Post on 28-Mar-2023
Universität Luzern
Kultur- und sozialwissenschaftliche Fakultät
Philosophisches Seminar
Proseminararbeit, PS Monadologie
Prof. Dr. Dieter Teichert
HS 2014
Der Grund
Begriffsgeschichtliche Betrachtungen im Hinblick auf Gottfried Wilhelm Leibniz
Felix Lepinski, 1. Semester, felix.lepinski@stud.unilu.ch, Matrikel-Nr.: 14-452-288
Postadresse: Gimmermee, 6023 Rothenburg, Schweiz
Heimatanschrift: Friedrichsruher Platz 1, 12169 Berlin, Deutschland
„Wörter sind Erfahrungsträger.“1
Giovanni Sartori
1 Sartori, Giovanni: Demokratietheorie, Darmstadt 2006, S. 262.
Inhaltsverzeichnis
1 Einleitung – Fragestellung, Methode, Problem und These.............................................................1-2
2 Zu Theorie und Begriffsgeschichte von Grund....................................................................................3
2.1 Die europäische Antike – Logos und Arché........................................................................3-5
2.2 Aristoteles – Vier-Ursachen-Lehre........................................................................................5-6
2.3 Die deutsche Mystik – Seelengrund und Vernunft..............................................................6-8
2.4 Heidegger – Sein und Grund, das Selbe.............................................................................8-9
3 Leibniz: Das Prinzip des zureichenden Grundes – Relatives im Absoluten....................................10
3.1 Relevanz – Alles hat einen Grund!.......................................................................................11
3.2 Anwendungsbereiche – Logischer und ontologischer Grund.........................................11-13
3.3 Geltungsbereiche – Notwendigkeit und Kontingenz.........................................................13-16
3.4 Probleme – Begründungen ad-infinitum und Reflexion..................................................15-17
4 Fazit – Kontemplation und Konstruktion......................................................................................17-18
5 Bibliographie...................................................................................................................................19-20
1. Einleitung – Fragestellung, Methode, Problem und These
Was ist das eigentlich, ein Grund? Besser gefragt: Was ist ein Grund wesentlich? Wir benutzen den
Begriff Grund in seinen vielfältigen Variationen ausgiebig, besonders in den Wissenschaften, denn der
Mensch kann mit einem Grund vielerlei: begründen, ergründen, grundlegend, grundsätzlich oder
gründlich sein. Die Alliteration gute Gründe ist in Redewendungen geläufig, meistens mahnend
konnotiert, denn ein guter Grund wiegt oder überwiegt, d.h. ein Grund vermag zu überzeugen. Ein
Argument vermag noch nicht zu überzeugen, ein Grund jedoch scheint fest. An Gründe halten wir uns,
ein Grund kann halt geben, denn hat man einmal zu einem Grund gefunden, halten wir daran fest. Wir
begreifen die Welt, indem wir sie ergründen und wir motivieren uns, indem wir nach Gründen suchen.
Bei alledem gehen wir selbstverständlich davon aus zu wissen, was ein Grund sei. Doch wissen wir es
selbst verständlich? Was ist ein Grund wesentlich? Von dieser Fragestellung gehe ich in der vorliegenden
Arbeit aus.
Eine begriffsgeschichtlich-etymologische Methode besteht darin, nach der allgemeinen Bedeutung eines
spezifischen Begriffs zu fragen. Wörter und ihre Bedeutung wandeln sich. "Die Begriffe haben nämlich
ebenso wie die Individuen ihre Geschichte und vermögen ebenso wenig wie diese, der Gewalt der Zeit zu
widerstehen."2 Gottlob Frege formuliert: „Was man Erkenntnis nennt, ist wohl entweder eine Geschichte
unserer Erkenntnis oder der Bedeutungen der Wörter.“3
Durch die Beschäftigung mit dem Begriff Grund stellte sich mir ein Problem dar. Die technische
(konstruktive) Bedeutungsebene des Begriffs Grund tritt gegenüber der theoretischen (kontemplativen)
Bedeutungsebene unverhältnismäßig hervor. Die Verwendung von Gründen für Begründungen ist
offensichtlich, obgleich Begründungstechniken sicherlich nuanciert unterschieden werden können; die
2 Begriffsgeschichte, in: Wikipedia, o. O. 16. Oktober 2014, <http://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Begriffsgeschichte&oldid=134948258>, Stand: 09.02.2015.
3 Ebd.
1
geistige Schau des Grundes, im Sinne der Kontemplation hingegen, findet in der Literatur zwar
Erwähnung, zumeist in geschichtlichen Zusammenhängen als Bedeutung von Grund in der deutschen
Mystik des 14. und 15. Jahrhunderts, fristet in der philosophischen Diskussion jedoch ein Dasein am
Rande. Innerlichkeit als Bedeutungsebene von Grund auszublenden, käme einer unnötigen Reduktion
eines der zentralen Begriffe der Philosophie gleich. Bedenkt man, das Motto dieser Arbeit „Wörter sind
Erfahrungsträger“ trägt der Begriff Grund in sich die Erfahrung einer reichen, theologisch geprägten
Philosophie der deutschen Mystik sowie komplementär die Erfahrung der mechanisch gedachten
Philosophie der europäischen Moderne.
Aus dem Problem folgere ich eine These. Wesentlich ist ein Grund zweierlei: Konstruktion und
Kontemplation. Das Wesen des Grundes kann sowohl konstruktiv im Sinne des Kausalitätsprinzips, als
auch kontemplativ als Innerlichkeit begriffen werden, ohne dass sich hieraus ein Widerspruch ergäbe. Der
Dualismus von Konstruktion und Kontemplation scheint mir sinnvoll um den beiden Bedeutungsebenen
des Begriffs Grund gerecht zu werden.
