St Bartholomew's Day massacre 1572 as a European Lieu de m'emoire

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Sonderdruck aus Zwischen Wissen und Politik Archäologie und Genealogie frühneuzeitlicher Vergangenheitskonstruktionen Herausgegeben von FRANK BEZNER KIRSTEN MAHLKE im Auftrag der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Akademie der Wissenschaften des Landes Baden-Württemberg Universitätsverlag WINTER Heidelberg 2011

Transcript of St Bartholomew's Day massacre 1572 as a European Lieu de m'emoire

Sonderdruck aus

Zwischen Wissen und Politik Archäologie und Genealogie frühneuzeitlicher Vergangenheitskonstruktionen

Herausgegeben von FRANK BEZNER

KIRSTEN MAHLKE

im Auftrag der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Akademie der Wissenschaften des Landes Baden-Württemberg

Universitätsverlag WINTER Heidelberg 2011

Inhalt

FRANK BEZNER

Archäologie und Genealogie frühneuzeitlicher Vergangenheitskonstruk-tionen: zum Konzept des Bandes ...... ... ..... ..... ........ ....... ......... ..... ...... ..... ... .. .

Erster Teil: Politische Kommunikation -Legitimität- Identität

HILLARD VON THIESSEN

Vertrauen aus Vergangenheit. Anciennität in grenzüberschreitender Patro­nage am Beispiel der Beziehungen von Adelshäusern des Kirchenstaats

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zur spanischen Krone im 16. und 17. Jahrhundert. ......... .... .......... .. ............ 21

FRANK BEZNER

Pellegrino Prisciani und die Praxis der Historia. Ferrareser Renaissance-Historiographie und ihr Kontext . . ... . . .. . . . . ... . . . ... .... .. . .. . . . . . . . . .. .. . .. . . .. .. . . . .. . . . . .. . . 41

CHRISTIAN SCHMITT-KILB

Poetik und Nation in Samuel Daniels Defence of Ryme (1603) und Edmund Spensers Shepheardes Calender (1579) ... ... ..... .. .......... .... ..... .... .. .. 71

CORNEL ZWIERLEIN

Die Genese eines europäischen Erinnerungsortes: die Bartholomäusnacht im Geschichtsgebrauch des konfessionellen Zeitalters und der Aufklärung 91

Zweiter Teil: Medialität der Vergangenheit

FLORIAN KLÄGER

"Historical Dialogues": Zur Rolle des Dialogs bei der Konstruktion und Konfrontation historisch gewachsener Kollektive im elisabethanischen Irlanddiskurs ....... ....... .... ...... .. .. .. ....... ..... ......... .... ........... ............. .... ....... ..... 131

GABRIELA SCHMIDT

"To set some colour vpon ye matter": Thomas Mores History of King Richard the Third zwischen humanistischer Vergangenheitskonstruktion und autoreflexiver Skepsis .... .. ......... ... ..... .. ... .. .......... ...... ..... .......... ............. 161

CLAUDIA WEDEPOHL

Von der Erlösungsallegorie zur heiligen Historie: Kreuzdevotion in der franziskanischen Monumentalmalerei des 14. und 15. Jahrhunderts... ....... 183

Dritter Teil: Das Wissen um die Vergangenheit

BENJAMIN STEINER

Tatsachen der Geschichte. Kritik, Archäologie und Genealogie frühneu­zeitlicher Tabellenwerke als Reservoire und Ordnungssysteme historisch-empirischen Wissens ........ .... ... ... ........ .... ....... .... ........... .... ..... ......... .......... .. 255

HELGAPENZ

Praktiken diesseits der Narration. Archiv und Historiographie ... ............... 271

KAIBREMER

Der Kommentar als Steinbruch. Zum Verhältnis von ,Commentarius' , ,Historia' und Polemik am Beispiel der Lutherkommentare des Johannes Cochlaeus .. . .. .. . .... . .. . . . . . . .. . ... ..... ... . . . . . .. . .. .. ... ... .. .. .... ......... .. ... ...... .. . . . .. ..... ...... 293

PHILIPP JESERJCH

Geschichte und Geschichte der Dichtung in der französischen Renais-sance-Poetik. Zu Thomas Sebillet und Jacques Peletier du Mans .... ...... .... 311

ANDREAS URS SOMMER

Entwürfe geschichtlicher Dualität und Einheit. Französische Geschichts-theologie im späten 17. Jahrhundert ..... .. ....... ... ......................... ............... .. 339

Vierter Teil: Das Alter der Neuen Welt

ARNDT ERENDECKE

Der ,oberste Kosmograph und Chronist Amerikas' Über einen Versuch der Monopolisierung von historischer Infmmation .. ......... .. . . . . . . . ... ......... .... 353

ROSWITHA LUCHT

Die Begegnung mit dem Fremden - Zur Re-Konstruktion irrkaischer Herrschaft in frühen Textquellen Perus .. ........ .......... ... ................. .... .. .... .... 375

FRANZ ÜBERMEIER

Historiographie als koloniale Zeitgeschichte im 16. Jahrhundert. Ulrich Sehrnidel und sein Bericht über die Eroberung des La Plata-Raums 409

Cornel Zwierlein

Die Genese eines europäischen Erinnerungsortes: die Bartholomäusnacht im Geschichtsgebrauch des konfessionellen Zeitalters und der Aufklärung *

Die Bartholomäusnacht ist bis heute als eines der markantesten Gewaltereig­nisse der Frühen Neuzeit im kulturellen Gedächtnis Europas verankert. Sie war sicherlich eine der größten nicht unmittelbar kriegsbedingten Massentötungen der Vormoderne. Sie wurde geradezu zum Aichetyp des Massakers, insbeson­dere, weil ihr immer auch der Ruf des politisch-staatlichen Massenmords an­hing. Bezeichnend hierfür ist schon, dass der Begriff "Massaker" selbst ein ge­rade in den französischen Religionskriegen seit den 1550/60ern erst neu aufkommender Begriff war, der dann mit der Kommunikation über die Bartho­lomäusnacht in alle europäischen Sprachen Eingang fand. 1 -Wie funktionierte

Für wichtige inhaltliche und formale Kritik danke ich Mona Garloff. Abkürzungen: VD16 = Verzeichnis der im deutschen Sprachbereich erschienenen Drucke des 16. Jahrhunderts, 3 Abt. , 25 Bde, Stuttgart 1983-2000 (auch: http://www.vdl6.de/) ; VDI7 =Verzeichnis der im deutschen Sprachraum erschienenen Drucke des 17. Jahrhunderts (http://www.vdl7.de/) ; ASMa = Archivio di Stato, Mantova; AG = Archivio Gonzaga; BNF = Bibliotheque Nationale de France; BNC = Biblioteca Nazianale Centrale; ÖNBW = Österreichische Nationalbiblio­thek Wien; CNCE = Identifikationsnummer im Censimento nazianale delle edizioni italiane del XVI secolo (http://editl6.iccu.sbn.it/web_icculihome.htm); BA V = Biblioteca Apostolica Vaticana; JALB = Johannes-a-Lasco-Bibliothek; BNC = Biblioteca Nazianale Centrale. "Massacre" bezeichnete ursprünglich im Französischen den Schlachtblock eines Fleischers, "massacreur" war die Bezeichnung flir das Schlachtmesser. "Massacre(r)" wurde dann aber seit den 1550160em metaphorisiert und generalisiert auf Massentötungen angewandt, erstmals wohl in einer gedruckten Flugschrift des Calvinisten Jean Crespin von 1556, in der das Mas­saker von Merindol und Cabrieres an den Waldensem 1545 erzählt wurde, vgl. Mark Greengrass: Hidden Transcripts. Secret Histories and Personal Testimonies of Religious Vio­lence in the French Wars of Religion, in: Mark Levene I Penny Roberts (Hg.): The Massacre in History, New York I Oxford 1999, S. 69-88, hier S. 69 f. - vgl. die zeitgenössische deutsche Übersetzung dieser Flugschrift: VDI6 ZV 8010, ZV 8011. Es handelt sich um die größte der frühen Massentötungen in Frankreich, deren Erinnerung bei Waldensem und Hu­genotten martyrologisch stark gepflegt wurde. V gl. etwa die französischsprachige Tragödie, die auf der Grundlage der Crespin-Beschreibung in Genf verfertigt und dem Sohn des Kur­flirsten Friedrich Ill. von Kurpfalz, Pfalzgraf Christoph, wohl bei seinem Studium in Genf ca. !566161 überreicht wurde und sich heute in BAV Pal.lat. 1983 befindet (dort das Verb "mas­sacrer" auf f. Aii/, Bi v; Edition des Stücks: Anonyme: La tragedie du sac de Cabrieres, ed. Daniela bocassini, in: Theätre fran9ais de Ia Renaissance, Bd. 3, Florenz I Paris 1990, S. 203-

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aber genau die Einschreibung des Ereignisses in das europäische kulturelle Gedächtnis? Auf welchen frühneuzeitlichen modi des Geschichtsgebrauchs des Erinnerungsorts "Bartholomäusnacht" ruhten die modernen Rückbezüge auf das Ereignis auf? Wie und warum "überschrieb" dieses Ereignis ältere Massa­ker, etwa die Sizilianische Vesper, im Hinblick auf den Stellenwert in der kol­lektiven Erinnerung? Gibt es überhaupt ein europäisches kulturelles Gedächt­nis, sind es nicht viele, gruppenbezogene, völlig disparate? Im Zentrum meines Beitrags steht somit die methodische und praktische Frage, was ein transregio­naler, europäischer Erinnerungsort sein und wie man gegebenenfalls seine Ge­schichte schreiben kann, wofür die Bartholomäusnacht das markante Exempel abgeben soll . Die Frage nach frühneuzeitlichen Wissens- und Geschichtskon­zeptionen und -praktiken wird so mit einer aus der Gegenwart perspektivierten Methodenfrage zur Geschichtsschreibung verbunden.

Dieses Ziel soll in einem Dreischritt verfolgt werden. Zunächst soll ein minimaler Einblick in die aktuelle frühneuzeitliche Forschungsdiskussion über die Interpretation und Bewertung der Bartholomäusnacht gegeben wer­den, um sich im Groben des Gegenstands zu vergewissern, und um zu erken­nen, wie sich hierzu die Frage nach multiplen Außenwahrnehmungen und einem europäischen Erinnerungsort verhält (I); dann soll die allgemeine methodische Frage nach der Möglichkeit und Form von transnationa­len/transregionalen Erinnerungsorten gestellt und diskutiert werden (II). Schließlich werden Entstehung und Transformation der "Bartholomäusnacht" als ein solcher Erinnerungsort ganz summarisch und notwendigerweise bruchstückhaft skizziert. Dem Rahmen entsprechend beschränke ich mich für die Nachzeichnung der Entwicklung des Erinnerungsortes auf die Zeit vom 16. bis zum 18. Jahrhundert (III).

I. Die Bartholomäusnacht und die aktuelle Forschungsdebatte

Ich erinnere kurz: Nach dem gescheiterten Attentat auf den Führer der franzö­sischen Protestanten, Admiral Gaspard de Coligny, am 22. August 1572 mittels Gewehrschuss wurde dieser am frühen Morgen des 24. August, dem Tag des

278); Imanuel Geiss: Massaker in der Weltgeschichte. Ein Versuch über Grenzen der Mensch­lichkeit, in: Uwe Backes I Eckhard Jesse I Rainer Zitelmann (Hg.): Die Schatten der Vergan­genheit. Impulse zur Historisierung des Nationalsozialismus, Berlin 1990, 110-135, dessen Beitrag v.a. auf die Massaker des 20. Jahrhunderts zielt, ist sich der Herkunft des Worts aus dem Französischen bewusst, nicht aber seiner spezifischen Radizierung· im Kontext der fran­zösischen Religionskriege (S. 112); Hans Medick: Massaker in der Frühen Neuzeit, in: Clau­dia Ulbrich I Claudia Jarzebowsk.i I Michaela Hohkamp (Hg.): Gewalt in der Frühen Neu­zeit, Berlin 2005, 15-19.

Die Genese eines europäischen Erinnerungsortes 93

Hl. Bartholomäus, wohl auf einen Entscheid wichtiger katholischer Mitglieder des Kronrats, der Königinmutter und des Königs hin - schon dies ist aber im Detail umstritten-, zusammen mit einigen anderen Hugenottenanführern durch einen Exekutionstrupp unter der Führung des Herzogs von Guise ermordet. Nach dieser "Polizeiaktion" weitete sich das Tötungsgeschehen zu einem gene­rellen Massaker an den anlässlich der Hochzeit zwischen Heinrich von Navarra und Margarethe von Valois in Paris weilenden Hugenotten aus, das insbeson­dere von Teilen der Stadtmiliz betrieben wurde. Es wurden schätzungsweise 2000 Protestanten in einem fünf Tage dauernden Massaker umgebracht. Die Massentötung griff in den folgenden 40 Tagen auch auf 13 andere Städte in Frankreich über, La Charite (24.8.), Meaux (25.-26.8.), Bourges (26.8., 11.9.), Orleans (26.-27.8.), Angers (28.-29.8.), Saumur (28.-29.8.), Lyon (31.8.-2.9.), Troyes (4.9 .), Rouen (17.-20.9.), Bordeaux und Toulouse (3.10.), Gaillac und Albi (5.-6.10.)? Nach der um Mäßigung bemühten derzeitigen Forschung schätzt man die Gesamtzahl der Opfer auf 5000 Hugenotten, eine genaue An­zahl ist aber aufgrund unterschiedlichster Quellenaussagen nicht zu bestim­men.3 In der Nachkriegszeit war lange der Ereignisverlauf der Bartholomäus­nacht für im Wesentlichen geklärt hingenommen worden, es existierte lediglich eine Diskussion über die ,Tiefenursachen' im Kontext des Streits über die mehr marxistische/sozialgeschichtliche oder mehr , bürgerliche '/politische Interpreta­tion der ,Bürgerkriege' .4 Seit etwa 15 Jahren ist dann in der Forschung eine neue Debatte über die Bartholomäusnacht in Reaktion auf die monumentale und irritierende Interpretationsarbeit Denis Crouzets entstanden, die auf ver­schiedenen Ebenen geführt wird: teils im Sinne einer Methoden-Kritik, die meist allerdings eher als eine Serien-Kommunikation von Missverständnissen aufgrund unausgesprochener unterschiedlicher Geschichtsbilder und Wissen­schaftsverständnisse erscheint, anstatt wirklich in einen Dialog über die ge­schichtsphilosophischen Annahmen und Methoden Crouzets einzutreten, teils im Sinne einer Art von neopositivistischem Kampf um die Frage, wie die Ein­zelheiten des Ereignisablauf~ zu konstruieren sind und vor allem, wem letztlich die Autorschaft/Schuld am Massaker zukommt. Crouzet hat diese Diskussions­verwirrung selbst verursacht, weil sein Werk ebenfalls unentschieden zwischen

2 Vgl. Philip Benedict: The Saint Bartholomew's Massacres in the Provinces, in: The Historical Joumal21 (1978), S. 205-225 .

3 Mack P. Holt: The French Wars of Religion, 1562-1629, Cambridge 1995, S. 94; Arlette Jouanna: Le temps des guerres de religion en France (1559-1598), in: Dies. / Jacqueline Bou­cher I Dominique Biloghi I Guy Le Thiec: Histoire et Dictionnaire des guerres de religion, Pa­ris 1998, S. 1-445, hier S. 194-204.

4 Für eine Zusammenfassung dieser älteren Diskussion vgl. Ilja Mieck: Die Bartholomäusnacht als Forschungsproblem. Kritische Bestandsaufnahme und neue Aspekte, in: HZ 216 (1973), s. 73-110.

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zwei Polen schwankt: einerseits beruht es vor allem auf einer geschichtsphilo­sophisch inspirierten, stärker hermeneutisch-verstehend operierenden Diskurs­rekonstruktion auf der Quellenbasis der im 16. Jh. kursierenden Pamphlete mit der provozierenden, aber auch demutsvollen Vorstellung, dass Geschich­te/Geschichtsschreibung letztlich "nichts anderes als eine Dichtung" sei, dass es keine "reine Geschichte" unabhängig von der Verinnerlichungsarbeit und einer Art Selbstillusion des Historikers gebe;5 andererseits scheint er immer wieder doch einen direkten "positivistischen" Dialog über Einzelfakten zu füh­ren und der nach wie vor rankeanischen Heuristik zu folgen, entdecken zu wol­len, wie es tatsächlich gewesen sei. Seinem Werk sind also immer zwei unter­schiedliche Begriffe und Ebenen von "Realität" unterlegt: eine Ebene, auf der die Wahrheit der Aussagen des Historikers, wenn er ein Ereignis narrativ "er­klärt", dadurch gewonnen wird, dass diese Ereignisse als Emergenzen des rekonstruierten Diskurses und seiner ihm innewohnenden, gegebenenfalls ge­waltförrnigen Ordnungsmacht figurieren. 6 Dieser philosophische, kulturge­schichtliche Ansatz kann letztlich als Antwort auf die langjährige Dominanz der Struktur-Sozialgeschichte Braudel' scher Prägung verstanden werden 7 und geht so mit derzeit gängigen Tendenzen hin zur Kulturgeschichte oder durch­aus sogar zu einem erklärten Neohistorismus8 einher. Der Ansatz kann hier nicht im Detail gewürdigt werden, er ist in seinen geschichtsphilosophischen

Zum Nachvollzug dieser Konzeption ist der geschichtsphilosophische Exkurs wichtig, den Crouzet zur tieferen Begründung seiner gegen die durch stark teleologische Heuristiken wie jene der Säkularisierung oder jene der Autonomisierung des Politischen geprägten Interpreta­tionen des "Toleranz"-Edikts von 1562 und der kanonischen Figur Michel de L'Hospitals ein­schiebt in Denis Crouzet: La sagesse et Je malheur. Michel de L'Hospital, chancelier de Fran­ce, Seyssell998, S. 457-459, dort die Zitate. Denis Crouzet: Les guerriers de Dieu. La violence au temps des troubles de religion, vers 1525- vers 1610, 2 Bde., Seyssel 1990; Denis Crouzet: La nuit de Ia Saint-Barthelemy. Un reve perdu de Ia Renaissance, Paris 1994 (methodisch zentral: S. 183; als dortiger Leitdiskurs wird ein ,neoplatonisches' Selbstverständnis der Krone rekonstruiert). In seiner Skizze zu Ka­tharina von Medici rekonstruiert er ähnlich den sich aus florenfiniseher Politikkultur speisen­den Diskurs der necessita I necessite, um aus diesem Rahmen die Handlungsmuster in einem typologischen Sinn einer Wahrheit höherer Stufe abzuleiten, die Bartholomäusnacht wird so zu einem Effekt der "spirale de necessite". Denis Crouzet: Le haut cceur de Catherine de Me­dicis, Paris 2005, S. 203-394: diese necessite-Logik wird letztlich archetypisch bei Guicciar­dini gefunden. Das wird deutlich, wenn Crouzet nrit einem gewissen Augenzwinkern zusammenfasst ,,Je crois avoir fait une histoire de type evenernentiel" (Crouzet: Guerriers (Anm. 95), S. 50), vgl. Femand Braudel: La Mediterranee et le monde mediterraneen a l'epoque de philippe Il, 3 Bde., Bd. I: La part du milieu, Paris 194911990, S. 17. Vgl. hierzu programmatisch etwa Ulrich Raulff I Helwig Schmidt-Glintzer I Hellmut Th. Seemann: Einen Anfang machen. Warum wir eine Zeitschrift für Ideengeschichte gründen, in: Zeitschrift für Ideengeschichte I (2007), S. 4-6.

