Sprachliche Strukturen, narrative Strategien. Zum funktionalen Sprachwandel im vorstandardisierten...

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Erscheint in: Zeitschrift für Slavische Philologie (2015) Sprachliche Strukturen, narrative Strategien. Zum funktionalen Sprachwandel im vorstandardisierten Balkanslavischen am Beispiel der Vita der Petka Tărnovska und des Sbornik von Pop Punčo* Abstract Balkan Slavic literary production between the mid-16th and mid-19th centuries is characterised by the transition from the medieval tradition to the gradually emerging norms of the later literary languages. This transition manifests itself in two domains: linguistically, as concerns the increasing replacement of Church Slavonic by vernacular elements and structures, while the literary development becomes apparent in the altering inventory of text genres. Arguing that both tendencies go hand in hand, the present paper illustrates how certain linguistic changes can be functionally interpreted against the background of literary innovations. These changes concern the usage of forms and structures that had not been customary in the older tradition, and the appearance of new functions for morphosyntactic categories and syntactic structures. The examples discussed include the functional extension of ‘perfect-like’ forms (l- participle + ‘to be’), the usage of edin ‘one’ as indefiniteness marker, different ways of reporting speech and parenthetical insertions. What these innovations have in common is the introduction of a narrating instance, i.e. a feature that is constitutive of texts with a primarily narrating, instead of descriptive or pedagogic, function. These processes are illustrated from a diachronic point of view on the example of different versions of the Life of Petka Tărnovska, and from a synchronic perspective on the example of selected texts from Pop Punčo’s Sbornik. 1. Einleitung: Vorstandardisiertes Balkanslavisch Die schriftlichen Dokumente des vorstandardisierten Balkanslavischen stellen einen wichtigen Bestandteil des sprachlichen und literarischen Ausbaus der späteren Standardsprachen dar: zum einen verdrängen volks- sprachliche Elemente und Strukturen zunehmend das Kirchenslavische, zum anderen entwickeln sich die tradi- tionellen Genres des kirchenslavischen Schrifttums weiter. Im vorliegenden Beitrag soll gezeigt werden, inwie- weit beide Entwicklungen Hand in Hand gehen, insbesondere, wie sprachliche Veränderungen vor dem Hinterg- rund literarischer Neuerungen funktional interpretiert werden können. Mit der Bezeichnung ‘vorstandardisiertes Balkanslavisch’ wird die Zeitspanne von der Mitte des 16. Jh. bis zur Mitte des 19. Jh. erfasst, d.h. der Zeitraum von der beginnenden Verwendung volkssprachlicher Elemente in schriftlichen Dokumenten bis zum Einsetzen der ersten Standardisierungsbemühungen. Diese Bezeichnung im- pliziert nicht, dass es zu einem späteren Zeitpunkt ein standardisiertes Balkanslavisch gegeben hätte. Vielmehr soll damit angedeutet werden, dass für die Überlegungen, die hier im Mittelpunkt stehen, eine Unterscheidung in Bulgarisch, Makedonisch oder auch Serbisch weniger relevant ist als für primär phonologische oder morphologi- sche Untersuchungen, zumal eine solche Rückprojektion gegenwärtiger – im besten Fall rein (sozio-)linguisti- scher, im schlechteren Fall auch (sprach-)politischer oder nationaler – Unterscheidungen nicht unproblematisch wäre. Zudem trägt diese Bezeichnung der Tatsache Rechnung, dass die Sprache in schriftlichen Dokumenten des fraglichen Zeitraums nicht mehr durch kirchenslavisch tradierte Normen, zugleich aber noch nicht von neuen präskriptiven Normen der späteren Standardsprachen gekennzeichnet ist. Texte aus dieser Zeit erlauben so einen Blick auf das Entstehen von gebrauchsbasierten Normen, sowohl in Bezug auf die Verwendung sprachlicher Mittel als auch in Hinblick auf die narrative Gestaltung von Texten. Beides geschieht vor dem Hintergrund einer * Die Arbeit zu diesem Beitrag wurde vom Fonds zur Förderung wissenschaftlicher Forschung (FWF) gefördert (Projekt M1536 G23 ‘Die Entstehung von Narrativität im frühen Neu-Balkanslavischen’).

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Erscheint in: Zeitschrift für Slavische Philologie (2015)

Sprachliche Strukturen, narrative Strategien. Zum funktionalen Sprachwandel im vorstandardisierten

Balkanslavischen am Beispiel der Vita der Petka Tărnovska und des Sbornik von Pop Punčo*

Abstract Balkan Slavic literary production between the mid-16th and mid-19th centuries is characterised by the transition from the medieval tradition to the gradually emerging norms of the later literary languages. This transition manifests itself in two domains: linguistically, as concerns the increasing replacement of Church Slavonic by vernacular elements and structures, while the literary development becomes apparent in the altering inventory of text genres. Arguing that both tendencies go hand in hand, the present paper illustrates how certain linguistic changes can be functionally interpreted against the background of literary innovations.

These changes concern the usage of forms and structures that had not been customary in the older tradition, and the appearance of new functions for morphosyntactic categories and syntactic structures. The examples discussed include the functional extension of ‘perfect-like’ forms (l-participle + ‘to be’), the usage of edin ‘one’ as indefiniteness marker, different ways of reporting speech and parenthetical insertions. What these innovations have in common is the introduction of a narrating instance, i.e. a feature that is constitutive of texts with a primarily narrating, instead of descriptive or pedagogic, function.

These processes are illustrated from a diachronic point of view on the example of different versions of the Life of Petka Tărnovska, and from a synchronic perspective on the example of selected texts from Pop Punčo’s Sbornik.

1. Einleitung: Vorstandardisiertes Balkanslavisch

Die schriftlichen Dokumente des vorstandardisierten Balkanslavischen stellen einen wichtigen Bestandteil

des sprachlichen und literarischen Ausbaus der späteren Standardsprachen dar: zum einen verdrängen volks-

sprachliche Elemente und Strukturen zunehmend das Kirchenslavische, zum anderen entwickeln sich die tradi-

tionellen Genres des kirchenslavischen Schrifttums weiter. Im vorliegenden Beitrag soll gezeigt werden, inwie-

weit beide Entwicklungen Hand in Hand gehen, insbesondere, wie sprachliche Veränderungen vor dem Hinterg-

rund literarischer Neuerungen funktional interpretiert werden können.

Mit der Bezeichnung ‘vorstandardisiertes Balkanslavisch’ wird die Zeitspanne von der Mitte des 16. Jh. bis

zur Mitte des 19. Jh. erfasst, d.h. der Zeitraum von der beginnenden Verwendung volkssprachlicher Elemente in

schriftlichen Dokumenten bis zum Einsetzen der ersten Standardisierungsbemühungen. Diese Bezeichnung im-

pliziert nicht, dass es zu einem späteren Zeitpunkt ein standardisiertes Balkanslavisch gegeben hätte. Vielmehr

soll damit angedeutet werden, dass für die Überlegungen, die hier im Mittelpunkt stehen, eine Unterscheidung in

Bulgarisch, Makedonisch oder auch Serbisch weniger relevant ist als für primär phonologische oder morphologi-

sche Untersuchungen, zumal eine solche Rückprojektion gegenwärtiger – im besten Fall rein (sozio-)linguisti-

scher, im schlechteren Fall auch (sprach-)politischer oder nationaler – Unterscheidungen nicht unproblematisch

wäre.

Zudem trägt diese Bezeichnung der Tatsache Rechnung, dass die Sprache in schriftlichen Dokumenten des

fraglichen Zeitraums nicht mehr durch kirchenslavisch tradierte Normen, zugleich aber noch nicht von neuen

präskriptiven Normen der späteren Standardsprachen gekennzeichnet ist. Texte aus dieser Zeit erlauben so einen

Blick auf das Entstehen von gebrauchsbasierten Normen, sowohl in Bezug auf die Verwendung sprachlicher

Mittel als auch in Hinblick auf die narrative Gestaltung von Texten. Beides geschieht vor dem Hintergrund einer

* Die Arbeit zu diesem Beitrag wurde vom Fonds zur Förderung wissenschaftlicher Forschung (FWF)

gefördert (Projekt M1536 G23 ‘Die Entstehung von Narrativität im frühen Neu-Balkanslavischen’).

sich ändernden kommunikativen Einbettung, in der das Streben nach Verständlichkeit und Zugänglichkeit für

einen breiteren Rezipientenkreis das strenge Befolgen rhetorischer Traditionen verdrängt.

Der in dieser Übergangszeit beobachtbare Wandel von sprachlichen Strukturen und narrativen Strategien

wird im Folgenden diachron am Beispiel ausgewählter Fassungen der Vita der Petka Tărnovska und synchron

anhand ausgewählter Texte aus dem Sammelband von Pop Punčo illustriert.

2. Übergänge

Die Zeit zwischen der Mitte des 16. Jh. und der Mitte des 19. Jh., die Demina (1992) als predvozroždenčes-

kij ‘vor-wiedergeburtlich’ bezeichnet, stellt hinsichtlich der sprachlichen und literarischen Entwicklung der spä-

teren Standardsprachen – v.a. des Bulgarischen, aber auch Makedonischen und Serbischen – eine Phase des

Übergangs dar. In diesem Zeitraum treffen unterschiedliche Sprach- und Genresysteme aufeinander: das kir-

chenslavische, das zusehends in den Hintergrund tritt, und das balkanslavische, das allmählich entsteht (Petkano-

va 1992: 219; zum ‘balkanischen Erzählen’ vgl. Sonnenhauser i.Dr.).

2.1 Literarische Entwicklung

Eine wichtige Rolle für die Entwicklung der volkssprachlich basierten Literatursprachen kommt den Da-

maskini zu (Petkanova 1992, 219 zum Bulgarischen; Hill 1992, 124 zum Makedonischen; Bogdanović 1991, 264

zum Serbischen). Diese Predigtsammlungen wurden ab Mitte des 16. Jh. aus der griechischen Vorlage des Da-

maskin Studit übersetzt und stellen sprachlich und literarisch eine Verbindung zwischen mittelalterlichem Erbe

und moderner Entwicklung dar (Dragova 1985, 86). Dies gilt insbesondere für die Bände mit gemischtem Inhalt

(smesenite damaskini), die zunehmend freier vom griechischen Vorbild werden. Petkanova (2001, 661) zeichnet

diese neuen Tendenzen in der balkanslavischen literarischen Entwicklung an den Gestalten des Schreibers und

des Rezipienten nach. Die Schreiber, die zunehmend auch als Autoren in Erscheinung treten, verfügen zum

einen über einen anderen Bildungshintergrund als ihre mittelalterlichen Vorgänger. Zum anderen definieren sie

die Funktion ihrer Werke anders. Sie sehen ihre Aufgabe vorrangig in der Belehrung des Volkes und, gerade an-

gesichts der politischen Umstände dieser Zeit, auch in der Bewahrung der christlichen Tradition als identitätsstif-

tendes Element innerhalb der osmanisch geprägten politischen und administrativen Strukturen (ausführlicher zur

Verbindung von literarischer Tradition und politischen Umständen vgl. Ilievski 2005). Damit ist auch für die Re-

zipienten ein anderer Bildungshintergrund anzusetzen, als dies in der kirchenslavischen Tradition mit dem einge-

schränkten Rezipientenkreis des Klerus der Fall war. Dieser geänderte und ausgeweitete Adressatenkreis wirkt

sich auf die Darstellung aus. Petkanova-Toteva (1965, 24) nennt beispielhaft den lebendigeren und unterhaltsa-

meren Stil, der sich u.a. an der Verwendung von Monologen und Dialogen und der ‘Psychologisierung’ der Fi-

guren, d.h. dem Offenlegen ihrer „duševni vălnenija“ ‘seelischen Bewegungen’ (1965, 28), zeigt.

