden muss! Damit ist das Foucaultsche Dilemma also neu
formuliert: Das Problem der Verschränkung von Macht und Widerstand, kommt dadurch zum
Tragen, dass versucht wird Widerstand als subjektive-intentionale Handlungen gegen eine
sich nicht-subjektiv-intentional vollziehende Macht zu verstehen. Anhand der Märtyrerfiguren
lässt sich zeigen, dass man auch Widerstand als etwas verstehen könnte, was nicht Handlung
ist, sondern ein Widerfahrnis; etwas, dass sich an einem Subjekt vollzieht. Das heißt aber
nicht weniger, als dass das (körperlich) erfahrene Leid des Märtyrers bereits sein Widerstand
ist, der dann im Tod seine Erlösung findet.
4.1. Organisation des Körpers durch die Macht
Wenn gerade von einem Sich-Vollziehen des Widerstands gesprochen wurde, so muss das
sehr konkret als etwas verstanden werden, was buchstäblich am Körper des Märtyrers
geschieht. Der Körper ist sowohl Angriffspunkt der Macht als auch Waffe des Märtyrers. Für
Foucault steht der Körper: »unmittelbar im Feld des Politischen; die Machtverhältnisse legen
ihre Hand auf ihn; sie […] zwingen ihn zu Arbeiten, verpflichten ihn zu Zeremonien,
verlangen von ihm Zeichen« (Foucault 1976: 37). Es ist diese Übertragung der Macht in die
Materialität des Körpers, welche die Unterscheidung von Fremd- und Selbstkontrolle, Macht
und Widerstand problematisch werden lässt. Allerdings gelingt es Judith Butler, in ihrem
1991 auf Deutsch erschienenen Buch Das Unbehagen der Geschlechter, interessanterweise
gerade in dem Sachverhalt, dass die Macht ständig auf den Körper einwirkt, auch etwas
Emanzipatorisches zu sehen. Für Butler treffen im Körper die diskursiven Wissenspraktiken
der Macht unkontrolliert auf eine profunde Sprachlosigkeit der Körper. Dieses nicht
regulierbare Aufeinandertreffen von markiertem und unversehrtem Körper führt zu
Irritationen und Nebeneffekten, die für eine Zeit aus dem Zugriff der Macht hinausfallen:
»Was aus den Normen herausfällt, ist strenggenommen nicht anerkennbar. Das heißt
nicht, daß es folgenlos bleibt; ganz im Gegenteil ist dies genau der Bereich unserer
selbst, den wir ohne Anerkennung leben, in dem wir durch Verleugnung beharren, für
den wir kein Vokabular haben, den wir aber ertragen, ohne es wirklich zu wissen.
Natürlich kann hier eine Quelle für Leiden liegen. Aber hier kann sich auch eine
gewisse Distanz zu Regulierungsnormen und ein Schauplatz neuer Möglichkeiten
abzeichnen« (Butler 2003: 63).
Um einem Missverständnis vorzubeugen: Butler sagt nicht, dass es einen Ort im
menschlichen Leben gibt, zu dem die Macht keinen Zugang findet. Sie sagt lediglich, dass die
Wirkungen der Macht in manchen Bereichen unberechenbar, chaotisch und unvorhergesehen
sein können. Butler nennt ein Leben, das diese Irritationen nicht hemmt, sondern fördert mit
Bezug auf Foucault ein »Leben der Leidenschaft […] an den Grenzen der Anerkennung«
(Butler 2003: 63). Ausgerechnet der Körper dient ihr zum Ausgangspunkt emanzipativer
Bemühungen. Vereinfacht gesagt: Wenn der Körper von der Macht organisiert wird, dann ist
er auch der Ort, an dem durch Desorganisation und Reorganisation so etwas wie
vorübergehende Emanzipation erreicht werden kann.
