Zur Situation der Mauereidechse (Podarcis muralis) im Fürstentum Liechtenstein und im...

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Zeitschrift für Feldherpetologie 15: 43–48 März 2008 Zur Situation der Mauereidechse (Podarcis muralis) im Fürstentum Liechtenstein und im schweizerischen Alpenrheintal JÜRGEN B. KÜHNIS 1 & HANS SCHMOCKER 2 1 Jägerweg 5, FL-9490 Vaduz, [email protected] 2 Tellostr. 21, CH-7000 Chur, [email protected] Increase of the common wall lizard (Podarcis muralis) in the Principality of Liechtenstein and the Swiss alpine Rhine valley The compilation of the data of three regional inventories of reptiles in the Alpine Rhine valley between Chur and Lake Constance (400 to 580 m above sea level) shows a constant increase of the common wall lizard (Podarcis muralis) during the last two decades. From the first regional detection of this introduced species in 1945 up to the year 2006, 290 records have been reported. Due to the trend in the observed lowland areas of the Rhine valley the following conclusions may be drawn: In the last 20 years the common wall lizard expanded strongly in the settlement areas and along railway tracks, highways and river embankments. Key words: Reptilia, Squamata, Sauria, Lacertidae, Podarcis muralis, distribution, habitat, introduced species. Zusammenfassung Die Datensynthese von drei regionalen Reptilieninventaren im Alpenrheintal zwi- schen Chur und dem Bodensee (400 bis 580 m üNN) verdeutlicht die starke Ausbrei- tung der Mauereidechse (Podarcis muralis) innerhalb der letzten Jahrzehnte. Für die Zeitspanne von 62 Jahren zwischen dem regionalen Erstnachweis dieser allochtho- nen Art im Jahre 1945 und dem Jahr 2006 liegen insgesamt 290 Beobachtungen vor. Wie der Entwicklungsverlauf in den untersuchten Tallagen des Rheineinzugsgebie- tes zeigt, hat sich die Mauereidechse in den letzten 20 Jahren stark ausgebreitet und scheint diesen Landschaftskorridor grossräumig zu erobern. Heutige Hauptvor- kommen liegen im Siedlungsgebiet sowie entlang von Fluss-, Autobahn- und Bahn- dämmen. Schlüsselbegriffe: Reptilia, Squamata, Sauria, Lacertidae, Podarcis muralis, Verbrei- tung, Habitat, allochthone Art. Einleitung Die Mauereidechse gilt als die einzige Reptilienart Mitteleuropas mit einem auffälli- gen Arealgewinn in den letzten Jahrzehnten. Dieser Ausbreitungstrend zeigt sich auch im Alpenrheintal. Bei diesen regionalen Vorkommen scheint es sich analog vieler Standorte im östlichen schweizerischen Mittelland (HOFER et al. 2001) um durch den © Laurenti-Verlag, Bielefeld, www.laurenti.de

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Zeitschrift für Feldherpetologie 15: 43–48 März 2008

Zur Situation der Mauereidechse (Podarcis muralis) im Fürstentum Liechtenstein und im

schweizerischen Alpenrheintal

JÜRGEN B. KÜHNIS1 & HANS SCHMOCKER2

1Jägerweg 5, FL-9490 Vaduz, [email protected] 2Tellostr. 21, CH-7000 Chur, [email protected]

Increase of the common wall lizard (Podarcis muralis) in the Principality of Liechtenstein and the Swiss alpine Rhine valley

The compilation of the data of three regional inventories of reptiles in the Alpine Rhine valley between Chur and Lake Constance (400 to 580 m above sea level) shows a constant increase of the common wall lizard (Podarcis muralis) during the last two decades. From the first regional detection of this introduced species in 1945 up to the year 2006, 290 records have been reported. Due to the trend in the observed lowland areas of the Rhine valley the following conclusions may be drawn: In the last 20 years the common wall lizard expanded strongly in the settlement areas and along railway tracks, highways and river embankments. Key words: Reptilia, Squamata, Sauria, Lacertidae, Podarcis muralis, distribution, habitat, introduced species.