Die Genese eines europäischen Erinnerungsortes 95

Aspekten aber überhaupt nicht, schon gar nicht in der auf ein deutschsprachi­ges Publikum zielenden Literatur, Gegenstand der Diskussion, die im Positiven wie im Negativen verkürzt.9 Als ganze ist die von etwa 1990 bis 2000 erneut heftig geführte Diskussion über die Bartholomäusnacht Teil einer nationalen und transnationalen Erinnerungsarbeit, die auch immer bestimmte politisch­soziale Konzeptionen von ,Frankreich' transportiert. Bourgeon etwa heroisiert insbesondere den König Karl IX. in seiner Klugheit, Voraussicht, dann Tragik, weist die Schuld am Massaker aber einer bürgerlichen Elite von Parlernent­Juristen zu, die sich verräterisch (,wie 1940') mit den Ausländern Guise und Spanien verbündet hätten. Er greift dabei - seinerseits weitgehend unkritisch -die älteren Thesen Nicola M. Sutherlands auf. 10 Bei Crouzet und etlichen ande-

Positiv: Mack P. Holt: Putting Religion Back into the Wars of Religion, in: French historical studies 18,2 (1993), 524-551, hier 534-538. Negativ: Ilja Mieck: Neue Forschungen zur Bar­tholomäusnacht, in: Francia 2312 (1996), 203-214, hier 208-212 dokumentiert nur sein Unver­ständnis für Anliegen und Arbeitsweise Crouzets (vgl. dazu auch Francia 2412 (1997), S. 225); Michael Wagner: Kreuzzug oder Klassenkampf? Zur Sozialgeschichte der französi­schen Religionskriege im späten 16. Jahrhundert, in: ZHF 25 (1998), 85-103 streift die me­thodischen Probleme kaum (S. 99-101); David Warren Sabean: Reading Sixteenth Century Religions Violence. The Historiography of St. Bartholomew's Day Massacre, in: Kim Sie­benhüner I Kaspar von Greyerz (Hg.): Religion und Gewalt. Konflikte, Rituale, Deutungen (1500-1800), Göttingen 2006, S. 109-123, hier S. 118-120, der zudem die eigentliche Mono­graphie Crouzets zur Bartholomäusnacht gar nicht erwähnt, übersieht vollständig das ge­schichtsphilosophische Substrat der Arbeiten.

10 Nicola M. Sutherland: The Massacre of St. Bartholomew and the European Conflict, 1559-1572, London/Basingstoke 1972. Immerhin ließe sich fragen, ob bei Sutherlands Interpreta­tion der Bartholomäusnacht als Stellvertretermassaker im säkularen hegemonialen Konflikt Spanien-Frankreich nicht der Kalte Krieg als Interpretationsfolie gedient hat; Jean-Louis Bourgeon: Les legendes ont Ia vie dure: apropos de Ia Saint-Barthelemy et de quelques livres recents, in: Revue d'histoire moderne et contemporaine 34 (1987), 102-116; ders.: Une source sur Ia Saint-Barthelemy: I'Histoire de Monsieur de Thou, relue et decryptee, in: Bulletin de Ia Societe de l'histoire du protestantisme fran~ais [BSHPF) 134 (1988), S. 499-537; ders.: Pour une histoire, enfin, de Ia Saint-Barthelemy, in: Revue historiqe 282 (1989), S. 83-142; ders.: La Fronde parlementaire a Ia veille de Ia Saint-Barthelemy, in: Bibliotheque de l'Ecole des Chartes 148 (1990), S. 17-89; ders.: L'assassinat de Coligny, Geneve 1992; ders.: Charles IX devant Ia Saint-Barthelemy, Geneve 1995; ders.: Les 'Memoires' de Tavannes et Ia Saint­Barthelemy: mode d'emploi, in: BSHPF 142 (1996), S. 32-54. Insbesondere gegen Bourgeons spekulative These von der Fronde der Parlernent-Juristen und vom besonderen Interesse der "Bürgerlichen" am Massaker haben Nancy Lyman Roelker: One King, One Faith: The Parle­ment of Paris and the Religions Reformations of the Sixteenth Century, Berkeley!Los Angel es 1996, S. 314-321; Barbara B. Diefendorf: Beneath the Cross. Catholics and Huguenots in Six­teenth-Century Paris, New York I Oxford 1991, S. 93-106; Dies.: La Saint-Barthelemy et Ia bourgeoisie parisienne, in: Histoire, Econonrie, Societe 17 (1998), 341-352; Sylvie Daubresse: Le parlement de Parisou Ia voix de Ia raison (1559- 1589), Genf 2005, S. 190-201 gewich­tige Argumente eingebracht; Jouanna (Anm. 92), S. 194-204 und in Jouanna et al., Histoire et Dictionnaire (Anm. 92), S. 1262-1264 referiert die Positionen und verbleibt abwägend; Holt

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ren Autoren bleibt hingegen auf dieser Bedeutungsebene in verschiedenen Spielarten die Krone selbst in der Verantwortung für einen- sei es aus Frie­densliebe, sei es im heftigen Versuch, die ,occasion' zu ergreifen und ,fortune' ZUrückzugewinnen- verübten Staatsgewaltakt, einen coup d'etat, der dann au­ßer Kontrolle geriet. 11 Der Streit in der internationalen Historikerzunft um die Interpretation der Bartholomäusnacht kann also selbst als ein erneut bewegter Kampf innerhalb des kollektiven Gedächtnisses um den Erinnerungsort ,Bar­tholomäusnacht' verstanden werden - allerdings dürfte es sich bei diesem Ge­dächtnis, wenn es denn eines ist, nur um ein sehr partikulares Gedächtnis einer Elite bzw. eines gesellschaftlichen Funktionsbereichs handeln, in der breiteren Öffentlichkeit kommt dem längst vergangeneu Massaker trotz des Films von Patrice Chereau ( 1994) nach den Romanen von Alexandre Dumas und Hein­rich Mann sicherlich eine untergeordnete Rolle im Vergleich zu zeithistori­schen Ereignissen zu. Zumindest in methodologischer Hinsicht hindert dies aber nicht, das Massaker als Beispielsgegenstand für die Untersuchung eines ,europäischen lieu de memoire' zu nehmen- vielmehr wird dies als Aspekt bei der Frage danach, was ein solcher transnationaler Erinnerungsort sein kann, einzubeziehen sein.

(Anm. 92), S. 76-97 folgt Diefendorf; Hugues Daussy: Les huguenots et Je roi . Le combat po­

litique de Philippe Duplessis ·Momay (1572-1600), Geneve 2002, 59-86 bezieht im Streit kei­ne Stellung; Mare Venard: Arretez Je massacre !, in: Revue d'histoire moderne et contempo­raine 39 (1992), S. 645-661 hat gezeigt, dass die Vorstellung von Katharina von Medici und Karl IX. als "eifersüchtig" auf ihren Einfluss (gegenüber Coligny, gegenüber dem Bruder Henri d' Anjou) durchaus mit Quellenmaterial zu belegen ist. Friedrich Beiderbeck: Zwischen Religionskrieg, Reichskrise und europäischem Hegemoniekampf. Heinrich IV. von Frank­reich und die protestantischen Reichsstände, Berlin 2005, S. 38 f. rezipiert ohne Diskussion Bourgeon. Christiane Coester: Schön wie Venus, mutig wie Mars. Anna d'Este, Herzogin von Guise und von Nemours (1531 - 1607), München 2007, S. 200-205 wägt vorsichtig Anna d'Estes mutmaßlichen Beitrag (als Agentin der, vendetta' ihres 1563 ermordeten Mannes) zur Batholomäusnacht ab.

11 Yves-Marie Berce: Les coups de majeste des rois de France, 1588, 1617, 1661, in: Ders. I Elena Fasano-Guarini (Hg.): Camplotset conjurations dans l'Europe moderne, Rom 1996, S. 491-505 zählte die Bartholomäusnacht nicht zu diesen "coups de majeste"; in den Artikeln La nuit de Ia Saint-Barthelemy: confirmations et complements, in: Chantal Grell I Arnaud Rarniere de Fortanier (Hg.): Le second ordre: !'ideal nobiliaire, Paris 1999, S. 55-81 und Louis Dorleans ou Je massacre de Ia Saint-Barthelemy comme un 'coup d'estat', in: Conflits politiques, controverses religieuses. Essais d'histoire europeenne aux 16'-18' siecles, Paris 2002, S. 77-99 hat Crouzet seine Interpretation des herrschenden 'imaginaire' weg vom soge­nannten ,Neoplatonismus' hin zu einem durchaus der zeitgenössischen italienischen Politik­philosophie und -theorie entsprechenden entwickelt.

Die Genese eines europäischen Erinnerungsortes 97

li. Das Problem europäischer und transnationaler Erinnerungsorte

Die Gedächtnis- und Erinnerungshistoriographie ist nicht im Ganzen und im Detail zu überblicken. 12 Man kann aber wohl grob drei Haupt-Objekt- und Reflexionsfelder ausmachen: chronologisch am Anfang stand vielleicht der methodische Aufschwung der 'Oral history' in den 1970em, als man die Ge­schichte der Vielen, die persönlichen, pluralen Perspektiven 'von unten' auf die Geschichte und damit ein Bild des kollektiven Gedächtnisses einfangen wollte. 13 Es folgte der Komplex der Gedächtnis- oder Erinnerungsort­Geschichte die mit Pierre Noras Unternehmung zu den französischen lieux de memoireseinen Anfang nahm und bei denen schon ein spezifisches Verständ­nis der Arbeiten von Maurice Halbwachs im Hintergrund stand. Die lieux de memoire fanden alsbald in mehreren europäischen Ländern Nachfolgeprojekte und Adaptationen. 14 Drittens geht es um die Gedächtnis- und Erinnerungstheo­rie, die nach Halbwachs die überzeugendsten und zumindest im deutschspra­chigen Raum durchsetzungsstärksten Vertreter in Jan und Aleida Assmann ge­funden hat. 15 Diese Theoriediskussionen sind im Objektbereich oft stark an die historiographische Erfassung der Erinnerung an traumatische Ereignisse ge­knüpft, allen voran und sehr dominant der Shoah. 16 Auch das erinnerungs- oder

12 Vgl. für einen Überblick Astrid Erll: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen. Eine

Einführung, Stuttgart 2005. 13 Vgl. nur Dorothee Wierling: Oral History, in: Michael Maurer (Hg.): Aufriß der Historischen

Wissenschaften, Bd. 7: Neue Themen und Methoden der Geschichtswissenschaften, Stuttgart 2003, S. 81-151, hier S. 97-105 zum kollektiven Gedächtnis als Untersuchungsobjekt der Oral

History. 14 Vgl. nur Pierre Nora: L'ere de Ia commemoration, in: Ders. (Hg.) : Les lieux de memoire,

3 Bde., Paris 1992 (zuerst 1984-1988), Bd. 3, S. 977- 1012; Etienne Fran~ois : Ecrire une histoire des lieux de memoire allemands: pourquoi ? comment ?, in: Marie-Eiizabeth Ducreux (Hg.): Enjeux de l'histoire en Europe Centrale, Paris 2002, S. 251-264; Winfried Schulze: Ortsbesichtigung: Deutsche Erinnerungsorte, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 54 (2003), S. 608-613 (mit Nachweis der italienischen, niederländischen, dänischen und Öster­

reichischen Folgeprojekte): 15 Jan Assmann: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen

Hochkulturen, München 1992; Aleida Assmann: Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses, München 1999; Paul Ricc:eur: La memoire, l'histoire, l'oubli, Paris 2000; dazu die Beiträge in Bertrand Müller (Hg.): L'histoire entre memoire et epistemo­logie. Autour dc Paul Ricc:eur, Lausanne 2005. Johannes Fried: Der Schleier der Erinnerung. Grundzüge einer historischen Memorik, München 2004 entwickelt eine 'Memorik', die die neurologische Gedächtnisforschung in die Kulturgeschichte methodisch einholen will.

16 Vgl. etwa Bemhard Giesen: National ldentity as Trauma: The German Case, in: Bo Strath (Hg.): Myth and Memory in the Construction of Community. Historical Patterns in Europe and Beyond, Brüssel 2000, S. 227-247; Dominick LaCapra: History and Memory after Auschwitz, Ithaca N.Y. 1998; Ulrich Baer (Hg.): 'Niemand zeugt für den Zeugen' . Erinne­rungskultur und historische Verantwortung nach der Shoah, Frankfurt!M 2000.

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gedächtnis-ethische Problem, welches eine angemessene und gerechte Erinne­rungspolitik sei, spielt immer wieder eine Rolle bis hin zur Diskussion um die Pflicht zur Erinnerung vs. das Recht auf ein Vergessen (droit a l'oubli). 11

Wenn man sich jenseits der Frage der Reichweite von "traumatischen" Erinnerungselementen durch die Zeit, die vielleicht im Hinblick auf die Fra­ge nach der "Schuld" an der Bartholomäusnacht heute letztlich weniger bri­sant scheint, auf die andere Frage nach der Möglichkeit von transnationalen bzw. dann spezifischen europäischen Erinnerungsorten konzentriert, ist hier zunächst die vielfältige methodische Kritik an den nationalen Erinnerungsort­Projekten einschlägig: Sowohl für die französischen wie für die deutschen und italienischen Erinnerungsorte 18 wurde etwa hervorgehoben, dass sie- die einen erklärt politischer, die anderen verdeckter- letztlich doch den Rahmen der Nation fortschreiben, den Mythos, den sie (teilweise) vorgeben, in einer Geschichte zweiter Ordnung dekonstruieren zu wollen, lediglich in unge­wohnter Häppchenauswahl weitertradieren. 19 Es wurde auf die willkürliche Auswahl, im Hinblick auf Deutschland auf das Fehlen föderaler, regionaler, lokaler und konfessionell diverser Perspektiven, auf die "männliche Prägung des Konzeptes", auf die starke zeitliche Prioritätensetzung im 19. und 20. Jahrhundert sowie immer wieder auf den eher bildungsbürgerlichen Aus­wahl- und Adressatenhorizont und die Vernachlässigung der Erinnerung der Leute von der Straße, der Arbeiter, Minderheiten, der Einwanderer, kurzum das Fehlen eines Einholens der multiplen, oft emotional konträren oder ge-

17 Tzetvan Todorov: Les abus de Ia memoire, Paris 1995 I 1998, S. 24; Sarah Gensburger I Ma­rie-Claire Lavabre: Entre 'devoir de memoire' et 'abus de memoire' : La sociologie de Ia me­moire comme tierce position, in: Müller (Anm. 104), S. 75-96, insbes. S. 77-83 ftir einen kur­zen Einblick in die französische Diskussion über die "Pflicht des Erinnerns", welche seit den 1990ern in ganz Frankreich diskutiert wurde, wozu beitrug, dass 1993 dieses Thema Gegen­stand der nationalen Abiturprüfung war.

18 Der Vergleich, den Constance Carcenac-Lecomte: Auf den Spuren des kollektiven Gedächt­nis. Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen den 'Lieux de memoires ' und den 'Deut­schen Erinnerungsorten', in: Jan Motte I Rainer Ohliger (Hg.): Geschichte und Gedächtnis in der Einwanderungsgesellschaft Migration zwischen historischer Rekonstruktion und Erinne­rungspolitik, Essen 2004, S. 121-130 vornimmt, ist weitgehend unkritisch.

19 Winfried Speitkamp: Alles, was man erinnern muß. Anmerkungen zu den ,Deutschen Erinne­rungsorten', in:Hessisches Jahrbuch filr Landesgeschichte 52 (2002), S. 225-242, hier S. 235. Ähnlich die Kritik bei Friedrich Lenger: Geschichte und Erinnerung im Zeichen der Nation. Einige Beobachtungen zur jüngsten Entwicklung, in: Günter Oesterle (Hg.): Erinnerung, Ge­dächtnis, Wissen. Studien zur kulturwissenschaftlichen Gedächtnisforschung, Göttingen 2005, S. 521-535. Auch das italienische Pendant (Mario Isnenghi (Hg.): I luoghi della memoria (dell 'Italia unita], 4 Bde., Rom-Bari 1996/97) rekonstruiert Erinnerungsorte der nach 1860 be­stehenden Nation Italien.

Die Genese eines europäischen Erinnerungsortes 99

spalteneo Erinnerungen im Hinblick auf den einen "locus" hingewiesen.20

Tatsächlich gibt es Multiperspektivität immer in allen sozialen Gruppen, in­nerhalb und jenseits von Nationen, aber auch innerhalb und jenseits jüdi­scher, türkischer, osteuropäischer, hugenottischer Minoritäten oder Exulan­tengruppen. Insofern man überhaupt die Grundannahme und Grundheuristik teilt, dass "Gruppen" oder "soziale Räume" kollektive Gedächtnisse in meta­phorischer Hinsicht "haben", ist mit der vom Beobachter-Historiker implizit oder explizit gezogenen Gruppengrenze ein Innen und ein Außen vorgege­ben. Im Abtasten der Quellen bei der (Re)konstruktion der Gedächtnisarbeit dieser Gruppe (re)produziert der Historiker zwangsläufig die Innen/Außen­Grenze dieser Gruppe bzw. dieses sozialen Raums gegenüber äußeren und enklavierten Individuen und Gruppen, die nicht das gleiche Gedächtnis tei­len. Wie bei jeder hermeneutischen Prozedur kann dabei die Gefahr auftre­ten, die heuristische Vorannahme - dass es also diese oder jene distinkte Gruppe mit diesem oder jenem distinkten Gedächtnis gebe - zu starr zu hal­ten, so dass im Ergebnis das gesamte Verfahren kognitiv tautologisch und politisch-ethisch affirmativ ausfällt. Dies gilt aber, wie erwähnt, genauso für die Rekonstruktion von "National"-Gedächtnissen wie von Migrantenge­dächtnissen, ja auch von einem präsupponierten "globalen Gedächtnis"; auf der "guten Seite" ist man hier nie ohne Weiteres.21 Dementsprechend gilt auch für die Frage nach europäischen Gedächtnisorten und einer eventuellen Praxis ihrer Geschichtsschreibung, dass natürlich der Verdacht naheliegt, mit der Suche nach solchen Orten des Gedächtnisses von "Europa" politisch­ethisch einem latenten Europa- oder gar EU-Lobbyismus zuzuarbeiten und kognitiv eine Abgeschlossenheil und Kohärenz dieses Europas als geographi­schen oder kommunikativen Raums zu suggerieren, obwohl gegebenenfalls latent wieder nur bestimmte Bewusstseine (etwa schreibender Eliten) be­trachtet werden. Da man aber, wie mir scheint, diesen Problemen nie gänz-

20 Speitkamp (Anm. 108), S. 240-242; Schulze (Anm. 103), S. 610 f. ; Bea Lundt: Einleitung, in: Dies. (Hg.): Nordlichter. Geschichtsbewußtsein und Geschichtsmythen nördlich der Eibe, Köln u. a. 2004, S. 1-26, hier S. 6-14; Nicole L. Immler: 'Gedächtnisgeschichte'- Ein Ver­gleich von Deutschland und Österreich in Bezug auf Pierre Noras Konzept der lieux de memoire, in: Ian Foster I Juliet Wigmore (Hg.): German Monitor. Neighbours and Strangers. Literary and Cultural Relations in Germany, Austria and Central Europe since 1989, Amster­dam/New York 2004, S. 174-196, hier S. 174-184.