Da die slavischen Vorlagen oft zerstört oder verloren waren, sind viele Texte dieser Zeit keine Originalwer-

ke, sondern Übersetzungen aus dem Griechischen und dem Ostslavischen. Sowohl die übersetzten als auch die

überlieferten Texte wurden in der Regel redaktionell überarbeitet (Petkanova 2001, 665), was sich in kurzen er-

klärenden Kommentaren außerhalb der Texte ebenso zeigt, wie in ihrer sprachlichen und inhaltlichen Aktualisie-

rung und Vereinfachung (ibid.; vgl. auch Velčeva 1966, 113-115). Das Bemühen um sprachliche Vereinfachung,

d.h. das Verwenden einer Sprache, die näher an der gesprochenen steht, wird den Texten explizit vorangestellt,

vgl. beispielhaft (1):

(1) a. Spisano obštimъ jazykomъ (Svištovski, 259) ‘geschrieben in allgemeiner Sprache’

b. Sь bogomъ počexь pisati skazanie sie dokonca na prostago jazyka (Punčo, 8v) ‘Mit Gott habe ich angefangen diese Geschichte bis zum Ende in einfacher Sprache zu schreiben’

c. Prepisannyj ot Sloveskago i ot Grečeskago Glubočajšago ęzyka na Bolgarskij prostayj ęzykъ […]

krazuměniju prostomu narodu. (Nedelnik; Titelblatt) ‘aus der Slavischen und Griechischen Sprache in die bulgarische einfache Sprache übertragen,

dem einfachen Volk zum Verständnis’ Petkanova (2001) fasst die Veränderungen als Tendenz zur ‘Demokratisierung’ der Schriftlichkeit in Bezug

auf Sprache, Inhalt, Verfasser und Verbreitung zusammen (sie spricht von „onarodnjavaneto na literaturata“ 2001, 671). Die zunehmende Freiheit in der Textgestaltung bedeutet Abwendung von ‘exklusiven’ Normen, die den Text aufgrund seiner sprachlichen Form, die an textuellen und sprachlichen Traditionen orientiert ist, und seiner Intention einer ausgewählten Gruppe an Rezipienten zugänglich macht, zu einer ‘inklusiven’ Norm, die eine weitere Rezipientenschaft erreichen will (vgl. Sonnenhauser, Fuchsbauer 2014a).

2.2 Sprachliche Entwicklung

Weitere Veränderungen in der Literatur dieser vorwiedergeburtlichen Zeit betreffen die vermehrte Verwen-

dung volkssprachlicher Elemente und Strukturen aus unterschiedlichen Dialekten.1 Diese treten nun in einer Re-

gelmäßigkeit auf, die bis dahin in geschriebenen Texten nicht anzutreffen war2 und die zunehmend (diskurs-

)funktional bedingt ist. Diese Entwicklung wird hier anhand von Formen aus l-Partizip + Auxiliar ‘sein’ (‘l-

Formen’), edin ‘ein’, Formen der Redewiedergabe sowie Einschüben in den Text dargestellt.

2.2.1 l-Formen

In Bezug auf die Präteritaltempora zeichnen sich das gegenwärtige Standardbulgarische und Standardma-

kedonische (eingeschränkt auch das Serbische) innerhalb der slavischen Sprachen durch das Vorhandensein ana-

lytischer und synthetischer Tempora aus und dadurch, dass das ehemalige Perfekt sich nicht zu einem generellen

Präteritum entwickelt hat. Im Standardbulgarischen ist zudem innerhalb der l-Periphrase die Verwendung und

der Ausfall des Auxiliars der 3. Person funktional relevant geworden.3 Diese Variation wird in der bulgarischen

Grammatikschreibung traditionell als Grundlage für eine paradigmatische Unterscheidung von Perfekt und Ren-

arrativ herangezogen. Aufgrund der geringen formalen und funktionalen Differenziertheit dieser Paradigmen be-

trachtet dagegen u.a. Friedman (2003a) die Auxiliarvariation als Ausprägung eines gemeinsamen Paradigmas,

und analysiert ihre Funktion als Ausdruck von ‘(Non-)Konfirmativität’. In diskurspragmatischer Hinsicht kann

die Funktion der Auxiliarvariation in der Strukturierung der Information in Vordergrund und Hintergrund (z.B.

Fielder 1995) und der perspektivischen Verankerung der Erzählung (z.B. Sonnenhauser 2014; 2015) gesehen

1 Über die gesprochene Sprache lassen sich auch daraus nur eingeschränkt Rückschlüsse ziehen (ähnlich Hinrichs 2004, 440-441 zur Sprache schriftlicher Denkmäler des 12.-14.Jh.). 2 Das schließt nicht aus, dass ‘balkanische’ Strukturen und Elemente nicht auch in älteren Denkmälern und im Altkirchenslavischen zu finden waren (vgl. dazu Hinrichs 2004, 238). Diese Vorkommen waren jedoch nur vereinzelt und in der Regel nicht (diskurs-)funktional bedingt. 3 Im gegenwärtigen Standardmakedonischen fällt das Auxiliar der 3. Person immer aus, während es im gegenwärtigen Standardserbischen obligatorisch zu setzen ist. In bestimmten Kontexten ist aber auch im literarischen Serbischen sowie in der serbischen Umgangssprache ein funktional relevanter Ausfall des Auxiliars – auch in der ersten und zweiten Person – zu beobachten (vgl. Grickat 1954; Meermann 2015). Dies wirft die Frage nach der Einordnung des Serbischen zwischen ‘balkanischer’ und slavischer Entwicklung auf (vgl. Meermann, Sonnenhauser erscheint).

werden. Dabei dient die Verwendung des Auxiliars in der 3. Person der expliziten Verankerung der Darstellung

mit einer Erzählinstanz, während der Ausfall des Auxiliars auf eine Entkoppelung von dieser hinweist.

Untersuchungen zu Texten aus der Zeit vor der Standardisierung betrachten das Vorkommen von l-Formen

in der Regel unter dem Aspekt der Herausbildung der genannten Unterscheidung von ‘Perfekt’ (+Auxiliar) und

‘Renarrativ’ (–Auxiliar) sowie weiterer Paradigmen wie Konklusiv oder Admirativ (z.B. D’omina 1970 zu eini-

gen Damaskini des 17./18. Jh.). Die Verwendung dieser Formen wird dabei häufig vor dem Hintergrund der An-

nahmen für die gegenwärtigen Standardsprachen in Bezug auf ihre Korrektheit bewertet (z.B. Cojnska 1979 zu

Joakim Kărčovski, und Moser 1972, 44 zu Sofronij Vračanski). Am Beispiel der Texte von Sofronij Vračanski

weist Andrejčin (1968) auf genrebedingte Unterschiede in der Verwendung dieser Formen bei Autoren des spä-

ten 19. Jahrhunderts hin. Diese Verteilung zeichnet sich bereits in Texten ab Mitte des 18. Jh. ab (vgl. dazu ge-

nauer Sonnenhauser i.Dr.). Voraussetzung für diese Ausdifferenzierung ist das Entstehen von Genres, d.h. funk-

tionaler Klassen von Texten, in denen eine Erzählinstanz relevant wird. Da die l-Formen, im Unterschied zu den

synthetischen Vergangenheitstempora, über die Verankerung mit einer Erzählinstanz das dargestellte Ereignis

explizit perspektivieren, sind sie für Genres mit primär erzählender und weniger darstellender oder belehrender

Funktion besonders geeignet.4

Die oben angesprochene Entkoppelung der Aussage vom Erzähler bei l-Formen ohne Auxiliar kann als

Grundlage für ihre möglichen Interpretationen als ‘Nacherzählung’ (d.h. Renarrativ), ‘Hörensagen’ (d.h. Eviden-

tial), ‘Schlußfolgerung’ (d.h. Konklusiv) oder auch ‘Überraschung’ (d.h. Admirativ) gesehen werden. Diese In-

terpretationsmöglichkeiten sind nicht nur kontextabhängig, sondern auch durch das Genre beeinflusst. So kann in

(2) die Verwendung von se javil5 im Kontext von ne viděxme ništo ‘wir haben nichts gesehen’ als Hörensagen

interpretiert werden, indem javil nicht dem Subjekt von razumexme ‘wir haben verstanden’, sondern dem Adres-

saten zugeschrieben wird:

(2) rekoxa ne viděxme ništo. Ami razumexme koi se tebě javil (Tixonravovski, 68 / S. 105)

‘sie sagten, wir haben nichts gesehen. Aber wir haben verstanden, wer dir erschienen ist’

Den Zusammenhang von Verwendung und Funktion dieser Formen zum Genre zeigt der Vergleich von

Texten ein- und desselben Verfassers. So verwendet Sofronij Vračanski in den liturgischen Texten seines Nedel-

nik kaum l-Formen ohne Auxiliar, in den poučenija ‘Belehrungen’ und tălkovanija ‘Erklärungen’ zu diesen Tex-

ten dagegen häufig (zu dieser Beobachtung vgl. auch Andrejčin 1968). Ihre Funktion ist dabei nicht ‘renarrativ’

oder ‘inferentiell’, sondern zeigt die Relevanz einer Erzählinstanz an (vgl. Sonnenhauser 2014; erscheint). Im

Unterschied dazu sind l-Formen ohne Auxiliar in seiner Autobiographie, einer der ersten im balkansprachigen

Raum, in der Regel als ‘nicht bezeugt’ zu interpretieren, vgl. (3). Unterstützt wird diese Interpretation durch die

erste-Person-Perspektive.

4 Petruxin (2003) macht für das Ostslavische eine ähnliche Beobachtung zum Zusammenhang zwischen dem vermehrten Vorkommen von l-Formen (allerdings ohne eine funktionale Variation der Verwendung/Nicht-Verwendung des Auxiliars) und Veränderungen der narrativen Strategien in jüngeren Chroniktexten. Das Auftre-ten dieser Formen sieht er nicht so sehr als Ausdruck formaler Änderungen des Verbalsystems, sondern vielmehr als Indiz für Neuerungen in Hinblick auf den Standpunkt des Autors (2003, 131). 5 So auch in Koprištenski (47 / S. 20); in Trojanski (129 / S. 93) dagegen mit Auxiliar (se e javil).

(3) I kato poišle do Fandaklii svadili sę tamo pomeždu si ovčarete i ubili ednogo ot nixь. fatil gi ta-

mošnia sultan i položil gi u zatvorka, i onyę ovcy usvoilь […] a nyi ot tova nikoę vęstь ne imaxmi.

(Žitie, 33–34)

‘Und als sie nach Fandaklii kamen, stritten sich die Schäfer untereinander und töteten einen von

ihnen. Der Sultan fasste sie und warf sie ins Gefängnis und nahm diese Schafe an sich, und wir

wussten davon nichts.’

Die zunehmende Verwendung von l-Formen kann damit als Indikator für Veränderungen traditioneller oder

das Entstehen neuer Genres interpretiert werden. Entscheidend ist dabei weniger die rein quantitative Zunahme

dieser Formen, als vielmehr die funktionale Relevanz ihres Vorkommens. Bezeichnend ist ihr Erscheinen an sol-

chen Stellen, an denen sie im Sinn der Perspektivierung des Erzählten interpretiert werden können.

2.2.2 edin

In den schriftlichen Dokumenten des 17.-19. Jh. ist die formale und funktionale Herausbildung eines post-

ponierten definiten Artikels zu beobachten. Daneben lassen sich auch Indizien für eine Funktionsausweitung des

Zahlworts edin zu einem Marker für Indefinitheit finden (Friedman 2003 spricht von einem indefinite marker).6

Hinweise auf diese Entwicklung zeigen sich in parallelen Passagen wie in Tabelle 1: in Zographensis und NZ

erscheint edin in partitiver Funktion, bei der die numerale Semantik im Vordergrund steht, im Nedelnik und in

PE dagegen markiert edin Indefinitheit:

Lukas 15, 267

Zographensis NZ8 Nedelnik (5v) PE (28)

i prizъvavъ edinogo otъ

rabъ · vъprašaaše i · čьto

ubo si sǫtъ ·

I povyka ednogo ot slugi

te, i pytaše go, što šte da sa

tia (veselby).

Ipozvalъ edinago sluga,

ipita togo, čto estъ tova?

Popitalъ edinъ sluga,

što e tova?

