Religiöse Mobilisierung im Reich. Die imperialen Lebensläufe und politischen Karrieren von Joseph...

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Religiöse Mobilisierung im Reich Die imperialen Lebensläufe und politischen Karrieren von Joseph Bloch und Stanislaw Stojalowski in der Habsburgermonarchie von Tim Buchen * Abstract: The article analyzes the political careers of two spiritual leaders from Habsburg Galicia, the rabbi Joseph Samuel Bloch und the Roman-Catholic priest Stanisław Stojałowski. As press entrepreneurs and Imperial Council members they played an active role in transforming their communities of believers into communities of opinion within the imperial public sphere. I argue that the Habsburg Empire was decisive in this process not only by setting up the structures for political-religious interaction but also as a positive idea in the programs of both politicians. The parallel analysis of the two biographies illustrates the potential, the limits, and the impact of their agency in the late Habsburg Empire. Der Rabbiner Joseph Bloch und der Priester Stanisław Stojałowski sind sich persönlich nie begegnet. Und doch prägte Gegnerschaft ihre politischen Karrieren, deren Verlauf zugleich einige Parallelen und Gemeinsamkeiten aufwies. Beide waren Geistliche aus Galizien, die im Laufe ihrer Karriere Publizisten und schließlich Politiker in Wien wurden. Ihre Leben verbanden die Peripherie des Reiches mit dessen Zentrum. Die Habsburgermonarchie gab die Strukturen für die politischen, publizis- tischen und selbst die religiösen Handlungsspielräume der beiden vor. Damit prägte das Vielvölkerreich nicht nur die beruflichen Laufbahnen der beiden, sondern auch ihre Vorstellungen davon, wie Staat und Religion zueinander in Beziehung treten können. Da sich Bloch und Stojałowski auf dem Weg durch das Imperium an diesem vorgefundenen Rahmen abarbeiteten, ihn bisweilen reproduzierten, manchmal verschoben, können ihre Lebenswege als imperiale Biographien beschrieben werden. Durch ihre Mobilität erfuhren sie den inneren Zusammenhang des Vielvölkerreiches, aber auch seine internationale Einbindung. Diese persönlichen Erfahrungen vermittelten sie ihren Gläubi- gen, Lesern und Wählern. Somit speisten sie religiöse Normen und Identitäten in den politischen Meinungsmarkt ein. Damit lösten sie sowohl innerhalb ihrer * Der Autor dankt dem Deutschen Historischen Institut Warschau, der Minerva-Stiftung und dem Internationalen Kulturzentrum Krakau (MCK) für die großzügigen Stipen- dien, die die Forschungen zu Joseph Bloch und Stanisław Stojałowski ermöglicht haben. Geschichte und Gesellschaft 40. 2014, S. 117 – 141 # Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Gçttingen 2014 ISSN (Printausgabe): 0340-613X, ISSN (online): 2196-9000

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Religiöse Mobilisierung im Reich

Die imperialen Lebensläufe und politischen Karrieren vonJoseph Bloch und Stanisław Stojałowski in derHabsburgermonarchie

von Tim Buchen*

Abstract: The article analyzes the political careers of two spiritual leaders fromHabsburg Galicia, the rabbi Joseph Samuel Bloch und the Roman-Catholic priestStanisław Stojałowski. As press entrepreneurs and Imperial Council members theyplayed an active role in transforming their communities of believers into communitiesof opinion within the imperial public sphere. I argue that the Habsburg Empire wasdecisive in this process not only by setting up the structures for political-religiousinteraction but also as a positive idea in the programs of both politicians. The parallelanalysis of the two biographies illustrates the potential, the limits, and the impact oftheir agency in the late Habsburg Empire.