21 Ob ein Leitbcgriff "Hybridität", "welcher das auch krisenhafte Nebeneinander von Kulturen und ihre Differenz beschreibt, die Dichotomie von Zentrum und Peripherie aufhebt und die Grenze als Übergang und die Vielheit als Differenz denkt" (lmmler (Anm. 109), S. 180), wirklich noch eine konturenscharfe Heuristik benennt, oder ob er nicht als Gegenfolie zu ei­ner Vielzahl heterogener, abgelehnter Muster eine Art Summe verschiedener political­correctness-Postulate ist, die notwendig immer auch neue Ausschlüsse mit sich führt, wird sich erweisen.

100 Comel Zwierlein

lieh entgeht, wenn man überhaupt Gedächtnisgeschichte schreiben, und nicht nur über ihre Theorie reflektieren will, gilt es weiter im Speziellen danach zu fragen, ob es europäische Erinnerungsorte gibt, und wie sie aussehen könn­ten. Diese Frage wird schon seit einiger Zeit gestellt, hat aber noch kaum be­friedigende Antworten erfahren. 2002 fand am DHI London eine Konferenz unter dem Titel ,The european lieux de memoire' statt.22 Im Wesentlichen wurden hier nur die jeweiligen nationalen Erinnerungsort-Unternehmungen vorgestellt, europäische Geschichte also als Summe der einzelnen National­geschichten; in der Debatte zum Problem wurde die Sorge vorgetragen, dass , Osteuropa' von einer latent , westeuropäischen' Konzeption oder die kleine­ren Länder von den größeren in der Erinnerungskultur dominiert werden könnten. Überhaupt herrschte Skepsis, ob es überhaupt ein gemeinsames eu­ropäisches, kollektives Gedächtnis gegeben hat und gibt,23 eine Skepsis, die etwa auch Jacques Le Rider oder Henry Rousso teilen?4 Letzterer geht davon aus, dass es, wenn überhaupt, europäische Erinnerungsorte erst seit 1945 im Zusammenhang mit der europäischen Einigung und dem Entstehen von Insti­tutionen, die offizielle europäische Erinnerungsfeste festlegen, geben könne. Für den Zeithistoriker Rousso kommen dann nur Holocaust und Auschwitz als vielleicht einzige gemeineuropäische (negative) Gründungsmythen und damit Erinnerungsorte in Frage, alle anderen Erinnerungen seien stets eher national gerahmt.25 Auf einer weiteren Tagung am lEG Mainz wurde das Problem weiter diskutiert. Die oft nur implizite methodische Grundannahme war dabei meist, wie offenbar auch bei Rousso, dass . europäische Erinne­rungsorte konstitutive Faktoren einer spezifisch europäischen Gedächtnis­kultur, also für eine Buropaidentität sein müssten; es wurde hier unaus­gesprochen eine Art Europanationskonzept in struktureller Übertragung der nationalen Erinnerungsortheuristik gesucht und anvisiert. Peter Funke, Jean­Pierre Moeglin, Bernd Schneidmüller, Robert Evans und Günther Lottes fahndeten nach bestimmten Konzepten, Strukturen oder Ideen, die gemeineu­ropäische Grundkonstanten wären - also etwa die attische Demokratiekon­zeption und ein föderales Staatenbunddenken für die Antike, die christiani-

22 Benedikt Stuchtey, Bericht zur Tagung ,.European Lieux de memoire", German Historical In­stitute London, 5.-7. Juli 2002, in: GHIL-Bulletin 24 (2002), H. 2, S. 121-125, hier S. 124, on­line unter URL: <http://www.ghiLac.uk/bullbu2002_no2.pdf> (gesehen am 2.4.07).

23 Vgl. Immler (Anm. 109), S. 186-188. 24 Jacques Le Rider: Mittel- bzw. Zentraleuropa und Österreich als imaginäre Gedächtnisorte der

europäischen Identität, in: Moritz Csäky I Peter Stachel (Hg.): Die Verortung von Gedächtnis, Wien 2001, S. 139-150, hier S. 144.

25 Vgl. Henry Rousso, Das Dilemma eines europäischen Gedächtnisses, in: Zeithistorische For­schungen/Studies in Contemporary History, Online-Ausgabe, I (2004), H. 3, Abschnitt 4-7 (<http://www .zeithistorische-forschungen.dell6126041 -Rousso-3-2004>, gesehen 29.3 .06).

Die Genese eines europäischen Erinnerungsortes 101

tas, der orbis latinus und das Imperium romanum für das Mittelalter, Gläubi­ge, Adel und Gelehrtenkultur als konstante Erinnerungsgemeinschaften der Frühen Neuzeit. Weiter suchte man nach einem Gefühl, zu Europagehörig zu sein, nach Buropabegriffen und Europaplänen.26 Etwas andere Akzente wer­den in der Österreichischen Gedächtnisgeschichte gesetzt, wo etwa darauf hingewiesen wird, dass Nationalisierungsprozesse von Erinnerungsgemein­schaften oft in eine Dialektik von trotzdem gleichzeitig zunehmenden inter­und transnationalen Verflechtungsvorgängen eingebettet sind und dass oft gleichzeitig neue, dezidiert nicht- und transnationale Konzepte und Identitä­ten entstehen. 27 Vor dem Hintergrund dieser noch nicht sehr dichten Diskus­sion zur Existenz und Möglichkeit von europäischen Erinnerungsorten möch­te ich meine eigene Sichtweise in sieben Thesen formulieren und dann anhand der Bartholomäusnacht skizzenhaft exemplifizieren:

I) Europäische Erinnerungsorte haben nichts, jedenfalls nie notwendig etwas mit der Wort- oder Begriffsgeschichte von ,Europa' zu tun. Mythos, Idee und Pläne von ,Europa' sind nur einer von vielen möglichen europäischen Erinnerungsorten.

2) Sie dürfen auch nicht als Set von Idealtypen europa- oder okzidentspezifischer Kon­zepte und Praktiken von Herrschaft, Wirtschaft oder Kultur verstanden werden.

Vielmehr

3) sollte man mit der Suche nach europäischen Erinnerungsorten dezidiert eine bestimmte Sub-Heuristik des erinnerungs- oder gedächtnishistorischen Ansatzes verbinden, bei der solche ge~ebenenfalls existenten Gemeineuropäizitäten und ihre Ausbildung (,Europäisi­sierung') nur als Rahmenbedingungen ftir die Evidenzverteilung, die Zirkulation, die Formung, Phasen und Umsemantisierungsprozesse bestimmter Erinnerungsorte in Europa

figurieren.

4) Ist ein europäischer Erinnerungsort demnach ein solcher, der in einem geographischen Raum Europas weit verbreitet über einen langen Zeitraum als sinnstiftender Bezugspunkt (lokal und zeitlich unterschiedliche) Bedeutung hatte, d. h., a) ein locus (realer Ort, Name, Person, Phänomen, Ereignis) von einiger Wichtigkeit nicht notwendig mit örtlich europäischem Ursprung b) mit sich gegebenenfalls änderndem ,symbolischem Überschuss'

26 Jahrbuch flir Europäische Geschichte 3 (2002). 27 Als praktische Beispiele sind dabei besonders überzeugend Jacques Le Rider: ,Athen an der

Donau ' !800 bis 1900: Archäologie eines Gedächtnisortes, in: Jacques Le Rider I Moritz Czäky I Monika Sommer (Hg.): Transnationale Gedächtnisorte in Zentraleuropa, Innsbruck 2002, S. 141-162; Sylvie Arlaud: Shakespeareund die elisabethanische Kultur als Gedächtnis­ort der Modeme, ebd., S. 163-190.

28 V gl. ftir eine thetische Skizze zum so verstandenen Europäisierungsprozess Zwierlein {Anm. 99), S. 797-801.

102 Comel Zwierlein

c) auf den etwa vom Spätmittelalter bis heute in (sehr) vielen Regionen eines offen zu de­finierenden geographischen Orts Buropa immer wieder Bezug genommen wurde. Wie weit man die geographischen Grenzen dabei zieht, ist eine pragmatisch und nicht ideolo­gisch zu handhabende Frage.

5) Die Aufgabe des Historikers besteht dann nicht darin, einfach einen europäischen Erinnerungsort mit einer Bedeutung zu finden und zu definieren, sondern es geht immer darum, unterschiedliche Phasen von wiederum innerhalb der Phasen lokal bzw. gruppen­bezogen verschiedenster Bedeutungszuschreibungen für den jeweiligen Erinnerungsort nachzuzeichnen. ,Europäisch' ist der Erinnerungsort nur durch seinen Verbreitungsgrad ,in Europa' und seinangesichts dieser Verbreitung offenbar bestehendes Bedeutungspo­tenzial und seine Fähigkeit, entlang des Ablaufs des Europäisierungsprozesses Kristalli­sationspunkt und Prisma ftir bestimmte Sinn-Bedürfnisse zu sein.

6) Dies impliziert, dass ein europäischer Erinnerungsort nicht notwendig für alle Europä­er aller Zeiten, Gruppierungen und Schichten überhaupt oder gleich wichtig war. Viel­mehr bezieht ein solcher Ansatz als Rahmen- und Vorbedingung für eine europäische Er­innerungskultur gerade die (religiöse, ethnische, nationale ... ) Pluralität/Pluralisierung dieses Europas nicht als Abweichungs- und Ausschlussproblem gemeinsamer Erinne­rung, sondern als Konstituente. mit ein - auch wenn es unbestritten dominantere und pe­riphärere Gruppen, Sinnsysteme etc. gegeben hat. Der Ansatz impliziert weiter, dass es Konjunkturen der Erinnerung gibt, dass insgesamt oder in einigen Regionen und Gruppen manche Erinnerungsorte lange Zeit zentral waren, dann aber an Bedeutung verloren; das macht sie aber für einen Historiker nicht dignitätslos, so lange man nicht als einzige mög­liche Gesellschaft, die es zu untersuchen gelte, immer die gegenwärtige prämiert. Der Ansatz impliziert auch, dass so mancher nationaler Erinnerungsort auch eine Dimension als europäischer Erinnerungsort besitzt und im Übrigen mit Fortschreiten des Globalisie­rungsprozesses einige solche Erinnerungsorte wiederum eine globale Fortsetzung gefun­den haben und finden.

7) Schließlich ist der heuristische Status von ,.Erinnerungsorten" zu betonen: die Frage nach ihrer Existenz oder Nicht-Existenz (,ist das wirklich ein wichtiger Erinnerungsort?') mag sonst zu leicht ontologisch missverstanden werden und zu fruchtlosen Streiten füh­ren; letztlich wird man noch Wahrnehmungen von prima facie höchst ephemeren Ereig­nissen, Phänomenen, Gedanken und Objekten in diversen europäischen Regionen aufspü­ren können, weil die Rekonstruktion des Erinnerungsortes letztlich dem Eintauchen der Prüfsonde in den Materialbereich gleichkommt. Eine andere Frage wäre, welches die wichtigsten europäischen Erinnerungsorte seien - ihr könnte man nur mit einer metho­disch wohl überlegten empirischen Sondierung beikommen, ganz ohne Wertungen und Willkür würde aber auch eine solche Auswahl nicht auskommen.

Mit diesen Thesen wird deutlich, dass bei einer Frage nach dem europäischen Erinnerungsort ,Bartholomäusnacht' die in der gegenwärtigen Forschung wie­der heftig diskutierte Ablauf- und Schuldfrage von geringer Relevanz ist, hin­gegen ist die von Crouzet, allerdings mit anderen Zielen, wieder deutlich ge­machte Pluralität der zeitgenössischen Wahrnehmungen, der Zeugnisse und Deutungen fruchtbar zu machen, wenn man konsequent die multiple Wahr-

Die Genese eines eu~opäischen Erinnerungsortes 103

nehmung und Bedeutungszuschreibung in den unterschiedlichen regionalen und sozialen Kontexten gar nicht als Problem bei der Rekonstruktion des ei­gentlichen Handlungsablaufes betrachtet, sondern als Ausgangsensemble von Perspektiven, die dann für die spätere Entwicklung der Erinnerung an die Bar­tholomäusnacht in der Diachronie das Fundament abgab.

III. Der europäische Erinnerungsort ,Bartholomäusnacht'

In der Entwicklung des europäischen Erinnerungsortes ,Bartholomäusnacht' kann man grob vereinfachend drei Phasen ausmachen: Eine Phase, an deren Beginn die unmittelbar zeitgenössische Wahrnehmung und Diffusion von In­formationen sowie die Publikation der allerersten, 'spontanen' Memorial- und Interpretationsliteratur über das Ereignis in Buropa steht, die etwa in den Jah­ren 1572 bis 1579 stattfand. Diese Texte, oft ausgeschrieben, kopiert, umredi­giert, bestimmten dann die Erinnerungskultur an das Ereignis bis mindestens etwa um 1600/1610, oft auch noch bis weit ins 18. Jh. Auf ihre Darstellung wird daher hier auch der Schwerpunkt gelegt, weil die nachfolgenden Phasen sich eher als Selektionen und Umsemantisierungen aus den im 16. Jahrhundert angelegten Erinnerungsmaterialien und -Strukturen erweisen. Eine zweite Pha­se umfasst in etwa das ganze 17. Jahrhundert, an dessen Anfang nacheinander eine Reihe von speziellen und universellen Geschichtskompendien stehen, die ab nun zunehmend das europaweite Gedächtnis an die Bartholomäusnacht prä­gen; in gewisser Weise 'überschreiben' die Texte dieser zweiten Phase die der ersten, nicht ohne selektiv diese selbst als Quellen zu benutzen. Eine dritte Phase lässt sich inhaltlich wie zeitlich in der Aufklärungsepoche ansetzen.

1. Die Phase der ersten Wahrnehmung und der ersten Interpretations­literatur (bis um 1600)

Nachrichten von der Bartholomäusnacht zirkulierten alsbald in privaten Brie­fen, in mündlichen Berichten von Augenzeugen, vor allem aber in handschrift­lichen und gedruckten Zeitungen.29 Nur wenige dieser Aktualitätsmedien wei­sen sofort eine starke interpretative Rahmung auf, zunächst herrscht das pure

29 Zum Medienwandel im 16./17. Jh. vgl. Wolfgang Behringer: Im Zeichen des Merkur. Reichs­post und Kommunikationsrevolution in der Frühen Neuzeit, Göttingen 2003, S. 303-436; zu den handschriftlichen Zeytungen vgl. Zwierlein (Anm. 99), S. 243-272, 557-610, jeweils mit weiterführender Literatur. Zur Wahrnehmung der Bartholomäusnacht in den italienischen handschriftlichen avvisi vgl. Pierre Hurtubise: Comrnent Rome apprit Ia nouvelle du massacre de Ia Saint-Barthelemy. Contribution i\ une Histoire de l'information au XVle siede, in: Ar­chivum Historiae Pontificiae 10 (1972), S. 172-209.

104 Comel Zwierlein

Erstaunen, der stupor über die unglaubliche Tat in den Verschriftlichungen vor. Lediglich taucht sofort (schon in Zeytungen vom 30. August aus Antwer­pen) die Sizilianische Vesper von 1282 als das einzige , universal' -historische Ereignis auf, das im kollektiven Gedächtnis eine solche Massentötungs-Dimen­sion erreicht hatte. 30 Diese Verbindung Sizilianische Vesper-Bartholomäus­nacht bleibt bis ans Ende der Frühen Neuzeit erhalten,31 ein näherer Vergleich der Verlaufsmuster der beiden historischen Gewalttaten findet aber nicht statt: vielmehr zeigt sich hier nur, dass in den Kommunikationen des August/Sep­tember 1572 automatisch im kollektiven Gedächtnis die Erinnerung an die schwerste bislang bekannte, nicht kriegsbedingte Tötung von Menschen durch Menschen aktiviert wurde, damit aber zugleich zur ,Überschreibung' durch die Bartholomäusnacht bereitstand: Diese wurde nun zum Archetypus des Massa­kers der Neuzeit. Zeitungsschreiber und Kommentatoren weisen darauf hin, dass die Bartholomäusnacht im Alltagsgespräch sofort sprichwörtlichen Cha­rakter in Europa bekommt: man fürchtete sich nun vor einer ,französischen Ma­tuttin' , vor einer französischen Bluthochzeit, vor einer Politik ,a Ia fran~aise';32

30 " [ ... ) et gia e venuto in prouerbio il mattutino parisiense il qua! forse sara piu celebre, ch'il Vespro Siciliano [ ... ]" (avviso, s.d. , ÖNBW Cod. 8949, f. 343v); " ( ... ] sollen jn fin ob 3 m[ille) Persoen vmbbracht worden sein, darunder all die fumembste von seiner gesellschafft [ ... ) vnd in fin ain vesper Siciliana gewest sein, dennassen dz den Hugenotten jn Franckreich dardurch yr halt auch den goesen in diser landen [=Niederlande] di vligel wo! beschnitten [ .. . ]" (Zeytung aus Antwerpen, 30.8.1572, ebd., f. 345R); in einem avviso aus Rom, 6.9.1572, wird als Ziel der vermeintlichen Verschwörung der Hugenotten, die der König in der Bartho­lomäusnacht niedergeschlagen habe, ein "vespro siciliano" angegeben (ebd., f. 351R-v text­gleich mit BNF Paris Ms.ital. 489, f. 194R); "[ ... ] Jn fin diese vespra Sicilliana wirtt doch wie E.G. vermelden durch gantz franckreich passieren[ .. .)" (Zeytung aus Antwerpen, 27.9.1572, ÖNBW Cod. 8949, f. 359R); wohl im Nachklang solcher Zeytungstexte bewertet Herzog Alb­recht von Bayern im Brief an Kaiser Maxirnilian li. aus Landshut, 10.9.1572, die Bartholo­mäusnacht als "sizilianische Vesper", die positive Auswirkungen ftir niederländischen "Hän­del" habe (Waller Goetz (Hg.): Beiträge zur Geschichte Herzog Albrechts des Fünften und des Landsherger Bundes, München 1898, S. 800); in einem gedruckten Avviso ebenso: "[ ... )si poteua (come si puo) dire notre Francesa si come fu quel altro detto Vespro Ciciliano perehe occorse circa l'hora di Vespro." (Svmmario di tvtto il svccesso della notte francesa, Ocorso nel Regno della Franza intomo Ia grande occisione fatta per sua Maesta Christianissima [ ... ], Brescia 1572 [fehlt im CNCE], f. A2v); ebenso bei Innocent Gentillet Regentenkunst I oder Fürstenspiegel.[ ... ], übers. Georg Nigrinus, Frankfurt!M 1580, f. 92v-93R

31 Vgl. nur das Gedicht "De rebvs gallicis, experimentum", das den Vergleich der Massaker dur­chspielt in Ternio epistolarvm de nvptiis parisiensibvs, cvm aliis qvibvsdam similis argvmenti ob memoriam secvlarem rei gestae denvo editvs ex mvsaeo Christian-Friderici Frankensteins, s.d. [VDI7 12:1239590, erstmals 1672], S . 98 f. sowie die Exzerpte 'Vesperarvm sicvlarvm Historia, ex Thomae Fazelli Dec. poster. L.IIX. c. IV ', ebd., S. 102-112.

