Zinserhöhung der EZB: Wie groß ist die Inflationsgefahr?

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ifo Schnelldienst 14/2011 – 64. Jahrgang 3 Stunde der Wahrheit für die EZB Die Frage unterstellt, dass eine Zinser- höhung nur dann gerechtfertigt ist, wenn Inflation droht. Dies muss aber nicht so sein. Eine Zinserhöhung kann auch dann gerechtfertigt sein, wenn ihr, wie während der Finanzkrise, Zinssenkungen zur Ab- wehr einer Deflationsgefahr vorausgegan- gen sind. Deshalb ist es sinnvoll, die Fra- ge in zwei Schritten anzugehen: 1. Ist die Deflationsgefahr gebannt? 2. Droht eine über dem Zielwert liegende Inflation? Au- ßerdem kann die Zinspolitik der EZB nicht vollständig von ihrer Liquiditätspolitik für den Bankensektor getrennt werden. Des- halb soll hier auch der Frage nachgegan- gen werden, inwieweit die außergewöhn- liche Liquiditätspolitik der EZB eine Ge- fahr für die Währungsstabilität darstellt. Normalisierung angesagt Nach der Lehman-Pleite im September 2008 drohte ein weltweiter Absturz der Fi- nanzmärkte mit möglicherweise deflatio- nären Folgen für die Realwirtschaft. Um der Deflationsgefahr zu begegnen, senk- ten alle wichtigen Zentralbanken der Welt ihre Leitzinsen, darunter einige bis auf Re- kordtiefs. Auch im Euroraum fiel der Re- fi-Satz auf ein bis dahin noch nie gese- henes Niveau von 1%. Der expansiven Geldpolitik, unterstützt von umfangreichen Maßnahmen zur Stabilisierung des Ban- kensektors und einer expansiven Fiskal- politik, gelang es, die Rezession auf we- nige Quartale zu begrenzen und die Wirt- schaft zurück auf Wachstumskurs zu brin- gen. Nach einem Rückgang von 4,1% im Jahre 2009 erholte sich das BIP im Eu- roland rasch wieder und wuchs 2010 um 1,7%. Für dieses Jahr wird ein Wachstum von 1,9% erwartet, dem eine nur leichte Abschwächung auf 1,5% im nächsten Jahr folgen dürfte. Auch die Inflation fiel nur vorrübergehend – auf 0,3% 2009 – und stieg dann schnell wieder an. Sie er- reichte 1,6% im Durchschnitt von 2010 und ist inzwischen auf 2,7% im Juni 2011 gestiegen. Für das Gesamtjahr sind eben- falls 2,1% zu erwarten, und auch 2012 dürfte die Inflation kaum deutlich unter 2% fallen. Vor dem Hintergrund dieser Ent- wicklung und Prognose darf man das Ri- siko einer Deflation als weitgehend elimi- niert betrachten. Die Zinssenkungen (und damit einhergehenden Maßnahmen) von 2008–2009 haben also ihren Zweck er- füllt. Sollte man aber deswegen gleich das Zinsniveau normalisieren? Die Befürworter einer Politik der niedrigen Zinsen sehen deren Vorteil darin, dass sie den Banken hilft, durch Fristentransfor- mation ihre Gewinne zu verbessern, oh- ne die Kreditnehmer aus der Realwirt- schaft zu belasten. Eine Stärkung der Banken bei gleichzeitig niedrigen Kredit- kosten soll das Wachstum stützen. Dabei wird angenommen, dass eine solche Po- litik keine gesamtwirtschaftlichen Kosten verursacht, solange die Inflation damit nicht über Gebühr angeheizt wird. Dies ist jedoch ein Irrtum. Bleibt der reale Kredit- zins lange unter der langfristigen Ertrags- rate des Kapitals, die durch das Wachs- tum des potenziellen BIP bestimmt wird, so kommt es zu Vermögenspreisblasen, Fehlallokationen des Kapitals und einer zu hohen, auf Dauer nicht zu haltenden In- vestitionsquote. Die Vermögenspreis- und Investitionsblase platzt, wenn sich auf- grund eines exogenen Schocks, wie z.B. einer überraschenden Erhöhung von Roh- stoffpreisen, die Ertragsrate des Kapitals verringert, oder wenn die Kreditkosten aufgrund einer Leitzinserhöhung der No- tenbank schließlich steigen. Orientiert sich die Zentralbank an einem Inflationsziel für die Konsumentenpreise, dürfte eine Leit- zinserhöhung eher in der Spätphase ei- nes Investitionszyklus vorkommen, da die Konsumentenpreisinflation durch den Auf- bau von Überkapazitäten lange Zeit nied- rig gehalten wird. Kommt es dann zum Zinserhöhung der EZB: Wie groß ist die Inflationsgefahr? Thomas Mayer* Droht dem Euroraum eine Inflationswelle als Folge einer zu lockeren Geldpolitik in den vergange- nen Jahren? * Dr. Thomas Mayer ist Chefvolkswirt der Deutschen Bank, Frankfurt am Main.

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Stunde der Wahrheit für dieEZB

Die Frage unterstellt, dass eine Zinser-höhung nur dann gerechtfertigt ist, wennInflation droht. Dies muss aber nicht sosein. Eine Zinserhöhung kann auch danngerechtfertigt sein, wenn ihr, wie währendder Finanzkrise, Zinssenkungen zur Ab-wehr einer Deflationsgefahr vorausgegan-gen sind. Deshalb ist es sinnvoll, die Fra-ge in zwei Schritten anzugehen: 1. Ist dieDeflationsgefahr gebannt? 2. Droht eineüber dem Zielwert liegende Inflation? Au-ßerdem kann die Zinspolitik der EZB nichtvollständig von ihrer Liquiditätspolitik fürden Bankensektor getrennt werden. Des-halb soll hier auch der Frage nachgegan-gen werden, inwieweit die außergewöhn-liche Liquiditätspolitik der EZB eine Ge-fahr für die Währungsstabilität darstellt.

Normalisierung angesagt

Nach der Lehman-Pleite im September2008 drohte ein weltweiter Absturz der Fi-nanzmärkte mit möglicherweise deflatio-nären Folgen für die Realwirtschaft. Umder Deflationsgefahr zu begegnen, senk-ten alle wichtigen Zentralbanken der Weltihre Leitzinsen, darunter einige bis auf Re-kordtiefs. Auch im Euroraum fiel der Re-fi-Satz auf ein bis dahin noch nie gese-henes Niveau von 1%. Der expansivenGeldpolitik, unterstützt von umfangreichenMaßnahmen zur Stabilisierung des Ban-kensektors und einer expansiven Fiskal-politik, gelang es, die Rezession auf we-nige Quartale zu begrenzen und die Wirt-schaft zurück auf Wachstumskurs zu brin-gen. Nach einem Rückgang von 4,1% imJahre 2009 erholte sich das BIP im Eu-roland rasch wieder und wuchs 2010 um1,7%. Für dieses Jahr wird ein Wachstumvon 1,9% erwartet, dem eine nur leichteAbschwächung auf 1,5% im nächstenJahr folgen dürfte. Auch die Inflation fielnur vorrübergehend – auf 0,3% 2009 –und stieg dann schnell wieder an. Sie er-

reichte 1,6% im Durchschnitt von 2010und ist inzwischen auf 2,7% im Juni 2011gestiegen. Für das Gesamtjahr sind eben-falls 2,1% zu erwarten, und auch 2012dürfte die Inflation kaum deutlich unter 2%fallen. Vor dem Hintergrund dieser Ent-wicklung und Prognose darf man das Ri-siko einer Deflation als weitgehend elimi-niert betrachten. Die Zinssenkungen (unddamit einhergehenden Maßnahmen) von2008–2009 haben also ihren Zweck er-füllt. Sollte man aber deswegen gleich dasZinsniveau normalisieren?

Die Befürworter einer Politik der niedrigenZinsen sehen deren Vorteil darin, dass sieden Banken hilft, durch Fristentransfor-mation ihre Gewinne zu verbessern, oh-ne die Kreditnehmer aus der Realwirt-schaft zu belasten. Eine Stärkung derBanken bei gleichzeitig niedrigen Kredit-kosten soll das Wachstum stützen. Dabeiwird angenommen, dass eine solche Po-litik keine gesamtwirtschaftlichen Kostenverursacht, solange die Inflation damitnicht über Gebühr angeheizt wird. Dies istjedoch ein Irrtum. Bleibt der reale Kredit-zins lange unter der langfristigen Ertrags-rate des Kapitals, die durch das Wachs-tum des potenziellen BIP bestimmt wird,so kommt es zu Vermögenspreisblasen,Fehlallokationen des Kapitals und einer zuhohen, auf Dauer nicht zu haltenden In-vestitionsquote. Die Vermögenspreis- undInvestitionsblase platzt, wenn sich auf-grund eines exogenen Schocks, wie z.B.einer überraschenden Erhöhung von Roh-stoffpreisen, die Ertragsrate des Kapitalsverringert, oder wenn die Kreditkostenaufgrund einer Leitzinserhöhung der No-tenbank schließlich steigen. Orientiert sichdie Zentralbank an einem Inflationsziel fürdie Konsumentenpreise, dürfte eine Leit-zinserhöhung eher in der Spätphase ei-nes Investitionszyklus vorkommen, da dieKonsumentenpreisinflation durch den Auf-bau von Überkapazitäten lange Zeit nied-rig gehalten wird. Kommt es dann zum

Zinserhöhung der EZB: Wie groß ist die Inflationsgefahr?

Thomas Mayer*

Droht dem Euroraum eine Inflationswelle als Folge einer zu lockeren Geldpolitik in den vergange-

nen Jahren?

* Dr. Thomas Mayer ist Chefvolkswirt der DeutschenBank, Frankfurt am Main.

Zur Diskussion gestellt

Platzen der Vermögenspreis- und Investitionsblase, sind dieAuswirkungen für die Realwirtschaft in der Regel gravierend.Banken, die ja durch die Niedrigzinspolitik gesunden sollten,kommen wieder in Schieflage, so dass die Kreditversorgungder Wirtschaft stockt. Wenn aber kreditabhängige Aktivitä-ten zum Erliegen kommen und nur noch bar finanzierte Trans-aktionen möglich sind, fällt das BIP besonders tief. Die Nied-rigzinspolitik hat somit das Gegenteil von dem erreicht, wassie wollte: Anstatt die wirtschaftliche Erholung zu beschleu-nigen, hat sie nur eine Scheinblüte erzeugt, die zu einer nochtieferen Rezession führt.

Dass dies keine reine (der sogenannten österreichischenSchule entstammende) Theorie ist, hat die Entwicklung nachdem Platzen der Internetblase im Jahr 2000 gezeigt. Die inden Folgejahren eingeschlagene Niedrigzinspolitik der gro-ßen Zentralbanken der Industrieländer war der wesentlicheGrund für die Immobilien- und Kreditblase des letzten Jahr-zehnts. Während die Rezession nach der Internetblase nochmild ausfiel, folgte der Kreditblase in den Industrieländerndie tiefste Rezession seit den dreißiger Jahren des vergan-genen Jahrhunderts. Angesichts dieser Erfahrung ist esschon befremdlich, dass wichtige Zentralbanken wie die USFederal Reserve oder die Bank von England das Heil wie-der in einer Politik stabiler Leitzinsen auf extrem niedrigemNiveau suchen. Die EZB scheint dagegen aus der Erfahrungder jüngeren Vergangenheit gelernt zu haben und im Zugeder Normalisierung der wirtschaftlichen Aktivität auch einelangsame Normalisierung der Leitzinsen anzustreben. Da-bei tut sie gut daran, ihre Zinspolitik an der wirtschaftlichenEntwicklung im Euroraum insgesamt und nicht an der Ent-wicklung in den Krisenländern zu orientieren.

Liquiditätspolitik der EZB und die Bruchstelle inder EWU

Eine andere, aber von der Zinspolitik sicherlich nicht ganzzu trennende Frage ist, ob denn die EZB auch ihre außer-gewöhnliche Liquiditätspolitik für die Banken normalisierensollte. Zur Sicherung der Liquiditätspolitik während der Fi-nanzkrise stellte die EZB den Banken im Volumen unbe-grenzte Liquidität zu einem Festpreis, dem Refi-Satz, zurVerfügung. Dies half Banken, die von einem misstrauischenMarkt abgeschnitten worden waren, ihren Finanzierungsbe-darf zu befriedigen. Ohne diese Maßnahme wäre mit hoherWahrscheinlichkeit eine Reihe von Banken zusammenge-brochen und möglicherweise das gesamte Finanzsystemin die Krise geraten. Beinahe drei Jahre nach Beginn dieseraußergewöhnlichen Maßnahmen stellt sich aber die Frage,ob eine solche Liquiditätspolitik noch gerechtfertigt ist. Zur-zeit sind es vor allem Banken aus den Problemländern Grie-chenland, Irland und Portugal, die von der Kreditversorgungdurch die EZB abhängen, weil ihnen der Zugang zur Finan-zierung über den Markt versperrt ist. Dies hat dazu geführt,

dass mehr als die Hälfte der durch die EZB bereitgestelltenRefinanzierungskredite an die Banken in diesen drei Län-dern gehen, die nur etwas mehr als 6% des BIP der Euro-zone ausmachen. Eine dauerhafte Finanzierung des Ban-kensektors ganzer Länder in der EWU führt die EZB nichtnur auf Abwege von ihrer eigentlichen Aufgabe, der Geld-politik, sondern kann sogar die Existenz der EWU insgesamtbedrohen.

Bargeldlose Zahlungen zwischen EWU-Mitgliedsländernwerden über das von deren Zentralbanken betriebene Inter-bankzahlungssystem Target2 abgewickelt. Anstatt zu Ver-änderungen der Reserven der Zentralbanken wie im Fest-kurssystem, führen Zahlungsbilanzungleichgewichte inner-halb des Euroraums zu Veränderungen der Forderungenoder Verbindlichkeiten der nationalen Zentralbanken gegen-über der EZB. Vom Beginn der Euroschuldenkrise bis En-de letzten Jahres haben Zahlungsbilanzüberschüsse inDeutschland zu Forderungen in Höhe von rund 326 Mrd.Euro geführt während Griechenland, Irland, Portugal undSpanien Verpflichtungen von 344 Mrd. Euro aufgebaut ha-ben. Über Target2 finanziert die Bundesbank einen ganzerheblichen Teil der Bankkredite in den Schuldnerländern,die wegen mangelnder Bonität der dortigen Banken nichtüber den Markt finanziert werden können. Eine Begren-zung der Zahlungsbilanzungleichgewichte, wie im Festkurs-system durch den Bestand an Reserven des Defizitlands,gibt es im Euroraum nicht. Hier wird die Grenze letztlich durchdie Bereitschaft der Überschussländer im Eurosystem de-finiert, die Nettoimporte von Gütern und Dienstleistungenund Nettoexporte von Kapital in den Defizitländern zu fi-nanzieren.

Eine Korrektur der Zahlungsbilanzdefizite wäre nur dann zuerwarten, wenn heimische Güter, Dienstleistungen und Ver-mögenswerte relativ zu ihren ausländischen Substitutendeutlicher billiger würden. Ein Preisverfall für Vermögenswer-te dürfte erhebliche Abschreibungen auf gegen diese Ver-mögenswerte gegebene Kredite notwendig machen. AuchKredite an den Staat müssten entsprechen abgeschriebenwerden, da sie bei deutlich reduziertem Steueraufkommenin einer nominal geschrumpften Wirtschaft nicht mehr vollbedient werden könnten. Bislang ist ein solcher Anpassungs-prozess im privaten Sektor noch nicht sichtbar und wird imöffentlichen Sektor durch die Ablehnung eines Schulden-schnitts durch EZB, EU-Kommission und IWF blockiert.

Die Bereitschaft der Überschussländer, Defizite im Euro-system über ihre nationalen Zentralbanken zu finanzieren,dürfte jedoch spätestens dann zu Ende sein, wenn großeTeile der Bevölkerung der Defizitländer beginnen, ihr Geld-kapital den lokalen Banken zu entziehen und in die siche-ren Überschussländer zu transferieren. Denn dies wäre einklares Zeichen dafür, dass sich die Bevölkerung der Defizit-länder der Haftung für fragwürdige Bankkredite an den Pri-

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vatsektor und die öffentliche Hand entziehen und möglicheVerluste über das Eurosystem auf die Gemeinschaft derSteuerzahler im Euroraum verlagern will. Verweigern aberdie Überschussländer die Annahme der Fluchtgelder ausden Defizitländern, dann hat der Euro seine Funktion alsgemeinsame Währung verloren. Zur Sicherung der EWU istdaher notwendig, dass die Preise für Güter, Dienstleistun-gen und Vermögenswerte in den Ländern mit hohen Zah-lungsbilanzdefiziten relativ zu denen in den Überschusslän-dern fallen, so dass sich Handels- und Kapitalströme um-kehren. Schafft die Wirtschaftspolitik dafür nicht die Voraus-setzung, so ist der Verbleib dieser Länder in der EWU starkgefährdet.