Konstruktion bezeichnet einerseits das absichtliche Konstruieren des Menschen, z.B. kann einem Begriff
ein konstruktiver Charakter zukommen, andererseits bezeichnet Konstruktion das Verständnis des
Menschen der Welt als Konstrukt, wobei er selbst nicht zwangsläufig der Konstrukteur ist, denn die Welt
konstruiert vorwiegend sich selbst. Versteht man den Begriff Grund seiner konstruktiven Bedeutungsebene
nach, rücken Aspekte des technischen Gebrauchs, insbesondere Begründungstechniken, in den
Mittelpunkt.
Kontemplation bezeichnet ein Innewerden der Welt. Versteht man den Begriff Grund seiner
kontemplativen Bedeutungsebene nach, rücken Aspekte der persönlichen Identität sowie des existenziellen
Daseins des Menschen in den Mittelpunkt.
2
2. Zu Theorie und Begriffsgeschichte von Grund
Zum Selbstverständnis der europäischen Philosophie gehört das Bewusstsein ihren Anfang in der
Philosophie der griechischen Antike genommen zu haben. Logos, als Sphäre des Philosophierenden, und
Arché, als Frage nach dem Beginn alles Seienden, sind die beiden Begriffe, deren Bedeutung ich
untersuchen werde (2.1), um die Entwicklung des konstruktiven Aspekts des Begriffs Grund
nachzuzeichnen. Die Vier-Ursachen-Lehre von Aristoteles ist ebenfalls relevant, denn sie ist für das
Verständnis der konstruktiv-kausalen Bedeutungsebene wichtig (2.2). Den kontemplativen Aspekt gewinnt
der Begriff Grund ausgehend von der altgriechischen Philosophie hauptsächlich in der Philosophie der
Deutschen Mystik im 14. und 15. Jahrhundert (2.3). Der begriffsgeschichtliche Teil endet mit den
Äußerungen von Martin Heidegger zu Kontemplation und besinnendem Denken in Der Satz vom Grund
(2.4).
2.1 Die europäische Antike – Logos und Arché
„Logos ist der griechische Begriff par excellence; in ihm findet der griechische Geist seinen vollsten
Ausdruck.“4 Gleichzeitig umfasst Logos (λόγος) mehrere Bedeutungen und lässt sich durch keinen
einzelnen Begriff vollends übersetzen, geschweige denn definieren. Logos kann je nach Zusammenhang
als „Sinn“, „Bedeutung“, „Definition“ „Vernunft“, „Wort“ oder „Zählen“, „Rechnen“, „Explizieren“
übersetzt werden5, wodurch der Übersetzung altgriechischer Texte erheblicher Interpretationsspielraum
zukommt. In der Zürcher Bibel, einer offiziellen Bibelübersetzung, die besonderen Wert auf philologische
Korrektheit legt, heißt es: „Im Anfang war das Wort, der Logos, und der Logos war bei Gott, und von
Gottes Wesen war der Logos.“6 Von offensichtlich prägender Prominenz scheint der Begriff Logos zu
sein, wenn eine neue Bibelübesetzung ihn zu Beginn des Johannesevangeliums anführt. Logos kann als
„Sinnzusammenhang“ oder „Begründungszusammenhang“ verstanden werden. Ein Kriterium von
4 Perilli, Lorenzo: Logos : Theorie und Begriffsgeschichte, Darmstadt 2013, S. 2.5 Ritter, Joachim: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Basel 1974, Artikel Logos, Bd. 5, S. 491.6 Evangelisch-Reformierte Landeskirche des Kantons Zürich. Kirchenrat: Zürcher Bibel, Zürich 2007, Johannes 1,1.
3
Begründungen ist ein Zusammenhang. „Das Begründungspostulat hängt mit der Tatsache zusammen, daß
das schlechthin Zusammenhanglose auch das schlechthin Unbegreifliche ist.“7
Das Lexem -log findet sich auch in Logik sowie als Endung diverser wissenschaftlicher Disziplinen, z.B.
Biologie. In der klassischen Rhetorik nach Aristoteles ist Logos, neben Ethos und Pathos eine der drei
Arten der Überzeugung.8
Logos Folgerichtigkeit und Beweisführung
Ethos Autorität und Glaubwürdigkeit
Pathos Rednerische Gewalt und emotionaler Appell
Bei aller Vieldeutigkeit ist der Logos die Sphäre des Philosophierens, etwas Verbindliches von Denken
und Welt. Als philosophisches Bewusstsein erinnert der Logos den Wissenschaftler an seine
„Begründungsverpflichtung“9, die Verantwortung zu Begründen, um einen Gedankengang nachvollziehbar
zu präsentieren.
Der Altgriechische Begriff Arché (ἀρχή) bedeutet Anfang, Ursprung oder Prinzip, wobei Arché sich auf
den Ursprung alles Seienden und des Erkennens des Seienden bezieht. In diesem Sinne kommt dem
Begriff auch die Bedeutung Grund zu, denn die Frage nach dem Ursprung der Welt (Warum ist die Welt
so wie sie ist?) wird mit Gründen, bzw. Grundannahmen, beantwortet. Die Vorsokratiker fanden auf die
Frage nach der Arché der Welt unterschiedliche Antworten. So erklärte Thales das Wasser als Urstoff,
Anaximander nannte an selber Stelle das Apeiron (ἄπειρον), d.h. das Unbegrenzte, Demokrit die Atome
und Anaximenes die Luft.10 Gesucht wurde offenbar nach Elementen (Wasser, Luft), bzw. Modellen
(Apeiron, Atome) die erklärten, wie die Welt konstruiert sei. In Abgrenzung zum traditionellen Mythos
7 Krings, Hermann: Handbuch philosophischer Grundbegriffe, München 1973, S. 645.8 Rapp, Christof: Aristoteles-Handbuch : Leben - Werk - Wirkung, Stuttgart 2011, S. 157.9 Mittelstraß, Jürgen: Die Begründung des principium rationis sufficientis. In: Lorenz, Kuno: Philosophische
Variationen : gesammelte Aufsätze unter Einschluss gemeinsam mit Jürgen Mittelstrass geschriebener Arbeiten zu Platon und Leibniz, Berlin 2011, S. 80.