4.2. Deleuzes Organloser Körper als Desorganisation des Körpers
11
Stärker noch als Foucault hat Gilles Deleuze, zusammen mit seinem Kollegen Felix Guattari,
versucht, den Fokus von den normierenden Effekten der Macht auf die chaotischen und
emanzipatorischen Kräfte des Körpers zu legen. Deleuzes oft humorvolle und
unkonventionelle Herangehensweise macht eine Übertragung in andere Wissenschaften nicht
leicht. Das ist bedauerlich, weil gerade sein zu allerlei Missverständnissen anregender Begriff
des organlosen Körpers, den hier verhandelten Sachverhalt gut erklärt. Unter diesem Titel
versammeln Deleuze/Guattari11 Gestalten, bei denen die Abweichungserscheinungen und
Irritationen augenscheinlich und deutlich hervortreten (Schizophrene, Perverse,
Alkoholiker…). Die körperlichen Effekte der Macht sind an diesen Gestalten so gewuchert,
dass sie nicht mehr organisiert werden können, weswegen sie von der Macht selbst
ausgeschlossen werden – ein Thema dem sich vor allem die politische Philosophie Giorgio
Agambens annimmt, der den politischen Umgang mit dieser Aussonderung als Lagerbildung
thematisiert (Vgl. Agamben 2002).
Wenn es also möglich ist, dass Körper von der Macht derart deformiert werden können, dass
sie plötzlich aus dem Machtbereich selbst hinausfallen, stellt sich die Frage nach der
Möglichkeit bewusster Reorganisation des eigenen Körpers als eine Form des Widerstands.
4.3. Der Taufakt als Reorganisation des Körpers
Der Märtyrer erscheint als der gewissermaßen erfolgreiche Versuch, den Einschreibungen der
Macht durch völlige Überwindung des Körpers zu begegnen. Laut (christlicher) Theologie
geschieht dieser Vorgang bereits im Taufakt. In der Taufe lässt der Mensch den alten
fleischlichen Leib hinter sich und erhält einen geistigen Leib, welcher der weltlichen Macht
entzogen ist. Die aristotelische Hexis-Lehre aufnehmend entwickelt z.B. Dionysius
Areopagita (ca. 500 n. Chr.)12 eine rituelle Praxis, welche die alte hexis (= Haltung) des
Gläubigen überwindet und die neue, christliche hexis installiert. Dieser Haltungswandel ist
der Kernbestand der Taufe. Areopagita fügt der Aristotelischen Tugendethik damit etwas
Entscheidendes hinzu: Hexis, also erworbene Haltung, ist nicht nur ein Effekt von Handlung
und Habitualisierung, die den Körper verändern, sondern im gleichen oder stärkeren Maße
Ergebnis eines inneren Wandels, welcher den eigenen Körper zu überwinden trachtet und
durch einen heiligen oder symbolischen Körper ersetzen will. Die Einschreibungen der
11 Deleuze/Guattari (1992). 12 Vgl. Stock (2009).
Macht, besonders bei der Extremform der Folter, in den weltlichen Körper des Märtyrers,
verfehlen dabei nicht nur ihr Ziel, sondern spielen bei der Überwindung des Körpers unter
Umständen dem Märtyrer in die Hände. Mit dieser Begründung werden in den
Heiligenlegenden die Bemühungen der Folterer von den Gemarterten selbst angefeuert und
unterstützt. Ähnlich wie Canguilhems Beschreibung des kontinuierlichen Einwirkungen
ausgesetzten Körpers, erscheint
»im narrativen Überbietungsgestus der Legende […] das Märtyrerleben als schier
nicht enden wollende Aufzählung von Demütigungen, Bedrohungen und physischen
Kränkungen, bis schließlich der Märtyrertod die Erlösung, gleichsam auch die des
Zuhörers, bringt […]« (Weibrecht i. E.: 3).13
Gleichwohl erreichen die Foltermethoden (in der Fiktion der Legenden) ihr eigentliches Ziel
nicht. Denn zumindest dem Selbstverständnis nach befindet sich der (religiöse) Märtyrer
jenseits der Macht, vor allem weil er sich jenseits der Mittel der Macht befindet. Und zwar
nicht wie der organlose Körper Deleuzes, welcher der Macht mit dem verzweifelten Humor
der Übertreibung begegnet und die Chaotisierung seines organisierten Körpers betreibt,
sondern weil er einen aus reiner Haltung bestehenden Leib schützend wie eine zweite Haut
trägt und somit den Austragungsort von Machtverhältnissen verlässt. Ob man das bereits als
Widerstand durchgehen lässt, ist sicher zu diskutieren, aber man muss zu dieser
emanzipatorischen Praxis eben auch die Reorganisation des eigenen Körpers als Bombe bei
Selbstmordattentaten rechnen. Hier kommen wir der Praxis des politischen Widerstands
schon sehr nahe. An diesem zugegeben krassen Beispiel wird auch deutlich, dass das
Martyrium nicht »Privatsache« des Märtyrers bleibt, sondern echte öffentliche und sogar
politische Wirkung zeigt. Ich möchte für diese oftmals verblüffenden und unberechenbaren
Wirkungen drei Beispiele anführen, bevor im Folgenden beleuchtet werden soll, nach
welchen Mechanismen diese Ausweitung des Martyriums ins Kollektiv vollzogen werden
kann.