Tabelle 1

Für die Damaskini des 17. und 18. Jh. stellt Mladenova (2007, 196-218, 276-278) eine Tendenz zur Expan-

sion von ‘edin + Nomen’ in Positionen fest, in denen in älteren Texten ‘Ø + Nomen’, vgl. (4a) vs. (4b), oder

‘njakoj + Nomen’, vgl. (5a) vs. (5b), zu finden war.

(4) a. i otide privečerъ i sědnь na Ø brěgь što e pri iordanь (Tixonravovski, 17. Jh.; aus Mladenova 2007,

276)

b. i otide privečer i sědna na edinь brěgь što e pri iordanь (Kotel 1765; aus Mladenova 2007, 277)

‘und er ging abends und setzte sich an ein Ufer, das beim Jordan ist’

6 Genauer zur Verbreitung von ‘eins’ als Marker für referentiell-spezifische Indefinitheit im gegenwärtigen Balkanslavischen vgl. Friedman (2003b, 113-117; 133-138). Auch wenn für das Bulgarische, Makedonische und Serbische leichte Unterschiede im Funktionsspektrum erkennbar sind, gilt für alle, „that colloquiual usage is greater than literary usage“ (Friedman 2003b, 137). 7 ‘Und er rief einen der Diener herbei und erkundigte sich, was das sei..’ (Übersetzung nach der Eberfelder Bibel) 8 In NZ als Lukas 15,25

(5) a. I běše někoi čl[ove]kь vъ s[ve]ty grad. Imeto mu rumilь (Tixonravovski, 17. Jh., aus Mladenova

2007, 277)

b. Imaše edinь člověkъ v Jerusalimъ, imeto mu Rumilъ (Svištovski, 18. Jh.; aus Mladenova 2007,

278)

‘Es war ein Mann in Jerusalem. Sein Name war Rumil’

Mladenova (ibid.) interpretiert Beispiele wie (4) und (5) – bei aller Vorsicht, die angesichts der geringen

Datenmenge geboten ist – als erste Anzeichen einer einsetzenden Differenzierung zwischen spezifisch-indefini-

ter Referenz mit edin und nichtspezifisch-indefiniter Referenz mit njakoj.

Bereits für das 17. Jh. findet Mladenova (2007, 197f) Beispiele für die Verwendung von edin in Kontexten,

in denen indefinite Referenten vom Sprecher als bekannt präsentiert werden, obwohl sie für den Hörer noch

nicht bekannt sind. Deutlich zeigt sich dies bei der Verwendung der Pluralform edni. Diese verweist auf einen

spezifischen indefiniten Referenten, d.h. einen Referenten der einerseits neu im Diskurs ist und referentiell mit

der Erzählerinstanz verankert ist, und deutet an, dass der Sprecher ergänzende Informationen über den Referen-

ten liefern will (2007, 218; Fußnote 47). Der Referent wird also im weiteren Verlauf noch eine Rolle spielen und

kann somit als Diskurstopik verstanden werden.

Mit dieser funktionalen Charakterisierung ist edin auch diskurspragmatisch relevant: Aufgrund der spezifi-

schen Referenz wird der Diskursreferent mit dem Sprecher, Erzähler oder einem anderen Diskursreferenten

verankert, während (In-)Definitheit textuelle Verankerung im Sinn von Vorerwähntheit, Bekanntheit, etc. betrifft

(zu dieser Auffassung von Definitheit und Spezifizität vgl. von Heusinger 2002). Durch das Anzeigen von

textueller Neuheit bei gleichzeitiger referentieller Verankerung weist die Verwendung von edin auf das

Vorhandensein einer Erzählerinstanz hin, die als solche explizit über die Präsentation der Information in Er-

scheinung tritt.

2.2.3 Redewiedergabe

Entwicklungen zeigen sich auch in Hinblick auf Formen der Redewiedergabe; hier nimmt die Verwendung

indirekter Rede mit če bzw. či zu. Dies ist nicht so sehr eine syntaktische, sondern insbesondere eine diskur-

spragmatisch relevante Entwicklung. Indirekte Rede führt Perspektiven ein, indem das Wiedergegebene mit dem

Subjekt des Matrixsatzes oder dem Erzähler verankert wird. Entsprechend bezeichnet Collins (1996, 21) diese

Art der Redewiedergabe als „inherently dual-voiced […], reflecting not only the locutionary act of the represen-

ted speaker but also […] the illocutionary goals of the reporter“. Im Unterschied dazu dient die direkte Rede dem

‘Nachspielen’ der Perspektive „of the represented speaker in the represented speech event” (Collins 1996, 64).

Eine Perspektivierung des Redeinhalts durch das Gegenüberstellen möglicher Anker – ‘dargestellter Sprecher’

(Subjekt des Matrixsatzes) oder ‘Berichterstatter’ (Erzähler) – liegt somit nur bei indirekter Redewiedergabe vor.

Damit betrifft, so Collins (1996, 34), die Unterscheidung von direkter und indirekter Redewiedergabe die Dis-

kursebene – sie ist also in Hinblick auf die narrative Gestaltung des Inhalts relevant.

Die Entwicklung in Bezug auf die Form der Redewiedergabe in Texten des 17.-19. Jh. zeigt sich an Stellen,

in denen ältere Texte und Texte, die an der älteren Norm orientiert sind, direkte Rede oder mit jako / kako recita-

tivum eingeleitete Redewiedergabe aufweisen (vgl. dazu auch Sonnenhauser ersch). Ein Beispiel ist in der paral-

lelen Passage in Tabelle 2 zu sehen: Im Codex Marianus und im Nedelnik wird die Rede der Frau mit ěko bzw.

kako eingeleitet als direkt wiedergegeben, in NZ und PE dagegen indirekt eingebettet.

Johannes 4,179

Codex Marianus Nedelnik (68) NZ (172-174) PE (82)

otъvěšta žena i reče

emu. ne imamъ mǫža.

gl=a ei is=ъ. dobrě reče

ěko mǫža ne imamъ.

otgovori žena ireče:

Neimam muža: Reče ei

Ii =s: Dobrě rekla esi, kako

neimamъ muža:

Otgovori žena ta, i reče:

nemamъ mǫžъ. Reče j

Iisusъ: dobre si rekla, če

nemašъ mǫžъ:

a ženata rekla: němamъ

mǫžъ. Toga Xristosъ i

kazalъ, dobrě kazvašь či

němašь mǫž:

Tabelle 2

Wie auch Collins (1996) für das Altrussische hervorhebt, impliziert die Tatsache, dass indirekte Rede erst

allmählich in Texten zu beobachten ist, nicht, dass sie in älteren Sprachzuständen nicht zur Verfügung stand.

Vielmehr deutet dies an, dass die entsprechenden Funktionen erst in jüngeren schriftlichen Dokumenten relevant

wurden, also im Zusammenhang mit der Herausbildung neuer narrativer Strategien stehen. Und auch hier spielt

das Einführen einer Erzählinstanz eine zentrale Rolle.

2.2.4 Einschübe

Zu beobachten ist schließlich auch das zunehmende Vorkommen verschiedener Arten von Einschüben wie

Paraphrasen, Anreden oder Kommentare (Kaltenböck, Heine, Kuteva 2011 summieren diese Elemente unter dem

Begriff theticals). Solche Einschübe sind in den älteren Damaskini noch selten zu finden. Diese weisen neben

den für das Genre ‘Predigt’ typischen vokativischen Anreden an die Rezipienten am Beginn der Texte gelegent-

lich auch kurze Worterklärungen am Rand auf (vgl. auch Velčeva 1966, 113), in denen der Schreiber als Autor

in Erscheinung tritt.

Ein Beispiel für die Veränderung in jüngeren Damaskini stellt die parallele Passage in Tabelle 3 dar: hier

erscheint in Svištovski (Mitte 18. Jh.) ein Einschub, der als Erzählerkommentar dient; in Koprištenski und Ti-

xonravovski – beide 17. Jh. – ist er dagegen nicht zu finden:10

Koprištenski (17.Jh.) Tixonravovski (17. Jh.) Svištovski (1753)

i tamo poml҃še se b҃ u i arxistratigu

mixailu, da im pomogne. i vъ

edinь dn҃ь arxg҃glь mixaijь i proby

sičkite korabe agarěiskye (110, S.

46)

‘und dort baten sie Gott und

Erzengel Michael, dass er ihnen

helfe. Und eines Tages [wörtl.: an

einem Tag] zerschlug Erzengel Mi-

chael alle Schiffe der Ungläubigen’

i tamo pom҃lše se b҃ u. i arxistratigu

mixailu, da imь pomogne. I vъ

edinь dn҃ь arxg҃glь mixailь probi

sičkite korabe agarěiskye. (96v, S.

130)

‘und dort baten sie Gott und

Erzengel Michael, dass er ihnen

helfe. Und eines Tages [wörtl: an

einem Tag] zerschlug Erzengel Mi-

chael alle Schiffe der Ungläubigen’

i tamь se pomolixa bogu i arxistra-

tigu Mixailu da imь pomogni. I

arxangelь Mixailь što stori? Edinь

denь proby sičkite gemii agareiskyi

(372, S. 210)

‘und dort baten sie Gott und

Erzengel Michael dass er ihnen

helfe. Und was tat Erzengel Mi-

chael? Eines Tages zerschlug er

alle Schiffe der Ungläubigen’

Tabelle 3

9 ‘Die Frau antwortete und sprach zu ihm: Ich habe keinen Mann. Jesus spricht zu ihr: Du hast recht gesagt: Ich habe keinen Mann.’ (Übersetzung nach der Eberfelder Bibel) 10 Vgl. hier auch den Turzismus gemii ‘Schiffe’ in Svištovski im Unterschied zu korabe in Koprištenski und Tixonravovski, der auf eine größere Volkssprachlichkeit hindeutet.

Einschübe sind vermehrt in den gemischten Sammelbänden gegen Ende des 18./Beginn des 19. Jh. zu beob-

achten. Häufig weisen sie eine erklärende Funktion auf, beispielsweise in Form von Paraphrasen mit sirečь ‘das

heißt’ (6), Worterklärungen (7),11 oder Erklärungen von – in der Regel wissenschaftlichen – Konzepten (8):

(6) i beše bezplodna sirečь bez detka (Punčo, 10v)

‘und sie war unfruchtbar, das heißt ohne Kind’

(7) prezъ ulicytě i tъržištata (čaršiitě) (PE 46)

‘durch die Straßen und Märkte (Märkte [> türkisch çarşı])’

(8) za da stani soveršenъ ili filosofъ (vъ Filosofičeskata nauka) […] ili Doktorъ (vъ xekimadžiiskata

nauka) (KN 11)

‘um vollkommen entweder als Philosoph (in der philosophischen Kunst) oder als Doktor (in der

ärztlichen Kunst) zu werden’

Einschübe wie in (9) und (10) wiederum stellen weniger eine Erklärung dar, als einen weiterführenden

Kommentar, der mögliche Reaktionen der Adressaten vorwegnimmt (zu dieser dialogischen Konzeption von parenthetischen Einschüben vgl. Sonnenhauser 2009):

(9) Zašto ako edna rěčь se govori na edno město po Turski […] (ili i po drugi nekoj jazykъ […]) na

drugo město naxoždašъ taę ista rěčъ da se govori čisto Bulgarski. (Grammatika, 5)

‘Denn wenn ein Wort an einem Ort auf Türkisch gesprochen wird, oder auf Griechisch (oder ir-

gendeiner anderen Sprache), findet man an einem anderen Wort dieses selbe Wort in reinem Bul-

garisch gesprochen.’

(10) Na toj časъ věstъ pratila žena ego, dane zatrivaš togo pravednago čl =vka [...]. (Taę žena poslědisę

posvětila). Toj denъ […] (Nedelnik, 48v)

‘Zu der Zeit schickte seine Frau die Nachricht, bringe diesen frommen Menschen nicht um (diese

Frau hat [ihm] später ihr Leben geweiht). An diesem Tag […]’

Über die konkreten Funktionen hinaus lassen sich aus Stellen wie (6)-(10) auch Einblicke in das geänderte

Verhältnis von Autor / Erzähler, Text und Rezipient ableiten. Sowohl die Randnotizen als auch die Einschübe in

Klammern und die Paraphrasierungen geben Einblick in das Verhältnis des Autors zur Sprache, zeigen dessen

Fähigkeit zur metalinguistischen Reflexion. Erklärende und kommentierende Einschübe deuten darauf hin, dass

der Text unter dem Primat der Verständlichkeit den Rezipienten im Blick hat und basierend auf bestimmten An-

nahmen über diesen Rezipienten konstruiert ist.