10 Mansfeld, Jaap: Die Vorsokratiker : Griechisch/Deutsch, Stuttgart 2011, S. 11, 37, 54, 80.
4
der Schöpfung der Welt durch die Götter, entstand so ein Weltbild, das auf Beobachtungen der Natur,
ersten Ideen und logischen Schlüssen gegründet war. Im Bewusstsein vieler Menschen der Antike muss so
ein Wandel verlaufen sein: die Welt war nicht länger ein Wunder der Schöpfung der Götter, sondern ein
differenzierter Gegenstand, dessen Geheimnisse durch das Denken aufgedeckt werden konnten.
Durch die Ausdifferenzierung der kosmologischen Erklärungsmodelle mit einem Ursprung – der Arché –,
verschob sich die Nuance der Fragestellung mehr und mehr in Richtung Wie ist die Welt geworden und
wie funktioniert sie?. Dieselbe Frage ist noch heute Ausgangspunkt naturwissenschaftlicher
Untersuchungen. Dieses Wie wird und funktioniert die Welt? fragt dezidiert nach Prozessen, Abläufen
und kausalen Zusammenhängen. Ursachen rücken in den Fokus der wissenschaftlichen Untersuchung, weil
durch die Ergründung des Gewordenseins das Sein der Welt erklärt und das Werden der Welt, im Sinne
eines gesetzmäßigen Prozesses, prognostiziert werden kann.
Die Einteilung in Gewordensein (Vergangenheit), Sein (Gegenwart) und Werden (Zukunft) ist die
Gesetzmäßigkeit der kausalen Zeit, dessen Ursprung die antike Philosophie als Arché bezeichnete.
Die Frage nach dem Funktionieren der Welt deutet auf das Verständnis einer Konstruktion der Welt.
2.2 Aristoteles – Vier-Ursachen-Lehre
Aristoteles hat die Frage, was ein Grund sei, mit seiner Vier-Ursachen-Lehre beantwortet11. Er verwendet
den Begriff Aitia (αἰτία), was Ursache, aber auch Grund oder Erklärung bedeutet. Um ein Seiendes
vollständig zu erfassen, benötigt man nach Aristoteles Wissen in viererlei Hinsicht:
1. Stoff, Materie (gr. hyle, lat. causa materialis)
2. Form, Gestalt (gr. eidos, morphe, lat. causa formalis)
3. Bewegung, Ursprung der Veränderung (gr. kineseos, arche tes metaboles, lat. causa efficiens)
4. Ziel oder Zweck der Veränderung (gr. telos, lat. causa finalis)
11 Thomä, Dieter: Heidegger-Handbuch : Leben, Werk, Wirkung, Stuttgart 2013, S. 247.
5
Ein Beispiel dazu: Die causa materialis unseres Segelboots ist Stahl am Rumpf, Holz in den Aufbauten
und im Innenraum, Kunststoffe und Segeltuch in der Takelage. Seine causa formalis ist dem Bootstyp
„Yawl“ getreu die klassische Form eines Einmasters auf 8,50 Meter Lauflänge. Die Mast misst 9 Meter in
der Höhe. Der Rumpf ist unter Wasser rot, über Wasser blau, das Deck weiß gestrichen. Vor- und
Großsegel messen zusammen 24 m². Die causa efficiens des Segelboots ist der Wind. Die causa finalis
ist die Reise zu Wasser, das Segeln.
2.3 Die deutsche Mystik – Seelengrund und Vernunft
Im Mittelalter gewinnt der Begriff Grund seine theologische Färbung. Insbesondere die Deutsche Mystik
im 14. Jahrhundert und ihre geistlichen Autoren Meister Eckhart (1260-1328), Johannes Tauler (1300-
1361) und Jakob Böhme (1275-1324) prägten die Bedeutung von Grund als Innerlichkeit und Tiefe.12
„Gottes Grund und der Seele Grund ist ein Grund.“13
Karin Bendszeit beschreibt die Entwicklung des Begriffs grunt in der Deutschen Mystik in ihrem Artikel
„Grund“, der im Historischen Wörterbuch der Philosophie, Band 3, veröffentlicht wurde. Im folgenden
Absatz fasse ich zusammen, was aus diesem Artikel relevant für meine Arbeit ist.
Grund wird synonym für Geist, Seele, Wesen verwendet. Außerdem ist Grund Metapher für Gott
(Gottesgrund, das unergründliche Wesen Gottes) sowie das höchste Seelenvermögen (Seelengrund). Der
Seelengrund ist der Bereich des Mentalen, in dem der Mensch zu Gott findet. Bei Meister Eckhart stellt
grunt so den Bereich der Identifikation des Menschen mit Gott dar: „Hie ist gotes grunt mîn grunt unde
mîn grunt gottes grunt.“14 Die Lehre von der Gottähnlichkeit des menschlichen Geistes steht in
platonischer Tradition. Im Sinne der Introversionsmystik, ist Gotteserkenntnis für Eckhart zugleich
Selbsterkenntnis. Wenn aber die Seele erkennt, dass sie Gott erkennt, so gewinnt sie zugleich Erkenntnis
12 Ritter, Joachim: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Basel 1974, Artikel Grund, Band 3, S.90213 Ebd. S. 90314 Ritter, Joachim: Historisches Wörterbuch der Philosophie, S. 903.