Das Zeitalter der Reflation

In den vorangegangenen Abschnitten haben wir auf die Not-wendigkeit einer Normalisierung des Zinsniveaus, des En-des der außergewöhnlichen Liquiditätspolitik der EZB undder Wiederherstellung von Zahlungsbilanz- (und damit Tar-get2) gleichgewichten in der EWU hingewiesen. Sollte sichdie EZB darüber hinaus Sorgen um einen dauerhaften An-stieg der Inflation machen?

Die zu erwartenden moderaten Wachstumsraten für das ag-gregierte BIP von Euroland verdecken sehr unterschiedlicheRaten in den einzelnen Ländern. Während Deutschland undeinige benachbarte Länder mit recht hohen, über dem lang-fristigen Potenzial liegenden Raten wachsen, stagnieren oderschrumpfen die Länder an der Peripherie. Arbeiten der EZBin den vergangenen Jahren haben gezeigt, dass die Inflati-on in vielen Ländern der Eurozone nach unten recht unfle-xibel (»sticky«) ist. Daher wird der Preisdruck nach oben inden überhitzenden Ländern der Eurozone nicht durch ei-nen entsprechenden Druck nach unten in den schwachenLändern neutralisiert. Es ist also wahrscheinlich, dass sichbei dieser Konstellation der heimische Inflationsdruck trotzdes eigentlich nahe am Potenzial liegenden Wachstumsder Eurozone insgesamt erhöhen wird.

Dazu kommt importierte Inflation. Die US Federal Reserveverfolgt (wieder einmal) eine extrem lockere Geldpolitik. Wäh-rend diese Politik in der Krise zur berechtigten Abwehr vonDeflationsgefahren diente, soll sie nun das Wachstum sti-mulieren und die anhaltend hohe Arbeitslosigkeit bekämp-fen. Dabei zeigt die Fed eine hohe Toleranz gegenüber demAnstieg der aggregierten Konsumentenpreisinflation (auf3,4% im Mai). Dies könnte Europa eigentlich kalt lassen,wenn die lockere Geldpolitik der Fed nicht die globale In-flation anheizen würde. Der Grund dafür ist die Wechsel-kurspolitik wichtiger Schwellenländer, darunter insbeson-dere China, die eine zu rasche Aufwertung ihrer Währunggegenüber dem US-Dollar vermeiden wollen. Ein die Wett-bewerbsfähigkeit steigernder Wechselkurs war für diese

Länder über Jahrzehnte ein wesentlicher Teil ihrer Entwick-lungs- und Wachstumsstrategie. Damit gelang es ihnen,Marktanteile in den großen Konsumentenmärkten der In-dustrieländer, vor allem der USA, zu gewinnen und ihre ei-gene Industrialisierung durch den Aufbau eines leistungs-fähigen Exportsektors aufzubauen. Die aus diesen Ländernkommende Warenschwemme erlaubte es den USA und an-deren Ländern in den letzten beiden Jahrzehnten, ihre Kon-sumausgaben zu steigern, ohne dadurch die heimischeInflation zu befördern. Die Schwellenländer waren gerne be-reit, für ihre Warenlieferungen US-Dollar entgegenzuneh-men, die sie zinssenkend in US-Staatstitel investierten. Mitdem Platzen der Kredit- und US-Konsumblase wurde die-se Arbeitsteilung von den USA einseitig aufgekündigt. Dortsetzt man nun nicht mehr auf den Konsum sondern auf denExport als Zugpferd von Wirtschaftswachstum und Beschäf-tigung. Zur Stimulierung der Exporte soll der US-Dollar nunsinken, wozu die Niedrigzinspolitik der Fed ihren Beitragleistet. Die Kehrtwende in der Wachstumspolitik der USAkam aus der Sicht der Schwellenländer aber zu plötzlich.Dort fürchtet man, dass eine scharfe Aufwertung der hei-mischen Währung die Exporte abwürgen und den Entwick-lungsfortschritt der vergangenen Jahre gefährden könnte.Also widersetzen sich viele Schwellenländer dem durchdie USA geschaffenen Aufwertungsdruck auf ihre Wäh-rungen, indem sie u.a. eine für ihre Verhältnisse viel zu lo-ckere Geldpolitik verfolgen. So liegen die realen Leitzinsenin den meisten Schwellenländern nur leicht im positiven Be-reich oder sind gar negativ. Das Resultat dieser Politik isteine sich überhitzende Wirtschaft und steigende Inflation.Zwar wertet sich dadurch der reale Wechselkurs ebenfallsauf, aber die Aufwertung über höhere Inflation erfolgt lang-samer als bei einer Freigabe des nominalen Wechselkurszu erwarten wäre.

Eine überhitzende Wirtschaft in den Schwellenländern heiztdie Inflation in den Industrieländer über zwei Kanäle an: Ers-tens führt die hohe Nachfrage der schnell wachsendenSchwellenländer nach Rohstoffen zu stark steigenden Prei-sen auf den Weltmärkten für diese Produkte. Höhere Welt-marktpreise für Energie, Nahrung und Industrierohstoffe he-ben den Konsumentenpreisindex in den Industrieländern di-rekt an und verteuern die Produktionskosten und damit dieheimisch produzierten Güter. Zweitens verteuern sich dieImportgüter aus den Schwellenländern. Zwar könnten dieIndustrieländer den Inflationsimport aus den Schwellenlän-der abwehren, indem sie ihre Wechselkurse durch eine en-gere Geldpolitik steigen ließen, aber gerade das soll ja zurSteigerung des Wachstums vermieden werden. So kommtes, dass eine Politik der »kompetitiven Abwertungen« dieglobale Inflation treibt. Letztere wird in den USA konzipiert,in den Schwellenländern produziert und von den Industrie-ländern re-importiert. Für Euroland kommt daher zu demoben beschriebenen heimischen Inflationsdruck importier-te Inflation dazu.

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Die beschriebenen Inflationstreiber sind nicht von der Na-tur, dass ein exponentieller Anstieg in der Inflation innerhalbeines kurzen Zeitraums zu erwarten wäre. Vielmehr ist da-mit zu rechnen, dass sich die Inflation mit Schwankungenim mittelfristigen Trend steigt. So dürfte die Inflation im Eu-roraum bis Ende dieses Jahres gegen 3% gehen, aber imVerlauf des nächsten Jahres mit einer vorübergehenden Be-ruhigung der Rohstoffpreise wieder auf 2% zurückgehen.Wenn, wie zu erwarten ist, das Wachstum in den Schwel-lenländern weiterhin robust bleibt, dürfte aber nach gerau-mer Zeit eine weitere Welle von Rohstoffpreiserhöhungenanstehen, welche die Inflation im Euroraum auf neue Hö-hen treiben wird. Auf die Sicht von drei bis fünf Jahren könn-te die Inflation den Korridor von 2% bis 4% unter Schwan-kungen von unten nach oben durchwandern. Deshalb wä-ren auch nach Erreichung des neutralen Zinses von ca. 3,5%in den nächsten zwei bis drei Jahren weitere Leitzinsanhe-bungen durch die EZB zu erwarten.

Fazit

Nach der Überwindung der globalen Finanzkrise und demRückgang der Gefahr einer Deflation ähnlich der in den drei-ßiger Jahren des letzten Jahrhunderts ist es sinnvoll, dassdie EZB den Leitzins auf sein neutrales Niveau hochführt.Noch wichtiger für die Wahrung der Stabilität des Euro wä-re es, dass sich die EZB aus der Finanzierung von durch In-solvenz bedrohten Staaten und ihrer Banken zurückzieht.Die Umstrukturierung überschuldeter Staaten und die Sta-bilisierung gefährdeter Banken ist die Aufgabe der Gemein-schaft der EWU-Staaten. Laden sie diese Aufgabe bei derEZB ab, wird dies langfristig zur Unterminierung der gemein-samen Währung und wahrscheinlich zu deren Verfall führen.Angenommen es gelingt, die EWU aus ihrer gegenwärtigenLage auf festen Boden zurückzuführen, so wird sich die EZBin der mittleren Frist einer im Trend steigenden Inflation ent-gegenstemmen müssen. Eine in großen Teilen wahrschein-lich andauernde Schwäche der Wirtschaft wird die Einhal-tung des Inflationsziels in der Zukunft weit schwieriger ma-chen, als es dies in der Vergangenheit war.

Wenig Grund zur Sorge: Warum uns keine große Inflation droht

Würgt die Europäische Zentralbank unseren Aufschwungab? Nachdem die Währungshüter im April und Juli ihrenLeitzins bereits um jeweils 25 Basispunkte angehoben ha-ben, haben sie für den Herbst einen weiteren Schritt in Aus-sicht gestellt. Oder hat die EZB viel zu spät gehandelt?Droht uns stattdessen eine große Inflationswelle als Quit-tung für die außerordentlich laxe Geldpolitik der vergan-genen Jahre?

Für beide Sichtweisen gibt es auf den ersten Blick gute Ar-gumente. Die EZB ist die einzige große Zentralbank der west-lichen Welt, die bereits die Zinswende eingeleitet hat. Die USFederal Reserve, die Bank of England und die Bank of Ja-pan denken stattdessen sogar darüber nach, ihre Konjunk-tur notfalls durch ein nochmaliges Lockern der Geldpolitikzu stützen. Schließlich sind mit Ausnahme des deutschenifo Geschäftsklimas nahezu alle wichtigen Frühindikatorendes kurzfristigen Konjunkturverlaufs in der westlichen Weltin den vergangenen Monaten spürbar eingeknickt. Dazukommt, dass die EZB selbst vor ihrer einsamen Zinswendemit einem Niedrigstsatz von 1,0% einen weit höheren Leit-zins hatte als die USA (0,0% bis 0,25%), die Bank of Eng-land (0,5%) und die Bank of Japan (0,1%). Da zudem derWechselkurs des Euro zumindest gegenüber dem US-Dol-lar und dem britischen Pfund gut 10% über dem langfristi-gen Gleichgewichtswert notiert, muss die EZB sich die Fra-ge gefallen lassen, ob sie mit ihrer frühen Zinswende nichteinen Fehler gemacht hat.

Andererseits zeigt eine einfache Faustregel, wie expansiv dieGeldpolitik weiter ist. In einer entwickelten Marktwirtschaftsollte der Zins einer Zentralbank, die weder eine Depressi-on noch ausufernde Inflationserwartungen zu bekämpfenhat, auf Dauer in etwa dem nominalen Wirtschaftswachs-tum entsprechen, das sich aus Inflation und dem realen

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Holger Schmieding*

* Dr. Holger Schmieding ist Chefvolkswirt der Berenberg Bank.

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Zuwachs der Wirtschaftsleistung ergibt. Während die Wirt-schaft in der Eurozone im ersten Quartal 2011 gegenüberdem Vorjahr um 3,7% zugelegt hat, lag der Leitzins der EZBin dieser Zeit bei nur 1%. Auch das Anheben auf 1,5% hatan diesem Missverhältnis wenig geändert. Gleichzeitig istdie Inflationsrate auf 2,7% gestiegen. Sie liegt damit deut-lich über dem Wert von knapp unter 2%, den die EZB alsPreisstabilität definiert und anstrebt.

Das Ende der Ära sinkender Inflationsraten

Bevor wir die aktuelle Politik beurteilen, sollten wir sie in diegroßen Trends einbetten. Seit Anfang der 1990er Jahre hatder Inflationsdruck in der westlichen Welt nahezu kontinu-ierlich nachgelassen. Dies hat mehrere Gründe.

1. Die Notenbanken haben ihren Auftrag, die Preise mög-lichst stabil zu halten, ernster genommen als zuvor. Ihrezunehmende Unabhängigkeit von ihren Regierungen hatihnen dies erleichtert.

2. Nach dem Zusammenbruch des Sowjet-Kommunismusin Europa und der Wende zu einem kapitalistischerenWirtschaftsmodell in China und Indien hat etwa die Hälf-te der Weltbevölkerung die Möglichkeit bekommen, bes-ser zu arbeiten und die Früchte ihres Fleißes auf demWeltmarkt anzubieten. Die zunehmende Flut günstigerEinfuhren aus den Schwellenländern sowie die Drohungwestlicher Unternehmen, bei überhöhten Lohnsteigerun-gen die Produktion nach Asien oder Osteuropa zu ver-lagern, haben den Preis- und Lohndruck in der westli-chen Welt gedämpft. Vermutlich hat allein dieser Effektunsere Inflation jeweils um etwa 0,2 Prozentpunkte un-ter der Rate gehalten, die sich rein aus dem Zusammen-spiel aus Angebot und Nachfrage in der westlichen Weltergeben hatte.

3. Zusätzlich haben neue Technologien, vor allem beim Ver-arbeiten und Verbreiten von Informationen, zumindest imgrößten Einzelmarkt der Welt, den USA, offenbar dasTrendwachstum des Angebotspotenzials so gestärkt,dass die Nachfrage stärker expandieren kann als früher,bevor sie an preistreibende Angebotsengpässe stößt.

Diese Trends laufen jetzt langsam aus. Nach der großen Fi-nanzkrise werden Zentralbanken vermutlich künftig der Fi-nanzstabilität einen höheren Stellenwert einräumen. Dieskann im Einzelfall bedeuten, dass die Währungshüter kurz-zeitig auch Inflationsraten um 3% oder etwas darüber stattder angestrebten Marke von (knapp) 2% hinnehmen. In Groß-britannien zeigt sich dies bereits jetzt. Obwohl die Inflati-onsrate aktuell sogar zwischen 4,0% und 4,5% schwankt,gibt es dort im Zentralbankrat sogar eine Diskussion dar -über, angesichts einer schwächelnden Konjunktur notfallsdie Geldpolitik über den erneuten Ankauf von Staatsanlei-hen zu lockern.

Zudem werden China und andere Schwellenländer ihre Gü-ter künftig wohl etwas weniger günstig anbieten, da sie alsMittel gegen ihre eigene Inflation den Wechselkurs ihrer Wäh-rung leicht steigen lassen und zudem selbst mehr konsu-mieren werden. Je mehr deutsche Autos wir in China ver-kaufen, desto weniger müssen wir uns darüber wundern,dass die erhöhte Energienachfrage der Chinesen weltweitdie Rohstoffpreise treibt.

Aus diesen Gründen erwarten wir für die westliche Welt ei-ne kleine Inflation. Statt im Trend immer weiter zurückzuge-hen, wie es seit Anfang der 1990er Jahre der Fall war, wer-den die Inflationsraten wohl leicht anziehen und etwas überder Marke von 2% verharren. Während die allgemeine Infla-tionsrate sich in den USA und Großbritannien sich bei gut3% und in der Eurozone bei etwa 2,5% einpendeln könnte,dürften in den kommenden Jahren auch die Kernraten derInflation (ohne Energie- und Nahrungsmittelpreise) in derwestlichen Welt höher liegen als im Schnitt der vergange-nen zehn Jahre, vermutlich bei etwa 2% für die Eurozoneund bei 2,5% bis 3% für die etwas inflationstoleranteren USAund Großbritannien.

Da Deutschland mittlerweile nach seinen erfolgreichen Re-formen der Agenda 2010 sich vom »krankem Mann Europas«zur neuen Wachstumslokomotive gemausert hat, wird derdeutsche Preisauftrieb künftig wohl nicht mehr am unterenRand sondern eher im oberen Mittelfeld der Inflationsspan-ne innerhalb des Euroraumes liegen.

Stellt das aus deutscher Sicht eine Gefahr dar? Kaum.Die Europäische Zentralbank hat bisher die deutsche In-flation seit dem Jahr 1999 im Schnitt bei 1,5% gehalten.Damit hat sie gerade für Deutschland ihre Aufgabe weitbesser erledigt als die Bundesbank, die im langfristigenDurchschnitt die deutschen Verbraucherpreise um jähr-lich 2,9% hatte steigen lassen. Auf Dauer wird Deutsch-land sich darauf einstellen müssen, dass die Preise proJahr wieder um gut 2% zunehmen werden. Aber die rich-tig große Inflation, vor der Anleger sich fürchten müssten,steht uns vermutlich weder in Deutschland noch in Europainsgesamt oder den USA bevor.

Zwei große Gefahren?

Zwei große Argumente haben wir in unserer Diskussion ver-nachlässigt:

1. Haben nicht die Zentralbanken nach der Lehman-Krisesoviel Geld gedruckt, dass sich dies zwangsläufig in ei-nem großen Inflationsschub entladen muss?

2. Führt nicht die zunehmende Staatsschuld dazu, dassLänder sich auf Dauer nur noch dadurch retten können,dass sie den Realwert der ausstehenden Schulden durch

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eine hohe Inflation wieder auf ein erträgliches Maß herab-setzen können?

Gefährliche Geldschwemme?