Zusammenfassung Die Datensynthese von drei regionalen Reptilieninventaren im Alpenrheintal zwi-schen Chur und dem Bodensee (400 bis 580 m üNN) verdeutlicht die starke Ausbrei-tung der Mauereidechse (Podarcis muralis) innerhalb der letzten Jahrzehnte. Für die Zeitspanne von 62 Jahren zwischen dem regionalen Erstnachweis dieser allochtho-nen Art im Jahre 1945 und dem Jahr 2006 liegen insgesamt 290 Beobachtungen vor. Wie der Entwicklungsverlauf in den untersuchten Tallagen des Rheineinzugsgebie-tes zeigt, hat sich die Mauereidechse in den letzten 20 Jahren stark ausgebreitet und scheint diesen Landschaftskorridor grossräumig zu erobern. Heutige Hauptvor-kommen liegen im Siedlungsgebiet sowie entlang von Fluss-, Autobahn- und Bahn-dämmen. Schlüsselbegriffe: Reptilia, Squamata, Sauria, Lacertidae, Podarcis muralis, Verbrei-tung, Habitat, allochthone Art.

Einleitung

Die Mauereidechse gilt als die einzige Reptilienart Mitteleuropas mit einem auffälli-gen Arealgewinn in den letzten Jahrzehnten. Dieser Ausbreitungstrend zeigt sich auch im Alpenrheintal. Bei diesen regionalen Vorkommen scheint es sich analog vieler Standorte im östlichen schweizerischen Mittelland (HOFER et al. 2001) um durch den

© Laurenti-Verlag, Bielefeld, www.laurenti.de

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Bahnverkehr eingeschleppte Tiere aus der Süd- und Westschweiz oder Italien zu handeln. Die heute gehäuften Vorkommen auf Bahnarealen im St. Galler Rheintal (Bad Ragaz, Sargans, Buchs und Staad) bestätigen diese Vermutung (BARANDUN & KÜHNIS 1999, 2001). Woher die Tiere stammen, ist kaum rekonstruierbar. Die Bündner Vorkommen weiter südlich scheinen hingegen von im Jahre 1945 entwichenen Indivi-duen eines Freilandterrariums in Malans abzustammen, in welchem Tiere aus der

Süd- und Westschweiz (Montagno-la TI und Lutry VD) gehalten wur-den (SCHNEPPAT & SCHMOCKER 1983). Eine zusätzliche Einschlep-pung mit der Bahn ist ebenfalls an-zunehmen. In Liechtenstein wurden Anfang der 1960er-Jahre von Privat-leuten aus Ferien im Tessin (Region Locarno) rund 10 Tiere mitgebracht und im Dorf Triesen angesiedelt (KÜHNIS 2006). Es ist deshalb anzu-nehmen, dass heute im Alpenrhein-tal beide Unterarten Podarcis m. muralis und m. maculiventris vor-kommen und sich genetisch durchmischen.

Projektgebiet

Das Untersuchungsgebiet (Abb. 1) betrifft die Tallagen (zwischen 400 und 580 m üNN) des Rheineinzugs-gebietes des Fürstentums Liechten-stein und der Schweizerischen Kantone St. Gallen und Graubün-den. Es umfasst eine Fläche von rund 250 km2 und verteilt sich auf die drei Gebiete etwa wie folgt: Das bündnerische Teilgebiet zwischen Fläsch (528 m üNN) und Chur (560 m üNN) umfasst etwa 60 km2. In Liechtenstein entfallen auf das schmale Talband zwischen Rhein und Hangfuß knapp 50 km2, und das St. Galler Rheintal mit einer Fläche von etwa 140 km2 erstreckt sich von Bad Ragaz (500 m üNN) bis ins Rheindelta (400 m üNN) (Tab. 1).

Abb. 1: Projektgebiet Alpenrheintal mit Fundorten nach Untersuchungsjahr. The investigated area in the Alpine Rhine valley with discovery sites per year.