6
von Gott und von sich selbst.15 „In der Abgeschiedenheit schaut die sich an das eigene Ich versenkende
Seele in ihrem grunt wie in einem Spiegel das Bild Gottes und wird im Zustande der einunge durch
göttliche Gnade das, was Gott seinem Wesen nach ist.“16 Grunt ist höchste Seelenkraft, Innerstes der
Vernunft, Innerstes der Seele oder einfach das Geistige im Menschen im Sinne von Seele. Johannes
Tauler betont die Örtlichkeit des Grundes. grunt wird mit Verben der Bewegung phrasiert: „in den grunt
gon“, „sich in den grunt keren“. Der Grund ist der Ort, an dem Gott und Seele sich treffen. Das Wort
Grund ist der deutschen Mystik auch als Bezeichnung für Ursprung, aus dem etwas hervorgeht, bekannt:
„Ich heiße den grunt den usqual und den ursprung, us dem die usflusse entspringet.“ 17 Jakob Böhme
prägt den Begriff des Ungrundes im Gegensatz zu Grund. Der Ungrund ist das Nichts. „Dieser Ungrund
ist tiefer als sich ein Gedanke schwingen mag; er ist die Unendlichkeit.“18
Etymologisch passiert in der Deutschen Mystik etwas Bemerkenswertes. Der Begriff grunt, der zuvor
durchaus gebraucht wurde, wird in neuer Art und Weise verwendet, um etwas auszusagen, wofür keine
adäquaten Begriffe zur Verfügung standen. Bernard McGinn formuliert es in „Die Mystik vom Grund“
wie folgt: „Grunt ist ein schlichter Begriff räumlicher und taktiler Unmittelbarkeit. Doch ist es auch ein
außerordentlich komplexes Wort, das das erschafft was Josef Quint ein mystisches Wortfeld nannte, das
heißt eine neue Art und Weise, eine Vielfalt von Wörtern und Metaphern neu zu verwenden.“19 Das
mystische Wortfeld wird von Josef Quint in „Mystik und Sprache“ wie folgt beschrieben: „Und so wächst
denn aus innerster Denk- und Sprachnot hervorgetrieben, zur adäquaten Benennung des innersten
Seinsgrundes der Seele wie des göttlichen Urgrundes ein mystisches Wortfeld, das weithin durch
metaphorische, bildliche Ausdrücke das sprachlich auszusagen versucht, was begrifflich nicht zu fassen
ist.“20
In der Deutschen Mystik gewinnt der Begriff Grund somit nicht nur die Bedeutung von Tiefe und
15 Meister Eckhart, Traktat 1, Die deutschen Werke, Hg. Josef Quint, Stuttgart 1963 Bd. 5, S. 11716 Ritter, Joachim: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Basel 1974, Artikel Grund, Band 3, S. 903.17 Ebd. S. 90518 Ritter, Joachim: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Basel 1974, Artikel Grund, Band 3, S. 905.19 Bernard McGinn, Die Mystik im Abendland, Freiburg 1994, S. 151.20 Bernard McGinn, Die Mystik im Abendland, Freiburg 1994, S. 151.
7
Innerlichkeit, sondern ist zentral in der Ausprägung eines Wortfeldes. Dieses Wortfeld setzt den Begriff
Grund in einen Zusammenhang mit Begriffen, die ihm eine theologisch-psychologische Färbung geben.
2.4 Martin Heidegger – Sein und Grund, das Selbe
In Der Satz vom Grund beschäftigt sich Heidegger eingehend und ausführlich mit Leibniz' Prinzip des
zureichenden Grundes. Heidegger zitiert einen Vers von Angelus Silesius, ein deutscher Mystiker, auf den
auch Leibniz Bezug nahm.21 Heidegger macht deutlich wie die Dichtung der Mystik dem Denken voran
ginge und sowohl Heidegger als auch Leibniz scheinen von der Gewichtigkeit folgender Verse überzeugt
gewesen zu sein:
„Die Ros ist ohn' warum,
sie blühet, weil sie blühet,
sie acht' nicht ihrer selbst,
fragt nicht ob man sie siehet.“22
Die Rose habe ein verborgenes Sein, das nicht nach der eigenen Ursache fragt, sondern für sich den
Schein des Schönen besitzt. Wenn wir die Ursachen der blühenden Rose ergründen, verwehrt sich uns der
Rose Sein. Das Sein der Rose kann durch eine Art kontemplatives Betrachten erfahren werden, nicht
jedoch mit der Frage nach der Ursache.
Dieses besinnende Denken hat. So Heidegger, ebenfalls einen Grund: das Sein. Das Sein ist Grund des
Seienden. Kennzeichnend für die abendländische Philosophie ist, dass stets ein Seiendes mit einem
anderen Seienden in einen kausalen Zusammenhang gebracht wurde. Das Sein der Seienden ist jedoch
den Kausalzusammenhängen übergeordnet zu begreifen.21 Heidegger, Martin: Der Satz vom Grund, Pfullingen 1957, S. 69.22 Ebd., S. 68.
8
Kontemplatives Betrachten ist besinnendes Denken.
Heideggers Denken der kontemplativen Erkenntnis des Seins lässt sich nicht auf Begründungen stützen,
denn „Heideggers besinnliches Denken verfährt weniger argumentativ als intuitiv.“23 Dementsprechend
lassen sich Seinserkenntnisse kaum auf rationale Beweise stützen. Man könne die Ideen jedoch im
eigenen Denken nachvollziehen und so zu einem Verständnis des Seins gelangen. „Beim besinnlichen
Denken kann nur jeder für sich selbst wissen, ob er das gesuchte Sein gefunden und verstanden hat oder
nicht.“24
„Welches ist der Grund für den Satz vom Grund?“25 Martin Heidegger antwortet: das Sein. „Zwar sage
der Satz vom Grund etwas über das Seiende und unsere Urteile darüber aus, er selbst gründe aber nicht
auf Seiendem, sondern im Sein.“26
Der mystische Gottesbegrif bei Meister Eckhart und der Seinsbegrif bei Martin Heidegger ähneln sich
strukturell:
Eckhart: „Gottes Grund und der Seele Grund ist ein Grund.“27
Heidegger: „Sein und Grund – das Selbe.“28
„Das Sein des Seienden war in der abendländischen Geschichte in Vergessenheit geraten.“29 Der Satz vom
Grund habe eine „Inkubationszeit“30. In den Jahrtausenden der Philosophie ist der Satz vom Grund
immer wieder emporgetaucht, durchgesetzt hat er sich jedoch erst im 17. Jahrhundert bei Gottfried
Wilhelm Leibniz.