Tatsächlich haben die Zentralbanken einschließlich derinsgesamt eher zögerlichen EZB im Zuge der Finanzkri-se ihre Liquiditätsschleusen weit geöffnet. Ein krudes Ver-ständnis des Monetarismus könnte zu dem Schluss füh-ren, dass die zusätzliche Zentralbankliquidität sich in ei-nem entsprechenden Anstieg der Preise niederschlagenmuss und wird.

Eine expansive Politik der Zentralbanken führt aber nur dannzu einem höheren Preisdruck, wenn (1) die Liquidität bei denVerbrauchern auch ankommt und (2) die Haushalte das zu-sätzliche Geld auch ausgeben und die günstigen Kreditzin-sen zu einem schuldengetriebenen Nachfrageboom nutzen.Dafür gibt es keine Anzeichen.

Geld wird gemeinhin definiert als das Bargeld und die hoch-liquiden Finanzmittel, die außerhalb des Bankensystems um-laufen, also bei Haushalten und Verbrauchern, die es für Ein-käufe nutzen könnten. Zentralbanken bringen Geld nicht perHelikopter an den Mann oder die Frau auf der Straße. Statt-dessen bieten sie den Geschäftsbanken mehr Liquidität zugünstigeren Konditionen an als zuvor, wenn sie auf einen ex-pansiven Kurs schalten.

Schauen wir einmal näher auf die Bilanz der EuropäischenZentralbank. Nachdem die US-Immobilienkrise im Au-gust 2007 auch den europäischen Finanzmarkt voll ge-troffen hat, hat das Eurosystem (EZB und ihre nationa-len Mitglieds-Zentralbanken) seine Bilanzsumme von En-de August 2008 bis zum Juni 2010 um 50% ausgewei-tet, von 1 440 Mrd. Euro auf 2 154 Mrd. Euro. Ein gro-ßer Teil der zusätzlichen Liquidität ist direkt im Banken-system versickert. Mittlerweile hat sich die Sondernach-frage der Banken nach Liquidität wieder beruhigt. Ent-sprechend hat sich die Bilanz des Eurosystems bereitsteilweise wieder zurückgebildet auf 1 945 Mrd. Euro An-fang Juli 2011.

Nur ein Teil der EZB-Zusatzliquidität hat ab Herbst 2008Haushalte und Unternehmen erreicht. Die Wachstumsrateder Geldmenge M1, die Barguthaben und Sichteinlagen derNichtbanken bei Banken umfasst, ist nach der Lehman-Krise von einem sehr niedrigen Wert von 0,2% im August2008 auf einen Spitzenwert von 12,5% im November 2009gestiegen. Da aber mittlerweile auch Haushalte und Unter-nehmen weniger ängstlich sind und entsprechend nicht mehrganz so viel Wert auf jederzeit verfügbare Liquidität legen,ist der Zuwachs dieser Geldmenge M1 auf mickrige 1,2%im Mai 2011 eingebrochen.

Die weiter gefasste Geldmenge M3, zu der auch Termin-einlagen und ähnliche Instrumente gehören, hat von denganzen Liquiditätseinschüben kaum etwas mitbekommen.Die Wachstumsrate ist stattdessen von besorgniserregendhohen 12,3% im Herbst 2007 auf ebenso besorgniserre-gend niedrige 1,1% im Oktober 2010 gefallen. Währenddie EZB zeitweilig mehr Liquidität denn je in das angeschla-gene Finanzsystem gepumpt hat, hat sich jene Geldmen-ge, an der die EZB und vor ihr die Bundesbank typischer-weise künftige Inflationsgefahren abliest, in die genau an-dere Richtung entwickelt. Die außerhalb des Bankwesensumlaufende Geldmenge zeigt im Euroraum keine zusätzli-chen Inflationsgefahren an.

Nach Lehman wollten Haushalte und Unternehmen in Europaund den USA mehr Liquidität vorhalten. Gleichzeitig muss-ten Banken neue Reserven aufbauen. Das größere Ange-bot an Liquidität hat also nur eine größere Nachfrage be-friedigt. Da die EZB begonnen hat, ihre Sondermaßnah-men einzuschränken und ihre Niedrigstzinsen vorsichtig an-zuheben, spricht fast alles dafür, dass es der EZB gelingenwird, mit einer langsam wieder abnehmende Geldnachfra-ge auch das im Markt wirksame Geldangebot entsprechendeinzuschränken.

Schuldenkrise als Vorstufe zur großen Inflation?

Entgegen vielerlei Sorgen gehört eine überhöhte Inflationnicht zu den erfolgversprechenden Instrumenten, um aus-geprägte Schuldenprobleme in den Griff zu bekommen.Mit einem einmaligen und überraschenden Inflationsschubkann dies zwar gelingen. Danach treiben aber die höherenInflationserwartungen die Zinsen nach oben, so dass auchdie Finanzierungskosten der Staaten zeitverzögert steigen.Was ein Staat zunächst durch höhere Inflationsraten einspa-ren mag, wenn sich der Realwert der ausstehenden Schul-den vermindert, muss er auf Dauer auf der Finanzierungs-seite mehr ausgeben.

Dass es in entwickelten Marktwirtschaften keinen engen Zu-sammenhang zwischen Staatsschulden und Inflation gibt,zeigt das Beispiel vieler europäischer Staaten. Um sich fürdie Währungsunion zu qualifizieren, haben viele europäischeStaaten ab etwa Mitte der 1990er Jahre mit einer entspre-chenden Sparpolitik und danach auch dank niedrigere Zin-sen in der Währungsunion ihre Schuldenquoten bis zum Jahr2007 drastisch senken können, beispielsweise

• von 134% auf 84% für Belgien, • von 122% auf 104% für Italien und• von 67% auf 38% für Spanien.

Diese Staaten haben ihre Konsolidierungserfolge in einer Zeitsinkenden und schließlich außerordentlich niedriger Inflati-

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Zur Diskussion gestellt

onsraten erzielt. Allerdings sind für alle genannten Ländernach der Lehman-Rezession die Schuldenquoten wieder er-heblich gestiegen, wobei dieser Anstieg für Italien und Bel-gien vergleichsweise gering ausgefallen ist (Werte Ende 2010:97% für Belgien, 119% für Italien und 60% für Spanien lautEurostat).

Die Politik hat den Notenbanken in den letzten Jahrzehn-ten gerade deshalb einen so außerordentlich hohen Gradan Unabhängigkeit verliehen, damit die Hüter des Geld-wertes ihren Auftrag weitgehend unabhängig von der ak-tuellen Lage erfüllen können. Auch für Politiker ist eine ho-he Inflation kein vielversprechender Weg, ein Schuldenpro-blem zu entschärfen. Im Tagesgeschäft mag es oftmalsleichter sein, die Zentralbank zu einer laxeren Geldpolitikzu ermuntern, als Ausgaben zu kürzen oder Steuern an-zuheben. Allerdings dürften sich viele Entscheidungsträ-ger noch an die Lektion der späten 1970er Jahre erin-nern. Damals hatte die Wirtschaftspolitik tatsächlich be-wusst eine höhere Inflation zugelassen, um mit einer ex-pansiven Nachfragepolitik einer steigenden Arbeitslosig-keit zu begegnen. Das Experiment endete für alle maßgeb-lichen Regierungen in einem Desaster. Von den USA bisFrankreich, von Großbritannien bis zu Westdeutschlandhaben die Wähler überall den verantwortlichen Regierun-gen bei nächster Wahlgelegenheit den Laufpass gegeben.Inflation ist unpopulär.

Inflationsausblick Eurozone

In der Eurozone ist die Preissteigerungsrate von 1% An-fang 2010 auf 2,7% im Frühsommer 2011 angestiegen.Jedoch war dies in erster Linie auf die wieder anziehendenEnergiepreise zurückzuführen. Die Kernrate des Anstiegsder Lebenshaltungskosten ohne die volatilen Nahrungs- undEnergiepreise liegt nur bei 1,6%. Auch darin sind vermut-lich etwa 0,3 Prozentpunkte auf die höhere Energiepreisezurückzuführen, beispielsweise über höhere Preise für Ur-laubsreisen und andere Transportkosten. Da die Konjunk-tur sowohl in der Welt als auch bei uns in den kommendenMonaten wohl spürbar an Schwung verlieren wird, dürfteder Inflationsdruck maßvoll bleiben. Sobald ab dem Spät-herbst der Anstieg der Ölpreise Ende 2010 und Anfang 2011aus dem Vorjahresvergleich schrittweise herausfällt, dürftevermutlich auch die Inflationsrate in der Eurozone wieder et-was zurückfallen, vielleicht auf Werte um oder knapp über2% im kommenden Jahr.

Entsprechend erwarten wir, dass die EZB in der Konjunk-turdelle im Sommer ihre Zinsen zunächst einmal konstanthält. Sofern die Konjunktur zum Jahresende wieder Fahrtaufnimmt, könnte sie dann ab Dezember ihre Zinsen schritt-weise erhöhen, vermutlich um 25 Basispunkte pro Quartal,bis sie Anfang 2013 einen Leitzins von 3% erreicht, der et-

wa die untere Grenze der auf Dauer neutralen Bandbreitedefinieren dürfte.

Allerdings gibt es durchaus die Gefahr, dass die derzeit er-neut eskalierende Schuldenkrise, wenn sie falsch gemanagtwird, den Aufschwung erheblich beinträchtigen könnte. Indiesem Fall würde, bei entsprechend rückläufigen Inflations-risiken, die EZB vermutlich auf absehbare Zeit ihre Zinsennicht weiter erhöhen. Wir halten dies nicht für wahrschein-lich, aber für möglich.

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Zur Diskussion gestellt

Der Leitzins und die Leitzinsaussichtsind angemessen

Geldpolitik ist immer schwierig und jede Einschätzung istlegitimer Weise bestreitbar. Drei Sachverhalte erschwerendie Arbeit der Zentralbankbeobachter (und natürlich derZentralbanker). (1) Die Transmissionsmechanismen derGeldpolitik sind komplex und die Prognosen über die Trans-mission nur bedingt belastbar. (2) Da Geldpolitik mit einernennenswerten Verzögerung wirkt, leidet sie immer unterder insgesamt schwachen Prognostizierbarkeit gesamtwirt-schaftlicher Entwicklungen. (3) Da die richtige Geldpolitikvon nicht-beobachtbaren Variablen abhängt, die wir allen-falls grob schätzen können, könnten wir selbst dann keine100%-ige valide Einschätzung abgeben, wenn Geldpolitikohne Verzögerung wirken würde. Die genannten Unwäg-barkeiten einräumend, vertrete ich die Einschätzung, dassdie Europäische Zentralbank (EZB) eine sachgerechte Leit-zinspolitik umsetzt und einen angemessenen Leitzinspfadsuggeriert. Diese Auffassung wird unter zur Hilfenahmeder Taylor-Regel (Taylor 1993) und einiger überschlägigerKalkulationen begründet.

Zunächst ein paar Fakten: Bisher hat die EZBden Leitzins in diesem geldpolitischem Zy-klus zweimal erhöht. Von Mitte 2009 bis April2011 betrug der Leitzins 1%. Effektiv war dieGeldpolitik noch großzügiger, denn der EONIA (Euro OverNight Index Average) lagregelmäßig deutlich unter dem offiziellen Leit-zins. Merkmal der großzügigen Geldpolitikwar nicht nur der niedrige Leitzins, sonderninsbesondere die ausgesprochen großzügi-ge Versorgung mit Liquidität (siehe für eineÜbersicht und Einschätzung der Sonder-maßnahmen den Monatsbericht EZB 2011b,59 ff). Die Liquiditätsversorgung war so frei-

zügig, dass die Banken die Liquidität in der EZB beließen,so dass die Geldmenge M3 relativ zur Bilanz der EZB lang-sam wuchs. Die Leitzinserhöhung ist Teil der Absicht, wie-der normale Geldpolitik zu betreiben. Von normalen Bedin-gungen am Geldmarkt sind wir jedoch noch eine gutes Stückentfernt. Als Beleg dafür kann man beispielsweise die Ent-wicklung des EONIA im letzten Leitzinserhöhungszyklusmit derjenigen im aktuellen Zyklus vergleichen (vgl. Abb. 1).An den deutlich größeren Ausschlägen im aktuellen Zinser-höhungszyklus erkennt man, dass der Geldmarkt eben nochnicht reibungslos funktioniert (für eine aktuelle wissenschaft-liche Analyse des Interbankenmarktes vgl. Hauck und Ney-er 2010). Auch die Geldpolitik ist noch immer weit von ei-ner Normalisierung entfernt. Bei einer normalen Geldpolitikentwickelt sich die Bilanz der EZB und die Geldmenge an-nähernd proportional. Bis August 2008 war dies der Fall.Seit Herbst 2008 ist die Bilanz der EZB jedoch deutlich län-ger als dies für die normale Geldversorgung nötig wäre (vgl.Abb. 2). Zudem ist die Bilanz – insbesondere relativ zur Geld-menge – sehr volatil.

Die vielen Maßnahmen (bankenfreundliches Liquiditätsma-nagement, asymmetrische Geldschöpfung im Eurosystemund Anleihekäufe) der EZB sind weiß Gott nicht unumstrit-ten (beispielsweise Sinn und Wollmershäuser 2011). Liegtdie EZB bei ihrer Leitzinspolitik richtig? Ein einfacher Refe-renzpunkt für die Geldpolitik ergibt sich aus der folgendenÜberlegung, die sich an der Taylor-Regel (Taylor 1993) ori-entiert. Kontrahenten in Finanzgeschäften verhandeln zwareinerseits auf Basis des Nominalzinses, andererseits gilt ihrInteresse letztlich der realen Verzinsung. Der Realzins reflek-tiert auf mittlere Frist die Angebots- und Nachfragebedin-gungen. Angenommen wir wären in der Lage, einen natür-lichen Realzins zu schätzen, dann ergäbe sich ein brauch-barer Orientierungspunkt für die Zentralbank aus der Sum-me dieses natürlichen Realzinses und der Zielinflationsrate.

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Manfred Jäger-Ambroz.ewicz*

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Volatilität am Geldmarkt während der Zinserhöhungszyklen, EONIA und Leitzins in Prozent

Quelle: European Banking Federation (http://www.euribor.org/).

x Handelstage nach dem 1. März 2011

x Handelstage nach dem 1. Nov. 2005

EONIA

Leitzins

Abb. 1

* PD Dr. Manfred Jäger-Ambroz.ewicz ist Senior Econo-

mist, Finanzmarktökonomik und Geldpolitik, am Ins -titut der deutschen Wirtschaft Köln.

Zur Diskussion gestellt

Wenn die Zentralbank sich an dieser Regel orientiert, dannsollte die Inflationsrate jedenfalls mittel- und langfristig inder Nähe der Zielinflationsrate bleiben (würde man wortwört-lich so vorgehen, dann ergäbe sich aber die in Lehrbüchern– beispielsweise Walsh (2010, 341) – gut erklärte Problema-tik der Instabilität beziehungsweise Eindeutigkeit). Den na-türlichen Zins kann man nicht direkt beobachten und dieSchätzungen sind unpräzise und selbst im Nachhinein nichtverifizierbar (vgl. beispielsweise Laubach und Williams 2001).Wenn man für den Realzins einen relativ niedrigen Wert von1% verwendet, dann ergäbe sich als Referenzpunkt für dieGeldpolitik ein Wert von etwas unter 3%. Von diesem Re-ferenzpunkt wird eine Zentralbank nach unten abweichen(auch um der erwähnten Instabilitätsproblematik zu entge-hen), wenn (a) die Inflationsrate niedriger ist als die Zielinfla-tionsrate, (b) die Inflationserwartungen niedriger als die Ziel -inflationsrate sind oder (c) wenn die wirtschaftliche Aktivitätunter ihrem Potenzial ist. Die Argumente lassen sich in derfolgenden Regel (nach Taylor 1993, vgl. beispielsweise Hol-temöller 2008, 322) zusammenfassen: Referenzwert desLeitzinses = natürlicher Zinssatz + Zielinflationsrate + 1½(tatsächliche Inflationsrate – Zielinflationsrate) + ½ Potenzi-allücke. Wenn man sich an dieser Regel orientiert, dann er-gibt sich für das Eurogebiet die folgende Einschätzung:

(a) Die Inflationsrate ist um 0,7 Prozentpunkte höher als ge-wünscht. Wenn man die Preisentwicklung ohne Nahrungs-mittel und Energiepreise betrachtet, dann ist der Preisauf-trieb moderater (knapp unter 2%). Die Europäische Zen-tralbank orientiert sich aber an der umfassend berechnetenInflationsrate und sie würde Vertrauenskapital verspielen,wenn sie unerwartet anders verfahren würde. Die Bürger ori-entieren sich an dieser Politik und die Legitimität der EZBwürde leiden, wenn sie sich stillschweigend an einem an-deren Indikator orientiert. Bei einem sich von außen erge-benden Inflationsdruck (bspw. Ölpreise), erzwingt die EZBauf diese Weise eine Anpassung der relativen Preise, ohne

dass es zu einem Anstieg des allgemeinenPreisniveaus kommt. Die unvermeidbarenVerteilungsprobleme werden so unmittelbaradressiert und nicht über die Inflationssteu-er sozialisiert. Dieser Ansatz ist nicht unum-stritten, aber solange die Regeln so sind, ge-bietet es die Rechtsstaatlichkeit, die Regelnnicht willkürlich zu ändern.