32 Zum Vertrauensverlust der französischen Krone direkt im Anschluss an die Bartholomäus­nacht bei den deutschen Protestanten vgl. nach wie vor Waller Platzhoff: Frankreich und die deutschen Protestanten in den Jahren 1570-1573, München!Berlin 1912, S. 57-79.

Die Genese eines europäischen Erinnerungsortes 105

und tatsächlich bleibt diese Sprichwörtlichkeil im religionspolitischen Kontext für einige Jahrzehnte stets in den kollektiven Gedächtnissen verhaftet.

Weiter kann man in den ersten Jahren und Jahrzehnten unterschiedliche Wahrnehmungs- und Erinnerungsmuster in den verschiedenen konfessionel­len Kulturen (a) und in den verschiedenen Regionen Europas (b) ausmachen.

(a) Allen voran ist für den transnationalen Calvinismus die Bartholomäus­nacht ein traumatisches Ereignis, das jährlich erinnert wird. Flugschriften, Predigten und andere Texte calvinistischer Provenienz ordnen das Geschehen oft in den Rahmen einer typisch reformierten Geschichtstheologie ein: Hier wird die Bartholomäusnacht zum brutalen Endpunkt einer Phase der Ausdeh­nung des Lichts der Wahrheit in der Welt; wenn man anstrebte, das Reich Christi hier auf Erden soweit möglich wieder zu etablieren, gegebenenfalls soweit, wie es bei den Drehristen und unter den christlichen Kaisern bis ins 4. Jahrhundert schon einmal gelungen war, so zeigt sich nun nach dem Schock der Bartholomäusnacht mit ihren Konversions- und Zerstreuungsfol­gen,33 dass dieser Expansionsbewegung des Lichts nun ein Ende gesetzt ist; im Kampf mit dem Antichristen, der in der calvinistischen Kosmologie stets andauert und insoweit weniger auf das konkrete aktuelle Zeitalter heraus­gehoben apokalyptisch ist als im lutherischen Bereich, war hier ein entschei­dender Schlag empfangen worden.34 Die calvinistische und speziell die hugenottische Identität formt sich nun immer mehr in einer Art Wagenburg­mentalität nach dem Konzept einer Minderheit, als "petit troupeau" auf einer Art zweiten Arche Noah, wie es ein Meditationstext Daniel Toussains formu­liert, die durch die Sintflut und das Chaos der Welt steuern muss: die Bartho­lomäusnacht wird als Strafe Gottes wie die Sintflutkatastrophe für die von zu wenigen Pfarrern betreute Gläubigenschar, für zu schlechte Disziplin, für ei­ne fleischliche Allianz mit den Feinden eingestuft; seither straft Gott Frank­reich mit Kriegsunglück und Ruin auf allen Seiten.35 Die Bartholomäusnacht

33 Philip Benedict: Christ's Churches purely reformed. A Social History of Calvinism, New Ha­ven I London 2002, S. 353-383; bei Benedict sind allerdings die Exodus- und Exilsituationen der calvinistischen Minoritäten nicht zentral behandelt; Graeme Murdock: Beyond Calvin: The lntellectual, Political and Cultural World of Europe's Reformed Churches, Houndmills 2004, S. 32-39 akzentuiert das stärker.

34 V gl. zu diesem Geschichtsbewusstsein der Reformierten Cornel Zwierlein: Heidelberg und ,der Westen' um 1600, in: Christoph Strohm I Joseph S. Freedman I Herman J. Selderhuis (Hg.): Späthumanismus und reformierte Konfession. Theologie, Jurisprudenz und Philosophie in Heidelberg an der Wende zum 17. Jahrhundert, Tübingen 2006, S. 27-92, hier insbes.

s. 58-61. Jl Daniel Toussain: L' Arche de Noe, Traitte Necessaire En ce temps, Tant Pour Consoler Les

pavvres Fideles, de long temps agitez de diuerses tempestes, que pour les resoudre des mar­ques de Ia vrai Eglise: adresse et dedie aux Eglises reformees de Ia France, Heidelberg: Rollan

106 Comel Zwierh!in

fungiert hier als erster und herausstechender Erinnerungsort für die Märtyrer­identität der Gruppe,36 sie wird zu einer Art negativem, konfessionsidenti­tätsstiftendem Mythos, Coligny ist ihr heiliger Held, dessen tragisches Ende auch dramatisiert wird.37 Calvinistische Kalender führen nun neben und statt liturgischer und Heiligen-Tage zum einen Ereignisdaten aus dem Alten Tes­tament (man identifiziert sich mit dem Volk Israel),38 zum anderen Ereignis­daten aus der französischen und niederländischen Religionskriegsgeschichte und hier ist der 24. August nun eines der wichtigsten Daten. Im 17. und 18. Jahrhundert kommen wenig neue Ereignisse hinzu, das hugenottische Gedächtnis wird identitär gerade auf diese "heroische" Kampfzeit der Religi­onskriege und auf den Kulminationspunkt des Märtyrergedenkens der Bar­tholomäusnacht eingefroren.39 Mit diesem Gedächtnis-Denkrahmen ist eng das Verschwörungsmotiv verbunden: den Hugenotten galt im konfessionalis­tischen Denkmuster die Bartholomäusnacht als Beweis für und zugleich

P. 1596 [fehlt im VDI6; Nachdruck 1597 im Anhang von VDI6 Tl709 sowie bei [Simon Goulart] : Le sixiesme et demier recveil contenant !es choses plvs memorables avenves sovs Ia Ligue, depuis Je commencement de !'an M.D.XCIIII. iusques a Ia paix accordee entre les Rois de France & d'Espagne, I' an M.D.XCVIII., s.l., 1599, S. 397-462, hier S. 410: "Dieu iuste iuge, & punisseur de nos offenses enuoya cest espouuantable resueillematin au iour de Ja S.Barthelemi, I' an 1572. depuis lequel temps, a cause des barbares cruaultes des ennemis, & de I' impenitence des nostres, Je Dieu des annees n' a cesse de foudroyer sur Ia France, tant sur les vns, que sur les autres: Car ~a este si peu de chose des trefues & edits de paix bastis des­puis, & trauersez tout aussi tosten mille sortes, qu 'on peut bien conter Ia ioumee S. Barthele­mi pour Je commencement de Ia maladie mortelle, qui conduit Ia Franc de petit a petit au cer­ceuil." - Toussain malt diesen Niedergang und Totalruin einer Gesellschaft "sans loy, sans foy, sans police" aus. In dieser Situation gibt es als Rettung nur den Rückzug des "petit trou­peau", der kleinen, aber auserwählten Schar der Erwählten in die metaphorische Arche Noah als der Inkarnation der Kirche.

36 Vgl. Brad S. Gregory: Salvation at Stake. Christian Martyrdom in Early Modem Europe, Cambridge/Mass. 1999; David EI Kenz: Les bOchers du roi. La culture protestante des martyrs (1523-1572), Paris 1997: Das protestantische 'Märtyrer'-Gedenken gab es schon zuvor und fand in der ,Histoire des martyrs ' Jean Crespins von 1554, die später ständig erweitert wurde, nur eine Ausdrucksform; Christian Grosse: ,L'office des fideles est d'offrir leur corps a Dieu en hostie vivante'. Martyr, sacrifice et priere liturgique dans Ia culture reformee (1540-1560), in: Siebenhüner I Greyerz (Anm. 98), S. 221 -247.

37 Theodor Rhode: Colignius, in: Ders.: Dramata Sacra. Ad exemplum Veterum. Partim recogni­ta, partim noviter edita, Frankfurt/M 1615.

38 V gl. zur in die gleiche Richtung zielenden Identifikation der zu schaffenden oder zu erhalten­den Staatsgebilde insbesondere im oberdeutsch-refonnierten, dann calvinistischen Bereich mit der Respublica hebraeorum Lea Campos Boralevi I Diego Quaglioni (Hg.): La Politeia bibli­ca, Florenz 2002 (= II pensiero politico 35, 3 [2002]); ftir das im Ausgangspunkt ganz paralle­le puritanisch-englische Beispiel vgl. William Haller: Foxe's Book of martyrs and the elect nation, London 1963.

39 Max Engammare: L'Ordre du temps : L' lnvention de Ia ponctualite au XVI" siede, Geneve 2004, s. 127-179.

Die Genese eines europäischen Erinnerungsortes 107

schlimmster Erfolg der großen antichristlichen, papistischen Verschwörung von Spanien, ultrakatholischen Franzosen, Bayern, Savoyern und dem Papst. Das Verschwörungsinterpretament zirkulierte schon früher bei den Refor­mierten, kam hier aber zum Durchbruch, entsprechende Flugschriften mit dem Titel "Conspiratio pontifica" hatten Hochkonjunktur.40 Die wichtigsten Beschreibungen der Bartholomäusnacht und ihrer Protagonisten wurden in etliche Sprachen übersetzt41 und wurden eifrigst von den "Religionsverwand­ten" von Ungarn, Polen, Böhmen und Mähren über Deutschland nach Eng­land und natürlich der Schweiz42 immer wieder mit Emotionen des Schocks, der Angst, der Trauer, des Leidgedenkens und des Zorns über die "Täter" ge­lesen, wovon etliche handschriftliche Leserückstände auf Büchern aus refor­miertem Besitz z. B. von Zerbst43 über Emden44 bis nach England45 zeugen.

40 Vgl. Penny Roberts: Huguenot Conspiracies, Real and Imagined, in Sixteenth-Century France, sowie Stuart Carroll: Vengeance and Conspiracy during the French Wars of Religion, in: Barry Coward I Julian Swann (Hgg.): Conspiracies and Conspiracy theory in Early Mod­em Europe. From the Waldensians to the French Revolution, Aldershot 2004, 55-70 und 71-86; Zwierlein (Anm. 99), S. 724-750.

41 Vgl. zu dieser ,Spitze des Eisbergs' der bekanntesten Flugschriften und Pamphlete zur Bar­tholomäusnacht die klassische Studie von Robert M. Kingdon: Myths about the St. Bartholo­mew's Day Massacres, 1572-1576, Cambridge!Mass. 1988.

42 V gl. die verschiedenen auf die Bartholomäusnacht bezogenen Nachrichten und Prognostica in der Wickiana. Barbara Bauer: Die Krise der Reformation. Johann Jakob Wicks Chronik au­ßergewöhnlicher Natur- und Himmelserscheinungen, in: Wolfgang Hanns I Alfred Messerli (Hg.): Wahrnehmungsgeschichte und Wissensdiskurs im illustrierten Flugblatt der Frühen Neuzeit (1450-1700), Basel2002, S. 193-236,231-234.

43 So besaß etwa der spätere Zerbster reformierte Pfarrer Samuel Fabricius aus Eisleben einen Sammelband (heute: BNF Paris Res 8 Z.Don. 594 (308)) mit [Fran~ois Hotman:] Gasparis Colinii Castellonii, magni qvondam Franciae Amirallii, Vita, s.l . [Geneve] 1575, Legenda S. Catharinae Mediceae Reginae Regni Gallici statum turbare conata est, stupenda eaque vera enarratio [ ... ], s.l. 1575 sowie Reveille Matin: Oder Wacht fru auf. Das ist. Summarischer/ vnd W arhafter Bericht von den verschinenenl auch gegenwärtigen beschwärlichen händeln in Frankreich[ .. . ], Edinburgh [i.e. Straßburg]l575 [=VD16 B 395). Zum ersteren Text vgl. Ni­cole Cazauran: Introduction, in: Discours merveilleux de Ia vie, actions et deportements de Catherine de Mecticis, Royne-mere, ed. Nicole Cazauran, Genf 1995, S. 1-54. Zu letzterem Text vgl. nur Kingdon (Anm. 130), S. 70-87, sowie Sydney Anglo: Machiavelli- The First Century. Studies in Enthusiasm, Hostility, and lrrelevance, Oxford 2005, S. 279 f. Fabricius notierte, offenbar mit Genugtuung, hinter die letzte Seite (nach p. I 16) des Reveille Matin, der in dieser Version mit einem Dialog zwischen Aletheia, Politicus, Historiographus und Phi­latheleius über Ronsards ,Franciade' (1572) und deren Interpretation als ein Anti-Tyrannen­Gedicht (!) endet und Auszüge aus ihr abdruckt, eine Beschreibung des gräuslichen, aus der Sicht des Religionsverwandten verdienten Todes des Tyrannen: "Mors Caroli Nonj - At rex Carolus Nonus in dies magis magisque morbo invalescente debilitatus impatiens diutumorum dolorum huc illuc in leto se volutans subinde Momorancium nominans et peromnes corporis meatus perpetuo sanguine stillans Iandern 30 May ipso die pentecostes regni sui 13 aetatis 24 anno animam cum ingenti sanguinis copiam evomuit juxta illud: Ad generum Cereris. Anno

108 Cornel Zwieriein

Es ist bekannt, dass die international und transkonfessionell rezipierte46 Mo­narchomachenliteratur zu einem guten Teil eine Reaktion auf die Bartholo­mäusnacht ist: mit Verweis auf tyrannische Handlungen solchen Ausmaßes war die bis dahin oft nicht überschrittene Schamgrenze der Legitimation eines Widerstands gegen die höchste weltliche Obrigkeit kein Hindernis mehr.47

Für den aggressiven Gegenreformationskatholizismus war die Bartholo­mäusnacht ganz spiegelverkehrt zur calvinistischen Erinnerungskultur das

1574."- Wie der Band aus Fabricius' Bibliothek, die eigentlich als Teil seines Nachlasses in die Francisceumsbibliothek Zerbst eingegangen ist, in die BNF Paris gelangte, ist unklar.

44 Auf seinem Exemplar der Catharinae Mediceae Reginae Matris, Vitae [ ... ] enarratio, s.l. 1575 [JALB Emden H.ist. 8° 160] notierte der Besitzer 1589 als Katharina von Medici starb eben­falls mit immer noch schwelendem Zorn "In obitum ejus [ ... ] extat Tetrastichon: Tres erebi fu­rias ne post hac dicis vates. I Addita nam priscis est Catharina tribus . I Quod si tres illas erebo dimitteret orcus, I Haec illi fuerit pro tribus una satis." - Ein anderer Leser merkt sich auf­merksam mit Marginalnotizen an [Fran~ois Hotman:) De furoribus gallicis, Warer vnnd Ein­feltiger Bericht/ [ ... ], Frankfurt!M 1573 [VD16 H5211, Ex. JALB Emden Theol. 4o 106, Beibd. 3] die erinnerungswürdigsten Gegenstände an: f. ait: "200. Religionsverwanten in ei­ner Predig ermord!." (zum Massaker von Wassy), f. aivR: "Betruglicher Friedt." (zum Frieden 1570), f. bivv "die Statt Pariß ist dem Admiral vnnd dene von der Religion vfsetzig", f. eiiv: "Das Metzgen in Pariß den 24. Augustj.", f. eii/: "Post in die Prouinzen geschickt, dz sie dem Parisischen Gemezel nachfolgen.", "Der König schreibt an die außlendischen herre, dz jhm dieser Mord des Admirals nit gefalle", "Der König erklert sich im Parlament, dz er den Admi­ral vmbzubringen beuolen." usw.- ähnliche Notizen auch im Nachdruck der lateinischen Fas­sung von 1619 desselben Werks [JALB Emden Hist. 8° 212).

45 V gl. Lisa Ferraro Parmelee: Printers, Patrons, Readers, and Spies: lmportation of French Propaganda in Late Elizabethan England, in: Sixteenth Century Journal 25, 4 (1994), S. 852-872, hier 867-872.

46 Die gegenwärtige deutsche Widerstandsrechtsforschung (Luise Scham-Schütte, Robert von Friedeburg, Gabriele Haug-Moritz, zuletzt Amo Strohmeyer: Konfessionskonflikt und Herr­schaftsordnung. Widerstandsrecht bei den Österreichischen Ständen (1550-1650, Mainz 2006, insbes. S. 12-21 und S. 388-402 fUr Forschungsüberblicke) tendiert dazu, a) in Auseinander­setzung mit den einflussreichen Deutungen von Troeltsch, Baron und deren Nachfolgern zu betonen, dass Widerstandsdenken auch im Luthertum, nicht nur im Calvinismus gegeben sei, dass b) es eine ständeeigene, konfessionsübergreifende, oder c) gar eine schlicht gemeineuro­päische Widerstandsrechtskonzeption gegeben habe. Sie fragt dabei im Gegenzug zu wenig nach a) konfessionskulturellen Differenzen, b) nach der medialen Form, in der Widerstands­rechtslegitimationen sich artikulierten (in ausgearbeiteten Traktaten, gedruckt oder nicht ge­druckt, in mündlicher oder schrifllicher Verhandlungspraxis), c) nach den juristischen, theolo­gischen oder anderen disziplinären Quelldiskursen, aus denen sich die meist zu rasch als ,eine' politische Sprache zusammengefassten Spezialdiskurse sich verbinden.

47 Zu den Monarchomaehen Kathleen Ann Parrow: From defense to resistance: the justification of violence during the French wars of religion, Philadelphia 1993; Saffo Testoni Binetti: II pensiero politico ugonotto: dallo studio della storia all'idea di contratto (1572-1579), Florenz 2002; Paul-Alexis Mellet (Hg.): ,Et de sa bauche sourtait un glaive' - Les monarchomaques au XVI' siecle, Genf 2006 jeweils mit der älteren Literatur.

Die Genese eines europäischen Erinnerungsortes 109

Zeichen, dass Gott wieder auf der Seite seiner Kinder ist. Nachdem die Ex­pansion der Häresie als Strafe Gottes für Laxheit und schlechte Führung über Buropa gekommen war, hatte Gott nun mit dem Sieg der christlichen Liga bei Lepanto 1571 der Expansion des türkischen Erbfeinds der Christenheit Ein­halt geboten, wenige Monate später folgte mit der Bartholomäusnacht auch der bis dato spektakulärste Stopp der Expansion der innerchristlichen Häre­sie. Im Spanien des "katholischen Königs" Philipp II. war die Freude allge­mein, die Bartholomäusnacht war ein Zeichen religiöser wie politischer Hoffnung.48 Albrecht von Bayern,49 Emanuele Filiberto von Savoyen50 und viele weitere katholische Obrigkeiten dankten es ebenfalls Gott. Der Papst war so erfreut, dass er dem Boten, der die Nachricht überbrachte, 500 Duka­ten und eine Goldkette schenkte; er wollte ein Sander-Jubiläumsjahr ausru­fen51 und ordnete sofort eine große Dankes-Messe, Freudenfeuer und eine Dankes-Prozession für den 10. September an, an der er und viele Kardinäle teilnahmen, von der uns noch das liturgische Zeremoniell erhalten ist. Die Prozession endete in San Luigi dei Francesi, der französischen Patronatskir­che in Rom, in der der Kardinal Nicolas Pelleve die Dankesmesse zelebrierte und über deren Tür der gerade in Rom weilende Kardinal von Lothringen "in memoria di detta vittoria" eine Inschrift mit goldenen Lettern auf einen schwarzen Schleier gestickt anbringen ließ, in der Karl IX. dafür gerühmt wird, wie er "gleich einem Racheengel" die Häretiker in seinem Reich getö­tet habe("[ ... ] zelo zelatus pro Domino Deo exercituum repente velut Angelo percussore diuinitus immisso, tublatis una occidione prope universis Regni

48 Valentin Vasquez Prada: Felipe I! y Francia (1559-1598), Baranain 2004, 216-220; Henry Kamen: Philip of Spain, New Haven/London 1997, S. 140-142 selten sei der vergrämte Phi­lipp so fröhlich gesehen worden: Alfonso Capilupi an Guglielmo V di Gonzaga, Madrid, 19. September 1572, ASMa AG 596, sub dato: "Vene qui l'altro giomo di Parigi Ia nuoua della essecuttione fattasi da quella M.ta chr.m• nella persone dell'Almiraglio, et altri della falsa opi· nione sita, ehe ha aportato a questa M" tanto contento ehe non si potrebbe dire di piu. Da ehe se ne sperano infiniti buoni effetti alla christianita et in particolare notabile seruigio a questa M" Cat'" per Ia cosa della Fiandra." - Antonio de Guzman, marques de Ayamonte, wird zur Beglückwünschung Karls IX. nach Paris geschickt - mit diesem Brief schickt Capilupi eine Relacion verdadera del castigo y justicia que el Christianissima Rey de Francia a hecho en al­gunos principales de su reyno, luteranos que tenian ordenado de lematar ael y ala reyna madre y a todos sus hermanos y como se descubrio Ia traycion y como en vn dfa muriron ellos y tres mil luteranos [ ... ], MDLxxij . annos, Toledo: en casa de Juan de Ia Pla,.a 1572 mit- dieser Druck fehlt in den Bibliographien Mercedes Agull6 y Cobo: Relaciones de sucesos 1: Afios 1477-1619, Madrid 1966 sowie in Antonio Rodrfguez-Mofiino: Diccionario bibliognifico de pliegos sueltos poeticos (siglo XVI), Madrid 1970 und ist auch sonst nirgends verzeichnet; es dürfte sich also um ein bislang unbekanntes Unikatexemplar handeln.