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Tab. 1: Übersicht des Untersuchungszeitraums, Fläche und Anzahl Nachweise pro Teilgebiet. Overview of investigation periods, area and number of records per subsection.

Untersuchungszeitraum Fläche N Quelle Liechtenstein 1960–2006 50 km2 109 Herpetodatenbank FL Bündner Rheintal 1945–2006 60 km2 142 Herpetodatenbank GR St. Galler Rheintal 1976–2006 140 km2 39 Herpetodatenbank SG

Ergebnisse

Verbreitung und Lebensraum

Wie die aktuelle Verbreitungskarte (Abb. 1) zeigt, wurde die Art vor 1986 nur an vier Standorten nachgewiesen: Rebberge im Raum Malans-Landquart, Schloss Haldenstein nördlich Chur, einem Hausgarten in Triesen sowie im Friedhofgelände in Buchs. Seither hat sie von diesen Standorten aus sukzessiv neue Areale erobert und kommt heute vom südlichsten Fundort in Chur bis auf Höhe Buchs nahezu geschlossen vor. Im Bündner Rheintal konzentrieren sich die Vorkommen im Raum Fläsch-Malans und Landquart, wobei Ausläufer bereits das untere Prättigau, ein Seitental des Rheintals erreichen. Dort konnte die Mauereidechse bis auf 1 335 m üNN nachgewiesen werden (BRUNO KEIST). Im St. Galler Rheintal liegen die Verbreitungsschwerpunkte am Schlosshügel Sargans, Rheindamm Trübbach und beim Güterbahnhof Buchs. Beim Friedhofgelände Buchs gelang seit dem kantonalen Erstnachweis im Jahre 1976 (MA-RIO BROGGI) kein Nachweis mehr. In Liechtenstein gruppieren sich die Hauptvor-kommen einerseits in Rebhängen nahe des ursprünglichen Aussetzungsstandorts in Triesen sowie am Rheindamm, wo die Art zwischenzeitlich von der südlichen Landes-

Abb. 2: Strukturreiche Flussböschungen sind bevorzugte Habitate im Rheintal. Richly structured embankements along rivers are preferential habitats in the Rhine Valley.

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Abb. 3: Bahndämme sind neben Fluss- und Autobahnböschungen die wichtigsten Lebensräume im Untersuchungsgebiet. Railway embankments are beside river and highway embankements the most important habitats in the investigated area.

grenze bis zum Rheindamm in Schaan vorkommt. Innerhalb der letzten 18 Jahre hat die Mauereidechse am liechtensteinischen Rheindamm seit dem Erstnachweis 1988 in nördlicher Richtung etwa 8 km und in südlicher Richtung etwa 6 km Neuland erobert. Neben dieser Ausbreitungsgeschwindigkeit besitzt die Art vor allem am Rhein- und Bahndamm lokal sehr hohe Individuendichten. Beispielsweise konnten am 19.5.2003 am liechtensteinischen Rheindamm auf einer Strecke von 800 m 55 Tiere und am 16.7.2004 auf dem Bahnhofareal Buchs auf einer Strecke von etwa 2 km 108 Individu-en gezählt werden.

Abb. 4: Trockenmauern in Rebbergen bieten im Siedlungsraum ausreichend Sonnenplätze und Schlupfwinkel. Stone walls of vineyards in settlement areas offer enough sun and hiding places.

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Abb. 5: Männchen (oben) und Weibchen (unten) aus dem Untersuchungsgebiet. Male (top) and female (bottom) of the investigated area.

In der untersuchten Region bewohnt die Mauereidechse bevorzugt trockenwarme, sonnige Lebensräume mit Steinstrukturen, wie Fluss- und Bahnböschungen (Abb. 2, 3), Felsfluren und Ruderalstandorte sowie Rebberge (Abb. 4) und Hausgärten im Siedlungsgebiet. In Liechtenstein entfallen 75,2 % und im St. Galler Rheintal 69,5 % aller Nachweise auf Rheindamm- und Bahnböschungen.