(b) Weitgehend wird erwartet, dass die In-flationsrate für einen absehbaren Zeitraumetwas über 2% bleibt (vgl. EZB 2011b, 43 f).Die Volkswirtschaftlichen Abteilungen derBanken entwerfen folgendes Inflationsbild:Berenberg Bank 2,6 im Jahr 2011 und 2,2im Jahr 2012, Dekabank 2,5 im Jahr 2011und 2,4 im Jahr 2012, Deutsche Bank 2,7im Jahr 2011 und 2,0 im Jahr 2012, HVB

2,7 im Jahr 2011 und 2,0 im Jahr 2012. Andererseits deu-ten die Zinsen inflationsinduzierter Anleihen und die Prog-nosen der Banken an, dass keine dramatische Beschleu-nigung der Inflation erwartetet wird (vgl. EZB 2011a, 51; BIZ2011, 5).

(c) Das Produktionspotenzial kann nicht direkt beobachtetwerden, sondern wird geschätzt. Die Schätzungen variierenstark. Orientiert man sich an Umfragen zur Kapazitätsaus-lastung im verarbeitenden Gewerbe, dann haben wir bereitswieder den Zustand der Normalauslastung erreicht (vgl. EZB2011a, 79). Zu einer ähnlichen Einschätzung kommt man,wenn man den Hodrick-Prescott-Filter verwendet (vgl.Abb. 3). Allerdings ist diese Methode an den Rändern un-zuverlässig. Der Augenschein legt nahe, dass der so ge-schätzte Trend das Produktionspotenzial unterschätzt wird.In der Tat sind die Schätzungen der Produktionslücke desIWF‘s, der OECD und der Kommission deutlich pessimisti-scher (vgl. EZBa 2011, 79). Orientiert man sich an diesenInstitutionen, dann produziert das Eurogebiet ca. 6% unterunseren Möglichkeiten. Diese eher pessimistische Einschät-zung ist nicht haltlos. Angenommen wir würden einen li-nearen Trend in der gesamtwirtschaftlichen Entwicklungauf Basis der Daten von 1996 bis Mitte 2007 schätzen. AufBasis der so ermittelten Rate könnten wir einen Wachstums-pfad fortschreiben und den Abstand der tatsächlichen Ent-wicklung zu dieser Trendlinie ermitteln. Auf Basis einer sol-chen Schätzung produzieren wir sogar mehr als 7% unterdem Produktionspotenzial (vgl. Abb. 3). Es ist jedoch zuoptimistisch davon auszugehen, dass das Produktionspo-tenzial nach der schweren Wirtschaftskrise durch eine ein-fache lineare Fortschreibung erfasst wird (vgl. Abb. 3). Viel-mehr ist es plausibel, dass sich der Wachstumspfad nachunten beziehungsweise nach rechts verschoben hat. Es istdann zu einer Wachstumspause gekommen (diese Überle-gung ist eine Reminiszenz der Diskussion, ob die gesamt-wirtschaftliche Entwicklung einem stochastischen Trend

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Bilanz der EZB und M3

Quelle: Europäische Zentralbank.

1999 = 100

Bilanz der EZB

M3

Abb. 2

Zur Diskussion gestellt

folgt). Wenn wir davon ausgehen, dass der Hodrick-Pres-cott-Filter für Ende 2008 den richtigen Trendwert erfasst undunterstellen, dass der Wachstumspfad nach der Krise wie-der so steil ist wie vor der Krise, dann erhält man eine Po-tenzialschätzung, die einerseits davon ausgeht, dass dieWachstumsrate vor der Krise wieder erreicht wird. Ande-rerseits wird aber eine Wachstumspause unterstellt. Auf Ba-sis dieser Analyse produziert die Wirtschaft des Eurogebiet4% unter ihren Möglichkeiten. Möglicherweise ist jedoch dieWachstumsrate, die sich aus einer Regression auf Basis derDaten 1996 bis 2007 Q2 ergibt, zu optimistisch. Ermitteltman die Rate auf Basis der ganzen Daten und verfährt an-sonsten wie oben, dann ergibt sich eine Lücke von 3,3%.

Wenn man als Spannweite von Schätzungen der Produkti-onslücke von – 3 bis – 7 berücksichtigt, dann ergibt sich fürden Referenzwert des Leitzinses eine Spannweite von 0,55bis 2,55%. Der Leitzins sollte sich an einem Wert von ca.2% orientieren, wenn die Produktionslücke ca. 4% beträgt.Ein deutlich niedrigeres Niveau kann man nur rechtfertigen,wenn man sehr optimistisch bezüglich des Produktionspo-tenzials ist. Eine solche Einschätzung ist jedoch vor demHintergrund der offengelegten Verwerfungen im Eurogebietnicht plausibel, und aus diesem Grund wird hier eine Lückevon 4 als Punktschätzung vorgeschlagen.

Es ist jedoch nicht der exakte Wert des Leitzinses zu einembestimmten Zeitpunkt, sondern das Niveau der Leitzins-pfades über einen mittelfristigen Zeitraum, an den man dieTauglichkeit der Geldpolitik bemessen sollte: Erst zulange zuniedrige Zinsen provozieren Inflation und substantielle Ver-werfungen im Finanzsystem. Wenn man das Inflationsum-feld (Rohstoffpreise, Lebensmittelpreise) würdigt, dann sindweitere Leitzinserhöhungen wahrscheinlich und für eine aneiner preisstabilitätsorientierten Geldpolitik auch geboten.

Die Abbildung 3 liefert Indizien, dass sich die Potenziallü-cke bisher nur langsam schließt. Nur wenn man den Ho-drick-Prescott-Filter verwendet, gewinnt man den Eindruck,die Lücke hätte sich schnell geschlossen. Zu diesem Ein-druck kommt man jedoch nur, weil die Trendschätzung soflach ist. Wenn man davon ausgeht, dass sich die Potenzi-allücke pro Jahr um 1 Prozentpunkt bis 1½ Prozentpunkte,dann sollte die Zentralbank den Leitzins aus diesem Grundum ca. 50 Basispunkte plus x pro Jahr erhöhen. Dies soll-te sie tun, um den Leitzins in dem Maße an den mittelfristigneutralen Zins (ca. 3,5 bis 4,5%) zu führen, in dem sich dieWirtschaft in Richtung eines neutralen Konjunkturniveausbewegt. Wenn sich die Bedingungen am Kapitalmarkt ent-spannen, dann wird auch der Realzins stiegen. Zusammenmit einer nur etwas zu hohen Inflation kann man vermuten,dass es pro Jahr zu 3 bis 4 Zinsschritten je 25 Basispunk-te kommt. Im Sommer oder im Herbst 2012 wäre der Leit-zins dementsprechend 2,5% und in 2013 würden wir einenLeitzins von 3% beobachten. Wegen der weiter angespann-ten Lage im Finanzsystem und der davon ausgehendenbremsenden Wirkung ist ein solcher Zinspfad mit modera-ten und langsamen Zinserhöhungen aus heutiger Sicht an-gemessen.

Literatur

BIZ – Bank für den internationalen Zahlungsausgleich (2011), 81. Jahresbe-richt, http://www.bis.org/publ/arpdf/ar2011_de.htm.EZB – Europäische Zentralbank (2011a), Monatsbericht Juni, http://www.bun-desbank.de/eurosystem/eurosystem_ezb_monatsbericht_aktuell.php.EZB – Europäische Zentralbank (2011b), Monatsbericht Juli, http://www.bun-desbank.de/eurosystem/eurosystem_ezb_monatsbericht_aktuell.php.Hauck, A. und U. Neyer (2010), »The Euro Area Interbank Market and Liqui-dity Management of the Eurosystem in the Financial Crisis«, Diskussionspa-pier zur Volkswirtschaftslehre, Finanzierung und Besteuerung 2/2010, Hein-rich Heine Universität Düsseldorf, http://ssrn.com/abstract=1567305.Holtemöller, O. (2008), Geldtheorie und Geldpolitik, Mohr Siebeck, Tübingen.Laubach, Th. und J. Williams (2001), »Measuring the Natural Rate of Interest«,FEDS Working Paper No. 2001–56, http://ssrn.com/abstract=293951.Sinn, H.-W. und T. Wollmershäuser (2011), »Target-Kredite, Leistungsbi-lanzsalden und Kapitalverkehr: Der Rettungsschirm der EZB«, ifo Schnell-dienst, Sonderausgabe Juni, http://www.cesifo-group.de/portal/pls/portal/docs/1/1206574.PDF.Taylor, J. (1993), »Discretion versus Policy Rules in Practice«, Carnegie-Rochester Conference Series on Public Policy 39(1), 195–214.Walsh, C. (2010), Monetary Theory and Policy, MIT Press, Cambridge MA.

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Entwicklung und Trendt(schätzung)

Quelle: Europäische Zentralbank; Berechnungen des Autors.

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Hodrick-Prescott-Filterlinear (1996–2007 Q2)Wachstumspause (Wachstumsrate 1996–2011 Q1)Wachstumspause (Wachstumsrate 1996–2008 Q2)

%

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log reales BIP des EurogebietesHodrick-Prescott-Filterlinear (1996–2007 Q2)Wachstumspause (Wachstumsrate 1996–2011 Q1)Wachstumspause (Wachstumsrate 1996–2007 Q2)

des logarithmierten realen BIP des Eurogebietes

in %

Potenziallücke auf Basis unterschiedlicher Trendschätzungen

1995Q1 = 100

Abb. 3

Zur Diskussion gestellt

Wie groß ist die Inflationsgefahr? Ein Blick auf die Konsenserwartungenfür 2012

»One factor that may be of great importance in inflation de-termination but can be particularly hard to gauge is thestate of the public's inflation expectations (Poole 2004).For example, wages and prices that are set for some pe-riod in the future will of necessity embody the inflation ex-pectations of the parties to the negotiation; increases inexpected inflation will thus tend to promote greater actu-al inflation. (...) If expectations are not well tied down, in-flationary impulses that are in themselves transitory maybecome embedded in expectations and hence affect in-flation in the longer term. Therefore, an essential prerequi-site for controlling inflation is controlling inflation expecta-tions.« (Ben Bernanke 2004)

»Das heißt, dass sich an den Inflationserwartungen mes-sen lässt, ob Geldpolitik erfolgreich ist.« (Axel Weber 2006)

Die beiden oben angeführten Zitate zeigen, welche be-deutende Rolle Zentralbanken diesseits und jenseits desAtlantiks den Inflationserwartungen beimessen. Es ge-hört zu den wichtigsten Aufgaben der Zentralbanken,die Inflationserwartungen zu stabilisieren, und dies be-tonen sie bei jeder Gelegenheit. Genießt eine Zentralbankein hohes Maß an Glaubwürdigkeit, kann sie mittels ih-rer Kommunikation wie auch ihres Zinssetzungsverhal-tens Einfluss auf die Preisentwicklung ausüben, indemsie die Erwartungen der Wirtschaftsakteure hinsichtlichder künftigen Inflationsentwicklung beeinflusst. Inflations-erwartungen sind maßgeblich für das Verhalten der Wirt-schaftsakteure, insbesondere wenn es um Lohn- undPreissetzungen geht.

Angesichts dieser wichtigen Rolle der Inflationserwartungenversuchen wir, die Frage, wie groß die Inflationsgefahr imEuroraum momentan ist, in zwei Schritten zu beantworten.Zuerst untersuchen wir, ob und wie gut die EZB mittels ihrerKommunikation und ihrer Zinsentscheide die Inflationserwar-tungen beeinflussen und gezielt steuern kann. Hierzu verwei-sen wir auf wissenschaftliche Arbeiten, die dies empirisch un-tersucht haben. In einem zweiten Schritt analysieren wir dieEntwicklung der Inflationserwartungen in den letzten Mona-ten. Ein nachlassender Einfluss der EZB auf die Inflationser-wartungen zusammen mit einem Loslösen letzterer aus ih-rer Verankerung – durch den jüngsten Anstieg der Inflations-dynamik –, würde die Situation der EZB erheblich erschwe-ren, ihr gestelltes Mittelfristziel – eine Inflationsrate nahe, aberunter 2% zu erreichen – einzuhalten. Dabei werden wir nichtnur die erwartete Durchschnittsinflation für den gesamten Eu-roraum und deren Heterogenität beurteilen, sondern auchnäher beleuchten, wie die Inflationserwartungen der einzel-nen Euroländer sich über die letzten Monate verändert ha-ben. Letzteres ist besonders wichtig, da die EZB eine ein-heitliche Geldpolitik für alle teilnehmenden Länder verfolgt.Somit wäre es wünschenswert, dass alle Länder eine ähnli-che Entwicklung aufzeigen würden.

Die Rolle der Zentralbankkommunikation

Bisher wurde recht wenig über die Einflussnahme der EZBauf die Erwartungsbildung geforscht. Dies ist angesichts ih-rer Bedeutung für die Geldpolitik überraschend. Die wenigenStudien, die es gibt, finden, dass die EZB die Inflationserwar-tungen nicht nur durch ihre Zinsentscheide, sondern auchmittels ihrer Kommunikation steuern kann. Jansen und DeHaan (2007) stützen sich in ihrer Studie auf marktbasieren-de Inflationserwartungen (inflationsindexierte Bonds), wäh-rend Lamla und Sturm (2010) sowie Ullrich (2008) Erwartun-gen aus Umfragen verwenden. Auch die gewählten Indika-toren, um den Inhalt der Kommunikation der EZB zu erfas-sen, unterscheiden sich. Trotz der Differenzen in den gewähl-ten Daten und Methoden sind die Ergebnisse der verschie-denen Studien vergleichbar: Zentralbankkommunikation istein effektives Instrument, um die Inflationserwartungen derÖffentlichkeit zu steuern. Ullrich (2008) findet sogar keinendirekten Einfluss von Zinsänderungen, sondern nur einen Zu-sammenhang zwischen Kommunikation und Inflationserwar-tungen. Lamla und Sturm (2010) argumentieren, dass, wennman einen längeren Zeithorizont für die Inflationserwartun-gen wählt und zusätzlich die Überraschungskomponente desZinsentscheides berücksichtigt, sehr wohl einen Einfluss vonZinsentscheiden auf die Inflationserwartungen messen kann.Zudem sind Kommunikation und Zinsentscheide komple-mentär zu sehen.

Idealerweise sollten Handlungen und Aussagen der EZB beijedem Experten eine ähnliche Reaktion auslösen. Wenn dies

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Michael Lamla* Jan-Egbert Sturm**

* Dr. Michael Lamla ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Konjunktur-forschungsstelle (KOF) der ETH Zürich.

** Prof. Dr. Jan-Egbert Sturm ist Leiter der Konjunkturforschungsstelle (KOF)der ETH Zürich.

Zur Diskussion gestellt

nicht der Fall ist, kann dies zu Störungen desTransmissionskanals der Geldpolitik führen(vgl. Sims 2009). Lamla und Maag (2009)weisen darauf hin, dass die Heterogenitätder Inflationserwartungen von der Inflations-entwicklung abhängt. Ehrmann et al. (2010)untersuchen, wie die Transparenz in der Zen-tralbankkommunikation diese Heterogenitätin den Erwartungen beeinflussen kann. Siestellen hierbei fest, dass je klarer die Zen-tralbankkommunikation ist desto konzentrier-ter die Verteilung der Erwartungen ausfällt.Fasst man die Erkenntnisse dieser Studienzusammen, stimmen sie zuversichtlich: DieEZB besitzt genügend Glaubwürdigkeit undTransparenz, um mit Worten – und Taten –die Inflationserwartungen des Publikums zubeeinflussen und zu homogenisieren. DieEZB kann somit ihr Ziel, Preisstabilität zu ge-währleisten, erreichen.

Inflationserwartungen am aktuellen Rand

Bleibt also die Frage, wie sich die Erwartungen am aktuel-len Rand entwickeln, und ob die Vorkommnisse der letztenJahre diese gute Ausgangslage im Hinblick auf die Einfluss-nahme der EZB auf die Inflationserwartungen und damitdie Effektivität der Geldpolitik negativ beeinflusst haben. Hier-zu werfen wir einen Blick auf die Umfrage von ConsensusEconomics Inc. Consensus Economics fragt in einem mo-natlichen Turnus die Wirtschaftsexperten (öffentliche Insti-tute wie auch Banken) eines Landes nach ihren Erwartun-gen für das laufende wie auch für das kommende Jahr. Zu-sätzlich werden Experten, welche auch Prognosen für dengesamten Euroraum veröffentlichen, nach diesen Erwartun-gen befragt. Neben vielen ökonomisch bedeutenden Kenn-größen, wie dem erwarteten Wirtschaftswachstum, wer-den auch die Inflationserwartungen erfasst. Diese Daten-basis bildet eine gute Grundlage, um die Dynamik der Infla-tionserwartungen am aktuellen Rand zu beurteilen.