49 Vgl. oben Anm. 119. 50 Zwierlein (Anm. 99), S. 404-421, insbes. S. 420 f. 51 BNF Paris Ms. ital. 489, f. 194'·•; ebenso ÖNBW cod. 8949, f. 356v.

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sui haereticis [ ... ]").52 Eine Gedenkmedaille wurde geprägt und in der Sala regia des Vatikans, die im Barockzeitalter zum Empfang von Botschaftern diente, und die den programmatischen Anspruch der päpstlichen Gewalt ge­genüber den Herrschern der Christenheit in Abbildungen von Königs­Exkommunikationen und -absolutionen in der Geschichte, aber auch in sechs Bildern zu den Siegen der Kirche über die Ungläubigen und Häretiker im 16. Jahrhundert visualisierte, ließ Gregor XIII. neben den Siegen von Tunis 1535 und Lepanto 1571 Giorgio Vasari 1573 ein dreiteiliges Fresko zum 'Triumph über die Häretiker' in der Bartholomäusnacht malen. 53 Katholische Staatsräsonautoren wie Carnillo Capilupi interpretierten die Politik der fran­zösischen Krone als vorbildlich und setzten ihr schriftliche Exempel zum Nachlesen und Lernen für andere gegenreformatorische Politiker. Hier kris­tallisierte sich die Interpretation der Bartholomäusnacht als dem gelungens­ten Mega-"coup d'etat" heraus, der alles aus Antike und jüngerer Vergan­genheit Bekannte in den Schatten stellte. Capilupi, ein Klientel der Gonzaga und Geheimkämmerer des Papstes, hatte Zugang zu diversen Berichten, die über Briefe der Gonzaga, der Guise, des Königs und des päpstlichen Nuntius nach Rom gelangten. Viele der von ihm berichteten Details haben daher ohne Zweifel Wahrheitsgehalt, aber das entscheidende Organisations- und Inter­pretationselement seines Textes ist die Darlegung des Beweises, dass die Krone schon seit etwa 1567 die Auslöschung der Hugenottenführer von lan­ger Hand geplant habe - die berühmte, hier erstmals wörtlich auftauchende These von der "premeditazione", wie sie bis ins 20. Jahrhundert diskutiert

52 Ordine della solennissima processione fatta da! Sommo Pontefice nell' alma citta di Roma. Per Ia felicissima noua della destruttione della setta V gonotana. Con Ia inscrittione posta sopra Ia porta della Chiesa di S. Luigi in vn panno di seta pauonazza a letere d'oro maiuscole. In Roma per gli Heredi d' Antonio Blado Impressori Camerali. 1572; Avviso aus Rom vom 13.9., ÖNBW cod. 8949, f. 352'; der Tag der Prozession wäre nicht Mittwoch, der 10., sondern Montag, der 8. gewesen, avviso aus Rom vom 13.9., ASMA AG 1981, f. 542R. Die Inschrift ist abgedruckt bei Lo Stratagema di Carlo IX. Re di Francia contro gli Ugonotti rebelli di Dio & suoi [ ... ) Ce stratagerne est cy apres mis en Fran~ois avec un avertissement au Lecteur, s.l. 1574, S. 85 f.

53 Philipp P. Fehl : Vasari 's 'Extirpation of the Huguenots': The Challenge of Pity and Fear, in: Gazette des Beaux-Arts 84 (1974), S. 257-284; E. Howe: Architecture in Vasari's ,Massacre of the Huguenots', in: Journal of the Warburg and Courtauld Institutes 39 (1976), S. 258-261; Herwarth Röttgen: Zeitgeschichtliche Bildprogramme der Katholischen Restauration unter Gregor XIII., 1572-1585, in: Münchner Jahrbuch der Bildenden Kunst 26 (1975), S. 89-122; Alexandra Herz: Vasari's ,Massacre' Series in the Sala Regia- the Political, Juristic, andRe­ligious Background, in: Zeitschrift ftlr Kunstgeschichte 49, 1 (1986), S. 41-54; Angela Böck: Die Sala Regia im Vatikan als Beispiel der Selbstdarstellung des Papsttums in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts, Hildesheim 1997; im Internet ist eines der drei Bilder anzusehen unter http://www.anthelios.it/san_pio_v_ghislieri/8394-021 -0_b.htm <gesehen am 9.3.2007>.

Die Genese eines europäischen Erinnerungsortes 111

wurde:54 Was bei den Reformierten Inhalt der Verschwörungstheorie war, war hier im Positiven der Beweis für die für den Zweck der heiligen Sache rücksichtslos eingesetzten ,prudenza' und ,astuzia' der Herrschenden. Simu­lation und Dissimulation auf drei- und vierfacher Ebene gegenüber den an­deren Akteuren werden an Karl und Katharina von Medici im Lob über de­ren ungemein geschmeidige Verstellungskunst hervorgehoben. So hatten sie vermocht, Jeanne de Navarre zu vergiften, Coligny zu umgarnen, ihm unter Vorwänden gleich auch noch komplette Blutlisten der wichtigsten Häupter der Calvinisten zu entlocken, unter dem Vorwand der Hochzeit alle Calvinis­ten in Paris und hier auch noch in einem Distrikt zu konzentrieren, um dann in einer zentral organisierten Aktion zuzuschlagen; dem Nuntius Salviati hät­te Karl IX. seine Absichten schon einige Wochen vorher vertraulich angedeu­tet:55 Verstellung, List, Täuschung, Arkanpolitik und Mord, die ganze Palette

54 Carnillo Capilupi: Lo Stratagema di Carlo IX. Re di Francia contro gli Vgonotti rcbelli di Dio et svoi [ .. . ], Rom: heredi di Antonio Blado 1572, f. C4v, Dl v. Lucien Romier: La Saint­Barthelemy, !es evenements de Rome et Ia premeditation du massacre, in: Revue du XVIe siecle I (1913), S. 529-60 hat den Capilupi-Text als Beweis daftir genommen, dass die Bar­tholomäusnacht tatsächlich lange im Voraus geplant gewesen sei. Mieck 1973 (Anm. 93) hielt diese Diskussion für längst überwunden; nicht weiterführend ist freilich Josephe Jacquiot: Y a-t-il eu premeditation de Ia Saint-Barthelemy? d' apres des documents et des mcdailles, in: BSHPF 123, I (1977), S. 26-42. Die römischen Quellen wären aber noch einmal genau zu be­fragen, vgl. folgende Anm. In der Literatur wird meist nicht die hier zitierte erste, vom Dich­ter, Este-Klientel und Höfling Gianfrancesco Ferrari am 18.9. in den Druck gegebene Textfas­sung von der Fassung unterschieden, die italienisch-französisch 1574 in Genf von Jacob Stoer herausgegeben wurde. Vom Erstdruck 1572 [CNCE 9121] sind meines Wissens nur noch ftinf Exemplare erhalten, wohl weil sie der Kardinal von Lothringen bald nach dem Druck wieder einziehen ließ: BAV R.I.IV.l511(3) [unvollst.]; Bibliotcca comunale Augusta- Perugia; BNF Paris Res. 8-Lb33-305 [Titelblatt beschädigt] und Res-Lb33-305; BL London C.38.e.42. Ein Exemplar Biblioteca Angelica Roma XX-7-24 existierte noch 1962, bei einer Recherche 2000 war es nicht mehr auffindbar. Der Text des Erstdrucks umfasst 57 .500 Zeichen, der Text des Drucks 1574 umfasst 81.500 Zeichen.

55 In mehreren der autographen Manuskripte Capilupis, in denen spätere Textstufen des ,Strata­gema' überliefert sind, ist eine Szene etwa aus dem April 1572 tradiert, wonach Kar! IX. in einer Audienz dem Nuntius Salviati Andeutungen im Hinblick auf seine Pläne gemacht habe: ..[ ... ] onde soggiunsc poi al' legato queste parole precise, Mons. di gratia ditemi, et insegna­terni qual'altra uia, et modo potrei io tenere per' liberarmi da costoro [i.e. von den Hugenot­ten]? perehe io per me altro non truouo, ehe questo di captiuarmeli, et poi dar' /oro il castigo, ehe meritano quando essi meno ne sospetteranno, et se il Papa ha alcuno migliore partito di questo, ehe mi si mostri, ehe io il prender<ei>, ma non sapendornisi dir altro, senon ehe io douerei punirli, et non potendo io far/o collaforza aperta, bisogna, ehe Ia S.'~ S. si contenti di lasciar' fare a me, a cui preme questo negotio piu ehe a pcrsona del Mondo, et rosto le faro uedere qua/ sia /'animo mio contro di /oro, et trattosi vn annello con'un' diamantedel dito di molto prezzo, il porse al Legato, dicendogli, ch'il pigliasse per segno della fede sua, ehe gli da va di non partire mai dall' obedienza della sede Apostolica et d' esser sempre amorevole et obediente figliuolo di quella." (BNC Rom, Ms. Vitt. Ern. 1047, f. 9v. Passage ist eingefügt in

112 Comel Zwierlein

der frühabsolutistischen Regierungspräzepte, wie sie mit dem Namen Macbi­aveHis verbunden wurden, waren im Sinne eher einer Religionsräson, nicht einer Staatsräson, legitim, weil sie zur Ausrottung der Häresie eingesetzt wurden. Wenn Capilupi wie später Botero und andere kuriennahe Staatsrä­sonautoren sich explizit immer als Antimachiavellisten gesehen haben, so bleiben sie abgesehen von der anders als bei Machiavelli fix gesetzten Ziel­setzung der Politik ganz im methodischen Rahmen des Florentiners.56 Im Ti­telbegriff des "stratagema" zeigt sich, wie hier die entstehende empirische Politikwissenschaft und Politikinterpretation an eine andere antike Disziplin anknüpfte, nämlich an die Kriegswissenschaft, wie sie in den Büchern des Frontin und des Vegetius über Kriegslisten tradiert worden waren.57 Politik wird so als ein mittels methodisierter Finesse, auch mit der Verwissenschaft­lichung seiner Mittel perfektionierbares Feld eines jenseits des Schlachtfelds weitergefuhrten Krieges verstanden. Capilupis handschriftlich58 und gedruckt

den Text Capilupi 1572 (Anm. 142), f. A4v). Am 8.9.1572 schreibt Kardinal Galli an Salviati, dass er das, was er offenbar schon zuvor von den Plänen des Königs gewusst habe, doch dem Papst in Chiffre hätte übermitteln sollen: "V.S. mostra nele sue lettere haver conosciuto molto prima del successo, il maneggio di questo fatto contro Ugonotti; ma era bene ehe ella ne ha­vesse dato in quel tempo avviso a N.S., perehe a questo effetto si dano Ie eifre, per poter far sapere a principi le cose anco segretissime, il ehe le sia per avviso, per Je occasioni ehe posso­no venire in futuro, et sappia ehe quando ella ne havesse scritto in quel tempo non sarebbe pe­ro stata sola ad avvisarne, per quello ehe poi si e veduto in lettere ad altri" (Correspondance du nonce en France Antonio Maria Salviati (1572-1578), tome I: 1572-1574, hg. v. Pierre Hurtubise, Rom 1975, Nr. 55, S. 224-227, hier S. 227). Capilupi hatte als päpstlicher Geheim­kämmerer Zugriff auf die Depeschen Salviatis, wie sich am Text zeigen lässt. Salviati wird in der Forschung meist als ,zuverlässiger Zeuge' behandelt. Die Ring-Anekdote zog die Auf­merksamkeit sowohl des Ligisten Louis Dorleans (vgl. Crouzet: Louis Dorlt~ans [Anm. 100], S. 87) wie noch von Louis Pierre Anquetil (.L'esprit de Ia Ligue') und hiernach auch von Friedrich Schiller: Historische Einleitung zu den Denkwürdigkeiten des Herzogs von Sully -Geschichte der Unruhen in Frankreich, welche der Regierung Heinrichs IV. vorangingen [1791], in: Ders.: Sämtliche Werke in zehn Bänden (Berliner Ausgabe), Bd. 10: Vermischte Schriften, bearb. v. Barthold Pelzer, Berlin 2005, S. 417-506, hier S. 501 f. auf sich. Schiller traute freilich dem Zeugnis von Capilupi als einem Schmeichler nicht.

56 Anglo (Anm. 131), dessen Frage immer auf "direkte" Einflüsse von Machiavelli im Sinne von Text- oder Motividentitäten abzielt, negiert solche für Capilupis Text (S. 262 f.) und konze­diert höchstens, dass der Text und seine Genfer Druckgeschichte ein Zeugnis flir den sich entwickelnden "anti-Machiavel\ism" sei. Dass gerade die katholischen Gegenreformationspo­litiker wie Capilupi sich sehr wohl selbst als Antimachiavellisten sahen, übersieht er. Schon dieses Beispiel zeigt, wie problematisch der methodische Ansatz Anglos ist.

57 Vgl. Iuli Frontini Strategemata, recensvit Robert I. Ireland, Leipzig 1990, S. 1-3. 58 Ich kann derzeit über 30 Kopien in Bibliotheken und Archiven nachweisen. Capilupi selbst

behauptete in einem Brief an Giulio Romano aus Mantua, 28.9.1573, dass in Rom seit der Ab­fassung der ersten Textstufe im September 1572 innerhalb eines Jahres schon 300 handschrift­liche Kopien verbreitet worden seien, die für 2 Dukaten verkauft würden (G.B. Intra: Di Ca-

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im 16./17. Jh. in der Politiktheorie viel rezipiertes ,Stratagema' transformier­te die Bartholomäusnacht so in das spektakulärste, stupende Lehrexempel funktionierender politischer Zukunftsplanung um. Diese unmittelbar in Ita­lien in verschiedenen Texten aufkommende Rahmung der katholischen Hard­liner-Erinnerung an die Bartholomäusnacht als Triumphereignis und Lern­Exempel für zukünftige Gegcnreformationspolitik, der von Gott mirakulöser Erfolg beschieden wurde, hält sich in Abschwächungen durchaus bis ins 17. Jahrhundert durch.59 Aus der Perspektive der calvinistischen Wahrneh­mung war ein solcher Text natürlich der authentischst mögliche Beweis für die europäische katholische Verschwörung, und so wird er dann auch in Genf 1574 mit einer entsprechenden interpretatorischen Rahmung in italienisch­französischer Fassung gedruckt: hier zeigt sich symbolisch, wie mit der Wanderung über die unsichtbaren kulturellen Grenzen der Erinnerungsräume hinweg derselbe Text seine Bedeutung komplett ändert, zwei Bedeutungen in zwei unterschiedlichen kollektiven Gedächtnissen hat.60

Die lutherische Haltung zur Bartholomäusnacht ist weniger klar expo­niert, trotz der eigenen Konflikte, die man mit den Calvinisten hatte, wurde dennoch diese Massentötung meist ähnlich als eine exorbitante Sünde der Katholikenpartei eingeordnet.61 Teilweise waren eher philippistische Zweige in der Erinnerungskultur kaum von Calvinisten zu unterscheiden, diese pro­noncierte Märtyrererinnerungskultur hatte durchaus ihre Attraktivität. Ende des 17. Jhs., am Beginn der Aufklärung, scheint mir in diesem Punkt keine Konfessionsgrenze mehr im protestantischen Lager erkennbar.

millo Capilupi e de' suoi scritti, in: Archivio storico lombardo, ser. 2, vol. 10, anno 20 (1893), S. 693-735, hier S. 715)

59 Bekannt sind Gabriel Naude: Considerations politiques sur !es coups d'Etat, hg. v. Fran~ois Charles-Daubert, Hildesheim 1993.

60 Charles de Jonvillers reichte den Text im Conseil zur Druckgenehmigung ein und verwies da­rauf, dass Theodore de Beze ihn auch gelesen habe, und dass er inhaltlich zum Lob des Kö­nigs verfasst sei - dies musste er, denn der Rat vermied, soweit möglich, jede gegebenenfalls außenpolitisch r.elevante Provokation der Krone (vgl. für einen ähnlichen Fall Brigitte Mo­reau: Inventaire bibliographique, in: Discours merveilleux, ed. Cazauran (Anm. 131), S. 55, 63). Henry Fazy: La Saint-Barthelemy et Geneve. Etude historique [ ... ], Geneve 1879, S. 83. Im anonymen 'A vertissement au Lecteur' der französischen Übersetzung Le stratageme, ou Ia ruse de Charles IX, Roy de France, contre !es Huguenots rebelies a Dieu & a luy [ ... ]in Capi-1upi 1574 (Anm. 140), S. 3-14 dann die Ausdeutung als katholische 'conjuration' und Werk des Satans. Auch Anglo (Anm. 131 ), S. 254-266, hier S. 264 f. gibt fehlerhaft an , der Blado­Druck sei erst 1574 erfolgt. Es gibt nur einen Blado-Druck 1572 und einen Stoer-Druck 1574.

61 Vgl. Anm. 121 ; Beatrice Nicollier-De Weck: Hubert Languet (1518-1581). Un reseau politi­que international de Melanchthon a Guillaume d'Orange, Genf 1995, S. 277-285, WO sich zeigt, wie August von Sachsen die Bartholomäusnacht nur zum Anlass nimmt, sich endgültig von einer westorientierten Außenpolitik femzuhalten.

