Was ist Glück?

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Erste und einzige Auflage, ohne Verlag: Santiago de León de Caracas, Venezuela, 2013

unter einer Creative Commons-Lizenz:

Namensnennung - Nicht kommerziell - Keine Bearbeitungen - 4.0 Internationale Lizenz.

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Nevim Sotoje

Was ist Glück? oder

Das Leben, einfach.

Eine kurze, wenn nicht unmissverständliche, so

doch noch nicht abschließende Betrachtung

dieser immer offenen Frage

geäußert von einem nicht notwendig

überpersönlichen Standpunkt aus, aber aus

einem des Irreduzibel-Subjektiven

im Verstehen der Welt und damit einem der

unaufhebbaren Pluralität von Meinungen über

ebendiese heraus.

UNWIRSCH/ FRANZINE

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“I show you a falling sun, passing like a lover, to be near you, allowing no star, no bulb on a corner lamp to possess you as you are.”

James Ragan: The World Shouldering I

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Was ist Glück? oder Das Leben, einfach.

Glück ist ein voller Magen. Das Gefühl, keinen

Hunger zu leiden und keinen Durst. Zu essen,

einfach, weil man will, und nur, wenn es einem

danach verlangt. Zu schlafen, weil man will und

kann. Weil man seiner Müdigkeit nicht

widersprechen oder man sich von dieser noch

lossagen muss, weil einen etwas drängt, man

doch noch muss… Ja, die Abwesenheit überhaupt

eines solchen «Muss», jeder Bedürftigkeit, die

Abwesenheit jeder Notwendigkeit, aber auch

keiner Möglichkeit, eines möglichen oder

unbedingten Andersseins, das sich da noch

aufzudrängen vermag –: nein, ein tiefes

Einverständnis in die Welt, die in diesem Zustand

im tiefen Einklang und nichts anderes als das sie

konstituierende Bewusstsein ist. Das sich da

selbst genügt, ohne ein Bewusstsein «von …» zu

sein. Von etwas, was da noch sein könnte, weil

da ist nichts, worüber in diesem Moment es sich

nachzudenken lohnt; irgendetwas, was sich

aufdrängt, das sich problematisieren ließe,

dessen Dringlichkeit einen einem Sklaven gleich

vor sich her triebe.

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Nein, man isst, man schläft, man hat sein stilles

Vergnügen, das man augenblicklich schon wieder

vergisst, vergessen hat, man lässt sich treiben,

ganz im Strome seines wie anonymen

Bewusstseins, der einvernehmlichen Stille, des

einverständlichen Verstummens. Und dies alles:

eben ganz ohne darüber nachzudenken,

nachdenken zu müssen,ohne dies hinterfragen zu

müssen; allenfalls nur, weil es einem danach,

nach diesem oder jenem, verlangt, handelt man,

regt man sich; manist, man verliert sich, ist in

seiner Anwesenheit fast abwesend, ist eine

anwesende Abwesenheit, man klagt nicht an,

und ist auch nicht in Frage gestellt oder auch zur

Verantwortung gerufen, sondern ist nur ein

Bewusstsein, das ganz bei sich ist: «Ich» ist es,

was in sich ruht. Glück ist nicht zu wissen, was

heute Abend im Fernsehen laufen wird, also

auch nicht zu wissen, was einem alles entgehen

wird. Weil es einem nicht entgeht. Weil das gar

nicht wichtig ist. Weil dieses Mögliche gar keine

Option ist, die sich stellt, stellen würde.

„Alles ist gut.“, ist ein Satz, der, wenn ein

Anderer ihn einem sagt, zumeist um einen zur

Ruhe zu bringen, der, nur zur Beruhigung einem

gesagt, gerade sein Gegenteil bewirkt, weil das

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eigene Bewusstsein vor diesem fremden Befund

doch keinen Halt machen kann: erbefremdend

wirkt, notwendig, und man ihm widersprechen

muss, weil doch aber auch gar nichts und auch

nur im Ansatz «gut» ist. Ganz so, wie dieses

unser Bewusstsein in der Nachfolge sein Glück

auch nur zu gern an das der anderen zu ketten

pflegt, ich kann nicht glücklich sein, weil du es

nicht bist, nicht sein kannst, ich bin nicht

glücklich, solange es dir nicht gut geht, weil du

nicht glücklich sein kannst… ist eine nicht-

notwendige Verknüpfung; ein nicht-notwendiges

Bedingtsein, ein nicht-notwendiges Konditional,

was zwar nur allzu verständlich ist, indem es uns

den Anspruch im Augenblick des Anderen vor

eben die unseren Augen führt, und uns – für uns

– wünschen lässt, dass er, der Andere, den wir

lieben, den wir mögen und dem wir wohlwollen,

ihm möge es doch auch gut gehen. – Nur

verkehrt das die Lage, unseren Standpunkt und

die Perspektive: Schließlich obliegt es ihm, und

nur ihm, seinem Befinden und seiner Verfassung,

seinem Glücksgefühl, diesem Wunsch auch zu

entsprechen. Ein Glück, das immer ein gefühltes

ist. Und bleibt. Was ganz unabhängig von uns ist;

und der Wunsch allenfalls das intendierte

Streben eines aber notwendig äußerlich

bleibenden Vermögens. Kurzum: unser Nicht-

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Vermögen, glücklich zu machen, dieses, Glück, zu

stiften, welches wir nur allzu oft damit

verwechseln, dass wir fähig sind, Glück zu

nehmen, unglücklich zu machen. Was wiederum

ein Leichtes ist. Das Glück ist auch der volle

Magen der Anderen. Und ist es nicht. Weil dieser

Zustand eines zufriedenen, eines befriedeten

Seins nur punktuell erreicht ist, nur sein kann

und nur eine Voraussetzung darstellt, glücklich

zu sein, dieses zu empfinden. Weil das Sein, zu

leben, immer im Vollzug ist, ein Gerade-

Geschehen, ein Sich-Ereignen in der nur-eigenen

Gegenwart. In dem sich dann und wann der

Punkt findet, nur kurz einstellt, zwischen einem

materialiter gestillten Hunger, der nichts anderes

als Abwesenheit eines solchen defizitären

Gefühls ist, noch ohne ein Gefühl der Völle, des

übermäßigen Gesättigtseins. Was noch kein

Glück ist. Aber eine Voraussetzung dazu, dieses

zu empfinden. Der Ruhepol in einer für dieses

Momentum zum Stillstand gebrachten Welt.