Abbildung 1 zeigt die Entwicklung der Inflationserwartungenfür den Euroraum für das Jahr 2012. Es ist anzunehmen,dass die Erwartungen für 2011 stark von den aktuellen Ent-wicklungen an den Rohstoffmärkten geprägt sind. Die Geld-politik kann innerhalb dieses kurzfristigen Horizonts wenigEinfluss ausüben. Daher sind für die Geldpolitik die Erwar-tungen für 2012 relevanter. Noch bewegen sich die Inflati-onserwartungen für das nächste Jahr innerhalb des vonder EZB gewünschten Bandes, d.h. knapp unterhalb von2%. Allerdings kann man einen Trend zu höheren Inflations-erwartungen feststellen, welcher am aktuellen Rand wiederetwas an Dynamik gewonnen hat. Zudem gibt es eine (leicht)steigende Zahl von Prognosen, welche sich oberhalb des

Inflationsziels der EZB bewegen. Die Bandbreite der Inflati-onserwartungen für den Euroraum für 2012 hat sich in denletzten Monaten relativ konstant um rund 80 Basispunktebewegt. Obwohl sich dieser Wert im Juli wieder auf 90 Ba-sispunkte erhöht hat, ist dies im Vergleich zu den letztenneun Jahren, d.h. seit es die Konsensprognosen für den ge-samten Euroraum gibt, nicht beunruhigend. Für den Juli istdieser Wert sogar als leicht unterdurchschnittlich zu be-werten. Nur in den Sommern 2006 und 2007 gab es einenstärkeren Konsens über die Inflationsrate des kommendenJahres. Insgesamt kann man auch daher (noch) nicht voneiner besorgniserregenden Entwicklung der Inflationserwar-tungen sprechen.

Das Bild ändert sich leicht, wenn man die Inflationserwar-tungen in den jeweiligen Mitgliedsländern betrachtet. Ab-bildung 2 zeigt den Durchschnitt der Inflationserwartungender jeweiligen Experten für das dazugehörige Mitgliedslandfür das Jahr 2012. Ermittelt wurden diese Zahlen in den Um-fragen seit Januar 2011. Hierbei wird deutlich, dass über dieletzten sieben Monate die Spannbreite der Inflationserwar-tungen für 2012 zwischen den Ländern größer ist als inner-halb eines Landes. Sie ist ebenfalls größer als zwischenden befragten Institutionen für den Euroraum insgesamt (vgl.Abb. 1). Während die Bandbreite der Inflationserwartungenfür den Euroraum für 2012 der einzelnen Prognostiker zwi-schen 1,5% und 2,4% liegt, liegt die Bandbreite der Durch-schnitte der einzelnen Länder im Juli zwischen 0,6% und2,2%. Wenn man die Erwartungen der einzelnen Prognos-tiker nimmt, ist diese Spannbreite noch bedeutend größer.Auf der einen Seite stehen Länder wie Belgien, Deutschland,Finnland, Italien und Österreich, welche inzwischen Inflati-onserwartungen für 2012 oberhalb des von der EZB ge-steckten Zielwertes ausweisen. Auf der anderen Seite be-wegen sich die Krisenländer Griechenland, Irland, Portugalund Spanien deutlich unterhalb dieser Marke.

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Bandbreite Maximum Minimum Durchschnitt

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Consensus-Inflationserwartungen für den Euroraum 2012

Quelle: Consensus Economic Inc.

Abb. 1

Zur Diskussion gestellt

Sind die Abweichungen in den nationalen Inflationsraten we-sentlich anders als in der Vergangenheit? Abbildung 3 ver-gleicht die Extremwerte als Maß für die Verteilung der Infla-tionsraten für das nächste Jahr, immer gemessen im Mo-nat Juli.1 Abhängig davon, ob man die Länderprognosenungewichtet oder anhand von BIP-Gewichten des Vorjah-res berücksichtigt, ändert sich die Aussage. Ungewichtet istdie heutige Streuung der Länderprognosen weniger starkals in früheren Jahren. Gewichtet man die Länder mit Hilfedes BIP, dann ist eine überdurchschnittliche Heterogenitätfestzustellen. Allerdings sind die Werte immer noch vergleich-bar mit jenen der Vergangenheit.

Schlussfolgerungen

Es gibt Gründe für eine erhöhte Wachsamkeit in Bezug aufdie zukünftige Entwicklung der Preise im Euroraum. Dies

ist seit Einführung des Euro nicht das ersteMal, dass Zweifel an der Preisstabilität be-stehen. In den Sommern der Jahre 2006 und2008 befanden sich die Konsensprognosenfür die Inflationsrate im nächsten Jahr deut-lich über dem Zielwert von 2%. In diesemSommer sind wir (noch) davon entfernt.

Doch in der jetzigen Situation kommen eini-ge Faktoren zusammen, die zu höheren In-flationserwartungen führen und damit dieGlaubwürdigkeit der EZB schwächen könn-ten. Im Zuge der Finanzkrise haben sich dieBudgetpositionen einiger Länder dramatischverschlechtert, da sowohl die Realwirtschaftals auch die Finanzbranche Unterstützungbenötigten. Dies hat zu hohen Zinsaufschlä-gen auf den Finanzmärkten geführt und dieEZB veranlasst, unorthodoxe Maßnahmen

zu ergreifen, die bis vor der Schuldenkrise als absolutes Ta-bu galten und auch innerhalb des EZB-Rates für Unstim-migkeiten sorgten. Zum einen kaufte die EZB Anleihen derin Not geratenen Staaten auf dem Sekundärmarkt auf. DasVolumen dieses Aufkaufprogramms belief sich auf ca.60 Mrd. Euro. Des Weiteren akzeptiert die EZB nun Staats-anleihen von Staaten für die kurzfristigen Refinanzierungs-geschäfte als Sicherheiten, die weit unter dem gewünsch-ten üblichen Bonitätsstandard liegen. Griechenland sowieIrland weisen mittlerweile bloß noch eine Schuldnerbonitätvon B1 auf und sind somit als »hochspekulativ« kategori-siert. Der normalerweise verwendete Bonitätsstandard istbei mindestens A- angesiedelt.

Darüber hinaus sind dieses Jahr die Inflationsraten im Eu-roraum weit über den gewünschten Zielwert geklettert, undes ist abzusehen, dass sie dort noch etwas verbleiben wer-den. Zuletzt wurde eine Inflationsrate von 2,7% im Ver-

gleich zum Vorjahr im Juni 2011 ausgewie-sen. Hauptgrund für diese Entwicklung sindrasante Preisanstiege bei Energiepreisensowie Rohstoffen. Auf die Entwicklung derPreise dieser Gruppen kann keine Zentral-bank der Welt individuell signifikanten Ein-fluss ausüben. Allerdings können diesePreisanstiege zu Zweitrundeneffekten unddamit zu einem breit angelegten Preisan-stieg führen. Angesichts dieser Entwicklungist es erfreulich, dass die EZB die Zinswen-de eingeleitet hat. Sie macht damit deutlich,dass sie trotz der Turbulenzen im Euroraum,sowohl im Hinblick auf die Stabilität der Ban-

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Quelle: Consensus Economic Inc.

Inflationserwartungen in einzelnen Mitgliedstaaten für 2012

Von Januar bis Juli.

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Verteilung der länderspezifischen Inflationserwartungen im Juli für das jeweils nächste Jahr

Quelle: Consensus Economic Inc.

BIP-gewichtetet Max-MinMax- Min

Abb. 3

1 Das Bild ändert qualitativ nicht, wenn man statt derDifferenz zwischen der höchsten und tiefsten Inflati-onsprognose die Standardabweichung der Länder-prognosen nimmt.

Zur Diskussion gestellt

kenlandschaft als auch was die budgetären Probleme ein-zelner Mitgliedsländer angeht, an ihrem Hauptziel, der Preis-stabilität, festhält. Trotz der eingeleiteten Zinswende bleibtaber die Geldpolitik »ultra«-expansiv ausgerichtet. Es istviel Liquidität im Markt, und die Zufuhr zusätzlicher Liqui-dität durch die EZB ist nicht limitiert, wie es in einer Nor-malsituation der Fall gewesen wäre. Dieser Beitrag zeigtjedoch, dass zumindest bis jetzt die Inflationserwartun-gen noch immer einigermaßen moderat sind.

Insgesamt steigen die Inflationserwartungen im Euroraumfür das nächste Jahr aber weiterhin an. Einige Analystengehen inzwischen davon aus, dass die Inflationsrate nächs-tes Jahr bei über 2% liegen wird. Auch weitet sich dieSpannbreite der Prognosen inzwischen wieder etwas aus,ohne aber beunruhigende Werte anzunehmen. Somit istes richtig, die schrittweise Normalisierung der Geldpolitikfortzuführen und mittels einer aktiven und transparentenKommunikation zur Festigung der Inflationserwartungenbeizutragen.

Literatur

Ehrmann, M., S. Eijffinger und M. Fratzscher (2010), »The role of centralbank transparency for guiding private sector forecasts«, Working Paper Series 1146, European Central Bank.Jansen, D.-J. und J. de Haan (2007), »The importance of being vigilant: HasECB communication influenced Euro area inflation expectations?«, DNB Wor-king Papers 148, Netherlands Central Bank, Research Department.Lamla, M.J. und J.-E. Sturm (2010), »Central Bank Communication, Interestrate announcement and inflation expectations«, mimeo, präsentiert bei derCESifo Conference on Monetary policy and financial stability – what role forcentral bank communication?Lamla, M.J. und T. Maag (2009), »The Role of Media for Inflation ForecastDisagreement of Households and Professionals«. KOF Working Paper No 223,ETH Zurich.Sims, C.A. (2009), »Inflation Expectations, Uncertainty and Monetary Policy«,BIS Working Papers 275, Bank for International Settlements.Ullrich, K. (2008), »Inflation expectations of experts and ECB communica ti-on«, The North American Journal of Economics and Finance 19(1), 93–108.

Inflation: Nicht in Sicht oder näher alsman glaubt?

Geht es nach den Internet-Suchmaschinen, ist die Fra-ge entschieden. Wer nach »Inflation« sucht, erhält etwa70mal mehr Treffer als bei der Suche nach »Preisstabili-tät«. Aber vielleicht hat das eher mit der Sperrigkeit vonWorten zu tun als mit ihren Inhalten. Wie groß ist die In-flationsangst? Das kommt darauf an, wen man fragt. Beiden privaten Haushalten haben Sorgen um die Entwer-tung des Geldes und damit ihres Finanzvermögens vongegenwärtig etwa 5 Billionen Euro massiv zugenommenund sind mittlerweile weit verbreitet.1 Es kommt hinzu,dass die Glaubwürdigkeit der Inflationsdaten gelitten hat,weil sie aufgrund verschiedener Faktoren nicht mit derPreiswahrnehmung vieler Wirtschaftsteilnehmer überein-stimmt. Der Goldpreis bricht immer neue Rekorde, dieMedien thematisieren Inflationsängste (vgl. Handelsblatt2011). Auch bei den Unternehmen spiegeln sich höhereInflationserwartungen wider: So erreichte die Inflations-komponente im Rahmen der europäischen Einkaufsma-nagerumfrage im Februar den höchsten Wert der 15-jährigen Umfragehistorie. Bei denjenigen, die sich von Be-rufs wegen mit finanziellen Werten auseinandersetzen,scheinen die die Meinungen dagegen geteilt zu sein. Zwardiskutieren viele Analysten an den Märkten einen deutli-chen Inflationsanstieg. Aber dies gilt allerdings wohl nichtfür die nahe Zukunft: Die Euroland-Inflationsprognosenfür dieses und das kommende Jahr bewegen sich imDurchschnitt im Rahmen der Zielvorstellung der Euro-päischen Zentralbank. Die an Finanzmarktpreisen abzu-lesenden langfristigen Inflationserwartungen machendeutlich, dass das in den 1990er Jahren herausgebilde-te Inflationsregime mit der Geldwertstabilität als wichtigs-ter Zielsetzung unabhängiger Notenbanken auch wei-terhin glaubwürdig ist (vgl. Abb. 1).

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Ulrich Kater*

* Dr. Ulrich Kater ist Chefvolkswirt der DekaBank, Frankfurt am Main.1 Eine Reihe von Umfragen ermittelten deutliche Anteile von Befragten, die

eine hohe Inflation erwarten, so rechneten etwa nach einer Umfrage ausdem Jahr 2010 8% der Befragten mit Inflationsraten von mehr als 10%,29% mit Raten von 5 bis 10% (vgl. merkur-online.de 2010).

Zur Diskussion gestellt

Die gängigsten Gründe für die aktuellen Inflationsängsteliegen in der Annahme von Politikversagen: weil die westli-chen Industriestaaten – durch die jüngsten Konjunkturein-brüche, aber auch schon vorher – zu hohe Staatsschuldenaufgetürmt haben, bliebe ihnen nur der in der Geschichtehäufig zu findende Ausweg über eine Entwertung des Gel-des und damit dieser Schulden. Mit einer enormen Geldver-mehrung hätten die Notenbanken in den letzten Jahren be-reits die Saat der nächsten großen Inflationswelle gelegt, dieunweigerlich aufgehen müsse. Dass mit unabhängigen No-tenbanken die insitutionellen Voraussetzungen zur Auslö-sung großer Inflationswellen nicht mehr vorhanden sind, wirdentweder ignoriert oder mit dem Argument beantwortet, dieUnabhängigkeit der Notenbanken sei nur in Schönwetter-zeiten gewährleistet. Wenn es eng würde im Staatshaus-halt, dann werde politischer Druck die Notenbanken in dieKnie zwingen, notfalls mittels Gesetzesänderungen. Und dieWähler würden zuschauen, weil sie einerseits die mit Kon-solidierungsleistungen verbundenen Anstrengungen nichtbereit wären zu leisten und andererseits nach mehreren Jahr-zehnten mit Preisstabilität mangels eigener Inflationserfah-rungen einen Inflationskurs der Politik tolerieren würden. Ge-gen diesen Glauben helfen auch keine Argumente, die dieNotenbanken anführen können, etwa dass in ihren Wäh-rungsgebieten nach dem großen Konjunktureinbruch von2008/09 selbst nach langjähriger Erholung die Kapazitätennoch nicht einmal wieder voll ausgelastet seien. Als weite-res würden sie wohl anführen, dass zwar durchaus viel Geldproduziert wurde, dieses allerdings nicht die Wirtschaft er-reicht hat und lediglich den enorm gestiegenen Liquiditäts-haltungsbedarf des Bankensystems widerspiegelt, weil dortim Zuge des Misstrauens durch die Finanzkrise der Geld-markt zusammengebrochen ist.2 Die breiten Geldmengen-aggregate stagnieren, wie in Großbritannien seit Anfang 2010(Jahreswachstumsrate M4, Mai 2011: – 0,4%), oder steigennur langsam an, wie etwa im Euroraum (M3: 2,4%) oder denUSA (M2: 5,3%). Und schließlich würden die Notenbanken

auf die »fest verankerten« Inflationserwartun-gen verweisen, etwa mit Hinweise auf obenangegebene Marktdaten oder auch Umfra-geergebnisse unter Kapitalmarktexperten.

Diese Diskussion um eine neue »Große Infla-tion« mit zweistelligen Raten wie etwa in den1970er Jahren oder sogar einer weiterge-henden Geldzerrüttung ist wohl etwas zuholzschnittartig. Sieht man einmal von sol-chen politökonomischen Ansätzen der In-flationsentstehung ab, dann sind es gegen-wärtig eher andere Argumente, die die Infla-tionsdebatte bestimmen. Ausgangspunktdieser Diskussion ist, dass in den Jahren2009 und 2010 wohl eher Deflationsgefah-ren die Agenda beherrschten. Der Produkti-onseinbruch im Winter 2008/09 führte welt-

weit betrachtet zu den größten Unterauslastungen der Nach-kriegszeit. Arbeitslosenquoten schossen in den meisten Län-dern – eine Ausnahme bildete Deutschland – weit über ih-re strukturellen Werte hinaus. Alles dies hätte bei längererDauer den Nährboden für eine deflationäre Entwicklung ab-geben können. Und so sanken die Inflationsraten bis Mitte2009, etwa in den USA auf – 2,0%, in Euroland auf 0,7%,im Vereinigten Königreich auf 1,1%. Diese Bewegung wur-de angeführt von zusammenbrechenden Rohstoffpreisen –der Rohölpreis ging von Juni bis Dezember 2008 um mehrals 70% zurück –, so dass sich die Entwicklung in den Kern-raten immerhin nicht ganz so heftig niederschlug. Die his-torisch einmalige Umkehr eines solchen Konjunktureinbruchs– der Anteil der finanz- und geldpolitischen Gegenmaßnah-men hieran ist noch nicht erforscht, er war allerdings wohlsubstanziell – hat zu einer V-förmigen Erholungsbewegunggeführt, wodurch heute die Kapazitätsauslastung in eini-gen Industrieländern näher an den langjährigen Normal-werten liegen sollte. In einigen besonders von der Finanz-krise und dem darauf folgenden Konjunktureinbruch be-troffenen Volkswirtschaften sind demgegenüber Struktur-probleme freigelegt worden, diese Länder haben an der welt-wirtschaftlichen Erholung wenig bis gar nicht teilgenommen.Wieder andere Länder, wie insbesondere die Schwellen-länder, sind von der Krise nur indirekt und kurzzeitig getrof-fen worden und haben ihren Wachstumsweg weiter fortge-setzt. Auch hier ist die Auslastung – soweit hierüber Datenvorliegen – in der jüngsten Vergangenheit deutlich ange-stiegen. In den von der Erholung erfassten Industrieländernhaben sich folglich die Inflationszahlen von ihren Tiefstän-den wieder weg bewegt, erneut angeführt durch die Roh-stoffpreise. Mittlerweile haben aber auch die Kernraten nach-gezogen und befinden sich auf einen langsam ansteigen-

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%

Langfristige Inflationserwartungen an den Finanzmärkten

Quelle: Dekabank.