114 Comel Zwierlein

Es gab auch eine eher moderat-konfessionelle, späthumanistische Aus­deutung des Geschehens, die gerade in der ambitioniertesten Geschichts­schreibung der Zeit, sei es in der Universalgeschichte eines Jacques-Auguste de Thou, sei es bei manchen italienischen, durch die politische Kultur des Empirismus oder Skeptizismus geprägten Autoren wie Filippo Cavriana oder Enrico Davila zum Tragen kam. Meist verboten sich diese Autoren explizit die Darstellung grausamer Einzelheiten, wie es in der Märtyrerliteratur der Fall war; man übte sich in weitestmöglicher stoischer Distanznahme als grundsätzliches Schreibprinzip. Fortuna und fatum tauchen als spärlich transzendente Motivationskategorien auf, schließlich findet sich bei solchen Autoren ob der Abnormität des Ereignisses oft die Charakterisierung dessel­ben als "tragisch". Die Distanznahme führt aber auch dazu, dass kaum für ei­ne der beiden Konfessionen Partei ergriffen wird; das Ereignis gibt diesen Autoren eher Anlass zur skeptischen Ausmalung der menschlichen Schlech­tigkeit, Inkonstanz und Lasterhaftigkeit auf allen Seiten, und im Rahmen po­litisch-historischer Reflexion dient die Bartholomäusnacht hier als Peripe­tiemoment im Prozess des Niedergangs eines Königreichs.62

(b) Neben der konfessionellen Matrix ist auf die regionale Matrix von Wahr­nehmung und Erinnerung an die Bartholomäusnacht auch und gerade für das konfessionelle Zeitalter zu verweisen: im unmittelbaren Anschluss an das Er­eignis 1572 war die Bedeutungszuschreibung in den diversen Regionen ganz unterschiedlich, was lange Zeit in Folge einer Phase von Überschreibung durch unifizierende Modelle vergessen war: Die nationale Rahmung von Ge­dächtnisarbeit und Historiographie im 19. Jahrhundert bedeutet ja nicht nur, dass allein französische Historiker die Bartholomäusnacht als ausschließ­liches Phänomen ihrer Nationalgeschichte unter Vernachlässigung der euro­päischen Interdependenzen betrachten; es bedeutet auch, dass andere Natio­nalhistoriographien dazu tendierten, diese Zuschreibung des Ereignisses zum fremden nationalen Rahmen als solche zu akzeptieren; im Gedächtnis der ei-

62 Filippo Cavriana: Discorsi [ ... ]sopra i primi cinqve libri di Comelio Tacito [ .. . ],Florenz 1607, S. 69-71, 81, 90 f., 112-121, 186, 511 f., 653 f.- Die tacitistischen Discorsi Cavrianas, der Leibarzt Katharinas von Medici war und dessen briefliche Berichte 1572 von der Bartholo­mäusnacht in der Forschung immer präsent waren (vgl. nur Mieck 1973 (Anm. 93), S. 81, 84), sind merkwürdiger Weise in diesem Zusammenhang nie erwähnt worden: sie verarbeiten un­ter bemerkenswerter methodologischer Engführung von Medizin und Politik als Wissenschaf­ten die Ereignisse der französischen Religionskriege als Exempel der barocken Politik­Theorie. Enrico Caterino Davila: Historia delle gverre civili di Francia [ ... ], Venedig 1664 [Erstdruck 1630], zu benutzen in der kritischen Edition von Mario d'Addio und Luigi Gambi­no, Rom 1990. Vgl. zu ihm Luigi Gambino: Enrico Caterino Davila storico e politico, Mai­land 1984.

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genen Nation wurde es nur noch als (freilich sekundärer) Teil des nötigen Orientierungswissens über andere Nationen mitgeführt.

Wie erwähnt, bedeutete im konfessionspolitischen Elitediskurs Spaniens und der südlichen Niederlande die Bartholomäusnacht eine Sicherung der ei­genen hegemonialen Stellung in Europa für längere Zeit, in Italien atmete man auf, weil nun kein neuer französisch-spanischer Krieg um Italien aus­brach: erst mit der Bartholomäusnacht erhielt der Frieden von Cateau­Cambresis 1559 rückblickend einen fundierend-systematischen Charakter. Diener des Herzogs von Savoyen meinten, erst jetzt nach dem Tode Colignys -der nur zwei Jahre vorher mit Jacqueline d'Entremont eine Adlige geheira­tet hatte, mit deren Besitzungen die Hugenotten sich bis kurz vor die Tore Turins gepirscht hatten - könne dieser sich sicher in seinem Herzogtum füh­len.63 Im protestantischen Deutschland hingegen hatte man gerade unmittel­bar nach 1572 Sorge, dass nun eine französische Expansionsbewegung sich nach Deutschland richten würde, um dorthin die Häretikermassakrierung zu exportieren. Das waren reale Ängste, die ganze Bündnisbewegungen, Defen­sionsstrukturen und -reformen implizierten, die nach der Bartholomäusnacht jeweils umsemantisiert wurden.64 Für Polen, das kurze Zeit nach der Bartho­lomäusnacht einen der "Schlächter" derselben, Henri d' Anjou, zum König erhielt, war die Auswirkung der Bartholomäusnacht der Abschluss einer Re­ligionskoexistenzregelung I Religionsfriedens, der Warschauer Konfödera­tion von 1573, womit dieser für Polens Religionsgeschichte ähnlich wichtige Friedensschluss wie für Deutschland der Augsburger Religionsfrieden im kollektiven Gedächtnis stets mit der Bartholomäusnacht verbunden blieb:65

die Konföderation war ein Koexistenzpakt zur Verhinderung eines solchen Ereignisses in Polen; entsprechend wurde der konfessionelle Kampf um die Konföderation in Polen immer auch ein Kampf der konfessionell gerahmten Gedächtnisse mit Bezug auf den markanten Kristallisationspunkt ,Bartholo­mäusnacht'.66 Bis Ende des 16. Jahrhunderts blieben dabei die zeitgenössi­schen französischen Pamphlete und Flugschriften, Übersetzungen und an die­ses Material anknüpfende eigene Produktionen in den verschiedenen Ländern die Hauptmaterialbasis für die Arbeit der regionalen Erinnerungskommunika­tion in Europa. Für England ist dies noch mit am Besten erforscht. Die fran­zösischen Religionskriege hatten hier zeitgleich ein starkes - wenn auch vom

63 Vgl. Zwierlein (Anm. 99), S. 396-421. 64 Ebd., S. 724-750. 6~ Für einen europäischen Vergleich der Religionsfrieden des 16. Jhs. vgl. Eike Wolgast: Religi­

onsfrieden als politisches Problem der frühen Neuzeit. In: Historische Zeitschrift 282, I (2006), s. 59-96.

66 Vgl. Janusz Tazbir: La Saint-Barthelemy dans Ja po!emique religieuse aux XVI' et XVII' sie­cles, in: BSHPF 123, I (1977), S. 43-53.

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Druck-Output her quantitativ nicht ganz so erhebliches Echo wie in Deutsch­land oder Italien - gefunden, wofür Übersetzer und Drucker von ,news'­Flugschriften wie Sutton, Seres, Middleton, Vautrollier und insbesondere Edward Aggas und John Wolfe gesorgt hatten. 67 Als Zeugnisse der eigenen Anschlusskommunikation ist neben Reaktionen eines schottischen Calvinis­ten wie George Buchanan oder kleinen Anspielungen in Kyd's ,Spanish Tra­gedy '68 ambekanntesten Christopher Marlowes ,Massacre at Paris', von dem schon 1593/94 über zehn Aufführungen belegt sind. Marlowes Quelle war vor allem Hotmans ,De furoribus gallicis' . Darüber hinausgehend brachte das Stück in höchst geraffter Form die jüngste französische Geschichte von 1572 bis 1589 als eine ,Splatter'cSequenz auf die Bühne (18 auf der Bühne gezeig­te Morde in 25 Szenen, unzählige berichtete Tode). In dem Stück ist das Konzept der internationalen spanisch-papistisch-italienisch-guisischen Ver­schwörung relativ säkular als Machtintrige dargestellt, Heinrich I. von Guise ist der (machiavellistische) Haupt-Schurke, Katharina von Medici unterstützt ihn selbst gegen ihre eigenen Söhne, Coligny und Heinrich von Navarra sind die Heldengestalten: Kirk hat · gezeigt, wie die Verarbeitung der aktuellen französischen Ereignisse als chaotischer und unsicherer Gegenwelt im Wi­derspiel säkularer und providenzieller Zeit- und Geschichtssicht sich zugleich in die Arbeit am spezifisch englischen Selbstbild der Stabilität und Gott­wohlgefälligkeit der elisabethanischen Zeit einschreibt. Die Fremdreferenz dient ganz der eigenen Gedächtnisarbeit.69

67 V gl. Heike Scherneck: Außenpolitik, Konfession und nationale Identitätsbildung in der Pamphletistik des elisabethanischen England, in: Helmut Berding (Hg.): Nationales Bewußt­sein und kollektive Identität. Frankfurt/M 1994, S. 282-300; Lisa F. Parmelee: 'Good Newes from Fraunce' - French Anti-League Propaganda in Laie Elizabethan England, Rochester 1996; Clifford C. Huffmann: Elizabethan Impressions. John Wolfe and His Press. New York 1988, S. 69-97; A. G. Dickens: The Elizabethans and St. Bartholomew, in: Alfred Soman (Hg.): the Massacre of St. Bartholomew. Reappraisals and Documents, s'Gravenhage 1974, S. 52-70, S. 54 .,My own statistics amply confirm the impression of Matthias A. Shaaber that the Elizabethans feit vastly more interest in Francethan in any other foreign country, with the Netherlands running a rather poor second, and the restlagging far behind"; Matthias A. Shaa­ber: Some Forerunners of the Newspaper in England, 1476-1622. Philadelphia I London 1929, S. 180-185; M.-T. Courtial: George Buchanan et Ia Saint-Barthelemy: La 'Satyra in Carolum Lotharingum Cardinalem' , in: Bibliotheque d'Humanisme et Renaissance 58, l (1996), s. 151-163;

68 Frank Ardolino: 'In Paris? Mass, and Weil Remembered!' : Kyd's The Spanish Tragedy and the English Reaction to the St. Bartholomew's Day Massacre, in: Sixteenth Century Journal 21 , 3 (1990). s. 401-409.

69 V gl. nur Andrew M. IGrk: The mirror of confusion: The representation of French history in English Renaissance drama, New York I London 1996; Ders.: Marlowe and the Disordered Face of French History, in: Sturlies in Eng1ish Literature 1500-1900 35, 2 (1995), S. 193-213; Penny Roberts : Marlowe's the Massacre at Paris: a historical perspective, in: Renaissance

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2.) Erste Kodifikation und Reaktualisierung (17. Jh.)

Im Grunde sind es die schon erwähnten Werke der Späthumanisten oder Skep­tiker - symbolisch kann man de Thou und Davila herausheben aufgrund ihrer allgemeineuropäischen Verbreitung (Davila: über 20 italienische, 4 französi­sche, 4 englische, 3 lateinische, 2 deutsche, 1 spanische Editionen zwischen 1630 und 1832,70 mindestens ebenso viele Auflagen, Übersetzungen von de Thou) - die am Anfang der zweiten Phase der Entwicklung des Erinnerungsor­tes stehen, denn nach der "Kodifikation" der Bartholomäusnacht in diesen uni­versalhistorisch oder politisch-exemplarischen Werken blieb oft ein Rückgriff auf viele vorherige ephemere Literatur aus. Lediglich die monarchomachische Widerstandsrechtsliteratur wurde weiter rezipiert, aber hier ging es eher um die Entwicklung eines spezifischen politiktheoretischen Diskurses, in den die Er­innerung an die Bartholomäusnacht nur latent eingeschrieben war.71 Diese Ko­difikationen überschrieben gleichsam die vorherigen Gedächtnisausprägungen. Manche Elemente pluraler, regionsbezogener Erinnerung an die Bartholo­mäusnacht wurden langsam verdrängt. Das heißt allerdings nicht, dass damit auch der späthumanistische Interpretationsdenkrahmen als solcher sich bindend durchsetzte: diesbezüglich gilt eher, dass erst die Aufklärung hier anknüpfte. Vielmehr blieben noch länger die konfessionellen Deutungsmuster zumindest im öffentlichen Erinnerungsdiskurs dominant. 72 Die meisten der konfessions­polemisch motivierten Erinnerungs- und Kommunikationsakte mit Bezug auf die Bartholomäusnacht bedienten sich für den raschen Materialzugriff aber nun bei den Geschichtskompendien eines Davila, eines de Thou, eines Jean de Ser­res, d' Aubignys schließlich eines Fran~ois Eudes de Mezeray, seltener bei der ephemeren Pamphletliteratur des 16. Jahrhunderts, von denen nur einige der größeren Flugschriften noch weiter nachgedruckt wurden.

Studies 9, 4 (1995), S. 430-441 versucht die von Marlowe gegebene Deutung in die histo­riographische Kontroverse einzuordnen.

70 Gino Benzoni: La fortuna, Ia vita, l'opera di Enrico Caterino Davila, in: Studi veneziani 16 (1975), 279-442.

71 Vgl. etwa Martin van Gelderen: The Political Thought of the Dutch Revolt 1555-1590, Cam­bridge 1992, S. 269-276 der den Einfluss monarchomachischer Literatur in den Niederlanden abwägt; Michel Pernot: La Fronde, Paris 1994, S. 230-243, insbes. S. 231 : Rückgrif der Fron­deure von 164718 auf die Monarchomachen; Guy Howard Dodge: The Political Theory of the huguenots of the Dispersion. With special reference to the Thought and lnfluence of Pierre Ju­rieu, New York u. a. 1974; Hartmut Kretzer: Calvinismus und französische Monarchie im 17. Jahrhundert. Die politische Lehre der Akademien Sedan und Saumur, mit besonderer Be­rücksichtigung von Pierre Du Moulin, Moyse Amyraut und Pierre Jurieu, Berlin 1975.

72 V gl. Rene Pintard I Hubert Carrier: Ressouvenirs de Ia Saint-Barthelemy au XVlle siede, in: Revue d'Histoire litteraire de Ia France 73, 5 (1973), S. 819-828.

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Das Jahrhundertgedenken der Bartholomäusnacht 167273 fiel internatio­nal mit einer Konjunktur von religions- und allgemeinpolitischen Krisensitu­ationen zusammen. So blieb die Brisanz des Ereignisses erhalten und forderte in bestimmten Zusammenhängen unweigerlich Positionsbezug heraus. Im vergleichsweise ruhigen deutschen Raum ist hier etwa auf den Leipziger Schulmann und Historiker Christian-Friedrich Frankenstein (1621-1679) hin­zuweisen, der zum Jahrhundert-Gedenkjahr 1672 eine Quellensammlung zur Bartholomäusnacht herausgab, die große Verbreitung fand, weil sie gleich­sam als konfessionell memorativ-korrigierende Zugabe der Sammelausgabe der neulateinischen Reden des berühmten Humanisten-Rhetors Marc-Antoine Muret beigegeben wurde, die der Vater von Christian Thomasius, Jacob (1622-1684 ), herausgab. Sie dienten an den lutherischen/pietistischen Hoch­schulen Ende des 17. und im ganzen 18. Jahrhundert zur Übung lateinischer Rhetorik.74 Da Muret 1572 in Rom eine panegyrische Rede auf Karls IX. ,Heldentat' der Bartholomäusnacht gehalten hatte,75 musste hier den protes­tantischen Studenten, auch wenn und gerade weil sie diese und andere Reden nur zur rein formalen philologisch-rhetorischen Übung studierten, ein inhalt­liches Gegengewicht geliefert werden: Die ungemein hohe Sensibilität der konfessionellen Identitätsgrenze wird hier in der Spaltung von Erinnerung und Gegen-Erinnerung manifest.76

Im englischsprachigen Bereich war die religionspolitische Lage gleich­zeitig deutlich brisanter, und so war auch die Aktualisierung des Erinne­rungsortes ,Bartholomäusnacht' virulenter: Die hugenottisch-calvinistische Erinnerungskultur an die Bartholomäusnacht fand über die engere Verwurze-

73 Vgl. etwa die Einladung eines Schulrektors [A]d Actum Progymnasmaticum Narrationum Cruentissimarum, occasione Lanienae Parisiensis [ ... ] Institutum finitoque Examine Autumna­li in Gymnasio, quod hic est, XII. Kai : IIXbr. A.O.R. MDCLXXII. [ ... ] invitat M. Andreas Beyerus, Rector, Freiberg 1672; Johann Cyprian: Dissertatio Historico-Politica, De Statu Et Molibus Galliae In Lanienam Parisinam desinentibus, Leipzig 1674

14 Marci Antonii Mvreti, Presbyteri, ICti, et Ciuis Romani, Orationes, Epistolae, et Poemata [ .. . ] Sub calcem adiectae sunt Nyptiae Parisinae 1572, hg. v. Jacob Thomasius, spätere Ausgaben von Johann Ehrhard Kapp betreut, Ausgaben von 1672, 1679, 1689, 1690, 1697, 1698, 1707, 1714,1726, 1741,1750,1759,1771 , 1774,hierwurdedieAusgabevon 1750benutzt.

75 Marc-Antoine Muret: Pro Carolo IX. Galliarum Rege Christianissima ad Gregorium XIII. Pont. Max. Oratio XXII. Habita Romae V. Kalend. Ianuar. Anno CI) I) LXXVII [sie, statt 1573] <<Post lanienam Parisiensem », in: Muret (Anm. 162), S. 206-214. Vgl. C. N. Smith: Muret's Oratio infunere Caroli IX and Sorbin's Oraisonfunebre de Charles IX, in: Grahame Castor I Terence Cave (Hg.): Neo-Latin and the vemacular in Renaissance France, Oxford 1984, S. 199-215, hier S. 213 Anm. 9. Vgl. Mare Fumaroli: L'äge de l'eloquence. Rhetorique et 'res literaria' de Ia renaissance au seuil de l'epoque classique, Genf 1980 [u.ö.], passim.

76 Vgl. Anm. 120, 162. Das Heft Frankensteins knüpft dabei an eine Gedenktradition an, vgl. schon 50 Jahre vorher Johannes Mochinger: Oratio de nuptiis gallicis famosis laniena pari­siensi ( .. . ] habita [ ... ] Anni MDCXXII, Willenberg 1622.

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Jung in der calvinistischen Gemeindekultur in allen europäischen Ländern hinaus am meisten Nachhall und Ausweitung im 17. Jahrhundert in England/ Schottland, wo die Gewaltexzesse der ja auch stark religiös bestimmten Bür­gerkriege und die frühe protestantische Nationalkultur sich gerade auch im Rückverweis auf die und in der Erinnerung an die Bartholomäusnacht repro­duzierte, und dies ununterbrochen vom Ende des 16. bis zum Ende des 17. Jahrhunderts.77 In präzisen Konjunkturen und Rhythmen erscheinen im­mer wieder Texte, die als sensibles Echo auf die eigenen Probleme der religi­ösen Gewalt und der Sorge vor einer internationalen popery-Verschwörung78

mit verschiedenen Akzentsetzungen die Bartholomäusnacht als drohendes Exempel evozieren. Zu Recht hat Will Coster unlängst darauf hingewiesen, dass die Darstellung, Evozierung und Erinnerung von Grausamkeiten ein Schlüssel-Propagandawerkzeug im Flugschriftenkrieg war, der den physi­schen begleitete. In die Kommunikation über aktuelle Massaker mischte sich die Erinnerung an die vergangenen, so dass ein Bild ständiger multipler Massengewalt als Bedrohungsszenario entstand.79 Insbesondere in Krisen­Situationen erscheinen so immer wieder mahnende Texte, die an die Bartho­Iomäusnacht erinnern und vor etwaigen Wiederholungen in England warnen: schon Jean de Serres' Geschichtswerk zu den französischen Religionskriegen wird schlicht als Massaker-Geschichte übersetzt; 80 bei Ausbruch des Dreißig-

77 Dieter Janssen: Gerechte, heilige und zivilisatorische Kriege. Legitimation des Krieges und Bedeutung von Feindbildern in der angelsächsischen Welt der frühen Neuzeit, ca. 1550-1650, Harnburg 2004, S. 395-404 verweist nur auf die Hotman-Übersetzung und Marlowe.