23 Thomä, Dieter: Heidegger-Handbuch, S. 249.24 Ebd., S. 250.25 Heidegger, Martin: Der Satz vom Grund, S. 27.26 Thomä, Dieter: Heidegger-Handbuch, S. 248.27 Ritter, Joachim: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Basel 1974, Artikel Grund, Band 3, S.90328 Heidegger, Martin: Der Satz vom Grund, S. 129.29 Thomä, Dieter: Heidegger-Handbuch, S. 249.30 Heidegger, Martin: Der Satz vom Grund, S. 15.
9
3. G.W. Leibniz: Das Prinzip des zureichenden Grundes – Relatives im Absoluten
In seiner Existenz als prägender Begriff der abendländischen Philosophie gelangt der Begriff Grund zu
Beginn der europäischen Moderne zu einer langen, fruchtbaren Blüte. Im Geiste einer neuen,
mechanistischen Philosophie ist es insbesondere die Bedeutungsebene der Konstruktion die im
Zusammenhang mit Grund betont und weiterentwickelt wird.
Die Epoche des Rationalismus hat sowohl in den Wissenschaften mit Gottfried Wilhelm Leibniz (1646-
1716) -Nichts ist ohne Grund.-, Isaac Newton (1643-1727) -Grundgesetze der Bewegung- und René
Descartes (1596-1650) -cogito ergo sum-, als auch im Politischen mit Louis XIV. (1638-1715) -L'état,
c'est moi!- einen Hang zum Absoluten.
Wo das Absolute so offensichtlich ist, kann das Relative nicht weit sein, denn das eine verhält sich zu
dem anderen wesentlich dualistisch und tatsächlich ist die Hülle des Prinzips - oder wie Gilles Deleuze
es formuliert: die sich „entfaltende Falte“31 – noch absolut, das sich Enthüllende jedoch bereits relativ.
Die Extension des Begriffs Grund ist absolut, seine Intension hingegen relativ, d.h. die Hülle kann
absolut sein, das sich Enthüllende ist relativ. Zwar handelt es sich um ein Prinzip und Prinzipien haben
einen absoluten Anspruch auf Gültigkeit, doch sind die Prinzipien bei Leibniz relative Prinzipien. Das
absolute All der Schöpfung Gottes ist bei Leibniz bereits ein relatives Ganzes (gr. holon – Ganzes).
Diese Auffassung spiegeln die Prinzipien seiner Philosophie, denn indem die Prinzipien absolut gelten,
enfaltet sich ihre intrinsische Relativität.
Zur Relativität seiner Prinzipien schreibt Leibniz in einem Brief an Des Bosses vom 7.11.1710: „Meine
Prinzipien sind so, dass sie voneinander kaum getrennt werden können. Wer eines gut kennt, kennt
alle.“32
31 Deleuze, Gilles: Die Falte : Leibniz und der Barock, Frankfurt aM 1996, S. 71.32 Leibniz, Gottfried Wilhelm: Der Briefwechsel mit Bartholomäus Des Bosses, Hamburg 2007, S. 191.
10
3.1 Relevanz des Prinzips des zureichenden Grundes – Alles hat einen Grund!
Das Prinzip des zureichenden Grundes fügt den Begriff Grund in ein Prinzip. G.W. Leibniz hat seine
Philosophie aus prinzipiellen Axiomen entfaltet, wobei die grundlegenden Prinzipien ihm als
differenzierte Werkzeuge, bzw. als Schlüssel zum Verständnis, dienten.
„Der Satz vom Grund ist für Leibniz ein allgemeiner Schlüssel, der den Zugang zum Verständnis des
Universums eröffnet. Für uns ist der Satz vom Grund auch die Chiffre, um das Denken Leibnizens zu
verstehen oder, wie er selbst sagt, „der Schlüssel der ganzen Monadologie“.“33
Die Relevanz der Prinzipien in der Philosophie von Leibniz ist nicht hoch genug einzuschätzen. Zum
Verständnis seiner Philosophie kommt den Prinzipien (1) Prinzip des Widerspruchs und (2) Prinzip des
zureichenden Grundes eine zentrale Rolle zu.
Der ursprüngliche Wortlaut des Prinzips des zureichenden Grundes in der Monadologie lautet:
„§31 Unsere Überlegungen gründen auf zwei großen Prinzipien, demjenigen des Widerspruchs, aufgrund
dessen wir das als falsch beurteilen, was Widersprüchliches oder Falsches einhüllt und als wahr, was
diesem entgegengesetzt ist, ... §32 und dasjenige des zureichenden Grundes, aufgrund dessen wir keine
Tatsache als wahr oder existierend annehmen, keine Aussage als wahrhaftig, ohne dass es einen
zureichenden Grund gäbe, weswegen es sich so verhielte und nicht anders, obgleich sehr häufig diese
Gründe uns nicht bekannt sein können.“34
3.2 Anwendungsbereiche – Logischer und ontologischer Grund
Aus dem Wortlaut der Monadologie §32 wird deutlich, dass ein Grund bei Leibniz epistemologische
Verwendung in zweierlei Hinsicht findet:
33 Cristin, Renato: Rechnendes Denken und besinnendes Denken: Heidegger und die Herausforderung der Leibnizschen Monadologie am Beispiel des Satzes vom Grund, in: Studia Leibnitiana 24 (1), Januar 1992, S. 94f.