Break-Even-Inflationserwartunegen aus Renditen inflationsgeschützter Staatsanleihen (10J)

USA

Frankreich

Abb. 1

2 Zuletzt etwa wieder der Präsident der US-amerikanischen Fed, Ben Ber-nanke bei der Diskussion über den Semiannual Monetary Policy Report vordem United States Senate Committee on Banking, Housing and UrbanAffairs am 14. Juli 2011 (vgl. http://banking.senate.gov/public/).

Zur Diskussion gestellt

den Pfad. In den Schwellenländern sind die Raten deutlicherangestiegen, wie in Indien oder China. Die Weltinflationsra-te liegt gegenwärtig etwa bei 4% (vgl. Abb. 2).

Die Notenbanken haben bislang die wirtschaftliche Erho-lung mit einer Politik ultra-niedriger Leitzinsen und zusätz-lichen quantitativen geldpolitischen Maßnahmen begleitet.Als eine der ersten Industrieländer-Notenbanken hat dieEZB im Januar 2011 Zinserhöhungen verbal vorbereitetund im April in der ersten Veränderung seit fast zwei Jah-ren den Leitzins um 25 Basispunkte angehoben, gefolgtvon einem weiteren Zinsschritt im Juli. Nach unseren Er-wartungen wird die EZB ihren Leitzins in diesem Jahr nocheinmal und unmittelbar im Jahr 2012 nochmals bis auf dann2% anheben.

Ist diese Strategie angemessen? Die unmittelbaren Aussich-ten für die Inflationsentwicklung in Euroland sind so alar-mierend nicht. Die deutlichen Anstiege der Rohstoffpreiseim Jahr 2010 und in der ersten Hälfte 2011 haben sich inErstrundeneffekten auf verschiedene Komponenten des eu-ropäischen Verbraucherpreisindex ausgewirkt. Zweitrunden-effekte sind bislang nicht in Erscheinung getreten. Insbeson-dere eine Lohn-Preis-Spirale ist – noch? – nicht in Ganggekommen. In der am meisten prosperierenden Region desEurogebiets, in Deutschland, gab es in diesem Jahr zwölfgrößere Tarifabschlüsse, die ohne Ausnahme als angemes-sen zu betrachten sind. Zusammen mit den aus früherenJahren nachwirkenden Tarifvereinbarungen führen sie zu Ta-riflohnsteigerungen von voraussichtlich 2,7% in diesem Jahr.Dass sich diese Entwicklung so fortsetzt, ist zwar unwahr-scheinlich, bleibt aber eher zu beobachten als dass die Geld-politik sich vorsorglich dagegen stemmen müsste. Dazukommt, dass in anderen Regionen Eurolands aufgrund desvon den Kapitalmärkten erzwungenen finanzpolitischen Res-triktionskurses die Inflation rückläufig ist und sich teilweisenahe der Nulllinie bewegt: Nach Abzug der Effekte von Steu-

ererhöhungen – die die Inflationsraten verfäl-schen – herrschen in Griechenland gegen-wärtig Preisanstiege von 1,5%, in Portugalund Spanien von jeweils knapp über 2%.Selbst wenn für Euroland im Vorjahresver-gleich gegenwärtig die Raten noch deutlichüber der Inflationsnorm der EZB liegen (Ju-ni: 2,7%) ist doch absehbar, dass die Inflati-onsraten in den kommenden Monaten wie-der fallen werden. Der Konsens der Markt-analysten rechnet mit einer Inflationsrate fürEuroland von 2,6% in diesem und 1,9% imkommenden Jahr. Dies wäre kompatibel mitmonatlichen Inflationsraten von gut 2% zumEnde dieses Jahres.

Umstritten ist die Bedeutung des weltweitsich verändernden Inflationsklimas. Insbe-

sondere in vielen schnell wachsenden Volkswirtschaften sinddie Inflationsraten in den vergangenen Quartalen mit der wirt-schaftlichen Erholung nach der Krise wieder deutlich ange-stiegen. Allerdings darf man nicht vergessen, dass dies einnormales Kennzeichen des schnellen Wachstumsprozes-ses in diesen Ländern ist. Gegenwärtig sind angesichts derVerbrauchsstruktur der privaten Haushalte Ländern mit re-lativ niedrigem Pro-Kopf-Einkommen die Rohstoff- und Le-bensmittelpreise sowie Dienstleistungspreise Haupttreiberder Inflation. Häufig werden auch die stark steigenden Löh-ne in den Schwellenländern als Ursache genannt, allerdingsist diese Argumentation angesichts ebenfalls stark steigen-der Produktivität schwer quantifizierbar (vgl. Lipinska Mil-lard 2011). Eine reale Aufwertung durch schneller steigen-de Preise für nicht-handelbare Güter ist eine natürliche Be-gleiterscheinung von wirtschaftlichen Entwicklungsprozes-sen und hat keinen nachhaltigen inflationssteigernden Ein-fluss auf die Handelspartner. Die Bedeutung von sogenann-ten Globalisierungseffekten für die niedrigen Industrieländer-Inflationsraten der Vergangenheit sollte daher nicht zu hochangesetzt werden: Industriegüterpreise sind hiervon weni-ger betroffen. Am wahrscheinlichsten erscheint, dass stetssteigende Importanteile von Schwellenländergütern in denIndustrieländern bislang einen leicht dämpfenden Effekt aufdie Inflation ausgeübt haben, der nun langsam schwächerwird. Angesichts der Größe des Euroraums und der damitverbundenen Importquote von 12% kann man jedoch da-von ausgehen, dass die Euroland-Inflationsrate von diesenEffekten nicht nachhaltig beeinflusst wird.

Die zweite von der EZB regelmäßig beobachtete Instrumen-tentafel besteht aus monetären Variablen. Wie oben bereitsangeführt, lassen sich aus der Entwicklung der europäischenKredit- und Geldmengenaggregate derzeit schwerlich Argu-mente für eine dringende Straffung der Geldpolitik ableiten.Die Kredite an den Unternehmenssektor steigen gegenwär-tig mit einer Rate von 2,5%, nachdem das Kredit- und Geld-

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Weltinflationsrate

Quelle: Dekabank.

Gewichtete Inflationsraten (yoy) der größten Volkswirtschaften der Welt, zus. etwa 80 % des Welt-BIP

Abb. 2

Zur Diskussion gestellt

mengenwachstum im vergangenen Jahr fast ganz zum Er-liegen gekommen war und ebenfalls eine Schrumpfung droh-te, die von den Kapitalmärkten als weiteres Indiz für einenahende Deflation gedeutet worden wäre.

Aber Inflationsprognosen sind nicht die einzigen Maßstäbezur Beurteilung der Zinspolitik. Ein herkömmliches geldpo-litisches Analyseinstrument, die Taylor-Regel, sucht den an-gemessenen Leitzinssatz aus dem gegenwärtigen Auslas-tungsgrad sowie der gegenwärtigen Einhaltung des Inflati-onsziels einer Notenbank zu quantifizieren. Schätzungen fürEuroland ergeben derzeit, dass weiterhin ein niedrigerer alsder neutrale Leitzins angemessen wäre, jedoch nicht mehrin dem Ausmaß, das zu Jahresbeginn noch herrschte. Auchandere heuristische Beurteilungsmodelle der Notenbankpo-litik wie etwa Scoring-Systeme (vgl. Abb. 3) kommen zu demSchluss, dass die geldpolitische Ausrichtung gegenwärtigwieder näher an einer neutralen Ausrichtung liegen sollteals an einer expansiven.

Die Aussagen solcher Modelle über die gegenwärtige Infla-tionswelt sollten allerdings zurzeit mit einer besonderen Vor-sicht betrachtet werden. Ihre Kalibrierung stammt noch ausder Zeit vor der Finanzmarktkrise, und es ist zumindest plau-sibel, dass sich Wirkungsmechanismen der Geldpolitik ver-ändert haben könnten. So ist etwa mit der Produktionslü-cke gegenwärtig eine Variable mit starker Unsicherheit be-haftet, die für die Diagnose von Inflationsgefahren eine zen-trale Rolle spielt. Es ist einfach gegenwärtig nicht darstell-bar, in wie weit die Produktionskapazitäten aus der Weltvor der Finanzkrise nach dieser noch den gleichen Wertbesitzen. Auch muss hinterfragt werden, ob die Beziehungzwischen Output-Lücke und Inflation stabil geblieben ist (vgl.

Benkovskis et al. 2011). Schließlich ist zu be-urteilen, ob sich neue Regulierungen im Fi-nanzsektor, die zwar erst in den kommen-den Jahren eingeführt werden, sich aber be-reits jetzt auf das Verhalten der Finanzmarkt-akteure auswirken, auch auf die Wirkungs-weise der geldpolitischen Transmission aus-wirken. Verschärfte Kreditbedingungen etwakönnten restringierend auf die wirtschaftli-che Aktivität wirken, vergleichbar einem An-gebotsschock. Dies könnte auch die Mecha-nik von Inflationsprozessen ändern. Es lassensich angesichts der vielen Strukturänderun-gen in den Volkswirtschaften nach dem Plat-zen der Kreditblase eine Reihe von geänder-ten Einflussfaktoren finden, die auch Inflati-onsprozesse verändern können. Angesichtsdieser neuen Unsicherheiten bei der Wir-kungsweise der Geldpolitik ist die feste Ver-ankerung der Inflationserwartungen von be-sonderem Vorteil.3

Eine angesichts dessen vorsichtige Haltungdes europäischen Zentralbankrates scheint auch der Hin-tergrund für die geldpolitische Taktik des Jahres 2011 zusein. Die Geldpolitik der vergangenen beiden Jahre war ex-trem expansiv. Die Erfahrungen der vergangenen Jahrzehn-te belegt, dass eine zu lange extreme Ausrichtung der Geld-politik die Finanzstabilität zu gefährden droht. Was in der Kri-se richtig gewesen ist und zu einer Stabilisierung beigetra-gen hat, wirkt mit zunehmender Dauer kontraproduktiv. DieMarktteilnehmer werden wieder zu risikobereit, die Finanz-marktpreise schießen in die Höhe. Ein hohes Ausmaß anFristentransformation im Bankensystem, die Gefahren durchRenditeanstiege am Rentenmarkt sowie die Gefahr von Ver-mögenspreisblasen an Aktien- oder Immobilienmärkte sindBeispiele dafür, wie die Geldpolitik wieder zu Instabilitätenund letztlich zu Fehlallokationen im realwirtschaftlichen Sek-tor führen kann. Den richtigen Zeitpunkt zur Beendigung desKrisenmodus der Geldpolitik gibt es nicht, zumal dieser Mo-dus nicht von einem auf den anderen Tag abgeschaltet, son-dern eher langsam heruntergefahren werden wird. In derersten Hälfte dieses Jahres wurden diese Verhältnisse durchsteigende Ängste um die finanzpolitische Stabilität im Eu-roraum und mit ihr die Stabilität des Euro selber überschat-tet. Sollte es der europäischen Politik gelingen, aus dieserkrisenhaften Entwicklung herauszufinden, ohne dass esschädliche Rückwirkungen auf die Realwirtschaft gibt, wer-den sich die Finanzmarktpreise wieder mehr auf die Funda-mentaldaten ausrichten. Die EZB tut dann gut daran, sobaldwie möglich an einer weiteren Normalisierung ihrer Geldpo-litik zu arbeiten.

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EZB-Kompass der DekaBank und Refisatzänderungen der EZB

EZB-Kompass

Veränderung Refisatz

Prog-nose

Abb. 3

Der EZB-Kompass der DekaBank ist ein Scoring-Modell, das die in der geldpolitischen Stra-tegie der EZB maßgeblichen monetären und nicht-monetären Variablen normiert und in eineGröße zusammenfasst. Punktwerte über 50 deuten dabei auf die Notwendigkeit einer eherrestriktiven Geldpolitik hin (ab Juli 2011: Prognosen).

Quelle: DekaBank.

3 Für eine empirische Analyse von Inflationsfaktoren vgl. etwa Moccero,Watanabe und Cournède (2011).

Zur Diskussion gestellt

Literatur

Benkovskis, K., M. Caivano, A. Agostino, A. Dieppe, S. Hurtado, T. Karls-son, E. Ortega und T. Várnai (2011), »Assessing the sensitivity of inflation toeconomic activity«, ECB Working Paper 1357.Handelsblatt (2011), »Das Gespenst der Inflation«, 15. Juni.Lipinska A. und S. Millard (2011), »Tailwinds and headwinds: how does growthin the BRICs affect inflation in the G7?«, Bank of England Working PaperNo. 420.Merkur-online.de (2010), »Viele haben Angst vor steigender Inflation«, 14.Juni.Moccero, D., S. Watanabe und B. Cournède (2011), »What Drives Inflationin the Major OECD Economies?«, OECD Economics Department WorkingPapers, No. 854.

Wie groß sind die Inflationsgefahren imEuroraum? – Reichen die Zinserhöhungender EZB?

Inflation entzieht in einer Volkswirtschaft reale Kaufkraft. ImEuroraum sind die Inflationsgefahren weiterhin vorhanden.Deshalb hat die Europäische Zentralbank (EZB) im Juli zumzweiten Mal in diesem Jahr den Leitzins um 0,25 Prozent-punkte angehoben, auf nun 1,5%. Die Inflationsrate stagnier-te zuletzt auf einem hohen Niveau. So betrug sie im Juni inDeutschland 2,3%, also über den 2%, die von der EZB nochals Preisniveaustabilität angesehen wird. Im übrigen Euro-raum lag sie im Durchschnitt mit 2,7% noch darüber.

Ausgelöst wurde der Anstieg der Teuerungsrate vor allemdurch die höheren Preise für Energieträger, Industrieroh-stoffe und Lebensmittel. Die Rohstoffe verteuerten sich in-folge der wieder ansteigenden Weltkonjunktur, insbeson-dere China benötigt für seine Wirtschaft große Mengen anRohstoffen. Angebotsverknappungen bei einzelnen Roh-stoffen trugen zusätzlich zu den Preissteigerungen bei. Soerhöhte sich der Weizenpreis aufgrund von Ernteausfällendurch schlechte Wetterbedingungen im Vergleich zum Ju-ni 2010 in Euro bewertet um 44%. Im gleichen Zeitraumstiegen die Preise für Mais um 75%, für Zucker um 41%und für Baumwolle um 62%. Auch der Rohkaffeepreis er-höhte sich wesentlich mit 28%.

Rohöl der Sorte Brent notierte im Juni durchschnittlich bei113,7 US-Dollar pro Barrel und war damit um 28,8% teu-rer als im Vergleichsmonat des letzten Jahres. Mit Libyenwurde ein Ölexportland von den Unruhen in Nordafrika undim Nahen Osten ergriffen. Sorgen, die Unruhen könnten auchandere wichtige Ölproduzentenländer wie Saudi Arabien er-fassen, ließen den Brent-Ölpreis im April sogar auf über125 US-Dollar pro Barrel ansteigen. Neben der globalenKonjunkturerholung und den Angebotsverknappungen hatwohl auch die Spekulation zu den Preiserhöhungen bei den

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Leon Leschus*

* Leon Leschus ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Hamburgischen Welt-WirtschaftsInstitut (HWWI).

Zur Diskussion gestellt

Rohstoffen beigetragen. Durch die expansive Geldpolitik derNotenbanken stand den Finanzmärkten viel Liquidität zurVerfügung, welche die Anleger zur Portfoliodiversifizierungund Inflationsabsicherung auch für Investitionen in Roh-stoffe nutzten.