Mesotes, die ‚Mitte‘ (vgl. hierzu: Aristoteles

1972), Lehrmeisterin des richtigen Maßes und

der Tüchtigkeit, des richtigen oder

angemessenen Sich-Verstehens «auf…». Die

einem auch lehrt, dass es in einem ganz

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bestimmten Hunger, einem immateriellen Durst

keinen solchen Punkt geben kann, des Sattseins

oder überhaupt -werdens. Weil dies ein

fortgesetztes ist, eben weil das Sein «für sich»

eines im stetigen Flusse ist, es ist schon immer

im Vollzug, und es darum auch keinen Weg, sich

in und zu diesem zu halten und zu verhalten,

geben kann, der schon ein festgeschriebener ist.

Der schon von Vornherein bekannt und ein

Gegebener ist; ein Überkommenes, dem ich nur

Folge zu leisten brauche. Das «gute» Leben oder

ein gelingendes, ein dem Glück zugeneigtes

Leben ist eines, das sich einstellt, das sich diesem

Befund stellt: Das um diesen Balanceakt weiß,

und sich darauf eingestellt hat,dass es sich nicht

fest-stellen lässt, dass es sich nicht fest-stellen

kann. Das sich erst einstellen muss. Dass lebt,

aber nicht mehr fragt – nach dem «Wie?»

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Vom Unsinn einer Wette auf die

Zukunft

Ich habe schon immer alles nicht besser gewusst.

Weil eine abschließende Beurteilung dessen,

eben dieses «Wie?» zu leben sei, «wie» ich leben

soll, notwendig ein Wissen davon einschließen

müsste, was ich nie habe, nicht haben kann –

einer Zukunft, die nicht die meine ist, der ich

immer doch nur eine Gegenwart vor Augen habe,

die in diesem Augenblick eingeschlossene

Gegenwart, die die meine ist; jener blanken

Kette von Augenblicken, welche sich fortsetzt, in

deren bloßer Aneinanderreihung. Angesichts des

Grades – und mag es vielleicht auch nur der von

diesem zugrunde liegenden winzigen,

quantenmechanischen, nicht vorhersagbaren,

scheinbar unmotivierten Sprüngen sein –

angesichts der erweist sich oder besser, wird sich

Zukunft als etwas erweisen, in dem etwas In-

oder Unterdeterminiertes liegt oder zu liegen

scheint. Was Aussagen über dieselbe, als nicht

viel mehr als bloße Wetten auf eine Zukunft

betrachten lässt, die sich als richtig erweisen

können. Oder aber auch nicht.

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Insofern ist es ein Leichtes, aus dem

rückwärtigen Blick ganze Lebensläufe

abzukanzeln, diese seien «das Richtige» oder

eben «falsch»; plötzlich waren alle im

Widerstand oder: wären gewesen. Dieses Leben

im Konjunktiv ist aber eben keines. Dieses

geschieht aus einem Vorschuss aus Wissen, den

ich, als der, der lebt, nicht habe. Das

Angemessene, die richtige Haltung, und zwar für

mich, die richtige ‚Mitte‘, ich muss sie mir in dem

Gegebenen für mich finden. Ich muss sie mir

womöglich er-finden. Alles darüber hinaus, von

außen oder auch da-nach(-gesagt), sagt

genaugenommen nichts. Sprengstoff für alle, die

glauben, es gäbe einen Königsweg. Sprengstoff

für eine so eben auch heraufbeschworene,

behauptete, das heißt, über die Grenze der

Person hinaus angenommene Identität (Die im

Übrigen in alles andere als in den Widerstand

führt, sondern zum gleichgeschalteten Status als

nur ein Atom in der anonymen Masse der nur-zu-

guten bürgerlichen Gesellschaft.) aller: Es gibt

nur einen Königsweg, und alle anderen sollten

sich in schöner Eintracht an diesen halten. Nicht

doch!

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Leben ist ein solitäres Vergnügen, ja, und bleibt

dieses auch notwendig. Leben, zu sein, ist in

ausgezeichneter Weise Einsamsein. Ein,

notwendig oder nicht, Geschiedensein von den

Anderen; und die sprachlichen Krücken oder

Formen des nonverbalen Ausdrucks allenfalls

Mittel desselben ebendiese interpersonalen

Barrieren zunächst und erst einmal (und noch

vor dem Einsatz einer Vermittlung) intersubjektiv

anzuerkennen. Weswegen Menschen, die fremd

gehen, sehr gut mit der vermeintlichen «Schuld»,

den Anderen zu hintergehen, leben können: Sie

lieben diesen Anderen ja auch! Ohne, dass diesen

das berührte! Es berührt ihn aber umso mehr, er

sieht sich aber eben um so mehr getroffen,

indem er sich eben nichtgetroffen sieht: Da er

eine Ausschließlichkeit in dieser Fähigkeit zu

lieben verlangt, auf diese pocht, die diese gar

nicht zu leisten vermag: Man liebt immer einen

Anderen, der dort ist, wo man, wo «ich» nicht ist,

verlangt aber im Gegenzug das «als ob»: die

Ausschließlichkeit nur als genau dieses «Ich», der

Nicht-Andere, der dieser nicht sein kann, selbst

geliebt zu werden.

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Die Zu-neigung, dies beschreibt es ganz gut,

erklärt sich doch auch aus unserer Sicht auf den

Anderen: Dieser neigt sich uns (scheinbar) zu. Er

neigt sich uns zu, er schmeichelt uns. Es scheint,

und dies kann auch ein Zufall sein oder auch

einfach auf einer Missinterpretation der ganzen

Situation beruhen (die diese aber genau

genommen immer ist, da der Andere ja auch nur

dieselbe «Hier, ich!»-Karte ausspielen möchte,

wie wir doch selbst auch) – jedoch erscheint es

für uns, als bestätige er in dieser Zuneigung

zunächst uns. Und zwar, als uns selbst: in

unserem Immer-schon- oder auch auch Vor-

Eingenommen-Sein von uns selbst, unserem

blanken Da-Sein, diesem Körper, den wir fühlen

und den dieser Andere – wir wissen nicht genau,

als was oder auch wie – ebenso wahrzunehmen

scheint, er ebendiesem offenbar Beachtung

schenkt.