Tab. 2: Verteilung aller Nachweise (N = 290) nach Monat. Overview of all records per month.

Januar–März April–September Oktober–Dezember ohne Angabe Liechtenstein 13 88 6 2 Bündner Rheintal 16 115 2 9 St. Galler Rheintal 4 35 0 0 Total 33 238 8 11

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Lebensweise

Die Mauereidechse ist sehr anpassungsfähig und kälteresistent und kann im Alpen-rheintal grundsätzlich das ganze Jahr beobachtet werden (Tab. 2). An für die Region typischen milden Föhntagen lassen sich selbst im Winter regelmäßig Tiere beim Son-nenbaden beobachten. Bei der Mehrheit der Tiere scheint die Aktivitätsperiode von Anfang März bis Ende Oktober (acht Monate) zu dauern, mit einer Winterruhe von etwa vier Monaten. 82 % aller regionaler Nachweise entfallen auf die Monate April bis September, 11 % auf die Zeit von Januar bis März und 3 % auf Oktober bis Dezember.

Diskussion und Ausblick

Die vorliegende Untersuchung über die Mauereidechse im Alpenrheintal zeigt ein-drücklich, wie problematisch zufällige Einschleppungen (Güterverkehr) oder das ab-sichtliche Aussetzen sind. Dies gilt ganz besonders für sehr anpassungsfähige Arten wie die Mauereidechse. Auffallend ist nicht nur die rasche Ausbreitung der Art in den letzten Jahrzehnten, sondern ebenso, dass das Verbreitungspotenzial noch lange nicht ausgeschöpft ist. Neubesiedlungen werden nicht nur durch die Anpassungsfähigkeit der Art, sondern vor allem durch die günstigen xerothermen Bedingungen und linea-ren Strukturen entlang der Bahntrassen, Autobahnen und Flussböschungen begünstigt. Über Konfliktsituationen wissen wir derzeit noch wenig, und es wird darüber speku-liert, ob diese invasive Art tatsächlich einheimische Arten wie z. B. die Zauneidechse verdrängen kann. Persönliche Beobachtungen der letzten 10 Jahre deuten darauf hin. Die Zauneidechse ist lokal stark zurückgegangen, während sich die Mauereidechse weiter ausbreitet. Um genaue Aussagen formulieren zu können, müssten jedoch die weiteren biotischen und abiotischen Einflussfaktoren berücksichtigt werden. Abschließend ist für das Alpenrheintal von folgender Prognose auszugehen: Die allochthone Mauereidechse wird sich nicht nur südlich von Chur und im Prättigau, sondern vor allem von den aktuellen Standorten in Liechtenstein und im St. Galler Rheintal aus entlang der Bahnlinien, Autobahnen, Fluss- und Bachböschungen weiter ausbreiten und in absehbarer Zukunft die häufigste Reptilienart des Alpenrheintals darstellen.

Literatur BARANDUN, J. & J. B. KÜHNIS (1999): Reptilien im Werdenberg: Vorkommen, Gefährdung, Massnah-

men. Abschlussbericht des Förderkonzeptes. – Bericht der Botanisch-Zoologischen Gesellschaft Liechtenstein-Sargans-Werdenberg: 1–33.

BARANDUN, J. & J. B. KÜHNIS (2001): Reptilien in den Kantonen St. Gallen und beider Appenzell. – Seperatdruck der Botanisch-Zoologischen Gesellschaft Liechtenstein-Sargans-Werdenberg 28: 1–44.

KÜHNIS, J. B. (2006): Die Reptilien des Fürstentums Liechtenstein. – Naturkundliche Forschung im Fürstentum Liechtenstein 23: 1–52.

SCHNEPPAT, U. & H. SCHMOCKER (1983): Die Verbreitung der Reptilien im Kanton Graubünden. – Jahresbericht der Naturforschenden Gesellschaft Graubünden 100: 47–133.

Eingangsdatum: 1.1.2008