11 In vielen Fällen dienen Turzismen der Erklärung mutmaßlich weniger bekannter slavischer Wörter. Dies wird in der Regel als Indiz auf den mit den ersten Standardisierungsbemühungen einsetzenden Purismus gewertet und als Hinweis an die Rezipienten interpretiert, diesen Turzismus künftig zugunsten der slavischen Entsprechung zu vermeiden (z.B. Henninger 1990, 3). Eine andere Interpretation dieser erklärenden Zusätze wäre jedoch, diese zunächst als Ausdruck des Strebens nach Verständlichkeit zu sehen und als Anzeichen der bewussten Sprachverwendung und Textgestaltung durch die Verfasser vor dem Hintergrund ihrer Annahmen über die sprachlichen, aber auch religiösen und wissenschaftlichen Kenntnisse ihrer potentiellen Rezipienten. Dafür spricht, dass nicht nur Turzismen in Klammern nachgestellt werden, sondern auch Slavismen türkische Wörter erklären, und diese erklärenden Zusätze nicht nur mit/für Turzismen zu finden sind, sondern auch mit/für Gräzismen sowie Kirchen- und Ostslavismen.

2.2.5 Zusammenfassung

Gemeinsam ist den in 2.2.1-2.2.4 dargestellten sprachlichen Mitteln, dass sie mit dem Erscheinen des Au-

tors und dem Einführen einer Erzählinstanz eine neue Qualität literarischen Schaffens etablieren. Voraussetzung

dafür ist eine grundlegende Veränderung in der Rolle des Schreibers, der sich nun als Autor mit zunehmender

gestalterischer Freiheit zeigt und eine Erzählinstanz im Text etablieren kann. Während sich der Autor beispiels-

weise in biographischen Einschüben und Randnotizen zeigt, tritt der Erzähler in der Reflexion auf das Verhältnis

von Erzählen und Erzählung in Erscheinung. Die gezeigten Mittel verbinden so auf unterschiedliche Art explizit

den Prozess des Erzählens (Jakobsons 1971[1957] Sprechereignis und seine Teilnehmer) mit dem Gegenstand

des Erzählens (Jakobsons 1971[1957] erzähltes Ereignis und seine Teilnehmer). Sie führen damit eine doppelte

Struktur ein, die kennzeichnend für Narrativität ist (vgl. Zeman 2015, Sonnenhauser 2015).

Petruxin (2003, 138) weist auf eine ähnliche Entwicklung in den ostslavischen Chroniktexten des 17. Jh.

hin, die sich deutlich von älteren Chroniktexten unterscheiden. Er führt dies auf eine tiefgreifende Veränderung

in Bezug auf die Konzeption von Geschichte und Vergangenheit im Allgemeinen zurück (2003, 137), die es nun

erlaubt, Ereignisse nicht mehr nur primär in ihrer Abfolge zu schildern, sondern auch in Bezug auf ihre Relevanz

in einem Ursache-Wirkung-Gefüge. Ein Schreiber der älteren Chroniktexte konnte aufgrund seiner

Weltanschauung Ereignisse nicht so darstellen, als wäre ihm die Zukunft schon im Voraus bekannt. Damit waren

einordnende Vorgriffe nicht möglich, denn, so Petruxin (2003, 138), Geschichte war für diese frühen Chronisten

eine Abfolge von Ereignissen in einem abgeschlossenen Verlauf, mit einem klar definierten Beginn und Ende.

Die Aufgabe bestand darin, sie in Worte zu gießen, ohne in ihren Verlauf einzugreifen und ohne etwas Eigenes

einzubringen (ibid.). Der Schreiber trat also nicht als Autor in Erscheinung und auch eine vermittelnde

Erzählinstanz war nicht vorgesehen. Dies ändert sich in den jüngeren Chroniktexten, für die Petruxin (2003, 137)

eine neue Qualität feststellt, indem Produzent und Rezipient nicht mehr ausgeschlossen sind, sondern ihre

gemeinsame Wissenserfahrung sich auf die strukturelle und inhaltliche Gestaltung der Texte auswirkt. Die sich

ändernde Rolle des Autors wird daran deutlich, dass er nun auch als Instanz in Erscheinung tritt, die die

dargestellten Ereignisse analysiert. So zeichnen sich die jüngeren Chroniktexte durch das Vorhandensein eines

‘außenstehenden Beobachters, Erzählers, Zeugen der beschriebenen Ereignisse’ („prisutstvie vnešnego

nabljudatelja, rasskazčika, očevidca opisyvaemyx sobytij”, Petruxin 2003, 134) aus.

Es wäre nun aber auch denkbar, dass das vermehrte Auftreten der in diesem Kapitel genannten Formen und

Strukturen und ihrer spezifischen Funktion auch auf den jeweiligen Textinhalt zurückzuführen ist. Bleibt der In-

halt jedoch gleich, so würde das die hier vertretene Annahme stützen, dass die Änderungen sprachliche Indikato-

ren einer literarischen Entwicklung darstellen und mit Neuerungen in der Art der Präsentation zusammenhängen.

Dieser Zusammenhang von literarischer und sprachlicher Entwicklung wird im Folgenden anhand der Vita der

Petka Tărnovska skizziert.

3. Diachrone Ausdifferenzierung

Die slavische Überlieferung der Vita der Petka Tărnovska (im Folgenden auch: PT) reicht vom 14. bis zum

18. Jh., d.h. vom Kirchenslavisch-Mittelbulgarischen bis hin zum Balkanslavischen. Ab dem 16. Jh. ist diese

Vita in Abschriften und in Adaptionen insbesondere im balkanslavischen Raum verbreitet.12 Sie wurde in ver-

schiedene Damaskini-Bände aufgenommen, was ihr laut Dragova (1985, 85) ein ‘neues literarisches Leben’ ver-

schaffte („koeto ja văvežda v nov knižoven život“).

12 Die genaue Textgeschichte ist für die vorliegende Fragestellung nicht relevant; für eine erste Annäherung vgl. die Darstellung von Jürgen Fuchsbauer in Sonnenhauser & Fuchsbauer (2014b).

3.1 Genre-Transformation

Die in 2.2.1-2.2.4 gezeigten strukturellen Neuerungen in der Gestaltung der Erzählung sind zu einem

großen Teil durch die geänderten kommunikativen Umstände bedingt, vor deren Hintergrund die vorwiederge-

burtliche Literatur entsteht. In dieser veränderten Situation wird nun, so Dragova (1985, 101), ein feststehender,

bekannter Inhalt von Lesern und Hörern rezipiert, deren Hintergrund weniger durch kirchliche sondern mehr

durch folkloristische Strukturen und Strukturen des alltäglichen Lebens geprägt ist. Damit muss in Hinblick auf

Verständlichkeit nicht nur die Sprache angepasst werden, sondern auch die verwendeten kulturellen Stereotypen.

Beides bringt eine Umgestaltung der Texte mit sich, wie sie auch für PT zu beobachten ist.

Ausgehend von der slavischen (mutmaßlich) ersten Fassung von Evtimij Ende des 14. Jh. (abgedruckt in

Kałużniacki 1901) sieht Dragova (1985) eine erste Transformation des Genres von PT in der Fassung aus dem

Sammelband von Božidar Vuković von 1536 (abgedruckt in Novaković 1877). Da die Rezipienten nun weniger

aus dem Bereich des Klerus stammen, sondern zunehmend Pilger oder Händler sind, findet die Rezeption nicht

mehr primär im statischen kirchlich-rituellen Kontext statt, sondern in dynamischen alltäglichen Situationen.

Entsprechend ist der Text um den rituellen Teil gekürzt; er wird als Erzählung präsentiert und ist damit, so Dra-

gova (1985, 94), narrativen Prinzipien unterworfen. Was sie genau mit ‘narrativ’ meint, expliziert Dragova je-

doch nicht weiter.

Die redaktionellen Veränderungen des Textes in den Damaskini macht Dragova (1985, 95) an zwei haupt-

sächlichen Tendenzen fest, die auch vor dem Hintergrund der oben genannten Anpassung an die kulturellen Ste-

reotypen gesehen werden können: bitovizirane i opredmetjavane na situaciite ‘Veralltäglichung und Vergegen-

ständlichung der Situationen’ und folklorizirane ‘Folklorisierung’. Während die erste Tendenz v.a. mit der in-

haltlichen Schwerpunktsetzung und Einordnung der dargestellten Ereignisse zu tun hat (statt Betonung der

göttlichen Aspekte nun Verankerung im alltäglichen Leben; Dragova 1985, 96), betrifft die Tendenz zur Folklo-

risierung auch die Präsentation der Ereignisse. Während in den mittelbulgarisch-kirchenslavischen Versionen Er-

eignisse in erster Linie räumlich präsentiert werden, d.h. statisch, sind sie in späteren Versionen der Damaskini

in ihrer zeitlichen Abfolge dargestellt, d.h. dynamisch und als kausale Kette (Dragova 1985, 100).13

Dragova beschreibt diese Tendenzen in erster Linie anhand textstruktureller und inhaltlicher Aspekte, bei-

spielsweise des Rückgriffs auf bestimmte folkloristische Stereotypen zur Beschreibung von Situationen (z.B. Zar

– Untertanen, 1985, 100). Aber auch Neuerungen in den verwendeten sprachlichen Mitteln lassen sich auf Ände-

rungen in der Konzeption des Textes zurückführen.

3.2 Sprachliche Reflexe

Dass sich die genannten Änderungen in Bezug auf das Genre auch auf der sprachlichen Ebene zeigen, wird

im Folgenden am Beispiel ausgewählter Versionen der PT (Novaković, Tixonravovski, Punčo und Berlinski) ge-

zeigt.14 Dies geschieht anhand der in Abschnitt 2 vorgestellten sprachlichen Strukturen, die hier nach ihrer über-

wiegenden Funktion in ‘textextern’ und ‘textintern’ unterteilt werden. Die textexternen sprachlichen Reflexe be-

treffen vorrangig die Wirkung bei den intendierten Rezipienten, während die textinternen Reflexe insbesondere

mit der strukturellen Gestaltung des Textes zusammenhängen.

13 Es kann vermutet werden, dass die Darstellung einer Ereignisabfolge das ist, was Dragova (1985, 94) unter ‘narrativ’ versteht. 14 Ein Parallelkorpus mit den Versionen in Novaković, Tixonravovski, Berlinski, im Nedelnik von Sofronij Vračanski sowie im Band von Pop Punčo ist online zugänglich (https://uzh.academia.edu/BarbaraSonnenhauser/Parallel-corpus:-Petka-Tarnovska). Vielen Dank an Catharina Krebs-Garić (Wien) für die Zusammenstellung des Korpus.

3.2.1 Textextern

3.2.1.1 Psychologisierung

Petkanova-Toteva (1965) nennt die Psychologisierung der Figuren, d.h. die Darstellung ihres Innenlebens,

als eines der kennzeichnenden Merkmale der literarischen Entwicklung. Sprachlich zeigt sich diese in der Offen-

legung von Gedanken und Gefühlen mittels unterschiedlicher Formen der Redewiedergabe.

In der in (11)-(13) zitierten Passage werden mehrere Männer losgeschickt, um einen stinkenden Leichnam

auszugraben und an einer anderen Stelle wieder zu beerdigen. Dabei stoßen sie auf ein Grab und legen ihn dazu,

nicht wissend, dass es sich um das Grab von PT handelt. In der Fassung in Novaković werden die Ereignisse be-

schrieben, die beteiligten Personen als neiskusni ‘unerfahren’ und nevěžde ‘unwissend’ charakterisiert:

(11) obače, jako neiskusni i nevěžde sušte, sъlučьšeje se, jakože i někuju malu i ničesože suštu veštь,

prězrěvše, blizu něgde tu trupь onь zlosmradny zarinuše. Po domoxь že jako razьšdše se […].