Wozu aber nun auch nicht sonderlich viel gehört,

denn da, wo ein Körper ist, kann schließlich kein

anderer sein. Aber allein schon diese erste

Begegnung auf Ebene vagabundierender und

zunächst rein nonverbaler Körperlichkeit genügt,

um unseren Blick fokussieren zu lassen. Der

Andere findet etwas an ihm; ihm jenem

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stumpfen Körper, mit dem ich nichts als aus mir

heraus be-greifen kann; er findet etwas an uns,

er nimmt mich wahr, in meinem Da-Sein – und

damit nur mich, das heißt, er bestätigt jenes

recht konturlose «Ich-selbst», von dem

genaugenommen «ich» auch nur recht ungenaue

Vorstellungen und eine vage Ahnung habe, was

dieses eigentlich ist, in seiner Anwesenheit.

Eine solch anfängliche Zuneigung, die eben auch

eine zufällige sein kann oder wir sie schlicht

missinterpretieren, steht da am Anfang der

Attraktion. Das spricht uns an, wir sind nicht

mehr ungerührt, selbst wenn da noch keine

Berührung stattgefunden hat, haben muss, selbst

wenn da noch nicht ein Wort getauscht wurde,

unserer Interesse an ihm ist gleichsam geweckt,

es zieht uns gleichsam zu ihm hin. In diesem

anfänglichen Missverständnis nimmt die

Attraktivität ihren Anfang, aus der heraus wir

«ebenso» geneigt sind, uns ihm «gleichsam»

zuzuwenden; wir empfinden «ebenso» (und

eben gar nicht), weil wir ja doch nicht aus

unserer Haut heraus, diese von uns streifen

können. So wie der Andere für uns auch immer

der Andere verbleibt.

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Ein nicht zu ergründender Rest fremder

Spontaneität

Letztlich verbleibt immer ein nicht zu

durchschauender, ein nicht zu ergründender

Rest: Selbst bei den Leuten, die ich gut zu kennen

glaube, wo ich vielleicht sogar gute Gründe

anführen kann, in dem ich auf meine

Erinnerungen verweisen kann, auf ein darin

konserviertes Wissen über die (vermeintliche)

Vergangenheit, eines dort ge- oder erlebten

Erfahrungswissens, das sich darin erhalten hat,

wie sich ein Anderer in dieser oder jener

Situation verhalten, sich positioniert hat, – sagt

mir letztlich eben nicht gänzlich oder auch gar

nicht, wie er sich genau jetzt verhalten wird. Die

Leute, selbst die, die ich gut zu kennen meine,

erscheinen mir auch dann und wann wie ein

geschlossenes Buch. Und es ist eine Anmaßung

zu glauben, ich könnte sie lesen. Genau

genommen kann ich zwar nichts als das, nicht

viel mehr als das. Als den Versuch zu

unternehmen, sie zu lesen trotz ihres dieses

unaufkündbaren Rests, der ihnen als simples

Anrecht der ihnen eben auch zueigenen

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Spontaneität anerkannt werden muss und

verliehen bleiben muss. Und welcher auf meiner

Seite wiederum, im besten Fall nur ein simples

Nicht-Können markiert.

Was aber auch heißt, dass Glück notwendig auch

ein solitäres ist. Und immer nur punktuell. Ein

Punkt. Im All. Und in der Vielheit, in der man sich

als Singularität eben unter (den) Vielen weiß.

Weil Bewusstsein zunächst und zuerst immer

eine singuläre Erscheinung ist, die noch von

keinem (A)nderen weiß. Eine Gegenwart, die nur

sich selber weiß, und noch an keine andere

grenzt. Das Widerfahren von Koinzidenz, das

Erleben eines Eingebettetseins in ein (dann

gemeinsames) Kontinuum von Welt, ist dann

vielleicht nicht mehr als das: eine notwendige

Illusion. Erweist man sich doch gerade darin als

der am weitesten entfernte Punkt im All –

entfernt und geschieden von allen anderen.

Entweder dies, oder hier demonstriert sich eine

Fähigkeit, ein Fähig-Sein zur Synchronisation

verschiedenen Lebens und verschiedener Leben

in einer grundlegend aber Asynchronität. Fähig

zu sein zur Einfühlung, zu Empathie, Mimesis,

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Imitation, …, letztlich zur Teilhabe: einem immer

schon Eingebettetsein in einer sich erst aber aus-

, ver- oder zu erschließenden Intersubjektivität

jenseits des anfänglichen Geteilt- und Alleinseins,

dieses überragend, über dieses hinausschießend.

(vgl. hierzu etwa: Lévinas 32002)

Nichtsdestotrotz «zusammen glücklich» zu sein,

heißt dann, es jeder «für sich» und es auch allein

zu sein. Der «Beischlaf» ist in diesem

Zusammenhang, ein gutes, weil anschauliches

Wort: Genauer, dieser Punkt im aber auch

vertrautesten Miteinander, in dem,

gewissermaßen in der der höchsten Anspannung,

kurz bevor sich aus dieser alles ergießt und

zusammenzieht, man zufrieden und matt sich

zusammenrollt, man wieder überhaupt Augen

«für…» einander hat… dieser Punkt, an dem alles

schwarz wird vor Weiß und bevor man dem

Anderen überhaupt wieder gewahr wird, man

wieder überhaupt Augen hat «für ihn»; und

umgekehrt dieser für einen, das Für-einander,

das Mit-einander, in das man wieder sinkt. Für

diesen Moment stimmt dies, zu sagen, man

schlafe nur «bei …»: denn für dieses kleine, sich

in sich erfüllende Momentum, diesem Hauch,

dieser Kleinigkeit eines egoistischen Glücks tritt

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dieser, der oder die Andere, notwendig in den

Hintergrund, gerät, wenn auch nur kurz, zur

Kulisse meiner gerade eben sich ablegenden

Obsessionen und meiner Erregung; für diesen

Augenblick ist es wieder jenes unbestimmte

«Ich», das in sich ruht, sein eigener Ruhepol nicht

wird, sondern ist, der Nordpol inmitten Eiswüste

des gestillten Verlangens außer dem es nichts

gibt, keinen Anderen, nur eine Anwesenheit, die

«ich» ist und satt. In diesem Moment dann

schlafe ich nur, bin ich nur «bei …», und bin es

auch nicht, bin augenblicklich wieder verbannt in

die Einsamkeit, bin meine auf sich

zurückgeworfene Gegenwart von einem

Augenblick auf den anderen, der genauso

unvermittelt, mit eben einem solchen Augen-

blick wieder zurückkehrt. Denn wir schlafen ja

auch nicht. Wir ruhen, jeder «bei …», in sich, für

sich. Was das Schweigen in diesen Moment so

schön macht. Weil es das Zerreden da noch gar

nicht wieder braucht, es ein Reden da gar nicht

bedarf.