Die höheren Rohstoffpreise spiegeln sich in dem HWWI-Rohstoffpreisindex für die »Euroländer« wider. In diesem sinddie einzelnen Rohstoffe entsprechend ihrer Bedeutung anden gesamten Rohstoffimporten der 17 Euromitgliedslän-der gewichtet. Der Index »Euroland« stellt damit einen Indi-kator dar, der angibt, wie hoch der Inflationsdruck im Euro-gebiet durch die Rohstoffpreisanstiege ist. Im Vergleich zumVorjahr ist der Gesamtindex für das »Euroland« um 23,8%angestiegen. Dabei erhöhte sich der Teilindex »Energie« um27,2%, der Teilindex »ohne Energie« um13,5% und der Teilindex für Nahrungsmittelum 25,9%. Während der Teilindex »ohneEnergie« schon in diesem Jahr die Höchst-stände aus dem Jahre 2008 überschrittenhatte, lag der Gesamtindex noch mit 2,4%knapp darunter. Die Aufwertung des Eurosgegenüber dem US-Dollar hat die Rohstoff-preissteigerungen in Europa etwas gedämpft.

Die Inflationsentwicklung im Euroraum hängtdavon ab, in welcher Höhe die gestiegenenRohstoffpreise auf die Verbraucherpreiseüberwälzt werden. Während sich im Mai dieErzeugerpreise in der gesamten Industrie oh-ne den Energiesektor im Euroraum im Ver-gleich zum Vorjahresmonat um 4,2% erhöh-ten, stiegen die Preise im Energiesektor um11,9%. Auf den späteren Wertschöpfungs-stufen der Produktionskette werden die er-höhten Rohstoffpreise immer noch weiterge-geben. So stiegen die Preisraten im konsum-

güterproduzierenden Gewerbe von 3,3 auf3,4% und die im nahrungsmittelproduzieren-den Gewerbe von 5,2% im April auf 5,4%im Mai. Besonders starke Anstiege waren beiden Importpreisen zu beobachten, die sichum knapp 8% erhöhten. Damit wird Inflati-onsdruck importiert, vor allem über gestie-gene Rohstoff- und Energiepreise, aber auchüber höhere Preise von Industriegütern ausChina und anderen Schwellenländern. In ei-ner Situation starker Wettbewerbsintensitätauf den Endproduktmärkten können die Roh-stoffpreisanstiege nicht immer überwälzt wer-den und gehen zu Lasten der Gewinnmar-gen der Unternehmen. Gerade für Unterneh-men aus bestimmten Nahrungsmittelberei-chen ist es schwierig, die gestiegenen Roh-stoffkosten an den Lebensmittelhandel wei-terzugeben, weil dort ein harter Preiskampf

stattfindet. Letztlich, insbesondere mit sich verbessernderKonjunktur, wird der verstärkte Kostendruck jedoch mehrund mehr auf die Verbraucherpreise überwälzt werden. DieKerninflationsrate, bei der die kurzfristig starken Schwan-kungen der Nahrungs- und Energiepreise herausgerechnetwerden, erhöhte sich in Deutschland im Zeitraum von Mai2010 bis Mai 2011 schon um nahezu 2%.

Der Inflationsdruck in Europa könnte sich noch verstärken,wenn die erhöhten Verbraucherpreise zu Lohnerhöhungenführen würden, die über den erzielten Produktivitätssteige-rungen liegen. Damit könnte es zu einem Preisauftrieb aufbreiter Front kommen, der nicht mehr ausschließlich vonaußen über teurer werdenden Rohstoffimporten kommen

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GesamtindexIndex ohne EnergieEnergieNahrungsmittel

Quelle: HWWI.

HWWI-Rohstoffpreisindex, "Euroland" auf Eurobasis

Index 2000 = 100

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Entwicklung der Inflation und Kerninflationsrate

Veränderung gegenüber Vorjahr

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HWWI-Kernratea)

Abb. 2

a) Kerninflationsrate: Berechnet aus geglätteten Indizes (gleitende Dreimonatsdurchschnitte fürden Gesamtindex ohne Heizöl und Kraftstoffe sowie ohne Saisonwaren und 24-Monatsdurch-schnitte für den Index für Heizöl und Kraftstoffe sowie für Saisonwaren) sowie ohne Steuerän-derungen.

Quelle: HWWI.

Zur Diskussion gestellt

würde, sondern hausgemacht wäre. Durch gestiegene Ta-rifabschlüsse könnten Zweitrundeneffekte drohen, bei de-nen die Unternehmen die höheren Lohnkosten wieder überdie Preise ihrer Produkte weitergeben und sich auf diesemWeg die Inflation allmählich hochschaukelt. Die Gefahr ei-ner sich verstärkenden Kosten-Preis-Spirale ist merklichangestiegen. Seit einiger Zeit fallen die Tariflohnabschlüs-se wieder höher aus, was zu steigenden Lohnstückkostenführt. In Deutschland haben sinkende Arbeitslosenzahlenim Zuge des wirtschaftlichen Aufschwungs und der ein-setzende Fachkräftemangel schon dazu geführt, dass Un-ternehmen Sonderzahlungen und übertariflichen Lohner-höhungen zustimmten. Für das Jahr 2011 wird eine durch-schnittliche Tarifsteigerung von 2,2% in Deutschland erwar-tet. Im Gegensatz dazu lagen die Abschlüsse im Vorjahrdurchschnittlich bei 1,6%.

Im Jahr 2010 wurden noch geringere Lohnerhöhungen ver-einbart, weil der Wirtschaftsaufschwung noch als wenigerrobust angesehen wurde. Während beispielsweise in derMetall- und Elektronikindustrie noch Anfang des Jahres 2010ein »Krisentarif« zur Beschäftigungssicherung abgeschlos-sen wurde, wurde in diesem Jahr in der Chemiebrancheschon eine Lohnsteigerung von 4,1% bei einer Laufzeit vonallerdings 15 Monaten durchgesetzt. Im Euroraum insge-samt waren die Lohnabschlüsse im ersten Quartal 2011 imVorjahresvergleich nur 1,9% höher, aber mit steigender Ten-denz. Ausgelastete Kapazitäten sprechen eher für künftigstärkere Lohnsteigerungen. In Deutschland sind die Kapa-zitäten in fast allen Industriesektoren wieder gut bis sehrgut ausgelastet. Der Auslastungsgrad in der deutschen In-dustrie ist im Vergleich zum Vorjahresstand um 6,7 Pro-zentpunkte angestiegen und liegt damit über dem langfris-tigen Durchschnitt. Nach Daten vom ifo Institut liegt die Ka-pazitätsauslastung bei knapp 87%.

Hohe Rohstoffpreise, die steigende Gefahr einer Lohn-Preis-Spirale und das robuste Wirtschaftswachstum im Kern vonEuropa bergen Inflationsgefahren. Zudem steht den Märk-ten sehr viel Liquidität zur Verfügung, die besonders bei ei-ner positiven Konjunkturentwicklung im Euroraum zu kräfti-gen Anstiegen bei den Vermögenspreisen führen könnte.Eine restriktivere Geldpolitik der EZB ist daher im Euroraumzu befürworten. Zwar haben die Rohstoffpreise in den letz-ten beiden Monaten etwas nachgegeben und könnten da-mit den Inflationsdruck im Euroraum etwas mindern. GegenEnde des Monats Juni fiel der Preis für die Ölsorte Brent von112 US-Dollar pro Barrel auf zwischenzeitlich unter 105 US-Dollar pro Barrel. Der Hauptgrund für das Absinken der Öl-preise lag in der Ankündigung der Internationalen EnergieAgentur (IEA), strategische Ölreserven frei zugeben. Jedochhatte die Ankündigung der IEA nur einen kurzfristigen Effekt.So stieg der Brent-Ölpreis wenige Tage später wieder auf112 US-Dollar pro Barrel, in etwa auf sein Ausgangsniveau.

Die Akteure auf dem Ölmarkt hielten das Vorgehen der IEAnicht für nachhaltig.

Es ist davon auszugehen, dass hohe Rohstoffpreise wei-terhin zum Inflationsdruck beitragen werden. Zwar stellenkurzfristige Preisausschläge bei den Energierohstoffen kei-ne sofortige Gefahr für das Preisniveau dar, es ist aber da-von auszugehen, dass die höheren Rohstoffpreise nach-haltig sind und damit den Handlungsdruck auf die EZB er-höhen könnten. Überdies könnten sich die Energieausga-ben für die Verbraucher noch dadurch erhöhen, dass dieStrom- und Gaspreise erst mit einer zeitlichen Verzögerungauf den Ölpreis reagieren. Auch wenn noch vergleichswei-se hohe Förderkapazitäten in den OPEC-Ländern einen star-ken Ölpreisanstieg verhindern dürften, wird Öl auf seinemhohen Preisniveau bleiben, weil das Öl aus Libyen längerdem Ölmarkt fehlen und die Ölnachfrage gleichzeitig weiteransteigen wird. Die IEA rechnet für das Jahr 2011 mit ei-nem Anstieg der weltweiten Ölnachfrage um 1,2 Mill. Bar-rel pro Tag auf dann 89,5 Mill. Barrel pro Tag. Im Jahr 2012kämen dann nochmals 1,5 Mill. Barrel hinzu. Lang- bis mit-telfristig wird es daher eine zentrale Rolle für den Ölpreisspielen, wie sich die weltweite Konjunktur entwickelt, weilsie ausschlaggebend für die Ölnachfrage ist. Jedoch sinddie Wachstumserwartungen mit großen Unsicherheiten ver-bunden. China könnte aufgrund der hohen Inflationsratenseine Konjunktur über eine restriktivere Geldpolitik dämp-fen, die USA haben mit einer hohen Staatsverschuldung zukämpfen und Europa steckt in einer Schuldenkrise.

In einem solchen Umfeld ist es für die EZB schwierig, die ge-eignete Geldpolitik zu finden. Die EZB müsste die Geldpo-litik straffen, um möglichen ansteigenden Inflationserwartun-gen in der Bevölkerung entgegenzutreten und damit dieWertstabilität des Euros zu untermauern. Falls die Arbeit-nehmer im Euroraum eine höhere Inflation erwarten, würdedas dazu führen, dass sie höhere Löhne zur Kompensationverlangen, was dann eine Spirale steigender Preise auslö-sen könnte. Darüber hinaus könnte über eine restriktivereGeldpolitik spekulatives Geld aus den Rohstoffmärkten he-rausfließen. Ein schrittweiser Ausstieg aus der lockeren Geld-politik sollte durch die EZB erfolgen, auch wenn dadurchLänder wie Griechenland, Irland oder Portugal, die sich inder Staatsverschuldungskrise befinden, stärker über eineteurere Refinanzierung der Schulden belastet werden. Bis-lang ist die Geldpolitik der EZB trotz der Anfang Juli erfolg-ten Zinserhöhung noch als locker anzusehen und unterstütztsomit die Krisenländer.

Ziel der EZB ist es, für Preisstabilität im Euroraum zu sor-gen. Andere Faktoren wie Wirtschaftswachstum und stei-gende Beschäftigung gehen dagegen nicht in die Zielfunk-tion der EZB ein. Kurzfristig kann hier ein Zielkonflikt be-stehen, jedoch kommt ein stabiler Geldwert langfristig auchden beiden Zielen Vollbeschäftigung und Wirtschaftswachs-

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Zur Diskussion gestellt

tum zugute. Daher sollten Krisen im Euroraum rund um dieStaatsverschuldung einzelner Länder auf politischer Ebe-ne über strukturelle Reformen und Umschuldungsprogram-me gelöst werden und nicht über eine expansive Geldpo-litik der EZB. Die EZB sollte ihre Unabhängigkeit demons-trieren und nicht die Probleme der Finanzpolitiker über ei-ne expansive Geldpolitik abfedern. Schon ihre Akzeptanzvon Staatspapieren der Krisenländer als Sicherheit ist äu-ßerst kritisch zu sehen, weil sie sich damit in fiskalische An-gelegenheiten der Eurolandländer eingemischt hat. Um dieGlaubwürdigkeit in ihre Unabhängigkeit wieder zu stärken,wäre es vor dem Hintergrund zunehmender Inflationsge-fahren im Euroraum wünschenswert, wenn die EZB ihrebegonnene restriktivere Geldpolitik fortsetzen würde. Dieaktuellen Rahmenbedingungen sprächen dafür, auf mitt-lere Sicht den Leitzins weiter anzuheben. Dessen unge-achtet sollte sie gleichzeitig einen Weg heraus aus demAufkauf von Schrott-Staatspapieren finden. Dieser Aufkaufsollte eine Ausnahme darstellen und so auch von der EZBdeutlich kommuniziert werden.

Teurere Rohstoffe, zunehmende Spekulati-on und steigende Produktionskosten in Chi-na: Die Inflationsrisiken in Deutschlandwachsen, was auch immer die EZB macht

Der deutsche Verbraucherpreisindex lag im Juni bei 2,3%.Damit blieb die Inflationsrate den fünften Monat in Folgeklar über der berühmten 2%-Marke. Diese Zahl klingt nichtdramatisch, sie war aber ein Warnsignal für die Zentralban-ker. Sie erhöhten die Zinsen.

Es gehört zur makroökonomischen Folklore, dass Zinserhö-hungen ein geeignetes Mittel sind, um Inflationsrisiken vorzu-beugen. Inflation meint dabei einen anhaltenden Anstieg des»allgemeinen Preisniveaus«. Gemessen wird die Veränderungdes Preisniveaus mit Hilfe des Verbraucherpreisindexes (VPI).Diese Inflationsdefinition ist jedoch für eine Analyse der aktu-ellen und zu erwartender Preiserhöhungen viel zu oberfläch-lich. Und der Verbraucherpreisindex informiert zwar über dieEntwicklung des »allgemeinen Preisniveaus«, ist als Summa-ry Indicator aber wenig informativ. Das führt dann dazu, dassjemand wie Senator Ron Paul, der neue Vorsitzende des FedOversight Subcommittee des amerikanischen Kongressesund mögliche Präsidentschaftskandidat der Republikaner, sichunlängst über den Consumer Price Index (CPI) lustig mach-te und behauptete, der sei manipuliert. Das ist natürlich über-trieben und seiner möglichen Kandidatur geschuldet, aber ineinem hat er Recht: Will man etwas über Inflationsrisiken inErfahrung bringen, muss man genauer hinschauen.

Genauerer Blick auf das gestiegene Preisniveau

In Deutschland wird die aktuelle Steigerung des Preisniveauseinerseits durch deutliche Preiserhöhungen bei Energie ge-trieben: Im Juni 2011 lagen die Preise für Kraftstoffe um 9,9%über dem Vorjahresniveau. Diesel wurde um 13,4% teurer,

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Hans Wolfgang Brachinger*

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* Prof. Dr. Hans Wolfgang Brachinger ist Inhaber des Lehrstuhls für Statis-tik an der Universität Fribourg und leitet das dortige Forschungszentrumfür Wirtschaftsstatistik (CEStat.ch). Er ist Präsident der EidgenössischenBundesstatistikkommission und CESifo Research Network Affiliate.

Zur Diskussion gestellt

Benzin um 7,1%. Auch Haushaltsenergie wurde durchschnitt-lich um 8,6% teurer, leichtes Heizöl kostete 19,0% mehr alsim Vorjahr, Strom 7,6%. Andererseits stiegen die Preise fürNahrungsmittel im Vorjahresvergleich deutlich: Spitzenreitersind tiefgefrorene Pommes frites mit plus 19,4%, Pflanzenöl(+ 18,9) und Bohnenkaffee (+ 18,8) folgen dicht dahinter. Zu-sammen mit dem Heizöl führen diese Nahrungsmittel die Teue-rungstabelle an. Weh tun den Konsumenten vor allem auchdie Preissteigerungen bei Butter (+ 11,9%), Sahne (+ 12,0%),Speisequark (+ 8%) und Brötchen (+6,3%). Alles Güter, diezu den zehn meistgekauften Gütern gehören. Diese Teue-rungsstruktur ist typisch für Marktsituationen, in denen die vonden Konsumenten gefühlte Inflation die amtliche Inflationsra-te deutlich übersteigt. Nicht überraschend liegt der Fribour-ger Index der gefühlten Inflation (IWI) mit 4,8% deutlich überdem VPI (vgl. Abbildung 1; linke Skala in Prozent). Auch derBalance Score des EU-Consumer-Survey (vgl. Abbildung 1;rechte Skala in Bilanzpunkten zwischen – 100 und + 100)spricht eine deutliche Sprache. Abbildung 1 zeigt, dass erebenso wie der IWI seit Ende 2009 steil ansteigt.