5. Drei Beispiele: Wafa Idris, Mohamed Bouazizi, Khaled Mohammed Said
5.1. Wafa Idris – »We die in equal numbers!«14
13 Siehe auch Weitbrecht (2008: 269-288). 14 Vgl. Pannewick (2007: 110–113).
13
Am 27. Januar 2002 sprengte sich Wafa Idris als erste Palästinenserin in einem Jerusalemer
Schuhgeschäft in die Luft. Wafa Idris, die 1975 in einem Flüchtlingslager geboren wurde, war
nach einer Fehlgeburt nicht mehr in der Lage, Kinder zu bekommen und wurde mit dieser
Tatsache als Begründung von ihrem Mann (und Cousin) geschieden. Sie lebte mit ihrer
Mutter, einem Bruder und dessen Familie und begann eine medizinische Ausbildung beim
Roten Halbmond. Da sie keinerlei Botschaft hinterließ, erregte ihr Attentat zunächst die
Spekulation, dass Idris die Bombe unter Umständen nicht hatte zünden wollen,
beziehungsweise nicht selbst bei der Zündung sterben wollte. Sie wurde unter anderem als
»Jeanne d’Arc Palästinas«, Feministin und als »östliche Antwort auf die Frage nach der
Gleichberechtigung« (Pannewick 2007: 111) gehandelt. Der emanzipatorische Impetus ihrer
Tat, der bis heute nicht geklärt und auch nicht zu klären ist, verteilt sich also auf viele
verschiedene, auch widersprüchliche Widerstandspunkte: So firmiert Wafa Idris zweitweise
sowohl als Widerstandskämpferin (gegen Israel), als auch als Feministin in Palästina (gegen
die Ungleichbehandlung von Frauen im Scheidungsrecht), schreibt dabei gleichzeitig als eine
Art besserer Mann die Unterschiede zwischen Mann und Frau fort (als Vorbild für männliche
Gotteskrieger) und gilt doch als östliche Antwort auf die westliche Forderung nach
Gleichberechtigung (»We die in equal numbers«).15 Das Erleben von Leid führt zwar auch
hier ultimativ zur Erlösung durch den erlittenen Tod. Die nähere inhaltliche Bestimmung des
Widerstands ergibt sich aber erst nachträglich und mit einer seltsam zwanglosen Beliebigkeit.
Die Nicht-Intentionalität des eigentlichen Aktes, beziehungsweise die Irrelevanz einer
Intention ist damit evident. Unabhängig davon, wofür Wafa Idris sterben wollte, vollziehen
sich an ihr gleich mehrere Widerstände, die ihren Körper mal ins Weibliche überhöhen, mal
als Kämpfer-Vorbild ins Männliche verzerren.