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«Ich» ganz bei «sich» und das Nur-

Erahnen des Anderen

Ein Ganz-bei-sich-zu-Hause-Sein, so wie man es

als Kind noch erfährt, wenn einem ein Ball

ungestüm und unvermittelt zum Gefährten

gerät: Das Bewusstsein – im kindlichen Spiel der

da noch ausgelebten Naivität – diesem, dem Ball,

ein anderes solches zuschreibt, ganz so, wie man

dem «bösen Tisch», dessen Kante, an der man

sich stößt, ein bewusstes Wollen zuschreibt und

diesen für seine Niedertracht schilt, und dabei

doch nur den Beobachterstandpunkt verschiebt,

man unverwandt zum Spielball und «Ballspiel»

unseres nur je eigenen Bewusstseins gerät; und

ebendieses unser Bewusstsein es ist, das für uns

die Welt belebt – noch bevor wir lernen, dass ein

Ball doch nur ein Ding sei, dieses in der

unbelebten Materie eines unter vielen ist und

wir nur eine Einzelner, der sich in der anonymen

Masse verliert.

Umgekehrt ist dieses Ganz-bei-sich-Sein kein

Grund, warum man schreibt. In Wirklichkeit

interessiert sich niemand für das ihm

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vorgehaltene Glück eines Anderen. Es rührt ihn

ja nicht. Es rührt ihn nicht an. Genauso wie das

Glück, das dem Anderen, wodurch auch immer,

vorbehalten wird, mir nur zum Motor werden

kann, indem ich ganz einfach dessen

Voraussetzungen, Glück empfinden zu können,

mit den meinen vertausche. Ich die meinen,

meine eigenen Voraussetzungen daran knüpfen

möchte: Was ein verfehltes Tun! Weil die Kinder

auf dem afrikanischen Kontinent so wenig, zu

wenig, zu essen haben oder der Zufall der Geburt

malaysische Näherinnen in ein Schicksal drängt,

bei merklich zu geringen Löhnen und

katastrophalen Arbeitsbedingungen chronisch

unterbezahlt und überarbeitet zu schuften, soll

ich hier und jetzt nicht glücklich sein? Nur weil

eine Geburt andernorts mir ein Leben mit

anderen Privilegien zufällig ermöglicht hat? Im

Gegenteil! Gerade im Bewusstsein eben der

Privilegien, die ich hier (und im Übrigen nur

scheinbar) genieße, wäre es einfach (auch) nicht

das Richtige, die Momente, die diese (vor allem

materielle) Absicherung mir ermöglicht, nicht

wahrzunehmen. Diese – mit dem Wissen und um

der Anderen, weil unterprivilegierten, willen –

nicht genießen zu können. Das bedeutet eine

Verkehrung der Lage, die keine notwendige ist,

die sogar eine recht anmaßende ist, da sie das

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grundlos empfangene Glück nicht einmal und

gerade ungeachtet des vermeintlichen Leids der

Anderen nicht einmal zu schätzen weiß. (In

Wirklichkeit habe ich zudem, besieht man es

noch einmal, absolut keine Ahnung, wie genau

eine malaysische Näherin sich fühlen mag.)

Umgekehrt bedeutet eben eine solche materielle

Absicherung aber eben noch keinen Garanten

auf ein glückliches oder geglücktes Leben,

genauso wie ein, in unseren Augen rein materiell

recht beschränktes Leben, einfach kein Unglück

bedeuten muss, sondern auch eines sein kann,

dass diese vermeintliche Beschränkung gar nicht

bemerkt, sondern trotz alledem reich an

Erfahrung und Frohsinn sein könnte.

Aber komme ich zurück auf das Schreiben: Ein

Leben, das reich ist an solch stillen Erfahrungen

des Glücks, nicht der lauteren Freude, deren Ort

ich eher im Miteinander und der gegenseitigen

Anteilnahme sehe, wird keines sein, das zum

Papier drängt. Glück treibt nicht an, zu nichts, ist

kein Motor. Warum auch? Der Grund, warum

glückliche Menschen einfach keine Bücher

schreiben. Oder zumindest keine guten. Keine

Literatur, nicht Verbleibendes. Weil doch nichts

verbleibt: Alles wird ausgelöscht sein. Weil

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Schreiben bedeutet notwendig immer schon ein

Bewusstsein von etwas Anderem, einem

Anderssein, etwas, das fehlt, «du» oder «es»

fehlt, ich schreibe, weil «du» fehlst, «ich» aber

ganze Welten erschaffen, auferstehen lassen

(und eben doch genauso wieder zertrümmern

kann), aber weil ich den Tod doch nicht aufhalten

kann, weil ich ihn doch nicht aufhalten konnte,

schreibe ich, ich schreibe an, obwohl ich doch

weiß, dass auch diese schriftliche Fixierung – an

sich immaterieller – Worte doch nichts an deren

Vergehen ändern wird: Mit meinem Bewusstsein

stirbt eine ganze Welt. Nämlich, die von mir nur

Wahrgenommene, welche dieses konstituiert.