34 Leibniz, Gottfried Wilhelm: Monadologie und andere metaphysische Schriften, Hamburg 2014, S. 111.
11
(a) Anwendung auf die ontologische Ergründung der Tatsachen der Welt als Ganzes.
Was ist der Grund für die Tatsachen der Welt als Ganzes?
(b) Anwendung auf die logische Begründung von Aussagen.
Welcher Grund lässt eine Aussage wahr sein?
(a) Anwendung auf die Ergründung der Welt
Grund Prinzip des zureichenden Grundes
(b) Anwendung auf die Begründung von Aussagen
Bei der Beantwortung beider Fragen werden Gründe als konstruktive Beweise, verwendet. Die Intention
von (a) ist das Sein der Welt ontologisch zu erklären. Die Intention von (b) ist die Erkenntnis einer
wahren Aussage logisch zu erklären.
(a) Jedes Ding hat eine causa sui, d.h. jede „einzelne Substanz“35 hat ein Vorhergehendes, einen
Grund. So gesehen ist die Welt ein Prozess, der zu großen Teilen von Ursache und Wirkung kausal
bestimmt wird.
Faktisch: Ereignis1 Ereignis→ 2
Ontologisch: Ursache Wirkung→
(b) Für Leibniz gilt, dass eine wahre Aussage das Prädikat in ihrem Subjekt einschliesst.
Ein Beispiel: Jede Ursache ist wirklich. Wenn alle Ursachen wirklich sind, dann muss das Prädikat
35 Ebd., S. 111.
12
'wirklich' notwendigerweise im Subjekt 'Ursache' enthalten sein.
Leibniz wendet das Prinzip des zureichenden Grundes für ontologische Schlüsse der Welt in ihrem
Ganzen und ihrem Werden sowie auf logische Folgerungen der Wahrheit von Aussagen an. Dabei gleicht
der ontologische Grund der Welt einer expliziten Rekonstruktion eines kausalen Prozesses. Die logische
Folgerung, die dem gleichen Prinzip unterliegt, kann ebenso als Konstruktion verstanden werden, denn sie
gibt einer wahren Aussage innere Kohärenz in dem Sinne, dass ein Subjekt zwangsläufig mit den
prädikativen Beschreibungen eines Satzes zusammenhängt. Beide Anwendungen - Ergründung der Welt
durch kausale Rekonstruktion der Welt und Begründung der Wahrheit durch kohärente Konstruktion von
Sätzen - sind ihrem Wesen nach konstruktiv.
3.3 Geltungsbereiche – Notwendigkeit und Kontingenz
Leibniz unterscheidet notwendige und kontingente Wahrheiten.36 Notwendige Wahrheiten bezeichnet
Leibniz als logische Wahrheiten, ewige Wahrheiten oder Wahrheiten der Vernunft. Vernunftwahrheiten
sind apriorisch wahr. Wer sie erkennt, gelangt zu Vernunftwissen. Wahrheiten der Vernunft sind deswegen
wahr, weil ihr Gegenteil unmöglich ist. Dem Gegenüber stehen kontingente Wahrheiten, die gleichsam als
faktische Wahrheiten oder Wahrheiten der Erfahrung bezeichnet werden. Erfahrungswahrheiten sind
aposteriorisch wahr. Wer eine Erfahrung macht, gelangt zu Erfahrungswissen.
Notwendige Wahrheiten Kontingente Wahrheiten
Wahrheiten der Vernunft Wahrheiten der Erfahrung
Vernunftwissen Erfahrungswissen
apriorisch-wahr aposteriorisch-wahr
Überlegung Tatsache
36 Vergleiche dazu: Krämer, Sybille: Tatsachenwahrheiten und Vernunftwahrheiten (§§28-37). In: Gottfried Wilhelm Leibniz. Monadologie. Hrsg. Hubertus Busche, Akademie Verlag, Berlin 2009, S. 95-112
13
Menschlicher Geist Menschlicher Geist Tierische Seele
Notwendiger Prozess Zufälliger Prozess
Logik Faktizität
Prinzip des Widerspruchs Prinzip des zureichenden Grundes
Insbesondere gilt das Prinzip des zureichenden Grundes für die Begründung von kontingenten
Wahrheiten. Wahrheiten der Erfahrung stützen sich wesentlich auf Begründungen, denn erst durch
Begründung wird etwas Zufälliges wahr und somit zu einer Erfahrung, die jenseits der Sinnesempfindung
ontologisch wahr ist. Erfahrungswissen ist Wissen in Zusammenhängen. Oder anders formuliert: Die
Bedingung für Begründungen ist ein gedanklicher Zusammenhang.
„Das Begründungspostulat hängt mit der Tatsache zusammen, daß das schlechthin Zusammenhanglose
auch das schlechthin Unbegreifliche ist.“37, um nocheinmal Auf Röd zurückzukommen.
Ein Beispiel dazu: Es ist bewölkt. Der Tatbestand einzig ist eine Feststellung, die der Begründung bedarf,
damit wir verstehen, „warum“ es bewölkt sei. Dieser Punkt ist kritisch, denn - so stellt Heidegger später
fest - die Betrachtung der Wolken kann bereits zu Erkenntnis führen, im Sinne der Kontemplation.
Leibniz jedoch fragt nach dem „warum“ der Wolken und findet in der kausalen Rekonstruktion von
Ursache und Wirkung den Grund der Wolken. Meteorologische Erkenntnisse sind somit kontingente
Wahrheiten, die aus der anfänglichen Feststellung „es ist bewölkt“ im Sinne des Prinzips des
zureichenden Grundes gefolgert werden.
37 Röd, Wolfgang: Grund. In: Handbuch philosophischer Grundbegriffe. Hrsg. Krings, Hermann. München 1973, Band 3, S. 645.