5.2. Mohamed Bouazizi
In noch krasserem Maße gilt das Prinzip von Nicht-Intentionalität und Nicht-Subjektivität
vielleicht für den tunesischen Obstverkäufer Mohamed Bouazizi, dessen Selbstverbrennung
am 17. Dezember 2010 und sein Wochen später eingetretener Tod am 4. Januar 2011
maßgeblich zur Revolution in Tunesien beigetragen hat, und der Ende Oktober 2011 vom
Europäischen Parlament postum den Sacharow-Preis für geistige Freiheit erhielt. Über die
15 Nach Pannewick (2007: 111).
tatsächlichen Beweggründe, warum Bouazizi sich selbst verbrannt hat, herrschen nach wie
vor vermutlich niemals zu klärende Fragen.16 Neben der quasi-offiziellen Version, nach der
die Selbstverbrennung eine Verzweiflungstat war, mit der Bouazizi gegen den
undurchschaubaren Machtmissbrauch tunesischer Beamter protestierte, gibt es – laut BBC-
Dokumentation17 – auch die Version der Schwester, die, weil ihr die Märtyrer-Rolle ihres in
ihren Augen stets unpolitischen Bruders undenkbar schien, die Geschichte eines Unfalls mit
unbeabsichtigter Selbstverbrennung konstruierte, um die Schande des Selbstmordes von
ihrem Bruder abzuwenden. Drittens kursierte die Behauptung, die Selbstverbrennung sollte
nicht die Überwindung der politischen Unterdrückung einklagen, sondern sei aus Scham
darüber geschehen, von einer weiblichen Beamtin geschlagen worden zu sein – die das
wiederum abstreitet. Den Höhepunkt der Verwirrung stellte die Meldung dar, Bouazizi,
dessen Tod zu den Aufständen geführt habe, sei im Grunde verwechselt worden mit einem
sich bei bester Gesundheit befindlichen Studenten und politischem Blogger gleichen Namens.
Ganz gleich, welche der Versionen wahr ist, beziehungsweise ob sich die Wahrheit einer
einzelnen Version überhaupt ermitteln lässt, ist klar, dass die Frage des Martyriums sich
innerhalb kurzer Zeit nach dem Tod Bouazizis quasi von selbst beantwortet hat und eine hohe
Immunität gegen Fakten aufweist. Es zeigt aber auch, dass nicht nur die Richtung (Intention)
des Widerstandes eine Frage ex post ist, sondern auch, ob es sich überhaupt um einen aktiven,
selbstgewählten Versuch von Widerstand gegen irgendetwas gehandelt hat.
5.3. »We’re all Khaled Mohammed Said«
Als letztes Beispiel der Unabhängigkeit des Martyriums von einem individuellen, subjektiven
Akteur kann der 28-jährige Blogger Khaled Mohammed Said dienen. Said wurde am 6. Juni
2010 von zwei Zivilpolizisten in Alexandria auf offener Straße zu Tode geprügelt. Die Bilder
des Toten Said wurden eine Woche später auf einer Facebook-Seite hochgeladen, die den
aufschlussreichen Namen: »We’re all Khaled Mohammed Said« trug (und deswegen von
Facebook zunächst gelöscht wurde). Khaled wurde zum frühen Symbol und Märtyrer für den
ägyptischen Widerstand – und das, obwohl er vor seinem Tod keiner bestimmten
Widerstandsgruppierung angehört hatte. Die Facebook-Seite in seinem Namen wurde zur
kollektiven Kommunikationsplattform des Widerstands. Das Beispiel sticht vor allem heraus,
16 Siehe http://www.spiegel.de/politik/ausland/0,1518,740901,00.html, http://english.aljazeera.net/indepth/features/2011/01/201111684242518839.html. 17 Siehe: http://www.bbc.co.uk/news/world-africa-13138301.
15
weil Khaled Said eine Absicht zu sterben schlechterdings nicht unterstellt werden kann. Nicht
nur ist das martyrium ex parte victimae, das heißt, seine eigene Einsicht, wofür er ermordet
wurde, vermutlich nachträglich konstruiert, sondern auch der emanzipatorische Impetus selbst
ist hier von einem Kollektiv rückwirkend auf Said übertragen worden und gleichzeitig für das
Kollektiv – »We’re all Khaled Mohammed Said« – geltend gemacht worden.