Schreiben daher ist Utopie. Das Zielen auf eine

Unmöglichkeit. Das Ahnen auf eine Vermittlung

ebendieser Welt. Von der man jetzt schon weiß,

dass sie schon darum ausgelöscht sein wird, weil

diese Vermittlung bedeutet eben doch auch

schon ein Anderssein, sie nicht dieselbe bleiben

kann, weil sie eine nur Mittel- und nur

Mitteilbare darin wird. Schreiben ist ein Nur-

Erahnen des ganz Anderen. Ein Ertasten. Ein

absurdes Tun gleich aber jedweden Tuns. Der

bedingenden Möglichkeit oder der unbedingten

Notwendigkeit einer Veränderung. Des

Nichtfixierbaren, welches das Denken ist:

flüchtig, auch das eigene, lässt sich nicht fassen.

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Vice versa ist Lesen, ganz gleich, wie viel und wie

oft und was, daher nicht nur auch immer

Aufbruch, sondern auch Ausbruch: es hilft einem,

einen aus diesen klammen Hallen des nur je

eigenen Kopfes zu befreien – diesem Hort der

höchsten Hochstimmung, der sich einem von

jetzt auf gleich in ein Gefängnis verkehren kann.

Indem sie, die Sprache, das Zu-Lesende einen

immer mit etwas Anderem konfrontiert, sofern

man nicht der Sprechende ist, liegt in ihr eine

wahrhaft bewusstseinserweiternde Wirkung. Zu

lesen bedeutet auch immer schon die

Konfrontation mit der subjektiv gebrochenen

Wirklichkeit eines Anderen. Und umgekehrt, was

zur Sprache drängt, was mich zum Sprechen

drängt, sind immer auch bereits die Anderen.

Sonst verbliebe es ja bei jenem formlos wie

sinnfreien Daher-Brabbeln des kleinen Kindes:

Eine Privatsprache bedürfte nicht des Laut-

Gegeben-Werdens, einer Artikulation, der Aus-

sprache. –

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Mutter sagt, drängt das Kind, das eh zu spät

spricht, zur Antwort: „Sag mal: ‹Ma-ma›!“ Das

Kind, mitteilsam ob der Freude ihrer

Anwesenheit, formt, spitzt die Lippen, quiekt

einvernehmlich, – und lacht, schreit: „PA-PA!“

Freude erscheint mir vor allem als etwas, was ich

nicht allein an mir finden kann, ich empfinde

diese nicht losgelöst von allem anderen und nur

aus mir heraus, ganz so, wie man sich eben einen

Witz auch nicht selber erzählt; ja, gar nicht

erzählen kann: Ich kenne die Pointe ja da bereits

schon, es macht wenig Sinn und auch keinen

Spaß. Während ein Witz – und lese ich einen

solchen auch nur in der Zeitung –, der mir gefällt,

der mir Freude bereitet, der mich lächeln oder

auch lauthals loslachen lässt, eben einen Anteil

nehmen lässt: Ganz einfach, indem er mir so,

und nur so, mit-geteilt wird. – Darin buhlt

implizit etwas, ein Anderer oder ein Anderes,

und auch wenn dieses gerade auch als abwesend

erscheint, eben ganz um die meine

Aufmerksamkeit, bestätigt mich darin, wird aber

auch gleichsam von mir wahrgenommen.

Umgekehrt trifft man immer wieder auch Leute,

die rücken sich gerade durch recht derbplatte

oder nur grobe Scherze mitten ins Licht, drängen

sich einem auf, werben damit um Sympathie und

Anerkennung für ihre Person. Was bei einem

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Narzissten, den ich einmal traf, in der

Verkehrung gipfelte, dass dieser, nur um in der

Aufmerksamkeit, der Zuneigung der anderen zu

stehen (dies schien mir, als Laien, ein Symptom

für sein, aber auch ohnehin als krankhaft

diagnostiziertes Verhalten), bereit war, sich

selbst über die Maßen zu verunglimpfen und zu

erniedrigen eben in einem solchen

vermeintlichen Scherz, das von diesem ebenso

nur um Selbstbestätigung ringenden «Ich» kein

guter Schein und Haarteil mehr übrig blieb.

Freude ist zumeist die geteilte Zeit, Zeit als

solche vielleicht gar eine Teilung, eine zuvor-

gehende grundlegende Asynchronität. Das Leben

ist in Spaltung. Freude bedeutet jedoch meiner

Erfahrung nach implizit immer schon das

Anwesendsein eines Anderen. Und dies, auch

wenn dieser oft auch abwesend sein mag: wie

oben im Ballspiel, wenn uns unser Bewusstsein

einen Streich spielt, dieser Andere derart

abwesend ist, indem es ihn doch gar nicht gibt.

Jedoch auch dort, wo wir uns als abgeschieden,

zurückgezogen und in scheinbar «stiller Freude»

scheinbar nur mit uns selbst finden (und wo,

nicht auszuschließen, Freude und Glück

womöglich in einander übergehen können oder

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korrespondieren), selbst dort, in jenem

vorgeblich stillen In-sich-hinein-Lächeln, richtet

sich dieses Lächeln an etwas oder den Anderen:

Es hat eben auch nicht viel von Sinn, dröge vor

sich her zu grinsen. Sofreuen wir uns doch über

ein Anderes; oder auch mit, oder vielleicht auch

für den einen oder Anderen; dieser buhlt darin

um unsere Aufmerksamkeit, was uns wieder

schmeichelt, es scheint wieder so, als spricht es

uns, und nur uns, an. Das Glück hingegen ist

nicht so mitteilsam, ist vielleicht gar nicht mit-

teilbar, weil ein unmittelbares Empfinden:

Derjenige, der das sagt, „Ich bin eben glücklich.“,

lügt da bereits und vielleicht nur unbewusst

schon, weil er es schon nicht mehr ist, es, das

Glück, ihn, um dies zu artikulieren, schon wieder

muss losgelassen, ihn verlassen, von ihm

abgelassen haben.