18 Vgl . Robin Clifton: The Popular Fear of Catholics during the English Revolution, in: Paul Stack (Hg.): Rebellion, Poputar Protest and the Social Order, Cambridgc 1984, S. 129-161; ders.: Fear of Popery, in: Conrad Russell (Hg.): The Origins of the English Civil War, Oxford 1973, S. 144-167; Peter Lake: Anti-popery: the Structure of a Prejudice, in: Richard Cust I Ann Hughes (Hg.): Conflict in Early Stuart England. Sturlies in Religion and Politics 1603-1642, London 1989, S. 72-106; Stephen Baskerville: Not Peace but a Sword. The Political Theology of the English Revolution, London u. a. 1993; Kaspar von Greyerz: England im Jahrhundert der Revolutionen 1604-1714, Stuttgart 1994, S. 77-l09; Christopher Durston I Jacquetine Eates (Hg.), The Culture of English Puritanism, New York 1996; Ethan Howard Shagan: Constructing Discord: Ideology, Propaganda, and English Responses to the Irish Re­bellion of 1641, in: Journal of British Studies 36, 1 (1997), S. 4-34; Edward Vallance: Preach­ing to the Converted: Religious justifications for the English Civil War, in: Huntington Li­brary Quarterly 65 (2002), S. 395-414; vgl. zum Gesamtphänomen auch den Tagungsband Andreas Höfele I Stephan Laque I Enno Ruge I Gabriete Schmidt (Hg.): Representing Reli­gious Pluralization in Early Modem Europe, Münster 2008.

79 Will Coster: Massacre and Codes of Conduct in the English Civil War, in: Levene I Roberts (Anm. 90), S. 89-105, hier S. 95 ; vgl. allgemein Rene Pillorget: Le complot papiste dans l'imaginaire anglais au XVII' siecle, in: Storia della Storiografia 14 (1988), S. 119-135.

80 [Jean de Secres :] An Historical Collection, of the most memorable accidents, and Tragicall Massacres of France, vnder the Raignes of Henry .2. Francis.2. Charles.9. Henry .3. Henry .4.

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jährigen Krieges 1618119,81 während der Bürgerkriege und der Cromwell-Ära 1641-1652,82 im puritanischen Umfeld auch während der Restauration,83 und dann vor allem während der Konjunkturen der Exclusion Crisis und des Po­pish Plot84 1674 bis 168085 erscheinen ,Parallels', ,Warnings' und ,Memen-

now reining [ ... ], London 1598, S. 241-288 für Bartholomäusnacht mit Vorgeschichte und Nachspiel.

81 Ambrosius de Bruyn: A narration, briefely contayning the history of the French massacre es­pecially that horrible one at Paris, which happened in the yeare 1572 [ ... ], London 1618; dass. lateinisch: Oratio perstringens breviter historiolam Lanienae Gallicae speciatim vero parisien­sis istius horribilis, quae incidit in annum M. D. LXXII.[ ... ], London 1619.

82 Samuel Clarke: A generaU martyrologie containing a collection of all the greatest persecutions which have befallen the church of Christ from the creation to our present times, both in Eng­land and other nations: whereunto are added [ ... ] also the life of the heroical Admiral of France slain in the partisan massacre and of Joane Queen of Navar poisoned a little before, London 1640, insbes. S. 341-352 ftir die Bartholomäusnacht; A Continvation of the Histones of Foreine Martyrs [ ... ], London 1641, S. 57-74 die Bartholomäusnacht in Paris und in den Provinzen; A Waming peece for London being a true relation of the bloody massacre of the Protestanis in Paris [ ... ] Wherein you may take notice of the barbaraus and bloody religion of the papists, by their many conspiracies and treasons against Queeen Elizabeths own person, and 88. the Gunpowder-plot, and the unheard of cruelty they have and still do use in this their rebellion in Ireland [ ... ], London 1642; A Looking Glasse for Princes [ .. . ], London 1642 erzählt das Ende der Dynastie der Valois als Erfüllung einer Prophezeiung von Franz I. an seinen Sohn, dass, wenn nicht er und seine Söhne den im Massaker von Merindol 1545 umge­brachten Protestanten Gerechtigkeit widerfahren lasse, sein Stamm aussterben werde; die Bar­tholomäusnacht figuriert hier als Schuldanteil Karls IX. (S. 5 f.) in dieser Reihe; vgl. auch A patterne of Popish peace. Or A peace of Papists with Protestanis Beginning in articles, leagues, oathes, and a marriage. And ending in a bloudy massacre of many thousand Protes­tants, London 1644 [der Text von Fran~ois Hotman]; Marguerite de Valois: The History of The most Illustrious Lady Queen Margaret Daughter to Henry the Second [ ... ], London 1649, S. 30-43 ftir die berühmte Darstellung Marguerites zur Bartholomäusnacht; vgl. dazu E1iane Viennot: Apropos de Ia Saint-Barthelemy et des Memoires de Marguerite de Valois: Authen­ticite du texte et reception au XVIIe siede, in: Revue d'Histoire Litteraire de Ia France 96, 5 (1996), s. 894-917.

83 Samuel Clarke: The Jives of two and twenty English divines eminent in their generations for learning, piety, and painfulnesse in the work of the ministry, and for their sufferings in the cause of Christ: whereunto are annexed the Jives of Gaspar Coligni, that famous admirall of France, slain in the Parisian massacre, and of Joane Queen of Navarr, who died a little before [ ... ] London 1660.

84 Caroline Hibbard: Charles I and the Popish Plot, Chapel Hill1983. 85 V gl. nur Edward Stephens: Popish Polkies and Practices Represented in the Histori es of the

Parisian Massacre; Guin-Powder Treason; Conspiracies against Queeen Elizabeth, and Perse­cutions of the Protestanis in France, London 1674 [die 66seitige Beschreibung der Bar­tholomäusnacht ist insbesondere de Thou und Davila entnommen]; [Jacques-Auguste de Thou]: The History of the Bloody Massacres of the Protestanis in Francein the Year of our Lord, 1572, London 1674; [Gilbert Burnet:] A Relation Of the Barbaraus and Bloody Massa­cre Of about and hundred thousand Protestants, begun At Paris, and carried on over all France by the Papists, in the Year 1572. Collectet out of Mezeray, Thuanus, and other approved Au-

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tos', die noch einmal alle Register von antiprotestantischen Verschwörungs­ängsten, Antichrist- und Anti-popery-Vokabular ziehen und die die Bartho­lomäusnacht - die hundert Jahre später mit "mehr als 100.000" Opfern ge­handelt wird86

- immer wieder in eine Reihe mit dem Gunpowder-Piot 1605, mit der irischen Rebellion 1641, mit der Unterdrückung der Waldenser 1655 und mit anderen näherliegenden Ereignissen stellt. Wie oben bei der Leipzi­ger Edition der Reden Murets findet sich auch hier der pädagogische Bereich als besonders sensibel für die aktive konfessionskulturelle Gedächtnisarbeit So werden selbst A-B-C-Büchern für die niederen Englischschulen Massa­ker-Berichte beigegeben.87 Die Bartholomäusnacht ist dabei aber immer der Archetyp des zu befürchtenden Protestantenmassakers, Coligny, Karl IX., Guise und Katharina von Medici sind so auch englische und schottische Hel­den und Anti-Helden. Ähnliches scheint für Polen auch im 17. Jahrhundert während der Rekatholisierung zu gelten. 88 Das Massaker von 1572 war im 17. Jahrhundert Kristallisationspunkt der gespaltenen, multiplen europäi-

thors, London 1678; Abrief account of the several Plots, Conspiracies, and Hellish Attempts of the Bloody-minded Papists [ ... ), London 1679 [2 Auf!.], S. 33-40 (Bartholomäusnacht); A true History of the Livres of the Popes of Rome [ ... ) With a full Discovery of the Cursed Te­nets of the Church of Rome [ ... ], London 1679, S. 22 (Ermordung von Jeanne de Navarre an­geblich durch Jesuiten); George Walker: The Protestant's Crums of Comfort [ ... ], London 31697 zeigt, dass die Darstellung des "Massacre at Paris" inzwischen so obligat geworden ist, dass man es im Titel sogar ankündigt und damit wirbt, wenn man es dann aber eigentlich gar nicht beschreibt (S. 93-103); ganz ähnlich Ezerel Tonge: Popish Mery and Justice. Being An Account, not of those (more than a hundred Thousand) massacred in France by the Papists, formerly, but of some later Fersecutions of the French Protestants, London 1679, wo im Titel an die Bartholomäusnacht angeknüpft wird, um Aufmerksamkeit für die weniger spektakulä­re, alltägliche Repressionspolitik gegenüber Hugenotten in der Bourgogne 1667 zu gewinnen. William Greene: Memento's to the World, Or An Historical Collection of divers Wonderful Cometes and Prodigious Signs in Heaven [ ... ] London 1680, S. 20 zum Stern, der nach der Bartholomäusnacht in der Cassiopeia erschienen sei; Nathaniel Lee: The Massacre at Paris. A Tragedy, London 1690. Vgl. zur Kontextualisierung der Dramatik der Restaurationszeit in die Exclusion Crisis und den Popish Plot (u. a. Lee's 'Duke of Guise') Dorothy Turner: Restora­lion Drama in the Public Sphere: Propaganda, the Playhouse, and published Drama, in: Resto­ralion and 18th Century Theatre Research 12, l (1997), S. 18-39.

86 Hierzu nun ein von diesem Manuskript vor Drucklegung angeregter Beitrag Mona Gorloff I Benjamin Steiner: Wir erwarten nun, selbst diesem Holocaust anheim zu fallen. Die Opfer­zahlen der Bartholomäusnacht 1572, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 59 (2008),

s. 153-168. 87 Edward Clark: The Protestant School-Master. Containing, Plain and Easie Directions for

spelling and Reading English [ ... ] tagether with aBrief and True Account of the Bloody Per­secutions, Massacres, Plots, Treasons and most inhumane Tortures committed by the Papists [ ... ], London 1680, S. 111-139 Verfolgungen in Frankreich, Bartholomäusnacht mit Holzstich­Darstellung von Folterungen und Massakern.

88 Vgl. Tazbir (Anm. 154).

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sehen Erinnerung entlang der Konfessionsgrenzen. Als nach der Revokation des Edikts von Nantes 1685 die in Frankreich verbliebenen Hugenotten emigrieren mussten, setzte ein erneuter Schub von Gedächtnis-Transforma­tionen und Transfers von Erinnerungskulturen ein. Schon in den um das Jahr­hundertgedenken herum entstandenen Texten in Sachsen und England zeigt sich eine Nähe zu den frühaufklärerischen Diskussionen über Toleranz und Staat/Kirche-Verhältnisse, wie sie mit den Namen Bayle, Locke und Thoma­sius metonymisch verknüpft sind.

3.) Aufklärung

Mit der Aufklärung beginnt die dritte Phase in der Entwicklung des Erinne­rungsortes: es schwindet ein Gutteil der spezifisch konfessionellen Komponen­ten der Erinnerung. Man könnte einerseits von einer Universalisierung und Monosernierung in religionsphilosophischer oder -politischer Hinsicht, ande­rerseits von der deutlichen Zunahme nationaler Denkrahmen bei der Bedeu­tungszuweisung und -wandlung in dieser dritten Phase sprechen.

Die Bartholomäusnacht figuriert nun zunehmend innerhalb des breiten Toleranz- und Intoleranzdiskurses der europäischen Aufklärung mit anderen Massakern (Albingenser, Cabrieres und Merindol, Waldenser) als Negativ­exempel für die Intoleranz des vergangeneo oder aus Sicht der Aufklärer je­denfalls abzuschließenden "wilden" Zeitalters. 89 Schon dass im Ternio Fran­kensteins von 1672 gerade auch Texte von katholischen Zeitzeugen und Autoren - etwa Passagen aus dem Geschichtswerk des Jesuiten Jean de Bus­sieres oder der berühmte Brief Kaiser Maximilians II. an Lazarus von Schwendi vom September 1572, in dem der erasrnisch-katholische Herrscher die Verübung des Massakers durch seinen schlecht beratenen Schwiegersohn beklagt und sich dem Grundsatz des frühen Toleranzdiskurses anschließt, "das Religionssachen nit mit dem Schwerd wöllen gerichtet und gehandelt

d "90 f · . h d f . wer en - au genommen waren, zeigte, w1e man zune men kon esswns-

89 Pierre Bayle: Commentaire philosophique sur ces paroles de Jesus-Christ Contrain-/es d 'entrer [ ... ) Cantorbery [i .e. Amsterdam)1686, S. 166; Voltaire: Dictionnaire philosophique, ed. Alain Pons, Paris 1994, S. 376,495 (Iemmata 'Martyrs', 'tolerance').

90 Dieser Brief (datiert aus Wien vom 22.2.1573 oder 1574) kursierte schon vor dem ersten Druck in weiten Kreisen und wurde immer wieder nachgedruckt; er ist selbst ein kleiner Erin­nerungsort der toleranten Gesinnung des Habsburgers, vgl. etwa die Abschrift in Badener Reichskreisakten, GLA Karlsruhe 50 I 133, die von Thomas Nicklas: Um Macht und Einheit des Reiches. Konzeption und Wirklichkeit der Politik bei Lazarus von Schwendi (1522-1583), Husum 1995 nachgewiesenen Abschriften sowie die Version des Stadtarchivs Obemai, vgl. Fritz Eyer-Metz: Une Ietire de Maxinillien II sur !es evenements de Ia Saint-Barthelemy a Pa­ris et sur Ia repression de Ia rebellion des Pays-Bas, in: Bulletin de Ia Societe de l'Histoire du Protestantisme fran~ais 122, 4 (1976), S. 567-573. Das Dokument wurde in der Frühen Neu-

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übergreifend die Verurteilung insbesondere staatlicher religiöser Gewalt kon­sensualisieren wollte. Das Nebeneinander der Zeugnisse belegte, wie in bei­den Lagern durchaus kritische Distanz zu dem Geschehen möglich war. Die aufklärerische Erinnerung setzt bei der Selektion der Quellen auch bewusst bei dem Traditionsstrang konfessionell moderater und skeptischer Historiker und Autoren an. Einen vorläufigen Höhepunkt stellte mit über 60 Editionen noch zu Lebzeiten des Autors Voltaires ,Henriade' (Erstdruck unter dem Ti­tel ,La Ligue' 1723, dann weitere Umarbeitung) dar, in der Coligny neben Heinrich IV. heroisiert wurde als bester aller Franzosen. Die religiösen Moti­vationen der Bürger-Kriege treten in dem Text völlig zurück, es gibt nur ei­nen Kampf zwischen standhaften und verräterischen Kämpfern, Karl IX. er­scheint kaum als Akteur, es ist immer "Medicis", die hinterlistig agiert. Speziell der Tod Colignys wird episch-heroisch stilisiert, er habe seinen Mör­dern selbst die Tür geöffnet, habe sie so stolz und mutig angeredet, dass die ersten Häscher vor Ehrfurcht in die Knie gingen und ihn wie ihren König an­beteten, nur der verschlagene Besme (nach den Überlieferungen ein deut­scher Page der Guise) habe sich vorgewagt und den Admiral durchstochen. Coligny ist hier das tugendhafte Opfer einer desolaten politischen Situation, einer degenerierten Regierung, die von eigennützigen Adligen und Höflingen

beherrscht wird. 91

Bei Gottsched, der 1745 ein Drama ,Die Parisische Bluthochzeit König Heinrichs von Navarra. Ein Trauerspiel' verfasste,92 ist eine Distanznahme vom Märtyrerdrama der älteren Form oder auch vom Grausamkeitsspektakel a la Marlowe spürbar.93 Auch hier sind Guise und Katharina von Medici die

zeit immer wieder ab- und nachgedruckt, etwa von Melchior Goldast von Haiminsfeid, nach diesem dann in vielen Auflagen bei Frankenstein (Anm. 120), S. 32-34 später noch in: Patrio­tisches Archiv ftir Deutschland 6 (1787), S. 453-457, schließlich sogar in englischer Überset­zung in A Relation of the Barbarous and Bloody Massacre (Anm. 173), S. 42-45 .

91 Voltaire: La Henriade, ed. 0. R. Taylor, 2. Aufl., Genf 1970 (= Les CEuvres completes de Vol­taire, Bd. 2); für Voltaires Quellen ebd., S. 162-186, ftir die Verbreitung und Nachwirkung ebd., S. 189-213; vgl. O.R. Taylor: Voltaire et Ia Saint-Barthelemy, in: Revue d' Histoire Lit­

teraire de Ia France 73 (1973), S. 829-38. 92 Johann Christoph Gottsched: Die Parisische Bluthochzeit König Heinrichs von Navarra. Ein

Trauerspiel, in: Ders. Ausgewählte Werke, hg. v. Joachim Birke, Bd. 2, Berlin 1970, S. 199-279. Dazu insbesondere Heide Hollmer: Anmut und Nutzen. Die Originaltrauerspiele in Gott­scheds ,Deutscher Schaubühne', Tübingen 1994, S. 241-257. Fünf Jahre zuvor hatte Baculard d'Amaud schon ein Trauerspiel ,Coligni, ou Ia St. Barthclemie' auf der Basis des chant II von

Voitaires ,Henriade' herausgebracht. 93 V gl. fUr die Entwicklung im französischsprachigen Raum Alain Culliere: La Saint-Barthe­

lemy au theätre: De Chantelouve a Baculard d'Arnaud, in: Gerard Nauroy (Hg.): L'Ecriture du massacre en Iitterature entre histoire et mythe: Des mondes antiques a I' aube du XXI' sie­

cle, Bem 2004, S. 121-52.