14
Kausale (Re-) Konstruktion ← → betrachtende Kontemplation
Notwendige Wahrheiten erkennt man daran, dass Ihr Gegenteil unmöglich, d.h. widersprüchlich, ist. Ein
Beispiel dazu wäre: Im Sonnensystem scheint die Sonne ewig. Im Subjektbegriff „Sonnensystem“ ist
offensichtlich das Prädikat „Die Sonne scheint ewig“ enthalten. Diese Analyse im Sinne des praedicatum
inest subiecto ist noch einfach. Den Begriff Sonnensystem kurz analysiert, ergäbe, dass es sich um einen
Begriff aus der Naturwissenschaft handelt, der voraussetzt, dass die Sonne im Zentrum eines Systems
steht, und wenn es die Sonne nicht gäbe auch kein Sonnensystem existierte. Deswegen scheint die Sonne
im Sonnensystem, und zwar ewig. Viel komplizierter wird es, wenn das Prädikat nicht offensichtlich in
seinem Subjekt enthalten ist und trotzdem bewiesen werden soll, dass es sich um eine logische Wahrheit
handelt. Dazu werden Begriffe durch analytische Verfahren in ihre Prädikate zerlegt, bis sich notwendige
Bedingtheiten ergeben.
Die beiden Beispiele zeigen, dass Leibniz das Wetter durch eine Ergänzung von kontingenten und
notwendigen Wahrheiten denken würde.
Die Leibnizschen Prinzipien erheben den Anspruch universaler Geltung, mit ihrer Hilfe könne man alles,
darunter auch die Welt, erklären. Einleitend hatte ich erwähnt, dass die Zeit des Rationalismus einen
Hang zum Absoluten hatte, bzw. die Hülle absolut, das sich Enthüllende hingegen relativ sei. Die
Inhärenz des Relativen im Absoluten zeigt sich in besonders relevanter und schöner Form am Ad-
Infinitum-Problem.
3.4 Probleme – Begründungen ad-infinitum und Reflexion
Ein Problem bei der Begründung kontingenter Wahrheiten ist das Ad-Infinitum-Problem. Begründungen
können ins Unendliche (ad infinitum) fortgeführt werden, wenn man ihnen ausschließlich die
Gesetzmäßigkeit von Ursache und Wirkung zu Grunde legt, und wenn gelten soll, dass alles einen Grund
hat.
15
Die Forderung der Letztbegründung der Naturwissenschaft mit den Mitteln der Metaphysik stammt aus
der aristotelischen Tradition und ist für den Rationalismus ebenso gültig. In den Naturwissenschaften
wurde Letztbegründung häufig durch „Evidenz“38 erreicht. Grundsätze einer Wissenschaft waren lange
Zeit unanfechtbar, da sie „infolge ihrer höchstgradigen Einsichtigkeit“39 als wahr galten. Streng genommen
konnten allerdings für diese Grundsätze weitere Gründe angegeben werden. Der „Begründungsregress“40
wurde somit zwar durch Evidenz unterbrochen, jedoch nicht gelöst.
In der Monadologie heißt es in §37 und §38: „Der zureichende oder letzte Grund muss also außerhalb
der Folge oder Reihe dieser einzelnen Kontingenten sein, wie unendlich sie auch sein mögen. Und so
muss der letzte Grund der Dinge in einer notwendigen Substanz liegen, worin einzelne Veränderungen
allein eminent sind, wie in ihrer Quelle, und dies nennen wir Gott.“41
Leibniz setzt als letzten Grund Gott. Das eigentümliche und brillante seiner Monadentheorie besteht
darin, dass dieser letzte Grund - Gott - kein extrinsischer ist, denn durch die Relativität der Monaden ist
die Form des göttlichen Geistes jedem Menschen intrinsisch existent. Der menschliche Geist repräsentiert
den göttlichen Geist der absoluten Vernunft. In diesem Sinne ist die Form des göttlichen Geistes identisch
mit der Form des menschlichen Geistes. Gott ist allwissend, den er überblickt die gesamte Schöpfung und
damit sowohl die kontingenten sowie die notwendigen Wahrheiten. Das Wissen des Menschen hingegen
ist beschränkt. Allerdings liegt im Menschen, nämlich in der Vernunft, das Potential die Welt in ihrer
Gesamtheit zu verstehen.
Weil der letzte Grund Gott ist und weil Gottes Form als Vernunft dem Menschen innerlich existent ist, ist
der letzte Grund im Menschen zu finden, nämlich in seiner Gemeinsamkeit mit Gott: der Vernunft.
Ausgangs- und Endpunkt eines vernünftigen Gedankens ist das Denken. Die Möglichkeit eine
38 Ebd., S. 646.39 Ebd., S. 645.40 Ebd., S. 646.41 Leibniz, Gottfried Wilhelm: Monadologie und andere metaphysische Schriften, Hamburg 2014, S. 127.
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Begründung zureichend zu nennen, liegt in der reflexiven Möglichkeit das Gedachte als selbst-gedacht zu
bezeichnen. Indem das Gedachte reflexiv betrachtet wird, kann der konfusen Orientierungslosigkeit des
Unendlichen entgangen werden. Der notwendige Schluss des Ad-Infinitum-Problems ist daher die
Reflexion.