Insofern ist Sprache (vgl. Lévinas 32002) aber

auch immer schon ein Gerufensein, ein

Aufgerufensein zur Antwort, ich bin aufgerufen

zu antworten, mich auszudrücken, zu ver-

antworten, mich und den Anderen und den sich

stiftenden Sinn dazwischen mit-zu-teilen. Indem

sie hilft, allein schon die Grautöne

wahrzunehmen (von Farben und deren Nuancen

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muss ja zunächst nicht einmal wortwörtlich die

Rede sein), man lernt, dass es böse Menschen

beispielsweise so vielleicht gar nicht gibt, dafür

aber vielleicht eine Gemengelage aus weit

verstreuten, verschlungenen, mitunter sehr

persönlichen Motiven, von denen manche

schlechter sind als andere, indem sie dem

vielleicht mehr berechtigten Interesse anderer

zuwiderlaufen... usw. usf. kann man vermittels

des kleinen Umwegs der Sprache zu einer

bewussten Erweiterung und einer

differenzierteren Betrachtungsweise gelangen,

zumal so es nur allzu oft für uns scheint, dass

andere Menschen manchmal kontraintuitiv oder

gar grob anders, als man selbst würde, handeln.

– Sprich, im günstigsten Fall wird man toleranter,

hält sich dann und wann mit vorschnellen

Urteilen zurück und glaubt nicht allem nur vom

Hörensagen.

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Eine defizitäre Fülle: Krisis und

Sackgassen des Denkens

Es gibt da aber noch einen anderen Grund,

warum man sich üben sollte, «aus sich»

auszubrechen üben sollte, aus eben jener

selbstzentrierten Perspektive, aus der man doch

nie heraus kann; darin schlicht geübt sein sollte

diese zu relativieren, indem man «sich» in

Relation setzt: Nur allzu oft steht auch da, ganz

ohne jene Repressalien von außen, denen wir

uns als Bewohner der westlichen Hemisphäre in

dieser besten aller möglichen Welten, so heißt

es, weit weniger ausgesetzt sehen, trotzdem

doch noch eben derselbe Befund. (Ich möchte

hier nicht das Privileg, mit dem ausgestattet wir

uns sehen, dass diese Repression und

Restriktionen auf ein Minimum reduziert sind

oder sein sollen, nicht kleinreden. Andererseits

schreibe ich dies auch in dem Bewusstsein, dass

diese verbunden sind mit einer Ideologie und ich

mir nicht sicher bin, ob diese Privilegien, von

denen wir genau genommen nicht wissen, wie

sie uns zukommen, nicht auf der anderen Seite

vielleicht teuer erkaufte sind. Es unter diesen

ideologischen Schranken einfach nur andere

Probleme auswerfen, die sich uns indes und

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ohne große Beachtung eingepfercht unter

diesem uns gut behütenden und überdeckenden

Mantel trotzdem doch aufdrängen.)

Mitunter wird doch auch da Leben noch zu einer

schwer zu oder kaum mehr noch erfüllbaren

Aufgabe. Mag sein, vielleicht generieren wir

dann nur andere Probleme, jedoch gelingt es

letztlich ebenso schwer, diese zu erfüllen:

Irgendwann gelangt das eigene Denken auch da

und selbst dort– oder gerade dort: bedenkt man

die Freiräume, die ihm, dem Denken, im

(vermeintlichen) Streben nach und dem Drang

auf Individualisierung eröffnet werden –an einen

Punkt, da findet es sich gefangen: All der

Übermut, die Freuden der Jugend, von denen ich

nicht einmal weiß, ob die uns überkommene

Lebensweise des Westens uns auch in einer Art

und Weise privilegiert, dass diese sich häuften,

halten diesem nicht stand. Plötzlich findet man

«sich», drücken wir es durchaus so unpersönlich

aus, gefangen in seinem nur-eigenen Denken

wieder: Und all das, was man bisher als

Unbestimmt- und Frei-Sein erlebt hat, jene

vorgebliche Autonomie, die Grundlage unserer

unbedingten Individualität sei, mit denen uns die

Ideologie des Westens, sie ist eben auch nur das,

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ausgestattet sieht und hat, diese verkehrt sich

urplötzlich in ein Gegenteil; man findet sich

stockend, zögernd und zurückhaltend vor all den

sich vor einem auftuenden Möglichkeiten, die

den Weg und die Strecke für das künftige Leben

abstecken könnten.

Nur findet diese vorgebliche Zukunft nie statt.

Indem man eine Wahl herauszögert (und obwohl

man sich doch schon immer, zumindest ein Stück

weit, doch auch festgelegt hat) –, man alle diese

möglichen Alternativen immer vor Augen in der

Schwebe lässt und die Tage ins Land ziehen sieht

– zeigt man dem eigenen Bewusstsein nur seine

eigenen Aporien, eben ‚nicht-gangbare Wege‘

auf. Und infolge der es nicht wundert, dass es, so

bedrängt, zu einem ‚Umschlag‘ drängt – nichts

anderes meint das dem Altgriechischen

entlehnte Krisis, die wir spät und gern erst mit

und in der Mitte des Lebens als verorten –

alsMidlife-Crisis, Letztere ursprünglich das

‚Moment, in dem etwas umschlägt‘. Ebenso wie

hier der kindlich-naive Glaube an eine

Autonomie umschlagen muss: der nichts anderes

als ein Egoismus ist. – Einer, der sich bis dahin

nicht hinterfragen muss, der unhinterfragt bleibt.

Eine Genusssucht, Lust, eine Maßlosigkeit und

31

Fülle, die plötzlich erkennt, dass sie eine

defizitäre ist. Eine defizitäre Fülle, die einen

immer nur in «sich» selbst verharren lässt, seiner

nur-eigenen Gegenwart und letztlich einer

Passivität, in der «man» sich einrichtet und an

die gekettet «man» sich findet; die jede mögliche

Zukunft sich offen lassend, gerade eine solche

unmöglich macht. Diese sich verkehren lässt. In

die schiere Unmöglichkeit eben einer solchen

Zukunft: «Man» ist immer nur man selbst, lebt

allein, getrennt und abgeschieden von den

Anderen. Leben, das Sein, ist Last, ist Gekettet-

Sein, ist Einsamkeit und Identität nur ein sich

fortsetzende «Sich»-nicht-entrinnen-Können.