Ein genauerer Blick auf die Indexpositionen zeigt auch, warumder VPI im Juni überraschenderweise nicht weiter anstieg undder IWI sogar fiel. Die Güter mit dem stärksten Preisrückgangsind nicht wie sonst Fernsehgeräte, Camcorder oder Ähnliches.Nein, dieses Mal sind es Indexpositionen wie »Tomaten«, »Lauchoder anderes Blatt- und Stielgemüse« und »Kopf- und Eis-bergsalat«. Den stärksten Rückgang sieht man bei den Salat-preisen mit – 22,3%. Und schließlich: »Salat- oder andere Gur-ken« sind um fast 14% gesunken. Im Dezember 2010 warenTomaten (+ 52%), Salatgurken (+ 31,2%) und Kopf- oder Eis-bergsalat (+ 28,5%) noch unter den »Spitzenreitern« der Teue-rung gewesen! In der Folge der EHEC-Krise haben viele Leutein den vergangenen Wochen keinen Salat mehr gekauft. ImARD-DeutschlandTREND vom Juni gaben 55% der Befragtenan, dass sie derzeit auf rohe Tomaten, Gurken und Blattsalatverzichten. Deshalb sind die Preise so drastisch gesunken. ImÜbrigen ist das Gewicht dieser Güter im VPI viel zu hoch, d.h.,

die Preissenkungen bei Gemüse schlagen vielzu stark zu Buche, weil die Verbraucher kei-nen Salat mehr kauften. Dass die amtliche Ra-te auf dem 2,3%-Niveau vom Mai verharrt, freutdie EZB. Sie kann aber nichts dafür. Der EHEC-Dämon grinst breit. Er weiß, dass die tatsäch-liche Teuerung höher liegt.

Bereinigt man die Daten, die dem VPI zugrun-de liegen, um den Einfluss der EHEC-Epide-mie, dann wird deutlich, dass die Teuerung inDeutschland faktisch seit Anfang des Jahressteigt. Und es sind offenbar Energie und Nah-rungsmittel, die die Teuerung treiben. Beidebergen ein signifikantes künftiges Inflationsri-siko: Die Entwicklung der Rohstoffpreise.

Steigende Einfuhr- und Großhandelspreise

Der amtliche Index der Einfuhrpreise zeichnet ein unerfreuli-ches Bild der derzeitigen Situation. Importierte Energie war imMai 2011 um 30,9% teurer als im Mai 2010. Spitzenreiterwar Rohöl mit einer Jahresveränderungsrate von + 35,2%.Die Erdgaspreise lagen um 29,7% über denen des Vorjah-resmonats und Mineralölerzeugnisse waren im Vorjahresver-gleich um 26,6% teurer. Eisenerz war um 49,1% teurer alsim Mai 2010. Die Importpreise für Roheisen, Stahl und Fer-rolegierungen lagen im Mai 2011 um 8,2% über dem Niveaudes Vorjahresmonats. Rohaluminium war gegenüber dem ent-sprechenden Vorjahreszeitraum um 14,8% teurer. Die Roh-kupferpreise lagen um 13,5% über denen des Vorjahres. Dün-gemittel waren um + 31,7% teurer als im vergleichbaren Vor-jahresmonat. Der Einfuhrpreisindex für Getreide lag im Mai2011 um 69,2% höher als im Mai 2010. Rohkaffee kostete60,5% mehr als im Mai 2010. Schuld daran sind klimabeding-te Ernteausfälle und die steigende Nachfrage nach Lebens-mitteln durch die wachsende Weltbevölkerung.

Ein ähnliches Bild zeichnet der Index der Großhandelspreise,der im Juni 2011 um 8,5% über dem Stand von Juni 2010lag. Im Vorjahresvergleich stiegen die Großhandelspreise fürGetreide, Saatgut und Futtermittel um 65,6%. Die Großhan-delspreise für Kaffee, Tee, Kakao und Gewürze lagen im Ju-ni 2011 um 36,7% über dem Niveau von Juni 2010. Im Groß-handel mit festen Brennstoffen und Mineralölerzeugnissen lagdas Preisniveau im Juni 2011 um 14,3% über dem von Juni2010. Die Großhandelspreise für Erze, Metalle und Metallhalb-zeug lagen im Juni 2011 um 7,5% über denen von Juni 2010.

Immerhin lag der Index der Einfuhrpreise nach Jahresverände-rungsraten von + 9,4% im April und + 11,3% im März im Mai2011 nur noch um 8,1% über dem Vorjahresstand. Auch derIndex der Großhandelspreise ist nach Jahresveränderungsra-ten von + 8,9% im Mai und von + 9,2% im April rückläufig. DerHWWI-Rohstoffpreisindex (ohne Energie) ist in den letzten zwei

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VPI, IWI, EU-CS Balance Score

Quelle: CEStat.ch Universität Fribourg.

EU-CS Balance ScoreVPI, IWI

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Abb. 1

Zur Diskussion gestellt

Jahren um etwa 90% gestiegen, aber auch er sinkt am aktu-ellen Rand leicht. Ein Hoffnungsschimmer, der trügen könnte.

Verknappung agrarischer und metallischer Rohstoffe

Wie sich die Rohstoffpreise in Zukunft entwickeln werden, kannniemand wirklich prognostizieren. Eines aber weiß man: DieRohstoffvorkommen sind endlich, und es wird immer kostspie-liger, die Vorkommen auszubeuten. Der Kampf um Rohstoffewird schärfer und härter werden. Das zeigt das Verhalten Chi-nas. Die Welthandelsorganisation WTO hat das Land AnfangJuli wegen seiner Beschränkungen des Exports von Boden-schätzen wie Zink und der so genannten Seltenen Erden ge-rügt. China ist inzwischen selbstbewusst genug, sich vomUrteil der WTO nicht beeindrucken zu lassen. Der Westen musssich schlicht damit abfinden, dass China auf absehbare Zeitder bedeutendste Produzent von Seltenen Erden bleiben wird:97% werden im Reich der Mitte abgebaut (vgl. Liebrich 2011).Bisher konnte das Land diese Rohstoffe extrem preisgünstigbereitstellen, weil es keinen Wert auf Umweltschutz und Si-cherheit für die Bergarbeiter legte. Diese Phase des Raubbausan Natur und Mensch geht zu Ende, mit schwerwiegendenFolgen für die Rohstoffpreise. Die erhöhten Rohstoff- und Ener-giepreise werden die Produktion weiter verteuern. Und die In-dustrie wird die erhöhten Produktionskosten demnächst si-cher an die Kunden weitergeben. Zum Teil tut sie es bereits.

Ein Beispiel: Die Baumwollpreise sind enorm gestiegen. An-fangs 2011 notierte der Baumwollpreis an der New Yorker Ter-minbörse bei 169,39 Cent pro Pfund für den VerkaufsmonatMärz 2011, im Vergleich zur Vorjahresnotierung mit 69,23 Centpro Pfund Anfang 2010, ein Anstieg von 145%. Im Januar 2010stand der Index der Bremer Baumwollbörse bei 80,40 Centpro Pfund. Ein Jahr später notierte er mit 205,15 Cent proPfund, was einem Anstieg von 155% entspricht. Der Baum-wollpreis befindet sich auf einem bisher nicht gekannten Preis-niveau. Experten wissen warum: Da ist zum einen die Export-situation der USA mit nahezu ausverkaufter Ernte. Dann fälltdie eigene Nachfrage Chinas, des größten Baumwollprodu-zenten und -verarbeiters, höher aus als erwartet. In der Folgesind die Gewinne einer Textilkette wie Hennes & Mauritz im ers-ten Halbjahr deutlich geschrumpft. Der Nettoertrag fiel um 23%auf rund 750 Mill. Euro. Und die Konsumentenpreise? Der »Her-renberufsanzug« ist aktuell mit einem Anstieg von 14,4% dieIndexposition mit der siebtgrößten Preissteigerung. Im Dezem-ber wurde diese Indexposition noch um 3,9% billiger! »Damen-jacken« wurden im Juni 2011 um 9,7% teurer, im Dezember2010 waren sie noch nur um 6,4% teurer geworden. Hand-,Bade- oder Gästetücher wurden im Juni um 5,7% teurer, imDezember 2010 waren es noch nur 3,7%.

Längst sind agrarische und metallische Rohstoffe überdiesSpekulationsobjekte. Die Aussicht auf steigende Preise hatdie Spekulanten auf den Plan gerufen. Für Börseninsider ist

klar, dass Anleger bei Rohstoffen zugreifen. Nicht nur Weizen,Reis und Mais sind gefragt, auch Erze, Kohle und Öl. DerAnsturm auf die jeweiligen Wertpapiere treibt die Preise wei-ter hoch. Eine Studie von Flassbeck und Koautoren (2011)hat gezeigt, dass Angebot und Nachfrage im traditionellenSinn allein die Rohstoffpreise nicht zuverlässig bestimmen.Für die Autoren besteht kein Zweifel daran, dass die Finanz-spekulation die Preisschwankungen bei Rohstoffen verstärkt.In den letzten Jahren entdeckten Investoren Rohstoffe als ei-genständige Anlagekategorie. Es fließen immer mehr Inves-torenmittel in Rohstoffanlagen. Die Risikoneigung der Inves-toren treibt die Preise weiter nach oben.

Aufwärtsdruck bei den langlebigen Gebrauchsgütern

Das Inflationsrisiko steigender Rohstoffpreise betrifft mit Le-bensmittel und Energie vor allem solche Güter, die vom Durch-schnittskonsumenten sehr häufig gekauft werden. Diese Gü-ter bilden den rechten oberen Rand der Verteilung der nachKaufhäufigkeit geordneten Güter. Diese Verteilung ist extremrechtssteil. Nahrungsmittel machen etwa die Hälfte aller Gü-ter des amtlichen Warenkorbs aus. Für die Wahrnehmung derInflation durch die Konsumenten ist der obere Rand dieserVerteilung deshalb besonders wichtig. Für die allgemeine Teue-rung ist aber vor allem der linke untere Rand dieser Vertei-lung von Bedeutung. Er umfasst langlebige Gebrauchsgüterwie etwa Waschmaschinen, Fernsehgeräte, Gefriertruhen,Geschirrspülmaschinen und DVD-Recorder, aber auch Näh-maschinen, Akkordeons, Autoreifen und -batterien und Ähn-liches. Und dieser linke Rand der Verteilung birgt ein zusätz-liches Inflationsrisiko, das bisher kaum gesehen wird.

Wir berechnen seit einigen Jahren den »Portemonnaie-In-dex« VPI(50+) der 50 kaufhäufigsten Güter. Dabei wird dieTeuerung des oberen Randes der Verteilung der Güter nachKaufhäufigkeit dadurch operationalisiert, dass man für die50 kaufhäufigsten Güter einen herkömmlichen Preisindexberechnet. Analog kann man auch die Teuerung des unte-ren Randes dieser Verteilung dadurch operationalisieren,dass man für die 50 kaufseltensten Güter einen herkömm-lichen Preisindex berechnet. In der folgenden Abbildung 2sind die Entwicklungen des VPI(50+) der 50 kaufhäufigstenGüter und die des Index VPI(50–) der 50 kaufseltenstenGüter seit der Einführung des Euro-Bargeldes dargestellt.

Abbildung 2 zeigt, dass die Indizes VPI(50+) und VPI(50–) sehrunterschiedlich verlaufen. Der VPI(50+) verläuft vergleichswei-se volatil, was nicht überraschend ist. Schossen doch etwadie Preise der am häufigsten gekauften Lebensmittel, näm-lich der Molkereiprodukte, Ende 2007 in die Höhe und beru-higten sich dann wieder. Bemerkenswert ist der Verlauf desVPI(50–). Seit Einführung des Eurobargeldes verläuft er fastimmer im Negativen. Einen signifikanten Sprung machte ernur im Januar 2007. Damals wurde der Regelsteuersatz der

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Zur Diskussion gestellt

Mehrwertsteuer von 16 auf 19% angehoben. Diese Steuer-erhöhung betraf aber nur die voll besteuerten Waren undDienstleistungen. Diese machen nur rund die Hälfte der Ver-brauchsausgaben der privaten Haushalte aus. Der ermäßig-te Steuersatz für Lebensmittel blieb unverändert. Deshalbschien die Mehrwertsteuererhöhung im VPI kaum auf.

Was sich auf den VPI kaum auswirkte, hatte jedoch einensignifikanten Einfluss auf den VPI(50–). Die 50 kaufseltens-ten Güter umfassen schließlich ausschließlich Güter, die demRegelsteuersatz unterliegen. In der zweiten Jahreshälftedurchstieß der VPI(50–) im Zuge der allgemeinen Teuerungdie Nulllinie. Aber schon im Januar 2008 fiel er wieder ins Ne-gative. Dort blieb er bis in den April dieses Jahres mit einemWert, der im Durchschnitt bis einschließlich März dieses Jah-res bei knapp – 1% lag. Die nahezu permanente Verbilligungbei den kaufseltenen Gütern, die im VPI immerhin mehr als40% ausmachen, trug also lange Zeit wesentlich dazu bei,dass die allgemeine Teuerung relativ moderat ausfiel.

Schaut man sich die Verläufe von VPI und VPI(50+) sowieVPI(50–) am aktuellen Rand an, so erkennt man, dass sichder VPI(50+) kaum verändert, er liegt nur knapp über demDurchschnittswert von 3,2%, um den er seit Januar 2010 pen-delt. Im Juni ist er sogar leicht zurückgegangen. Der IWI istdeshalb auch leicht gesunken. Der VPI steigt aber seit Anfang2010 mehr oder weniger kontinuierlich an. Das kann aber nichtan den Lebensmittel- und Energiepreisen liegen, denn dannmüsste auch der VPI(50+) steigen. Der Anstieg des VPI liegtam Anstieg des VPI(50–), der sich praktisch im Gleichklang mitdem VPI bewegt.

Neue Facette der Globalisierung

Im April 2011 lag der VPI(50–) – sieht man von der vor allemdurch eine Steuererhöhung bedingte Irregularität in 2007 ab –erstmals im Positiven und stieg im Juni auf 0,22%. WelcheGüter sind für den VPI(50–) wesentlich? Er umfasst alle oben

genannten langlebigen Gebrauchsgüter vonWaschmaschinen und Fernsehgeräten bisNähmaschinen, Akkordeons, Autoreifen.Waschmaschinen etwa wurden noch im De-zember 2010 um 3,1% billiger, im Juni 2011nur noch um 2,7%, die Verbilligung von Fern-sehgeräten sank im gleichen Zeitraum von – 17,5 auf – 14,5%, die von Nähmaschinen von– 3,6 auf – 1,1% und die von DVD-Recordernvon – 4,3 auf – 1,9%. Was haben diese Gütergemeinsam? Sie werden zu wesentlichen Tei-len in China und anderen asiatischen Niedrig-lohnländern produziert.

Vor allem in China, aber auch in Indien boomtdie Konjunktur. Die Teuerung in China hat mitüber 6% den höchsten Stand seit fast drei

Jahren erreicht. Die UBS rechnet allein für Lebensmittel ge-genüber dem Juni 2010 mit einer Teuerung von 14%. Im Maihatte die Teuerungsrate noch bei 5,5% gelegen. Die chinesi-sche Zentralbank steuert energisch dagegen: Sie hob in die-sem Jahr schon dreimal die Leitzinsen und erhöhte seit Jah-resbeginn monatlich die Mindestreserveanforderungen für dieBanken. Manche chinesische Unternehmen haben unter demDruck der Mitarbeiter ihre Löhne massiv erhöht. Der Boom inden Schwellenländern verteuert aber die dortige Produktion.Deutschland ist mit einer »neuen Facette der Globalisierung«(Bayer 2011) konfrontiert.

Die Verläufe der Indizes VPI(50–) und VPI(50+) zeigen, dassdie Verlagerung der Produktion in Niedriglohnländer in denletzten Jahren wesentlich dazu beigetragen hat, die infla-tionären Tendenzen in Deutschland zu dämpfen. Bei boo-mender Konjunktur mit steigenden Löhnen in China und an-derswo wird man sich von diesem Dämpfungseffekt verab-schieden müssen, und zwar auf längere Sicht. Eine we-sentliche Inflationsgefahr besteht also darin, dass die dämp-fende Wirkung der Preisentwicklung bei den kaufseltenenlanglebigen Gebrauchsgütern zu Ende geht.

Was auch immer die EZB macht, gegen diese Entwicklung istsie ebenso machtlos wie gegen die Explosion der Rohstoffprei-se und den wachsenden Einfluss der Rohstoffspekulation. DasDrehen an der an der Zinsschraube wirkt da eher hilflos.

Literatur

Bayer, H. (2011), »Inflation – ein ungebetener Gast nistet sich ein.« PostbankPerspektiven, Mai, 3–5.Flassbeck, H., D. Bicchetti, J. Mayer und K. Rietzler (2011), Price formationin financialized commodity markets: The role of information, United NationsPublication, Untad/GDS/2011/1, United Nations, Genf.Hickel, R. (2011), »Die andere Inflation«, Süddeutsche Zeitung Nr. 146, 28. Juni, 22.Liebrich, S. (2011), »Heuchler im Handelskrieg«, Süddeutsche ZeitungNr. 154, 7. Juli, 23.

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VPI, VPI der 50 am häufigsten bzw. der 50 am seltensten gekauften Güter

Quelle: CEStat.ch Universität Fribourg.

VPI

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Abb. 2