124 Comel Zwierlein

eigentlich Bösen, Kar! IX. hingegen figuriert als durchaus zögernder, zerris­sener, entscheidungsschwacher Charakter. Im Drama ist in Anspielung auf das Sonnensymbol für den König (V. 215-217) und in der Reflexion des Kö­nigs über die vielleicht schädlichen Folgen einer Massenflucht als Reaktion auf ein Massaker (V. 1057-1096) auch zugleich die von der Aufklärung zent­ral kritisierte Religionspolitik Ludwigs XIV. und der Exodus der Hugenotten nach 1685 als Subtext eingebettet, so dass die Bartholomäusnacht als Erinne­rungsort gleich die gesamte Leidensgeschichte der Hugenotten symboli­siert.94 Die politische Sinnlosigkeit von solcher Intoleranz wird im Rückgriff auf die merkantilistische, dann insbesondere physiokratische und kameralisti­sche Peuplierungsdoktrin, wonach die Volksgröße entscheidend für die Stär­ke eines Staates ist, und wonach die Abwanderung von produktiven Handels­leuten höchst schädlich ist, an den Pranger gestellt. Der konfessionelle Antagonismus tritt als Motivationselement deutlich in den Hintergrund, auch wenn er als Rahmenelement gleichsam anzitiert wird. Im Kern ist hier, wie auch schon beim allerdings stärker auf die Glorifizierung von Heinrich IV. zielenden Voltaire die Bartholomäusnacht ein Zeichen für Despotie und Un­zivilisiertheit einer durch Eigennutz motivierten und mit machiavellischer "Staatslist" operierenden Hofclique, die so zum Leid der Bürger "Tyranney" produziert- entsprechend fließt auch "Bürgerblut" (V. 1322), nicht das Blut von "Religionsverwandten". Einerseits ist hier also eine Universalisierung zu beobachten, indem die Konfessionskonflikte und der "Religionseifer" insge­samt im Zeichen der Toleranzdoktrinen als barbarisch oder die hier herr­schende Politik als menschenverächtlich desavouiert werden;95 andererseits gibt es Tendenzen - oft auch in Überblendung mit negativen Blicken auf die Exzesse der französischen Revolution - hier nationalistisch zu interpretieren. Die Bartholomäusnacht wird dann zu einem Beispiel für die Unkultur des französischen Volkes, dessen Zivilisation unverständlicherweise ganz Europa

94 Vgl. zur Revokation zuletzt Anna Bemard: Die Revokation des Edikts von Nantes und die Protestanten in Südostfrankreich (Provence und Dauphine) 1685-1730, München 2003; zur hugenottischen Erinnerungsarbeit im 18. Jh., der es gerade auch für die Gegenwart darauf an­kam, legitimatorisch den Beleg dafür zu erbringen, dass die Ansiedlung der Hugenotten zu Preußens wirtschaftlichen Aufschwung maßgeblich beigetragen habe, vgl. Viviane Rosen­Prest L'historiographie des Huguenots en Prusse au temps des Lumieres. Entre memoire, his­toire et legende: J.P. Erman et P.C.F. Reclam, Memoires pour servir a l'histoire des Refugies fran~ais dans les Etats du Roi (1782-1799), Paris 2002.

95 So auch bei Schiller (Anm. 143), bei dem allerdings schon einen Schritt weiter in historisch­kritischer Absicht über religiöse oder politische Motivationsanteile räsoniert, insgesamt aber die Bartholomäusnacht als stupendes Beispiel eines Menschheitsverbrechens studiert wird. Vgl. dazu Denise Blondeau: L'ecriture de l'histoire dans ,Geschichte der französischen Unru­hen, welche der Regierungszeit Heinrichs IV. vorangingen' et ,Maria Stuart' , in: Etudes Ger­maniques 60,4 (2005), S. 785-798.

Die Genese eines europäischen Erinnerungsortes 125

zu kopieren trachtet.96 Wieder kann hier also ,derselbe' lieu de memoireaus grundsätzlich gleicher aufklärerischer Perspektive entlang der nationalkultu­rellen Grenze andere Bedeutungszuschreibungen erfahren.

Die zentrale Todesszene in Voltaires ,Henriade' (chant li, V. 197-236), die Versatzstücke aus der protestantischen Hagiographie Colignys aufnimmt und wohl zu den Stellen gehörte, die zunächst zur Zensur des Werks in Frankreich geführt hatten, zugleich aber am ehesten den neuen Ton des auf­klärerischen Tugenddiskurses traf,97 wurde interessanter Weise 60 Jahre nach dem Erstdruck von Voltaires Werk von der Krone in der Krise der Monarchie ausgewählt, um in repräsentativer Form in ein Prachtgobelin umgesetzt zu werden: Hiermit sollte wohl den Protestanten, kurz vor Ausbruch der Revolu­tion, als ihnen mit dem Toleranzedikt vom 29.11.1787 wieder mehr Rechte eingeräumt wurden, auch symbolisch die Hand gereicht werden. Da der Go­belin erst 1790 fertiggestellt wurde, wurde er in gewisser Weise zu einer von königlicher Seite finanzierten Verherrlichung eines von Tyrannen umge­brachten Helden- der Voltaire'sche Coligny wurde gleichsam zum Revolu­tionär in einer Bildsprache, die deutlich schon auf den revolutionären He­roismus etwa eines Jacques-Louis David verweist.98

Diese Ausschöpfung des semantischen Potenzials von Voltaires Heroisie­rung Colignys als französischer Bourbonenheld hin zum Revolutionär steht 1790 im Kontext des überwältigenden Erfolgs, den das einige Jahre zensierte, dann aber unter dem Druck der revolutionären Ereignisse freigegebene Stück ,Karl IX. oder die Bartholomäusnacht' (später: ,Karl IX. oder die Schule der Könige') des Revolutionsdramatikers Marie-Josephe Cheniers hatte:99 min­destens 52 Aufführungen zwischen 1790 und 1793, weitere 15 bis 1799 er­lebte das Stück, in dem Coligny, Heinrich von Navarra und (anachronisti­scher Weise) Michel de !'Hospital als Heroen der Tugend und auf der anderen Seite Katharina von Medici, Heinrich von Guise und (ebenfalls ana­chronistischer Weise) der Kardinal von Lothringen als Vertreter des "Despo­tismus", der höfischen und anti-nationalen Intrigen auftraten.100 Die Hauptfi-

96 Hollmer (Anm. 179), S. 256. 97 Vgl. noch gleichsam als Echo die Übersetzung genau dieses Fragments bei C.K.E. Buri: Co­

ligny unter den Mördern, in: Der neue Teutsche Merkur 1808, Bd. 2, S. 171 f. 98 Der vom surintendant des batiments et administrateur des collections du roi, Charles-Claude

de Flahaut de Ia Billarderie, comte d'Angiviller (1730-1809) in Auftrag gegebene und von T. F. Cozette gewobene Gobelin befindet sich heute im Palazzo reale der Bourbonen in Neapel, eine Abbildung ist zugänglich unter http://preale.napolibeniculturali.it I itinerari-tematici I contenutibc.2006-09-15.6447301549/0A51 (gesehen 2.4.2007).

99 Marie-Josephe Chenier: Charles IX, ou I'ecole des rois. Tragedie, Paris 1790. 100 Michel de !'Hospital war seit 1568 nicht mehr Kanzler, der Kardinal von Lothringen befand

sich zum Zeitpunkt der Bartholomäusnacht in Rom.

126 Comel Zwierlein

gur Karl IX. hingegen steht zum Schluss als tragischer Schuldbeladener dar, der sich selbst als Tyrann erkennt. Das Stück hatte wenig Handlungswitz und Bewegung, war aber als Zensurobjekt gleichsam selbst zum Opfer des Des­potismus geworden, brachte die Rhetorik der Revolution und ihren Antikleri­kalismus auf die Bühne - zum ersten Mal wurde ein Kardinal in Ornat auf der Bühne dargestellt, zudem noch als entscheidender Intrigant, der die Beru­fungen auf die Gottesordnung stets nur instrumentalisierte. Das Stück stand zudem noch länger in der Diskussion und markiert so sinnfällig die Konflik­tualität der memorialen Umsemantisierungsarbeit: auch innerhalb der revolu­tionären Kreise gab es Widerstand gegen die Aufführung, weil Chenier hier das "Verbrechen der Nation" auf die Bühne gebracht habe; Chenier vertei­digte sich, indem er präzisierte, dass er genau zeige, dass es das Verbrechen Karls IX., Katharinas von Medici und der Guise sei, nicht aber dass der Na­tion:101 damit wurde im Umkehrschluss aus dem Opfer Coligny gerade ein Nationalheld. Aus dem Märtyrer des Calvinismus wurde ein Märtyrer der Nation. 102

Dass die Bartholomäusnacht auch im 19. Jahrhundert ein Erinnerungsort mit semantischer Kristallisationskraft blieb, insbesondere bei den Autoren der Romantik; dass für eine Revolutionskritikerin wie Mme deStaeldie Kri­tik der Revolutionäre an staatlicher Gewalt im Gewand der Bartholomäus­nachterinnerung gegen sie selbst als Agenten der , Terreur' gewandt wurde, ist hier nur zu vermerken. 103 Im Hinblick auf die Form der Erinnerung

101 Marie-Josephe Chenier: Adresse [ ... ] aux soixante districts de Paris, s.l. , s.d. [Paris 1789], S. 2 f. : "Le crime que j' ai retrace dans ma piece [ ... ] est Je crime de Charles IX, de Catherine de Medicis, des Guises; mais nullement de Ia nation. Dans aucune piece de theätre, j'ose Je di­re, Ia nation fran~aise n'est aussi vantee que dans Charles IX; dans aucune Ia chose du peuple et des lois n'est aussi defendue. Aueune ne fait hair davantage Ia tyrannie, Je fanatisme, Je meurtre, les guerres civiles; aucune ne fait aimer davantage Ia vertu, Ia liberte, Ia tolerance. S' il s'agissait d'une farce indecente et obscene ou d'une piece infectee d'adulation et de servi­tude, peut-etre n'y aurait-t-il point de reclamations. Mais c'estl'ouvrage d'un homme libre. II n'est fait ni pour des esclaves, ni pour des courtisanes; il est fait pour une nation qui a conquis sa liberte [ ... ]".

102 Neben Stücken wie ,Le Proces de Socrate ou le Regime des Anciens Temps ' (1789) von Jean­Marie Collot d'Herbois (28 AuffUhrungen 1789/1790), der 'Fete de Ia liberte' (50 Aufführun­gen 1789/1790), 'Le Patriotisme des Fran~ais' von Charles-Jacob Guillemain (20 Aufführun­gen 1789/1790) dürfte Cheniers 'Charles IX' zu den überhaupt erfolgreichsten TheaterstUcken mit politisch-revolutionärem semantischen Potenzial in den Anfangsjahren der Revolution ge­hören. Vgl. http://cesar.org.uk/. Andre Tissier: Les Spectacles a Paris pendantla Revolution, 2 Bde., Genf 1992-2002, hier Bd. I.

103 Germaine de Stael: Considerations sur !es principaux evenements de Ia Revolution fran~aise, hg. v. Victor-Fran~ois de Broglie u. Auguste-Louis de Stael-Holstein, 2 Bde., Paris 1862, hier Bd. I , S. 17, 115, 206, 280, 373, 438 (hier die Parallelisierung mit der Terreur), Bd. 2, S. 454, Vgl. Michel Delon: La Saint-Barthelemy et Ia Terreur chez Mme de Stael et !es historiens de

Die Genese eines europäischen Erinnerungsortes 127

scheint mir das 19. Jh. aber letztlich die Aufklärung fortzusetzen. Zwar gibt es im Neokonfessionalismus durchaus wieder stärker polarisierte Erinne­rungsformen, aber dem Grundzug nach herrscht die Interpretation der Bar­tholomäusnacht einerseits als universell menschen- und naturrechtswidrige Handlung entgegen dem Prinzip von Gewissensfreiheit und Toleranz, ande­rerseits als nationalfranzösisch tragische Katastrophe vor. Dies kann man et­wa noch in der Historiographie des 19. Jahrhunderts, bei Ranke und Michelet sehen.104 Wenn später die Tendenz einsetzt, nach wirtschaftlichen oder sozia­len, hinter dem Religionskonflikt stehenden ,eigentlichen' Gründen für die Religionskriege zu suchen, wird die Bartholomäusnacht im Hinblick auf die religiösen Bewegungsmomente ein wenig zum erratischen Block. Seit den 1990em ist nun in der Historiographie das Augenmerk wieder zentral auf die religiöse Gewalt selbst gelenkt (vgl. oben Abschnitt 1). Insgesamt dürften aber vor allem seit den Brüchen des Ersten und Zweiten Weltkriegs in Konti­nentaleuropa die Präsenz von frühneuzeitlichen Inhalten in den kollektiven Gedächtnissen abgenommen haben und etwas verblasst sein - wenngleich lokale und religiös gebundene Gruppen-Gedächtnisse durchaus an weiteren Transformationen der Erinnerung bis in die Gegenwart arbeiten. 105

IV. Schluss

Das Verblassen der Erinnerung an die Bartholomäusnacht in Konkurrenz zu nun in den Vordergrund tretenden Referenzereignissen und -phänomenen sollte also nicht als Beleg für die These dienen, dass sie kein europäischer Erinne­rungsort wäre, wie einige Historiker wohl annehmen würden, wenn etwa die Shoah als einziger transnationaler, gemeineuropäischer Erinnerungsort ausge­macht wird (oben, Abschnitt II). Vielmehr ist auch dieses Verblassen Teil einer Geschichte von Erinnerungsorten. Der Historiker ist schon qua Profession nicht nur dazu berufen, die aktuell bedeutendsten Diskurse und Konflikte zu untersuchen - sonst würde, um im Rahmen der Metaphorik vom kollektiven Gedächtnis zu bleiben, das Kurzzeitgedächtnis gegenüber dem Langzeitge-

Ia Revolution au XIXe siecle, in: Romantisme: Revue du Dix-Neuvieme Sieeie 31, II (1981), S. 49-62; Nicole Cazauran: Sur l'apologie balzacienne de la Saint-Barthelemy, in: Revue d'Histoire Litteraire de Ia France 73 (1973), S. 852-858; Claude Duchet: La Saint­Barthelemy: De Ia 'scene historique' au drame romantique, ebd., S. 845-51.

104 Vgl. Sabean (Anm. 98). 105 V gl. die vor allem das 19. und 20. Jh. und den deutschen Sprachraum betreffende Zusammen­

stellung Jochen Desel: Hugenotten in der Literatur. Eine Bibliographie. Hugenotten, Walden­ser, Wallonen und ihr Umfeld in Erzählung, Biographie, Hagiographie, Drama, Geschichts­schreibung und Gedicht, Bad Karlshafen 1996.

128 Comel Zwierlein

dächtnis oder auch die Operation des Erinnerns gegenüber der genauso wichti­gen des Vergessens106 privilegiert. Es geht vielmehr auch darum, die Epo­chenspezifizität genauso wie die Gruppen- und Ortsbezogenheil von Erinne­rungsorten herauszuarbeiten, und dann wäre die Bartholomäusnacht eben im Hinblick auf gesamtgesellschaftliche Relevanz vor allem ein frühneuzeitlicher Erinnerungsort. Es ist aber nicht nur ein französischer und nicht nur hugenotti­scher, sondern ein europäischer Erinnerungsort, wenn man den obigen Ansatz akzeptiert, wonach es geht darum, für längst existierende, in verschiedenen kollektiven Gedächtnissen Europas eingebettete Phänomene, Ereignisse, Ideen, auch ,echte Orte', zu zeigen, w.ie diese sich eben gerade in der Pluralität und Bedeutungsvielfalt für verschiedene Erinnerungsgemeinschaften und über ver­schiedene Epochen hinweg verändern, wie sie aber doch gleichzeitig in ihrer europaweiten Verbreitung prismenhaft schon stets über diese vermeintlich so dominanten nationalen Grenzen hinaus eine Vielgestalt europäischer Wirklich­keiten in den Erinnerungskulturen einzufangen vermochten, wobei der lokale Ursprung, die Provenienz dieses Erinnerungsortes relativ gleichgültig sein kann. Dass dabei alle Rekonstruktionen von solchen europäischen Erinne­rungsorten nur Skizzen und Mosaiksteinsammlungen sein können, ist zu beto­nen: dies liegt nicht nur an technischen Limitierungen, sondern natürlich stets auch an den Kompetenzen eines Europahistorikers: welche Erinnerungskultu­ren man für einen europäischen Erinnerungsort beachtet, hängt wesentlich von der eignen Vertrautheit mit Sprache, Geschichte und Historiographie der ent­sprechenden Teilgemeinschaften ab, hängt von den eigenen Vorprägungen und Aufmerksamkeitshorizonten ab und wird somit immer Stückwerk bleiben. Hat es - um nur beim Beispiel zu bleiben - auch Anverwandlungen der Bartholo­mäusnacht in skandinavischen, russischen, südosteuropäischen Gedächtnissen gegeben? Ab wann gibt es Zeugnisse einer ,Globalisierung' des Erinnerungsor­tes ,Bartholomäusnacht' in dem Sinne, dass auch Amerikaner, Afrikaner oder Asiaten auf sie rekurrieren? 107 Hat es geschlechtsspezifische Differenzierungen

106 Zum ständigen Modellieren des individuellen wie des kollektiven Gedächtnis vgl. Fried (Anm. 104); auf allgemeiner Ebene: "Die Hauptfunktion des Gedächtnisses liegt also im Ver­gessen, im Verhindem der Selbstbloclderung des Systems durch ein Gerinnen der Resultate früherer Beobachtungen." (Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft, 2 Bde., Frank­furt/M 1997, Bd. I, S. 579).

107 Die Vermutung ist freilich, dass hierfür der Einsatzpunkt höchstensamEnde der Frühen Neu­zeit zu suchen sein wird. Wenn Frank Lestringant: Une Saint-BartMiemy americaine: L'agonie de Ia Floride huguenote (septembre-octobre 1565) d'apres !es sources espagnoles et fran~taises, in: Ders.: L'Experience huguenote au Nouveau Monde (XVI' siecle) [zuerst 1992], Genf 1996, S. 229-242 die Tötung von etwa 1000 französischen, größtenteils hugenottischen Kolonisten 1565 in Florida durch die spanischen Konkurrenten als ,Bartholomäusnacht ' be­zeichnet, so ist dies natürlich kein Zeugnis dafür, dass schon im 16. Jahrhundert das Pariser Massaker bei Indianern ein Erinnerungsort gewesen wäre; auch Lerys oder Montaignes Ver-

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der Erinnerungskulturen in Europa auch im Hinblick auf die Bartholomäus­nacht gegeben? Viele solcher denkbarer Fragen, mit denen die Aufschlüsse­lung und Pluralität des Erinnerungsortes weiter hätte ausdifferenziert werden können, habe ich schlicht nicht gestellt oder konnte ich mangels sprachlicher Kompetenz nicht leisten. Das heißt aber natürlich nicht, dass die ,Bartholo­mäusnacht' selbst nur ein Drei- bis Vierländer-Erinnerungsort ist, sondern die Erinnerungsort-Rekonstruktionen sind selbstverständlich genauso plural, selek­tiv und prismatisch wie es die Erinnerungsorte selbst waren. Im Ansatz aber jedenfalls die Offenheit für eine solche Pluralität der Erinnerungsunterschiede und -beziehungen zu verankern, scheint mir wichtig: ich denke, dass dann die empirische Arbeit an der Rekonstruktion solcher europäischer Erinnerungsorte auf jeden Fall ein Mehr an Erkenntnisgewinn produzieren wird, weil Erinne­rungsrealitäten und Diffusionen von Themen und Sensibilitäten in der Vergan­genheit Europas aufgezeigt werden, die sonst nicht gesehen werden.

gleiche und Überblendungen des Kannibalismus-Motivs aus Literatur und Ikonographie über die Neue Welt mit den Massakern der französischen Religionskriegen wie auch die Paralleli­sierung der Behandlung der Indios durch den spanischen Kolonialismus mit der ,papistisch'­spanischen Politik in Europa selbst ist nur ein Zeugnis ftir eine thematische Facettierung des Erinnerungsortes im europäischen kollektiven Gedächtnis (vgl. dazu Frank Lestriogant Le huguenot et le sauvage. L' Amerique et Ia controverse coloniale, en France, au temps des guer­res de religion, 3. Auf! ., Genf 2004).