Alle drei Beispiele zeigen: Man kommt bei der Frage nach dem Märtyrer mit psychologischen
Mitteln nicht weit(er). Zwar schließt die potentielle Nachträglichkeit des Märtyrergeschehens
eine echte, der Tat vorausgehende Motivation nicht aus – sie ist aber für die Verklärung
unerheblich. Der Tod des Märtyrers setzt zwar ein gewisses emanzipatorisches Potential frei –
aber es muss sich gar nicht um die Emanzipation der sterbenden Person selbst handeln. Ich
möchte dieser Kollektivierung des Märtyrers im folgenden Punkt unter dem Stichwort der
Kirchenbildung nachgehen. Dabei meint Kirche hier nicht zwangsläufig eine religiöse
Gemeinschaft, sondern beschreibt eben jene andere, jenseitige Ordnung, welcher der Märtyrer
angehört und die mit der weltlichen Ordnung der Macht kollidiert. Kirche wird hier bewusst
als Gegenmodell zu Agambens Lager verstanden. Sie stellt zwar genau wie dieses eine
Verräumlichung des Ausnahmezustandes dar – aber mit umgekehrtem Vorzeichen.
6. Kollektivierung des Märtyrer – Wie Lager zu Kirchen werden
Die Reorganisation des eigenen Körpers, besonders wenn sie sich wie beim Märtyrer an
Vorbildern orientiert, ist auch die Schnittstelle des Individuums mit dem Kollektiv. Denn die
Identität von wirklichem und symbolischem Körper wird soweit aufgelöst, dass sich unter
einem symbolischen Körper auch mehrere einzelne Individuen fassen lassen. Wie es etwa
metaphorisch im Wort Volkskörper ausgedrückt ist, oder in der Vorstellung der christlichen
Kirche als Leib Christi. Die Facebook-Seite Khaled Mohammed Saids könnte als moderne
Form eines solchen kollektiven Körpers gedeutet werden. Ein frühes Dokument der
politischen Theorie, das im Zusammenhang mit der Rechtfertigung von Martyrien zitiert wird
und diesen Kollektivierungsprozess zum Inhalt hat, ist der erste Petrus-Brief. Mehrfach wird
hier das politische Leid der Ausgrenzung über die Identifikation mit dem Leid Jesu zum
gemeinschaftsstiftenden Moment.18 Die aus dem Leid begründete und für die frühen
christlichen Gemeinden entscheidende Trennung von Staat und Religion, ist für die Antike
18 Vgl. 1 Petr. 2,19–25, 3,13–18; 4,12–19.
ein Novum. Das, was laut Giorgio Agamben das Lager, sprich die Ausgrenzung aus der
Macht, gerade nicht ermöglichen soll, findet hier statt: Die Ausgrenzung der Christen schafft
ein eigenes soziales und ethisches Bezugssystem, das zu der religiösen, gesellschaftlichen und
politischen Koine in Konkurrenz tritt. Die Christen werden so – auch wenn das in dieser Zeit
bestimmt nicht ihre Absicht ist – zum Staat im Staat. Bezeichnenderweise wird weder hier
noch sonst in 1 Petrus ein Ort angegeben, an dem die Christen keine Fremden sind – und noch
viel weniger ein Ort an dem sie beheimatet wären. Fremdsein gerät vielmehr zur
Auszeichnung und Identität. Es handelt sich nicht um eine Orts- sondern um eine
Zustandsbestimmung. Die Selbstbezeichnung der Christen als Fremde (parepedimois: der
sich ohne Bürger- und Gastrecht vorübergehend Aufhaltende) ist in 1 Petrus also wesentlich
eine ekklesiologische Kategorie, die Gemeinschaft stiften soll: Der Ort der Zugehörigkeit
aller Fremden ist die christliche Gemeinde. Kirche in diesem ursprünglichen Sinn stellt das
Gegenstück zu Giorgio Agambens Lager dar. Beide sind Verräumlichungen des
Ausnahmezustandes, »der wesentlich eine zeitweilige Aufhebung der Ordnung war« zu einer
»neue[n] und stabile[n] Raumordnung, in der jenes bloße Leben wohnt, das sich immer
weniger in die Ordnung einschreiben läßt« (Agamben 2001: 48).