(Novaković, 56)

‘aber, weil sie unerfahren und unwissend waren, geschah es, weil sie es als irgendeine kleine und

nichts seiende Sache gering achteten, dass dort irgendwo in der Nähe dieser schlecht riechende

Leichnam begraben wurde. Nachdem sie aber nach Hause auseinandergegangen waren, … ’ Im Unterschied dazu wird in Tixonravovski (12), und bei Punčo (13) mit rekoxa si meždu sěbe bzw. pro-

dumaxusi meždu sebe ein kurzer Dialog eingeführt, der die Überlegungen der beteiligten Personen explizit ver-balisiert.

(12) i rekoxa si meždu sebě koi pakь da kopae na drugo město, ami e tuka toizi grobь dosta širokь i glь-

bokь, da turime, i onazi mrьša da ne smrьdi, ato ako budje tova st҃o tělo. b҃ь šte go izvadi. i zarinaxa

onъzi mrьša tamo pri s҃ toe onova tělo. i razydoxa se po doma si. (Tixonravovski, 57v / S. 96)

‘und sie sagten zueinander, jemand soll ihn an einem anderen Ort begraben, aber hier ist dieses

Grab ausreichend breit und tief, um ihn hineinzulegen und den Leichnam nicht zu riechen, und

wenn das ein heiliger Körper ist, wird Gott ihn herausholen. Und sie begruben diesen Leichnam

dort bei diesem heiligen Körper. Und gingen auseinander in ihre Häuser’

(13) i edni čl҃veci priidoxu iizvadixu onja trup ot tamo i zakopaxago blizu pri teloto st҃e paraskevi i

vidoxu tova telo: stoi celo samukrepleno isovrьšeno izdravo i počudixuse i porazumexu iproduma-

xusi meždu sebe dae toja trupь nekoi st҃o telo bilo tobi ot krilь bg҃ь nekoję čudesa iostavixu natova

mesto onova st҃oe telo iotidošasi (Punčo, 67r-67v)

‘und es kamen Männer und gruben diesen Leichnam von dort aus und begruben ihn nahe bei dem

Körper der heiligen Paraskeva und sahen diesen Körper: er war vollständig kräftig und vollkom-

men und gesund und sie wunderten sich und verstanden und sagten zu einander, dass dieser Leich-

nam ein heiliger Körper sei, dann hätte Gott ein Wunder gezeigt und sie ließen diesen heiligen

Körper an jenem Ort und gingen auseinander.’

Indem mittels Redewiedergabe die Überlegungen der Figuren offengelegt werden, interpretiert der Erzähler

zum einen die Beweggründe dafür, dass sie den Leichnam in das Grab legen und nach Hause gehen, ohne weiter

zu handeln. Zugleich elaboriert er die Grundlage für die in Novaković verwendeten Eigenschaftszuschreibung

‘unerfahren’ und ‘unwissend’. Dabei zeigen die verwendeten deiktischen Mittel (tuka, turime), dass die Wieder-

gabe in Tixonravovski als direkte, bei Punčo dagegen als indirekte Rede geschieht und damit perspektivisch inte-

griert ist. Dass die indirekte Redewiedergabe mit dem Subjektreferenten des Matrixsatzes verankert ist, zeigt

sich auch an der Verwendung des nicht-spezifischen nekoi st҃o telo (im Unterschied zur Null-Markierung in Ti-

xonravovski). Mit nekoi wird der Referent ‘heiliger Körper’ als referentiell nicht verankert dargestellt und kann

folglich als aus der Sicht der Figuren unbekannt interpretiert werden. Dem entspricht auch die hypothetische

Fortführung mit tobi ot krilь bg҃ь nekoję čudesa ‘hätte Gott irgendwelche Wunder offengelegt’, in der zudem

ebenfalls das nicht-spezifische nekoję verwendet wird.

Diese Psychologisierung über das Offenlegen und Interpretieren des Innenlebens der beteiligten Figuren er-

höht die Explizitheit und damit auch die Verständlichkeit. Sie kann so als Ausrichtung an den mutmaßlichen Re-

zipienten verstanden werden.

3.2.1.2 Erzähler – Rezipient

Die Offenlegung bzw. Interpretation der inneren Motivationen der handelnden Figuren, die in (12) und (13)

deutlich wurde, deutet an, dass die Darstellung von Mutmaßungen in Bezug auf mögliche Reaktionen der Rezi-

pienten konzipiert ist. Dieser dialogische Charakter (‘dialogisch’ im Sinn von Baxtin 2000) wird auch in der

Hinwendung des Erzählers an die Rezipienten des Textes deutlich. Dies ist üblicherweise in der Einleitung am

Beginn des jeweiligen Textes – gerade wenn es sich um Predigten handelt – zu beobachten, so auch bei PT, vgl.

(14):

(14) a. Blagoslovi otče! (Novaković, 53)

‘Segne Vater!‘

b. Bls҃vi oč҃ (Tixonravovski, 55 / S. 94)

‘segne Vater’

c. poslušaite bl҃gosloveni xs҃ (Punčo, 66r)

‘hört, gesegnete Christen’

Während eine einleitende Hinwendung an die Rezipienten in allen hier untersuchten Versionen zu finden

ist, zeigen sich Unterschiede in der Spezifikation der Adressaten: ist sie bei Novaković und in Tixonravovski an

die ‘(Kirchen-)Väter’ gerichtet, so sind bei Punčo ganz allgemein ‘Christen’ die Adressaten, also ein geänderter,

breiterer Kreis an Rezipienten. Anders als in Novaković und Tixonravovski werden die Rezipienten bei Punčo

zusätzlich durch den Imperativ poslušaite ‘hört’ angesprochen.

Darüber hinaus wendet sich in der Version bei Punčo der Erzähler auch während der Erzählung an die Rezi-

pienten. Ein Beispiel liegt in (15) vor, einer resümierenden Zusammenfassung nach der Darstellung des Traums

von Georgi (vgl. (18) unten).

(15) viditeli kakvo xorotuva st҃aja paraskeva georgiju na sъnъ (Punčo, 68r)

‘seht ihr, was die Heilige Paraskeva Georgi im Traum sagt’ Gerade Beispiel (15) zeigt sehr deutlich die Rolle des Erzählers, der hier kommentierend in den Text ein-

greift und so dessen Rezeption bzw. Interpretation steuert. Durch diese Interaktion mit den vorgestellten Rezipi-enten werden diese in den Text integriert, so dass hier von einer polyphonen Struktur gesprochen werden kann.

3.2.2 Textintern

3.2.2.1 Perspektivierung

Ein Beispiel für die in 2.2.1 angesprochene verankernde und damit auch perspektivierende Funktion von l-

Formen liegt in der Passage vor, in der ein Traum von Georgi, einer der in (11)-(13) geschilderten Situation be-

teiligten Personen, dargestellt wird. Petka erscheint Georgi im Traum, wodurch er erkennt, dass der Leichnam in

dem bestehenden Grab kein gewöhnlicher war. In der Version in Novaković werden für die Beschreibung des

Erscheinens zwei Präsenspartizipien (sědeštu, stoještixь) verwendet:

(16) Kь utrьny že sьnomь obьjetь byvь, mněše se caricu někoju na prěsvětlěmь sědeštu prěstolě zrěti, i

množьstvo mnogo světlyxь voinь okrьstь toje stoještixь (Novaković, 56)

‘Gegen Morgen aber, als er vom Schlaf umfangen war, schien ihm, dass er eine Zarin auf einem

sehr hellen Thron sitzend sah, und einen Menge sehr heller Krieger um sie stehend’ In Tixonravovski erscheinen anstelle der Partizipien zwei finite Präsensformen (sědi, stoętь), vgl. (17). Dies

verleiht dem Text eine größere Dynamik, da finite Formen im Unterschied zu Partizipialformen eine eigene Ver-ankerung mit der Zeitachse aufweisen, so dass Ereignisse vorliegen, die jeweils in Bezug zur origo lokalisiert sind.

(17) I na sъmnuvane zaspa. i vidě edna žena kato edna carica, i sědi na stol zlatь světlikavь. i okolo

neja stoętь mnogo voine xubavi světlikavy. (Tixonravovski, 56v / S. 96)

‘Und in der Morgendämmerung schlief er ein. Und sah eine Frau wie eine Zarin, und sie sitzt auf

einem goldenen hellen Stuhl. Und neben ihr stehen viele Krieger, schön und hell.’

Die Präsensformen in Novaković und Tixonravovski legen die Perspektive von Georgi nahe. Bei Punčo ist

die Wiedergabe des Traums auch explizit in Georgis Perspektive eingebettet: mit katoče ‘als ob’ und der l-Form

sednula – diese l-Form kann hier nicht als Perfekt interpretiert werden, sondern nur als distanzierende Um-

schreibung einer gegenwärtigen Handlung:

(18) vide sьnъ takovь čudenъ i strašenь katoče cr=ca nekoja sednula naprs҃ tolь i momci mlogo stojutь

predъ neja (Punčo, 67v)

‘und er sah einen so seltsamen und furchtbaren Traum, als ob eine Zarin auf einem Thron sitzen

würde und bei ihr viele Jungen stehen’

Mit der syntaktischen Einbettung der Beschreibung des Wahrgenommenen und der Verwendung einer l-

Form erfolgt ein Perspektivenwechsel vom Erzähler zu einer Figur im Text.

Ein weiteres Beispiel dafür findet sich – bezeichnenderweise – in einem zweiten Traum, der auf die in (16)-

(18) dargestellten Ereignisse Bezug nimmt. Eine Frau namens Efimija träumt den gleichen Traum wie Georgi. In

Novaković und Punčo wird kurz darauf verwiesen, vgl. podobno tomužde viděniju viděnie vidě, (19), und takovja

sьnъ vide, (20):

(19) Vъ nošti že toi i někaa otь blagogověinyxь ženь, Eufimia toi prozvanie, podobno tomužde viděniju

viděnie vidě, i oboi na utria vьsěmь po drobnu viděnnaa skazaše. (Novaković, 57)

‘und in dieser Nacht sah eine der frommen Frauen, Efimia war ihr Name, eine dieser Erscheinung

ähnliche Erscheinung, und beide erzählten am Morgen allen ausführlich das Gesehene’

(20) utuju noštь nekoę žena imei beše efimia iona takovja sьnъ vide i kogibi ujutro i dvoicama nasvь

narodь prikazaxu (Punčo, 67r)

‘in dieser Nacht hatte eine Frau, ihr Name war Efimia, auch einen solchen Traum und als es Mor-

gen war, berichteten beide dem gesamten Volk’

In Tixonravovski wird der Traum ausführlicher beschrieben und mit der Verwendung von l-Formen ohne

Auxiliar Efimia zugeschrieben. In diesem Kontext wäre jeweils eine renarrative Interpretation für diese Formen

möglich:

(21) I prěz tьzi noštь i druga žena dobra xr҃stianka imeto ei efimia. i tia takvozi viděla, i takvizy dumy i

njei rekle, i zarъčale skoro utrě rano da kažešь tova, da vy ot b҃ a ognь ne izgori. I nautrě izlězoxa i

dvata, i kazaxu na sički tamo po konecь. (Tixonravovski, 58 / S. 96)

‘Und in dieser Nacht hatte auch eine andere Frau, eine gute Christin, Efimia ihr Name, den glei-

chen Traum, und sie sagten ihr die gleichen Worte, und befahlen ihr, sag das früh am Morgen, so

dass euch das göttliche Feuer nicht verbrennt. Und am Morgen gingen beide und sagten [es] allen

dort bis zum Ende.’

Mit der Zuschreibung des Traums zur Figur handelt es sich, wie im Fall von Georgi, nicht nur um eine Psy-

chologisierung im Sinn des Offenlegens von Wahrnehmungen, die als innere Zustände von Efimia dargestellt

werden, sondern auch um eine explizite perspektivische Verankerung dieser Wahrnehmung.