Leibniz' Definition der Reflexion ist nach wie vor aktuell: „Nun ist aber die Reflexion nichts anderes als
die Aufmerksamkeit auf das, was in uns ist; und die Sinne geben uns das nicht, was wir schon in uns
tragen.“42
4. Fazit – Kontemplation und Konstruktion
Je nachdem wie der Begriff Grund betrachtet wird, ergeben sich Perspektiven, die verschiedene Aspekte
des Begriffs kenntlich werden lassen. Grund ist ein prinzipieller Begriff, der den inneren Kern einer
Theorie definiert. Dem Begriff Grund kommt ursächliche, prinzipielle Bedeutung zu. Eine Differenz
besteht in der Spezifizierung des Prinzips. Wenn von Grund als besinnendes Denken ausgegangen wird,
ergeben sich Schlüsse, die kontemplativ nachzuvollziehen sind, wie sich am Beispiel der grundsätzlichen
Konzeption der Philosophie Heideggers zeigt. Dem gegenüber sehe ich das berechnende Denken, aus dem
sich Folgerungen ergeben, die konstruktiv zu verstehen sind, z.B die Konzeption der konstruktiven
Beweisführung bei Leibniz. Wie zu zweifelsfreien Gründen zu gelangen sei, macht das epistemologische
Fundament einer Philosophie aus, denn Gründe sind stets Bestandteil von Erkenntnissystemen.
Aus der Untersuchung des Begriffs Grund ergibt sich komplementär, dass einen Grund zu denken, ein
Denken der Verinnerlichung ist. Grund ist ein tiefgehender Begriff, etwas das erst intuitiv verstanden
seine Wirkung entfalten kann. Um zu einem zweifelsfreien Grund zu gelangen, macht es Sinn einen
Gedanken auf eine Einfachheit zu reduzieren. Durch dieses reduzierende Denken auf das intuitiv42 Leibniz, Gottfried Wilhelm: Neue Abhandlungen über den menschlichen Verstand : Buch I-II. Hrsg. von
Engelhardt, Wolf. Darmstadt 1985, S. XVII.
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Verständliche, Einfache, gewinnt ein Grund an Tiefe. Je klarer ein Grund erkannt und verinnerlicht ist,
desto einleuchtender und sicherer kann aus ihm gefolgert werden.
Ein isolierter Grund kann bloß Ausgangspunkt, Arché (ἀρχή) sein. Der Zusammenhang des Logos
(λόγος) ist ein Zusammenhang von Gründen. Zusammenhänge begründend zu rekonstruieren ist das
Entdecken einer Welt, die sich fortwärend als Prozess ausbildet. Der Metaphysiker sieht nun in diesem
Prozess Gesetzmäßigkeiten, die, ob nun ontologisches Prinzip des Geistes oder physikalisches
Naturgesetz, diesen Prozess des Weltgeschehens prognostizierbar machen, denn die Welt hat Ursachen
(αἰτία), die eine Wirkung haben. Kausalität bedeutet Gründe in Zusammenhängen zu denken.
Der kontemplative Grund ergründet, indem eine Verinnerlichung in die Tiefe auf das Einfache vollzogen
wird – konstruktive Gründe begründen, indem Zusammenhänge hergestellt werden. Dabei ist die
Kontemplation ein ruhender Ausgangspunkt, die Konstruktion eine entdeckende Bewegung im Denken.
Die Kontemplation des Grundes sichert die Intuition, die Konstruktion von Grund auf gestaltet die
metaphysische Welt.
Erkenntnis (Werden)
Grund (Sein)
Konstruktion Kontemplation (Wesen)
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5. Bibliographie
Primärliteratur
Leibniz, Gottfried Wilhelm: Monadologie und andere metaphysische Schriften: französisch - deutsch,
Hamburg 2014.
Leibniz, Gottfried Wilhelm: Die philosophischen Schriften von Gottfried Wilhelm Leibniz, Hildesheim
1960.
Leibniz, Gottfried Wilhelm: Neue Abhandlungen über den menschlichen Verstand: Buch I-II, von
Engelhardt, Wolf (Hrsg.), Darmstadt 1985.
Sekundärliteratur
Deleuze, Gilles: Die Falte: Leibniz und der Barock, Frankfurt aM 1996.
Evangelisch-Reformierte Landeskirche des Kantons Zürich. Kirchenrat: Zürcher Bibel, Zürich 2007.
Heidegger, Martin: Der Satz vom Grund, Pfullingen 1957.
Mansfeld, Jaap: Die Vorsokratiker: Griechisch/Deutsch, Stuttgart 2011.
Perilli, Lorenzo: Logos: Theorie und Begriffsgeschichte, Darmstadt 2013.
Sartori, Giovanni: Demokratietheorie, Darmstadt 2006.
Eläuterungen zu Leibniz
Liske, Michael-Thomas: Gottfried Wilhelm Leibniz, München 2000.
Lorenz, Kuno: Philosophische Variationen: gesammelte Aufsätze unter Einschluss gemeinsam mit Jürgen
Mittelstrass geschriebener Arbeiten zu Platon und Leibniz, Berlin 2011.
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Zitierte Aufsätze
Cristin, Renato: Rechnendes Denken und besinnendes Denken: Heidegger und die Herausforderung der
Leibnizschen Monadologie am Beispiel des Satzes vom Grund, in: Studia Leibnitiana 24 (1), Januar
1992, S. 93–100.
Wörter- und Handbücher
Krings, Hermann (Hrsg.): Handbuch philosophischer Grundbegriffe, München 1973.
darin insbesondere: Röd, Wolfgang: Grund. Band 3.
Rapp, Christof (Hrsg.): Aristoteles-Handbuch: Leben - Werk - Wirkung, Stuttgart 2011.
Regenbogen, Arnim (Hrsg.): Wörterbuch der philosophischen Begriffe, Hamburg 2013.
Ritter, Joachim (Hrsg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie, Basel 1971.
darin insbesondere: Arndt, H.W.: Kausalitätsprinzip. Band 4.
Bendszeit, Karin: Grund. Band 3.
Scheibe, Erhard: Kausalität. Band 4.
Scheibe, Erhard: Kausalgesetz. Band 4.
Thomä, Dieter (Hrsg.): Heidegger-Handbuch : Leben, Werk, Wirkung, Stuttgart 2013.
darin insbesondere: Wetz, Franz Josef: „Der Satz vom Grund“. Ab-gründiges Denken.
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