„Ich empfand Mitleid mit ihr – da sie so

unbedarft war und keine Ahnung von der

Wirklichkeit hatte.“, ist ein harter Satz, der in

diesem Fall ein ganzes Erklärungs- und

Deutungsmuster abkanzelt. Umso härter ist

dieser, wenn man weiß, dass es der Satz eines

Kindes ist, der aus seiner Perspektive über eben

ein solches, das ihm in persona der Mutter eines

Freundes begegnet ist, die für seinen Geschmack

zu sehr der Esoterik und dem Aberglauben

anhängt, urteilt. Sympathisch wird einem dieses

altkluge Kind, das nichts anderes als das für eine

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der Geschichten in „Brave and Cruel“ (1948)

wiederauflebende kindlicheAlter Ego Denton

Welchs ist, aber wieder sofort, wenn nur vier

Sätze danach es selbst ein solches Bedürfnis nach

einem eben solchen Muster des Verstehens

signalisiert: „Zuerst freute ich mich; aber dann

regte sich in mir das Gefühl, von keinem

verstanden zu werden, und ich sehnte mich

danach, wegzukommen und allein zu sein.“

(Welch 1992, S. 43), bekennt dieses dann.

Nicht verstehen, was mit einem geschieht und in

der Welt vorgeht,vice versa auch (in diesem

Fragen) nicht verstanden werden, scheint mir

eine der basalsten (aber auch banalsten) Fragen,

die man an sich und dieses Leben stellen

kann.“What the hell are we doing?”, diese nur

scheinbar simple Frage – einer Szene aus einem

Lukas Moodysson-Film entnommen – wie der

Befund: “We‘re fucking crazy!”, „“man, wir, ich,

… stelle mir sie viel zu selten, was, welche man

sich doch in der absurdesten aller Situationen –

und absurd sind sie letztlich alle – ohnehin fragt.

Im Alltagstrott vergisst man sie; tritt nicht hinter

diesen, hinter sich zurück, nimmt sich beiseite

und fragt sich nur kurz: „Was, verdammt

nochmal, mache ich hier eigentlich?“ Vielleicht

33

wäre dies heilsam und ließe einen öfter mal

ausbrechen – ganz ohne jene Scheuklappen

eines nun mal so eingeschlagenen Pfads durch

die eingegangenen Verpflichtungen und

Entscheidungen, die getroffen man hat.

Ebenjenes vermeintlichen «Müssens», von dem

aber genau besehen und, ist man sich der

einzigartigen Chance, die dieses Leben bedeutet,

erst mal bewusst, keines so recht von Bestand

ist, ist man erst mal in der Lage seinen

Standpunkt zu verlagern. Dasmuss man können.

Seine Perspektive ändern, seinen Horizont

verlagern, bei Seite treten können – all das kann

man sich aneignen. Und plötzlich ist alles, nein,

nicht weniger absurd, nur empfunden wird dies

weniger als Problem als ehedem; es trübt nicht

die Wahrnehmung, diese Tristesse eines als

ohnehin sinnlos wahrgenommenen Alltags, der

Grauschleier endlos vergeudeter Tage, die

Stunden, die keiner einem wiederbringt, die

besser zu nutzen, man aber auch nicht weiß. All

dies – wie weggefegt, und nur durch eine

Standpunktverlagerung, die mich eben jene Tage

nicht aus einer Deckung der Distanzierung

erleben lassen, sondern als das distanzlose

Tagewerk eines sich an bietender Erfahrung

34

reichen Lebens, das zu füllen, zu erfühlen und

ertasten, mir aufgegeben ist. – Bis auf Widerruf.

Der mich ereilt, wenn ich schon nicht mehr bin,

und von dem ich bis dahin nicht weiß, wann

genau er eintreten mag. Leben daher ist eine

ganz sinnfreie Wette auf die Zukunft. Von

ebender ich nur weiß, dass ich gute Gründe

anzunehmen habe, dass diese irgendwann an

einen Endpunkt gelangen wird, die persönliche

Zeit folglich immer eine begrenzte sein wird,

aber bis dahin auch eine unbestimmte, mit der

ich nicht geizen muss, wo es mir nicht beliebt:

der Tod wird immer ein vertragter sein, bis er

eintritt, und die Zeit, die bleibt, wird die Spanne

sein, in der und von der ich mich ab und zu öfter

fragen sollte, was, zur Hölle, ich da eigentlich

gerade mache.

Sie ist die mir zur Verfügung stehende, immer

auch mich begrenzende, auf mich begrenzte

Gegenwart. Das bin nicht-feststellbar, immer-

noch-zu-bestimmen: «ich». Zukunft ist immer

schon ein Nicht-bei-mir-Sein, etwas, das mir

zustößt, etwas, das schon nicht mehr «ich» ist.

35

Eine kurze Verlagerung des Horizonts

Leben ist notwendige Last, aber auch ein

Glücksempfinden ab und an. Ich sagte oben, es

gebe nun mal keinen Königsweg, und zu sagen,

die Arbeitsbedingungen und damit die

Voraussetzungen, die es jenen ebenda schlicht

erschweren oder in manchem Falle es gar

unmöglich machen, so etwas wie Glück zu

empfinden (kehren wir noch einmal zurück zu

den Näherinnen Malaysias, deren Ausbeutung

und damit auch dem Elend dieser Welt), liege

nur in deren Eigenverantwortung, dies von

ebendiesen zu sagen, was nichts anderes ist, als

dies zu diesenzu sagen, wäre eben auch nur der

zynische Kommentar aus eben einer

privilegierten Position heraus – die um eben

diese Privilegien wissen und es daher für sich

besser wissen sollte und es im Grunde ja auch

weiß: Nichts anderes meint ja der

beißreflexartige Verweis auf eine soeben da

vorgehaltene Eigenverantwortung, von der ich

gar nicht nichts weiß, nicht einmal, ob ich sie

dem Anderen so zumuten kann oder darf, und

welcher hier nur die Bürde der je eigenen, der

36

meinen Verantwortung verschiebt, von der ich

sehr wohl weiß, weil es mir, und nur mir, obliegt,

mich oder überhaupt zu ver-antworten. Was also

kann ich tun? Was ist das Angemessene?

Nun, zunächst nicht viel. Zunächst lehrt dies

Demut, oder sollte diese lehren, und ruft zur

Verantwortung auf, die man eben nicht

losgelöst, die man eben nicht nur «für sich»

selbst hat – das ist eine Vorstellung, die es sich

zu einfach macht –, sondern sich als Selbst

immer schon in Beziehung weiß, eingebettet in

eine Pluralität vieler, konkreter, zwar äußerlich

bleibender, aber unveräußerlicher Anderer. In

deren Verantwortung wir uns finden, sobald wir

unsere nur-subjektive Gegenwart durch deren

Anwesenheit aufgebrochen wissen.