Für die Darstellung der Vorgänge, die zum Begraben des später so unangenehm riechenden Leichnams ge-

führt haben, liegt in Berlinski eine andere Strategie vor, als in Tixonravovski (und den anderen hier diskutierten

Texten). Während in Tixonravovski, (22), mit den Aoristformen umrě ‘er starb’ und frьlixa ‘sie warfen’ eine Ab-

folge von Ereignissen beschrieben wird, ist in Berlinski, (23), das Sterben näher ausgearbeitet, wobei l-Formen

ohne Auxiliar verwendet werden (ležalъ ‘lag darnieder’, umręlъ ‘starb’):

(22) I sluči se ta umrě někoi korabnikь, i frьlixa go tamo blizu pri onzi stlъpь (Tixonravovski, 57 / S.

96)

‘Und es geschah, dass ein Schiffer starb und sie warfen ihn dort in die Nähe dieser Säule’

(23) Slučisa někoi korabniku, otljuta bolestь ležalъ, iumręlъ ifъrlenъ by tam, něide otdružinatasi, ifana

daizlazě, iznego smrad golěmъ (Berlinski, 181r)

‘und es geschah, dass ein Schiffer durch eine schlimme Krankheit niederlag und starb und er

wurde dort irgendwo hingeworfen von seiner Mannschaft, und es begann ein großer Gestank von

ihm auszugehen’

Durch die Verwendung der l-Formen ohne Auxiliar wird nicht nur das Sterben elaboriert. Mit ležalъ wird

zudem ein vermutlicher oder inferierter Grund für den Tod des Schiffers beschrieben, der wiederum aufgrund

der Entkoppelung von der Erzählinstanz durch umręlъ als nicht persönlich erlebt geschildert wird – im Unter-

schied zur Faktenkonstatierung mit dem Aorist umrě in (22).

3.2.2.2 Informationsstrukturierung

Neben der perspektivischen Verankerung der Erzählung durch l-Formen zeigen sich auch in Bezug auf die

Strukturierung der Informationen Unterschiede. Die in Abschnitt 2.2.2 angesprochene Funktionserweiterung von

edin in Richtung Indefinitheitsmarker kommt an den parallelen Stellen in (24) zum Ausdruck: während jedinь in

(24a) partitiv verwendet wird, ist in (24b) der Übergang vom Numerale zur Markierung von Indefinitheit

sichtbar. Eine Interpretation als Numeral ist für edno in (24c) nicht möglich:

(24) a. Vъ jedinjou že otь noštei […] zritъ někotoroje božъestъv’noe viděnie (Novaković, 54)

‘In einer dieser Nächte aber sah sie eine göttliche Erscheinung’

b. I vъ edna noštъ […] vidě božestvenno viděnie (Tixonravovski, 56r / S. 95)

‘In einer Nacht sah sie eine göttliche Erscheinung’

c. i edno vreme vide če (Punčo, 66v)

‘und eines Nachts sah sie, dass’

Die von Mladenova (2007; vgl. Abschnitt 2.2.2) beschriebene Herausbildung der Unterscheidung von nja-

koj und edin für nicht-spezifische und spezifische Indefinitheit zeigt sich ebenfalls in parallelen Passagen der PT.

Sowohl in Novaković, (25), als auch in Tixonravovski (ebenso in Berlinski, 181r), (26), wird korabnik ‘Schiffer’

mit njakoj als indefinit markiert und damit als textuell neu eingeführt. Dass die Referenz spezifisch ist, zeigt die

Wiederaufnahme durch eine Null-Anapher in (25) und die pronominale Anapher go in (26):

(25) sluči se korabniku někojemu nedugomъ ljutymъ bolěvšu skončati se, i tu něgde povrьženu byti

(Novaković, 56)

‘es geschah, dass ein Schiffer, nachdem er an einer schrecklichen Krankheit erkrankt war, starb,

und Ø [er] wurde dann irgendwohin geworfen’

(26) I sluči se ta umrě někoi korabnikь, i frьlixa go tamo blizu pri onzi stlъpь. (Tixonravovski, 57 / S.

96)

‘und es geschah, dass ein Schiffer starb, und sie warfen ihn dort in die Nähe dieser Säule’

Bei Punčo wird für diese Markierung der spezifischen Indefinitheit nicht někoi, sondern edinъ verwendet:

(27) utova vreme beše umrelъ edinъ čl҃vekъ gemidžię ‧ zakopali blizu priedinь stlъpь cr҃kovni (Punčo,

67r)

‘zu dieser Zeit war ein Schiffer gestorben, sie vergruben ihn in der Nähe eines Kirchenturms’

Mit dieser Funktion von edin zur Markierung von textueller Neuheit bei gleichzeitiger spezifischer Refe-

renz, d.h. Verankerung mit der Erzählinstanz, kann die bei Punčo häufige Verwendung von edin am Beginn neu-

er Textabschnitte erklärt werden: sie dient dem Einführen von Diskurstopiks, d.h. neuen Diskursreferenten, die

im weiteren Textverlauf relevant sein werden. In Novaković sind für die Markierung neuer Diskurstopiks bevor-

zugt Partikeln wie ubo, že oder auch bo anzutreffen. Dies zeigt sich exemplarisch im Vergleich der Passage in

Tabelle 4:

Novaković, 56 Tixonravovski, 57v / S. 96 Punčo, 67r

[Bi] [a] Stlьpniku ubo togda blizъ

něgde tu na stlьpě bezьmlьstvujuštu

[…] načetь že smradь isxoditi bez-

měrnъ […] i [b] stlьpniku otь eže

[Ti] [a] Někoi postnikъ imaše tamo

na stlъpь prěbyvaše, […] i […] [b]

onzi stlьpnikъ vekje ne može da

trьpi onzi smradь. Ami [c] Ø slěze

i [Pi/Pii] [a-c] proreče edinь

duxovnikь tova 0 telo damožete

dago izvadite o stlъpo dago

pogrebete dalъboko dane izlazi

ne mošti nesьtrьpimago smrada

onogo trьpěti, [c] Ø ponuždenu by-

všu otь stlьpa sьniti, jakože i [Bii]

[d] někymь povelěti rovъ iskopati

glьbokь […]? [e] oni že […]

uspěvaxu vь dělě.

‘[Bi] [a] Als ein Eremit aber da-

mals auf einem Pfahl schweigend

saß […] es begann ein maßloser

Geruch herauszukommen und [b]

weil der Eremit den unerträglichen

Geruch nicht ertragen konnte, […]

[c] war Ø [er] gezwungen, vom

Pfahl herunterkommen, und so [Bii]

[d] irgendwelchen [Menschen] zu

befehlen, eine tiefe Grube zu gra-

ben; [e] und sie nämlich […] waren

erfolgreich im Tun.

ot onzi stlъpь, i [Tii] [d] naide č҃lci i

povelě imь da iskopajutъ trapь

golěm […] [e] i onia č҃lci poslušaxa

onogozi postnika. i [f] Ø poidoxa

tamo i zexa da kopajutь

‘[Ti] [a] Es war dort ein Eremit, er

lebte auf einem Pfahl, und dieser

Eremit konnte diesen Gestank nicht

mehr aushalten. Aber [c] Ø [er]

stieg von diesem Pfahl, und [Tii]

[d] fand Männer und befahl ihnen,

eine große Grube auszugraben [e]

und diese Männer gehorchten die-

sem Eremiten. Und [f] Ø [sie] gin-

gen dorthin und begannen zu gra-

ben’

tolkova smradь ot nego [Pii] [d-

e] iedni čl҃veci priidoxu i [f] Ø

izvadixu onja trupъ ot tamo

‘und [Pi/Pii] [a-c] es sagte ein

Geistlicher dort ihr könnt den

Körper von der Säule entfernen

begrabt ihn weit entfernt damit

kein solcher Gestank von ihm

ausgeht [Pii] [d-e] und es kamen

[ein.pl] Männer und [f] Ø

enfernten diesen Leichnam von

dort’

Tabelle 4 Der in Tabelle 4 erfaßte Ausschnitt beinhaltet zwei referentielle Ketten, die jeweils auf für den entsprechen-

den Text charakteristische Art mit der Einführung des Diskurstopiks – ‘Eremit’ bzw. ‘Männer’ – begonnen und durch anaphorische Wiederaufnahmen weitergeführt werden:

(28) Referentielle Kette ‘Eremit’

(Bi) In [a] wird stъlpnikъ eingeführt und mit ubo als Diskurstopik markiert, in der Folge nominal, [b],

und später null-markiert, [c], wieder aufgenommen

(Ti) In [a] wird postnikь mit někoi eingeführt (die Topikalisierung wird hier auch durch die Wortstel-

lung unterstützt), in der Folge mit einem anaphorischen Demonstrativpronomen, [b], und danach

null-markiert, [c], aufgenommen

(Pi) duxovnikъ ist nicht vorerwähnt; der Referent wird mit edinъ als Diskurstopik eingeführt und eta-

bliert

(29) Referentielle Kette ‘Männer’

(Bii) oni že in [e] greift die in [d] mit někimь eingeführten ‘irgendwelchen’ auf und macht sie zum Dis-

kurstopik

(Tii) čl҃ci in [d] wird ohne Determinierer als indefinit, und damit nicht vorerwähnt, eingeführt; dass die

Referenz spezifisch ist, zeigt sich an der referentiellen Aufnahme durch imь; onia člci in [e] stellt

einen anaphorischen Bezug her, ebenso wie die Nullanapher in [f]

(Pii) edni markiert čl҃veci als nicht vorerwähnt, aber spezifisch, [d-e], d.h. als Diskurstopik, das in der

Folge durch eine Nullanapher, [f], aufgenommen wird

Die Verwendung von edin unterstützt so die zusammenfassende Darstellung der Ereignisse bei Punčo, die

für seine Überarbeitung von PT charakteristisch ist. Dadurch, dass edin in spezifisch-indefiniter Funktion an-

zeigt, dass die Referenten dem Erzähler bekannt sind, kann der Rezipient diese Bekanntheit akkommodieren,

d.h. zum als gemeinsam vorausgesetzten Hintergrund hinzufügen. Dies ersetzt die explizite Einführung eines

Diskurstopiks und seine Etablierung durch anaphorische Wiederaufnahme. Somit liegt bei Punčo eine grundle-

gend andere Strategie in der Textentfaltung vor, als in Novaković und Tixonravovski: während bei diesen die

Verweise innerhalb des Textes stattfinden, spielt bei Punčo der Erzähler und die Verankerung des Erzählten mit

ihm eine zentrale Rolle – die Verweise bringen auch das Sprechereignis, d.h. die Ebene des Erzählens, ins Spiel.

3.3 Texttyp und Genre

Der Vergleich der Versionen von PT in Abschnitt 3.2 impliziert nicht, dass zwischen ihnen in textologi-

scher Hinsicht ein diachroner Zusammenhang besteht. Es handelt sich bei den gezeigten Beispielen vielmehr um

synchrone Schnitte, deren sprachstrukturelle Merkmale in ihrer Gesamtheit auf Änderungen in Bezug auf das

Genre hinweisen. Die gezeigten Entwicklungen betreffen den Zusammenhang von sprachlicher und narrativer

Ebene, für den bestimmte Texttypen kennzeichnend sind. Anhand der Kriterien ‘Ereignisabfolge’ und

‘Erzählinstanz’ unterscheidet Schmid (2008) drei hauptsächliche Texttypen: Der deskriptive Texttyp beinhaltet

Beschreibungen ohne eine Erzählinstanz, der mimetische Typ schildert Ereignisabfolgen, ebenfalls ohne eine Er-

zählinstanz aufzuweisen. Eine explizite Erzählinstanz kommt beim narrativen Typ ins Spiel. Im gegenwärtigen

Bulgarischen sind diese Texttypen durch die bevorzugte Verwendung von bestimmten Verbalformen gekenn-

zeichnet (Sonnenhauser 2014): so ist für deskriptive Texte die Verwendung von Präsens- und Imperfektformen

charakteristisch, für mimetische Texte sind es Aoristformen, während in narrativen Texten häufig l-Formen zu

finden sind. Texttypen sind nun ihrerseits auch für bestimmte Genres charakteristisch, wie Sonnenhauser (2014)

für die Zeitungssprache des gegenwärtigen Bulgarischen und das vorstandardisierte Balkanslavische anhand der

sich differenzierenden Genres ‘liturgischer Text’ und ‘sekundär liturgischer Text’ (wie die oben erwähnten

poučenija und tălkovanija) zeigt.