Die Fremdheit der urchristlichen Gemeinden beschreibt dabei nicht zwangsläufig eine rein
spirituelle Fremdheit, sondern schildert auch ein Stück weit die reale Lage. Nicht deshalb sind
Christen Fremde in der Welt, weil sie auf Grund der Verheißung ihr Bürgerrecht in der
himmlischen Stadt haben und dieser nun als Pilger entgegenziehen, sondern weil sie sich
durch ihre Bindung an den Leib Christus von der Welt politisch entfremdet haben.
Fremdheitsgefühle, Ausgrenzungserscheinungen, auch die Verschiebung der eigenen
affektiven Grundhaltung bezüglich des eigenen Milieus, letztlich das innerlich gefühlte
Herausfallen aus der Gesellschaft – können, wenn sie sich mit einer gewissen
Unerschrockenheit paaren, auch die Bereitschaft zum Anschlag unterstützen. Aus diesem
Grund bemühen sich die meisten Gesellschaften, Märtyrer zu verhindern. Die Fortsetzung
Foucaults findet sich dann vielleicht nicht, wie Agamben vermutet, in Ausgrenzung und
Lagern sowie in der Produktion von nacktem Leben, sondern in dem Versuch der totalen
Versammlung (= ecclesia) durch Vernetzung. Demokratie als Märtyrer-Verhinderung ist dann
auch nicht Bio-Politk, nicht Politik des heiligen, bloßen Lebens, sondern, Sozial-Politik, die
das Zusammenleben aller in den Vordergrund stellt – und sich daher nicht zufällig zur Zeit in
den Debatten über die Möglichkeiten rechtlichen Zugriffs auf das Internet darstellt – wie wir
es im Fall der Seite We’re all Khaled Mohammed Said gesehen haben. Die Beherrschbarkeit
17
oder Nicht-Beherrschbarkeit des Internets als geeigneter Ort der »Kirchenbildung, wird, diese
absehbare Prognose sei gestattet, in Zukunft noch mehr Raum in der politischen Debatte
einnehmen – nicht zuletzt weil die Virtualität der Akteure in diesem Medium die
Reorganisation des Körpers erleichtert und damit die Zugriffsmöglichkeiten der Macht
erschwert.
7. Fazit: Virtualität und Medialität des Märtyrers
Anhand des Märtyrers lässt sich gut zeigen, warum es lohnt, die Frage nach der Möglichkeit
von Widerstand auf der Ebene des Individuums und seines Körpers – selbst im Kontext
globaler Politik – zu diskutieren. So wäre es eine spannende Forschungsaufgabe, die
diskursiven Übergänge zwischen den obengenannten Märtyrern der arabischen Revolution
und ihrer Funktion als Vorbild für andere und Auslöser der Widerstandsbewegung genauer zu
untersuchen. Es wurde bereits angedeutet, dass die Entstehung von Kirchen und religiösen
Gemeinden dafür die Blaupause sein könnte. Man müsste darüberhinaus die heutigen Formen
von Medialisierung und Virtualisierung auf ihre »kirchenförderlichen« Mechanismen hin
untersuchen. Dies kann hier nicht mehr geleistet werden, lediglich hindeuten möchte ich auf
die Tatsache, dass die Virtualisierungstendenz des Märtyrers keine moderne Erscheinung ist,
sondern in der Figur des Märtyrers bereits angelegt ist. Denn was Judith Butler für den
»Standpunkt der Kritik« prägnant feststellt, dass er nämlich unter Umständen »das Risiko der
Aussetzung des eigenen ontologischen Status’ mit sich bringt« (Butler 2003: 65), gilt für den
Märtyrer buchstäblich. Nichts anderes ist sein Tod als die Aussetzung des eigenen
ontologischen Status’. Seine Personalität und Individualität ist für das Martyrium
nebensächlich. Damit tritt er allerdings automatisch in den Bereich der kollektiven medialen