Was nun aber nicht heißt, man sollte (oder

könnte überhaupt) solche Momente des Glücks,

des in-sich-gekehrten Bei-sich-Seins missen – um

des Leids oder momentanen Unglücks der

Anderen willen. Das ist schlecht möglich, und

auch eine ziemlich sinnlose Unternehmung:

Weil,was änderte das auch? Weil ich mir mein

Glück versage, ist noch niemanden geholfen.

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Dennoch lehrt diese Erfahrung der «Zu-kunft»

(vgl. hierzu: Levinas 2003) oder des Hinzutretens

des Anderen zum einen, dass der eigene

Standpunkt in der Welt des Interpersonalen, die

ihm da begegnet, nur ein begrenzter Wirkkreis

ist: der Andere oder das Andere setzt meinem

Können eine Grenze, gebietet Einhalt. (vgl. ebd.,

aber auch: Lévinas 32002) Weshalb es nun auch

ziemlich einfältig ist, zu denken, ich allein könnte

die Macht- und Verteilungsprinzipien,die

Regulationstechniken und

(bevölkerungs)strukturbedingten Maßnahmen

und Mechanismen, die andernorts, an einem

weit entfernten Ort der Welt (und trotz all der

virtuell suggerierten Nähe eines sich

globalisierenden Dorfs) dazu führen, dass Kinder

nichts zu essen haben oder Frauen bis zur

Erschöpfung unter nicht akzeptablen

Arbeitsbedingungen schuften zu lassen, aus den

Angeln heben. Ich kann es nicht. Das kann ich

nicht allein, das verkennt meinen begrenzten

Wirkkreis, und ist nicht nur ein zu hoher

Anspruch, sondern auch ein recht

chauvinistischer, der in seinem

Gutmenschentum und Sendungsbewusstsein

den alten Kolonialherren, die diese Prinzipien

und Mechanismen erst mit angestoßen haben,

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besieht man es einmal recht nüchtern, doch in

nichts nach steht: Eine Änderung der

Verhältnisse sollte zuerst da ansetzen, wo sie

auch verlangt wird, verlangt ist, das heißt, ein

Bedürfnis wird: Im Kopf, und zwar genau, in

jenen der eben davon Betroffenen. Weil

ansonsten eine Veränderung von einem

privilegierten Standpunkt aus immer (wieder)

nur ein oktroyierter, paternalistischer Akt von

oben herab bleiben wird. Die Verantwortung, die

ich ohne Frage zwar habe und die diese

bestehenden Verhältnisse nicht entschuldigt

(diese aber auch nicht verschuldet hat, solange

sie nicht beiträgt, diese zu zementieren), reicht

aber nicht so weit, kann das Denken und

Handeln dem Anderen nicht abnehmen. Dies

würde seinen Standpunkt schier missachten.

Außerdem stoße ich schon an meine Grenzen,

versuche ich auch nur an der direkten

Nachbarstür irgendetwas aus den Angeln zu

heben.

Hier, vor Ort, kann ich nur so viel tun, diese

bestehende Ungerechtigkeit nicht insofern

aufrecht zu erhalten, indem ich sie auch noch

unterstütze, ich – was schon schwer genug zu

kontrollieren oder nachvollziehen für mich ist –

nicht deren leichtfertiger Nutznießer bin. Zum

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anderen lehrt es mir Demut, für meine Lage,

lässt mein nur-persönliches Glück ab und an in

den Hintergrund treten, was kein Verzicht sein

muss, nicht als solcher empfunden werden muss,

gewinne ich doch in der geteilten Zeit mit dem

Anderen, doch auch an Profil, an Kontur – in dem

sich dieser an mich, und nur an mich, wendet, an

Freude – die sich als eine geteilte einstellt – und

an einem das persönliche Glück und Geschick

übersteigernde Auffassung vom Leben, die mich

nicht ohne Sinn zwischen Anderen einen Platz

einnehmen lässt: Kein Mensch trägt die Welt

allein, und ich kann zutun, das dem so bleibt.

Allerdings auch nicht mehr als das.

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Was ist Glück? oder Das Leben, einfach.

Eine kurze, wenn nicht unmissverständliche, so doch noch nicht

abschließende Betrachtung dieser immer offenen Frage

geäußert von einem nicht notwendig überpersönlichen

Standpunkt aus, aber aus einem des Irreduzibel-Subjektiven

im Verstehen der Welt und damit einem der unaufhebbaren

Pluralität von Meinungen über ebendiese heraus.

Verzeichnis der angeführten Schriften und

der darüber hinaus verwendeten Quellen:

Aristoteles: Die Nikomachische Ethik, Übersetzt und

herausgegeben von Olof Gigon, München 1972.

[=Zweite, überarbeitete Auflage der Ausgabe des

Artemis Verlags aus der »Bibliothek der Alten Welt«,

Zürich und München 21967.]]

Levinas, Emmanuel: Die Zeit und der Andere (Übersetzung

von: Le Temps et l‘Autre, Neuauflage, Montpellier 1979),

Übersetzt und mit einem Nachwort versehen von Ludwig

Wenzler, Neuausgabe, Hamburg 2003. [=Meiner

Philosophische Bibliothek Bd. 546]

Lévinas, Emmanuel: Totalität und Unendlichkeit. Versuch

über die Exteriorität (Übersetzung von: Totalité et infini.

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Essai sur l’extériorité, Den Haag 1961), Übers. von

Wolfgang Nikolaus Krewani, Studienausgabe, Freiburg im

Breisgau, München 32002.

Raus aus Åmål (Fucking Åmål), Regie und Buch: Lukas

Moodysson, Darsteller: Alexandra Dahlström, Rebecka

Liljeberg u. a., Spielfilm (Coming of Age-, Jugend-,

Drama), 89 Min. Laufzeit, Schweden, Dänemark 1998.

Welch, Denton: III. Narcissus Bay, in: Tapfer und grausam.

Und andere Erzählungen (Übersetzung von: Brave and

Cruel, London 1948), Deutsch von Helga Pfetsch,

Frankfurt am Main 1992.

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