Tendenzen zu einer sprachlichen Ausdifferenzierung von Texttypen vor dem Hintergrund sich verändernder

oder neu entstehender Genres zeichnen sich auch in den hier untersuchten Versionen der PT ab. Der deskriptive

Charakter der Fassung in Novaković zeigt sich in der gehäuften Verwendung partizipialer Formen. Aufgrund ih-

res weniger verbalen Charakters, dadurch also, dass sie Ereignisse nicht auf der Zeitachse verankern, sondern ta-

xisch in Bezug auf andere Ereignisse einordnen, und aufgrund ihrer Stativität – sie sind eigenschaftszuschrei-

bend und referieren nicht auf Ereignisse – sind sie weniger zum Ausdruck von Ereignissen und Ereignisabfolgen

geeignet als finite Verben. Unter den finiten Formen finden sich viele Imperfektformen, so dass die Darstellung

in Novaković in weiten Teilen stativ-beschreibend, oder – wie Dragova (1985, 100) es darstellt (vgl. Abschnitt

3.1) – räumlich wirkt.

Anders verhält es sich mit der Version in Tixonravovski. Die Darstellungsweise ist überwiegend mimetisch,

d.h. der Fokus liegt auf der Darstellung der Ereignisabfolge. In der Version von Punčo treten zunehmend per-

spektivierende Mittel auf. Diese verankern Erzählung mit einer Erzählinstanz, so dass sie dem narrativen Typ zu-

gerechnet werden kann, der in den Damaskini (noch) nicht in dieser Ausprägung zu finden ist.

Natürlich muss PT auch in jüngeren Versionen nicht notwendigerweise narrativ gestaltet werden. So ist bei-

spielsweise die Version von 1788 (abgedruckt in Angelov 1958, 101-104) zwar aus einer ähnlichen Zeit wie

Punčos Version, doch ist sie überwiegend mimetisch verfasst. Es handelt sich bei der beschriebenen Entwick-

lung nicht um einander ablösende Texttypen oder um eine zwangsläufige Entwicklung, sondern um das Entste-

hen einer zusätzlichen Option. Die Annahme, dass die Unterschiede in der Verwendung und Funktion bestimm-

ter Formen mit der Ausdifferenzierung verschiedener Genres zusammenhängen, kann durch den synchronen

Vergleich verschiedener Texte unterstützt werden. Eine solche Betrachtung ist für den hier relevanten Zeitraum

jedoch nur für Texte ein und desselben Verfassers sinnvoll, da Normen noch nahezu autorenspezifisch sind. Ent-

sprechend wird die Ausdifferenziertheit von Texttypen und Genres im Folgenden anhand ausgewählter Texte aus

dem Band von Pop Punčo (Poppunčov sbornik; vgl. dazu genauer Conev 1923; Angelov 1964, 149-167) illus-

triert.

4. Synchrone Ausdifferenziertheit

Die im Poppunčov sbornik von 1796 enthaltenen Texte sind stark volkssprachlich geprägt und weisen ein

breites inhaltliches Spektrum auf. Sie umfassen Belehrungen, Darstellungen des Lebens von Heiligen und ge-

schichtlicher Ereignisse sowie Erzählungen über religiöse Themen (genauer vgl. Angelov 1964, 151-152) und

erlauben dadurch einen Blick auf die sprachliche Gestaltung von Texten mit unterschiedlicher Thematik und un-

terschiedlicher Funktion.

4.1 Autorenebene

Pop Punčo tritt in biographischen Einschüben als Autor in Erscheinung, (30), oder auch durch Beschreibun-

gen der Umstände des Verfassens, (31):

(30) a. pisaxь azь popa puno ot selo mokrešь (Punčo, Vorwort)

‘das habe ich geschrieben, Pop Punčo aus dem Dorf Mokreš’

b. počexъ knigu siju pisati vъ leto ot sotvorenie mira ** [unleserlich] ot rž҃ va že boga slova ** [un-

leserlich] mc҃ a aprela denь z҃ (Punčo, Vorwort)

‘ich habe begonnen, dieses Buch zu schreiben im Jahr ** seit Schaffung der Welt seit der Geburt

von Gottes Wort ** im Monat April am Tag 7’

(31) i ima mlogo reči neispraveni poneže ne pisa ag҃ gelь gsd҃nь ni dx҃ь s҃ti no pisa ruka grešnago

čl҃večeska ni ot svoj pametь izmislixь no ot bž҃ estveni knigi xrs҃ tovi proizvedox i napisaxь ina-

pečataxь (Punčo, Vorwort)

‘und es gibt viele unvollkommene Erzählungen, weil weder ein Engel des Herrn noch der Heilige

Geist geschrieben hat, sondern die Hand eines sündigen Menschen, nicht aus meinem Gedächtnis

habe ich es mir ausgedacht, sondern aus göttlichen Büchern übersetzt und aufgeschrieben und ge-

druckt’ Zudem wendet er sich mit Kommentaren, die den Lesefluss steuern, an die Rezipienten, wie beispielsweise

mit dem Hinweis in (32):

(32) � krasu zmiju traži napredь nalista spv҃ (Punčo 278r)

‘ich zeichne eine Schlange, suche nach vorne, auf Blatt 282’

Auf Blatt 282 findet sich ein leerer Rahmen, in den offenbar diese Schlange eingefügt werden sollte. Sym-

ptomatisch für das Selbstverständnis von Punčo als Autor sind auch die im Band enthaltenen Selbstportraits. Das

Portrait auf Blatt IIIv bildet zudem den Schreibprozess selbst ab: es zeigt Punčo beim Verfassen der Einleitung,

die gerade entsteht (zu lesen ist dort: početoxъ pisati sie skazanie […] ‘ich begann, diese Erzählung zu schrei-

ben’). Er reflektiert auf seine Tätigkeit des Schreibens also nicht nur verbal, sondern stellt sie auch bildlich dar.15

Einen großen Teil des Sbornik (344v-360) nimmt die Überarbeitung der Istorija slavjanobolgarskaja ein,

mit dem Titel Sьbranie istoričeskoe o narode i o care bolgarskem. Gerade diese Überarbeitung zeigt den sehr

freien Umgang von Pop Punčo mit seinen Quellen.16 Er erzählt nach, kürzt ab und schmückt aus (Angelov 1964,

153). Zudem sind in Punčos Überarbeitung der Istorija zwei Texte enthalten, die Angelov (1964, 152) als eigene

Schöpfungen einschätzt: Povestь radi cr=a aleksandriju (361r-363v) über den Tod von Zar Aleksander (Abdruck

in Angelov 1958, 106-107) und Povestь radi moskovskago cr=a petra (363v-372r; im Folgenden: Zar Peter) über

den moskovitischen Zaren Peter. Nicht nur diese eigenen Erzählungen verdeutlichen, dass Punčo zu einer

bewussten Gestaltung der Texte in der Lage war. Auch Texte, die auf einer Vorlage beruhen – wie die Istorija

oder auch PT – sind durch seine Überarbeitung so individuell geprägt, dass kaum noch von einem bloßen Ab-

schreiben oder Übersetzen gesprochen werden kann.

Auf das angesprochene textuelle Bewusstsein von Punčo und sein Bewusstsein für Genreerfordernisse deu-

tet auch die Tatsache hin, dass die Merkmale, die hier als Indizien für das Auftreten einer Erzählinstanz interpre-

tiert wurden, nicht in allen Texten anzutreffen sind, sondern sich auf charakteristische Weise in einer bestimmten

Gruppe an Texten häufen.

4.2 Erzählerebene

Die Verwendung der angesprochenen narrativen Strategien und das Erscheinen einer Erzählinstanz in be-

stimmten Genres kann anhand eines Vergleichs des Textes über Zar Peter mit den Erzählungen über den Mönch

Neofit (Pritča stlьpu ineofitu, 22v-26v; in Folgenden: Neofit) oder den Kaufmann Theodor (Slovo theodora kup-

ca, 255r-259v; im Folgenden: Theodor) gezeigt werden. Während ersterer dem mimetischen Typ mit der Funkti-

on einer reinen Ereignisdarstellung zugerechnet werden kann, stehen die beiden letzteren Beispiele für den narra-

tiven Typ.17

Ein auffallender Unterschied besteht in der Verwendung von edin. Wie in Abschnitt 2.2.2 gezeigt wurde,

sind Vorkommen von edin in nicht-numeraler Verwendung v.a. in Texten mit Erzählerinstanz zu erwarten. Be-

zeichnend ist der Beginn der Erzählungen über Neofit in (33):

(33) imaše edno vreme edinь človekь bogatь ta otide na edno mesto u edna gora (Punčo: Neofit, 22v)

‘es war zu einer Zeit ein reicher Mann und er ging an einen Platz bei einem Wald’

Hier tritt edin in indefinit-spezifischer Funktion auf, d.h. führt Referenten in den Diskurs ein, die textuell

nicht vorerwähnt sind, vom Erzähler aber als bekannt präsentiert werden und damit als Diskurstopiks im weite-

ren Verlauf eine Rolle spielen werden. Dies trifft weniger auf das adverbial gebrauchte edno vreme zu, als viel-

mehr auf edin človekь, edno mesto sowie edna gora.

15 Interessant ist diese Darstellung der Selbstreflexion auch in semiotischer Hinsicht. Eine weiterführende Diskussion, beispielsweise im Rahmen der Peirceschen Semiotik, wie dies Schönrich (1990, 46-68) für Diego Velázquez’ jedoch ungleich komplexeres Gemälde Las Meninas vorschlägt, könnte Punčos Band in den weiteren Kontext der literarischen und künstlerischen Entwicklung des Balkanraums einbetten. 16 Für die Istorija zeigt Angelov (1964, 156) dies anhand einer Gegenüberstellung kurzer Ausschnitte von Punčos Version mit dem Original von Paisij, sowie mit einer Abschrift von Nikifor Rilski. 17 Deskriptive Texte sind weniger zu finden, weil der Band zur Unterhaltung konzipiert wurde. Dagegen sind Ratschläge enthalten (z.B. nedruguvaite sasь čuždi ženi ‘freundet euch nicht mit fremden Frauen an’, 109v-110r), die in erster Linie Imperative aufweisen.

Ebenso verhält es sich in mit edinь mlad momkь und edinь mramorь aus Neofit (34a-b), und edni vrata aus

Theodor (34c). Dabei sind insbesondere (34b) und (34c) bemerkenswert, wird edin hier doch im Zusammenhang

mit einem Massennomen (‘Marmor’) und als Plural kongruierend mit vrata ‘Tür’ (das noch als pluralium tantum

gebraucht wird) verwendet.

(34) a. imaše natoja metovъ edinь mlad momkь (Punčo: Neofit, 23v)

‘es gab bei diesem kleinen Kloster einen jungen Mann’

b. i poče dakopae tamo inajde edinь mramorь ipodь mramora dzelo golemь kotel plьnь sasь žlьtici

(Punčo: Neofit, 24r)

‘und er begann dort zu graben und fand einen Marmor und unter dem Marmor einen sehr großen

Topf voll mit Goldstücken’

c. ikato idexu poulicu vidoxu naedni vrata obrazь xr᷉tovь napisanь (Punčo: Theodor, 255v)

‘und als sie die Straße entlanggingen, sahen sie an einer Tür das Bild von Christus gemalt’

Die Verwendung dieser Mittel – gerade am Beginn von Erzählungen – und die damit einhergehende narrati-

ve Strategie erinnert stark an folkloristische Erzählungen und Märchen des gegenwärtigen Bulgarischen, vgl.

edna babička und edin gladen vălk in (35):

(35) Edna babička otišla v gorata da si săbere drăvca. Sreštnal ja edin gladen vălk i í rekăl18.