Gestaltung ein – z. B in Form von Heiligenlegenden. Die hier angeführten Beispiele zeigen,
dass die Biographien der Märtyrer meist mehr Fragen bezüglich ihrer Tat aufwerfen, als sie
erklären. Der Märtyrer wird zur Haltungsschablone und zu einer Art Avatar, an dem sich
starker Widerstand denken lässt. Dieser Widerstand ist gleichzeitig real (weil er politisch
wirksam ist) und virtuell (weil er nicht mehr Handlung eines Subjekts ist). Eine Haltung kennt
kein Original und ist dennoch imitierbar. Der Märtyrer ist seiner medialen und politischen
Reproduzierbarkeit ausgeliefert – und gerade dadurch taugt er als Symbolfigur eines
kollektiven Widerstandes. Sigrid Weigel bemerkt dazu treffend:
»Denn der Märtyrer ist ein Medium kultureller Serienproduktion. Nicht nur in der
klassischen christlichen Version der Imitation Christi stellen sich Märtyrerfigurationen
als Modelle der Nachahmung dar. Wo ein Märtyrer auftritt wird es bald viele geben.
Die Nobilitierung des Todes […] macht den Märtyrer zu einem Vorbild, das
Nachfolger hervorbringt und auf diese Weise eine Genealogie von Märtyrern stiftet«
(Weigel 2007: 20).
Auch Julia Weitbrecht kommt zu dem Ergebnis, dass das transzendente Heiligungsgeschehen,
welches immanent am Körper des Märtyrers vollzogen und inszeniert wird, »kollektiv geltend
gemacht werden [muss]: Es verlangt Zeugenschaft, eine öffentliche Sichtbarmachung, die den
Prozess der Heiligung erst nachvollziehbar werden lässt« (Weibrecht 2008: 276). Das
bedeutet aber auch, dass die mediale Repräsentation des Märtyrers den Raum für dessen
Verherrlichung erst schaffen und die Auslöschung des ontologischen Status’ des Märtyrers
selbst billigend in Kauf nehmen muss.
Mit der Umdeutung des Martyriums als politische Praxis stehen wir aber unvermittelt vor
dem Problem ihrer moralischen Bewertung. Selbst wenn wir akzeptieren, dass im Martyrium
für einen Moment die Macht aufgehoben ist, sagt das noch nichts darüber aus, ob diese
politische Praxis als durchführbar akzeptiert werden sollte. Die Faszination und der
gefährliche zur Nachahmung einladende Reiz der Märtyrerfigur gehen von der Radikalität
seiner Haltung und ihrer verherrlichenden medialen Repräsentation aus. Martyrien sind
immer die schönen Stellen der Geschichte. Wir erkennen auf der Mikroebene körperlicher
Prozesse, durch die Akzentuierung von Macht als Grausamkeit und Widerstand als
Martyrium, vielleicht deutlicher und detailreicher, was Foucault mit der Verschränkung von
Macht und Widerstand meint, als in weniger extremen Beispielen. Die Radikalität des
Märtyrers weist uns gleichzeitig darauf hin, dass es einen Ausweg aus dieser Verschränkung
unter Umständen gibt, sein Preis aber hoch ist. Ob das hilft, das eigene politische
Selbstverständnis zu orientieren, bleibt fraglich.
Aber die moralische Bewertung einzelner Märtyrer oder des Martyriums an sich war nicht das
hiesige Anliegen. Das eigentliche Ergebnis der vorgelegten Skizze scheint mir vielmehr darin
zu liegen, mit dem Märtyrer eine Figur vorgestellt zu haben, anhand derer wir die Taten von
Einzelpersonen und ihre erklärungsbedürftigen Auswirkungen auf die Makroebene der
politischen Wirklichkeit als nicht-intentionale, nicht-subjektive Ereignisse diskutieren, und
somit auf einen unklaren Subjekts- oder Handlungsbegriff verzichten können.
Literatur:
19
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