‘Eine alte Frau ging in den Wald um Holz zu sammeln. Es traf sie ein hungriger Wolf und sagte

zu ihr’

Auch Erzählerkommentare, die sich an die Zuhörer wenden, sind in Neofit und vergleichbaren Texten anzu-

treffen – nicht aber in Texten wie Zar Peter. Häufig zu finden sind einordnende und zusammenfassende Kom-

mentare, die der Orientierung der Rezipienten dienen, am Beginn der entsprechenden Texte, vgl. (36). Bezeich-

nenderweise tritt in diesen Kontexten auch häufig eine l-Form mit Auxiliar auf, hier: e pravilo, die die Aussage

mit dem Erzähler verankert:

(36) Bl҃gosloveni xr҃ tijani poslušaite daskažeme čudesa štosee pravilo […] daže ido dnešni denь (Punčo:

Neofit, 22v)

‘Gesegnete Christen, hört uns Wunder erzählen, die sogar bis zum heutigen Tag getan worden

sind’

In (37) erscheinen die l-Formen e došlъ und se e potpilъ in einer Abfolge von Aoristformen. Beide sind sie

aus der Ereigniskette herausgehoben. Sie werden im Zusammenhang mit der Figur židovin ‘Jude’ und der Dar-

stellung seines Innenlebens gebraucht: die Perzeption der Neuigkeit, dass Theodor angekommen ist, sowie sein

Nichtwissen darum, dass er Schiffbruch erlitten hat.

(37) i vrьnuse paki vь cr҃igradь inemože dastigne cr҃ i gradь ipotopise krablь dočuse xabarь do židovina

čee došlь teodorь ale ne znae česee potopilь korablь (Punčo: Theodor, 255v-256r)

18 http://www.slovo.bg/showwork.php3?AuID=16&WorkID=9659&Level=1, 15.1.2015

‘Und er kehrte wieder nach Konstantinopel zurück und konnte Konstantinopel nicht erreichen und

sein Schiff ging unter. Den Juden erreichte die Nachricht, dass Theodor angekommen ist, aber er

wusste nicht, dass das Schiff untergegangen ist.’

Interessant ist hier v.a. se e potopilь ‘ist untergegangen’ als Komplement zu ne znae če ‘er wusste nicht,

dass’: dies kann als Kommentar des Erzählers interpretiert werden, der mehr weiß als die Figur. In solchen Kon-

texten zeigt sich die Rolle des Erzählers, der sich von der Erzählung emanzipiert und eine reflektierende Position

einnimmt, besonders deutlich.

In der Passage aus Neofit in (38) erscheinen l-Formen ohne Auxiliar, die ebenfalls das Auftreten einer per-

spektivierenden Erzählinstanz deutlich machen. So können ostavili ‘sie haben hingelegt’ und zaspalь ‘er ist ein-

geschlafen’ als Perspektivenwechsel hin zur Sicht des Kandilars interpretiert werden, der beide Ereignisse nicht

selbst erlebt hat, was seine im Folgenden beschriebene Angst und seine Schlussfolgerungen (sablazna besoveska

‘dämonische Versuchung’) erklärt. Auch die l-Form ohne Auxiliar privelь nekoj ‘jemand hat hergebracht’, die in

seiner direkten Rede verwendet wird, deutet darauf hin – ebenso, wie die Verwendung des nicht-spezifischen ne-

koj, im Unterschied zum indefinit-spezifischen edna:

(38) A onja momkь katogo ostavili ang҃elete na sredь monastira aonь sirmax ot golem straxь zaspalь

nasredь monastira i nazaranь stanu rano kandilarь dazapali kandila […] aonь vide česveti nešto

nasredь monast҃a ikato vide uplašise ireče čee nekoja sablaznь ivrьnuse nazatь […] ireče kandilarь

vld҃ko privelь nekoj edna sablazna besoveska nasredь monastir (Punčo: Neofit, 25r)

‘Und dieser junge Mann, als ihn die Engel in der Mitte des Klosters hingelegt haben, schlief er vor

großer Angst mitten im Kloster ein und früh am Morgen stand ein Kandilar auf, um die Lampen

anzuzünden und er sah, dass etwas in der Mitte des Klosters leuchtet und als er das sah, fürchtete

er sich und sagte, dass das eine Versuchung sei und kehrte um und der Kandilar sagte dem

Bischof, irgendjemand hat eine dämonische Versuchung in die Mitte des Klosters gebracht’

Ein weiteres Beispiel für die Relevanz einer Erzählinstanz stellt die Verwendung unterschiedlicher Formen

der Redewiedergabe dar. In Zar Peter ist ausschließlich direkte Rede anzutreffen. Redewiedergabe wird damit

als Teil der Ereignisabfolge dargestellt, wie dies auch Collins (1996) in seiner Analyse altostslavischer Texte be-

obachtet. Dies ist möglich, weil direkte Rede es dem Berichtenden erlaubt, “to assume the purported viewpoint

[…] of the represented speaker by re-enacting that individual’s putative orientation in the represented speech

event” (Collins 1996, 44).

Bei Zar Peter zeigt sich dieses Nachspielen deutlich an den zahlreichen Stellen, in denen mit direkter Rede

die vorausgehende Schilderung der Abfolge der Ereignisse fast wörtlich wiederholt wird. Ein Ausschnitt, der

dieses Prinzip verdeutlicht, liegt in (39) vor:

(39) Nai posle otidoxuu ucr҃ i grad pri cr҃a kostandina itamo davidutь cr҃ь kostandinь kakva vera deržitь

ikakva čistota imatь i kakvo jadene edutь ividegi cf҃ъ kostandinь i pita svoi slugi ireče tija člv҃eci ot

kudu su ioni rekoxu cr҃u čestiti tia čl҃veci sutь nastoinici moskovьskomu cr҃u petrovi ipri zvagi cr҃ ь

ipitagi ireče vie pošto radi doidoxte do tuva kažete mi pravo i oni rekoxu ti da si živь cr҃u nię doi-

doxme do tvoju ruku idavidimo kakva vera vie veruvate ikakva čistota vie drьžite ikakvo jadene

vie edete i nie davidimo inie davervamo inie takovo da edemo i da budemo i nie cr҃u rabi tvoi i

kato ču cr҃ь takviva mirni dumi ot tija člv҃eci a onь reče na svoi nastoinici […] (Punčo: Zar Peter,

364v-365r)

‘Als nächstes gingen sie nach Konstantinopel zum Zaren Konstantin um auch dort zu sehen, wel-

chen Glauben Zar Konstantin hat und welche Moral er hat und welches Essen sie essen und Zar

Konstantin sah sie und fragte seine Diener und sagte, diese Männer, woher sind sie, und sie sagten

dem Zaren, diese Männer sind Diener des Moskovitischen Zaren Peter und der Zar rief sie herbei

und er fragte sie und sagte, warum seid ihr hierhergekommen, sagt mir die Wahrheit und sie sag-

ten, Sei gegrüßt, Zar, wir sind zu dir gekommen damit wir sehen, welchen Glauben ihr glaubt und

welche Moral ihr habt und welches Essen ihr esst und damit wir sehen und damit auch wir glauben

und damit auch wir so essen und damit auch wir, Zar, deine Diener werden und als der Zar diese

friedlichen Worte von diesen Männern gehört hat, sagte er zu seinen Dienern … ’

In Neofit und Theodor dagegen werden direkte und indirekte Rede abwechselnd verwendet, vgl. (40) aus

Theodor:

(40) doide mu na domь dasi saka imaneto svoe inajdego čeplače nadomь svoi iongo popita štoplačešь

teodore ionь reče potopise korablь ipogubixь sveto imenie ažidovidnь go tešeše da se ne oskrьbu-

va no daveruva štosee obreklь xr҃tu […] (Punčo: Theodor, 256r)

‘er ging zu seinem Haus, um seinen Besitz zu verlangen und fand ihn, dass er in seinem Haus

weint und er fragte ihn, was weinst du, Theodor, und er sagte, mein Schiff ist untergegangen und

ich habe mein Vermögen verloren, aber der Jude tröstete ihn, dass er sich nicht sorgen soll,

sondern glauben soll, was er Christus versprochen hat’

Mit ihrer ‘Zweistimmigkeit’ (vgl. Collins 1996, 21) erlaubt indirekte Rede die Perspektivierung des Wie-

dergegebenen. Sie setzt damit eine Erzählinstanz voraus, die sich in Distanz zum Erzählten befindet und so dar-

auf reflektieren kann.

Aus dem Vergleich von Zar Peter und Theodor bzw. Neofit ergeben sich damit Hinweise, dass Unterschie-

de in der sprachlichen Gestaltung dieser Texte tatsächlich dem textuellen Bewusstsein von Punčo zugeschrieben

werden können. Damit wird auch die Annahme unterstützt, dass Punčo seine Version der PT nicht als Schilde-

rung einer Ereignisabfolge konzipiert hat, sondern sie über die Verwendung des narrativen Texttyps intentional

in den Rahmen eines neuen Genres gestellt hat, während Texte wie Zar Peter ähnlich den mimetischen ostslavis-

chen Chroniken des älteren Typs konzipiert zu sein scheinen.

Als Erklärung für die Unterschiede in der sprachlichen Textgestaltung kann damit neben dem Inhalt, der in

Abschnitt 3 anhand der Diskussion von PT als Faktor weitgehend ausgeschlossen wurde, auch der mögliche Ein-

fluss einer Vorlage als nicht maßgeblich eingeschätzt werden. Gegen den (ausschließlichen) Einfluss einer Vor-

lage bei Punčo spricht, dass die analysierten Mittel bei ihm in ganz bestimmten Texten auftreten, in anderen da-

gegen nicht. Damit kann von einer bewussten Gestaltung ausgegangen werden, die im Zusammenhang mit dem

intendierten Zweck – Unterhaltung vs. Faktendarstellung oder Belehrung – des Textes zu sehen ist. Die Funktion

des Textes hat damit nicht nur auf seine literarische Gestalt Auswirkungen, sondern steht auch im Zusammen-

hang mit seiner sprachlichen Form.

5. Resümee

Die balkanslavische Literatur von der Mitte des 16. bis zur Mitte des 19. Jh. befindet sich in einer

Übergangsphase zwischen mittelalterlicher Texttradition und den sich herausbildenden Normen der entstehenden

Literatur- und Standardsprachen. Diese literarische Entwicklung wird nicht nur an inhaltlichen Neuerungen und

sich verändernden kulturellen Stereotypen sichtbar, sondern auch sprachlich. Charakteristisch sind das vermehrte

Vorkommen von Formen und Strukturen, die in der älteren Tradition nicht üblich waren, sowie die

Neufunktionalisierung morphosyntaktischer Kategorien und syntaktischer Strukturen. Der gemeinsame Nenner

besteht im Einführen einer Erzählinstanz und, damit einhergehend, verschiedener Perspektivierungsstrategien.

Diese Neuerungen sind charakteristisch für den narrativen Texttyp, der seinerseits konstitutiv für Texte mit

erzählender – und nicht darstellender, berichtender oder belehrender – Funktion ist. Diese funktionale

Ausdifferenzierung wurde im vorliegenden Beitrag diachron anhand verschiedener Versionen der Vita der Petka

Tărnovksa und synchron an ausgewählten Texten aus dem Sammelband von Pop Punčo nachgezeichnet.

Die gezeigten Veränderungen sind dabei nicht als Ausdruck einer ununterbrochenen oder gar zielgerichte-

ten Entwicklung zu verstehen. Auch liefern die sprachlichen Neuerungen nicht notwendigerweise unmittelbar In-

dizien für einen strukturellen Sprachwandel; ebenso wenig erlauben sie direkte Aussagen über die Sprachver-

wendung im alltäglichen kommunikativen Umgang. Sie weisen jedoch auf einen funktionalen Wandel hin, der

sich in Hinblick auf den Abgleich von sprachlichen Mitteln und textueller Intention, d.h. Diskurspragmatik,

zeigt. Dieser funktionale Wandel wird vor dem Hintergrund von und im Zusammenhang mit literarischen Ent-

wicklungen besonders deutlich und kann so als ein zentraler Bestandteil für den Ausbau des volkssprachlichen,

vorstandardisierten Balkanslavischen zu den späteren Literatur- und Standardsprachen verstanden werden.

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