Der Rabbiner Joseph Bloch und der Priester Stanisław Stojałowski sind sichpersönlich nie begegnet. Und doch prägte Gegnerschaft ihre politischenKarrieren, deren Verlauf zugleich einige Parallelen und Gemeinsamkeitenaufwies. Beide waren Geistliche aus Galizien, die im Laufe ihrer KarrierePublizisten und schließlich Politiker in Wien wurden. Ihre Leben verbandendie Peripherie des Reiches mit dessen Zentrum.Die Habsburgermonarchie gab die Strukturen für die politischen, publizis-tischen und selbst die religiösen Handlungsspielräume der beiden vor. Damitprägte das Vielvölkerreich nicht nur die beruflichen Laufbahnen der beiden,sondern auch ihre Vorstellungen davon, wie Staat und Religion zueinander inBeziehung treten können. Da sich Bloch und Stojałowski auf dem Weg durchdas Imperium an diesem vorgefundenen Rahmen abarbeiteten, ihn bisweilenreproduzierten, manchmal verschoben, können ihre Lebenswege als imperialeBiographien beschrieben werden. Durch ihre Mobilität erfuhren sie deninneren Zusammenhang des Vielvölkerreiches, aber auch seine internationaleEinbindung. Diese persönlichen Erfahrungen vermittelten sie ihren Gläubi-gen, Lesern und Wählern. Somit speisten sie religiöse Normen und Identitätenin den politischen Meinungsmarkt ein. Damit lösten sie sowohl innerhalb ihrer

* Der Autor dankt dem Deutschen Historischen Institut Warschau, der Minerva-Stiftungund dem Internationalen Kulturzentrum Krakau (MCK) für die großzügigen Stipen-dien, die die Forschungen zu Joseph Bloch und Stanisław Stojałowski ermöglicht haben.

Geschichte und Gesellschaft 40. 2014, S. 117 – 141� Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Gçttingen 2014ISSN (Printausgabe): 0340-613X, ISSN (online): 2196-9000

Glaubensgemeinschaften, als auch in ihren lokalen politischen KontextenKonflikte und Ausdifferenzierungsprozesse aus.Städtische Wähler aus Ostgalizien entsandten den Rabbiner Bloch in denReichsrat, weil er die religiösen Traditionen des Judentums in der politischenÖffentlichkeit repräsentierte. Damit trug er zur politischen Identifikation derhabsburgischen Juden mit der Donaumonarchie bei. Der Priester Stojałowskiführte seine bäuerlichen Anhänger in das christlich-soziale Lager derMonarchie und vertrat einen chauvinistischen Katholizismus, der die Mo-narchie enger an Rom zu binden versuchte.Mit der wechselseitigen Bezugnahme von jüdischer Interessenpolitik undkatholischem Antisemitismus sorgten sie gemeinsam für eine Zunahmereligiöser Vorstellungen in der politischen Kultur der Monarchie. Damit warensie aktiv am Niedergang des politischen Liberalismus und dem Aufstieg derMassenpolitik beteiligt.1 Als Akteure des Wandels waren Bloch und Stoja-łowski zugleich in jene Transformationsprozesse eingebunden, die ihreGlaubensgemeinschaften und deren Beziehungen zur Habsburgermonarchieund den anderen europäischen Imperien durchliefen. Damit griffen sie in einhoch sensibles Feld internationaler Politik ein.Die europäischen Imperien des ausgehenden 19. Jahrhunderts waren starkreligiös legitimiert. Sowohl innere als auch internationale Vorhaben musstenden Anschluss an die Wertvorstellungen und Interessen ihrer meinungsfüh-renden Glaubensgemeinschaften finden.2 Die erste Globalisierung im Zeitalterdes Imperialismus war zugleich eine Internationalisierung religiöser Bestre-bungen.3

1 Zum Liberalismus in Österreich und der Entstehung der „Massenpolitik“ siehe John W.Boyer, Karl Lueger (1844 – 1910). Christlichsoziale Politik als Beruf, Wien 2010.

2 Jüngst hat Orlando Figes in seiner Arbeit über den Krimkrieg den Bedeutungsgewinnreligiöser Vorstellungen als Zusammenwirken aus zwischenstaatlichen Konflikten, densteigenden Erwartungen der politischen Öffentlichkeiten nach religiös-moralischbegründeten Interventionen und den Mobilisierungsstrategien der Großmächte ein-drucksvoll beschrieben. Orlando Figes, Krimkrieg. Der letzte Kreuzzug, Berlin 2012.

3 Neben konfessionell geformten Zivilisierungs- und Missionierungsvorstellungen wardie Inszenierung als Schutzmacht über Glaubensgenossen in anderen Teilen Europasund die Wahrung des Zugangs zu heiligen Orten spätestens seit dem Krimkrieg einwichtiger Faktor der Außenpolitik. Siehe hierzu auch den Beitrag von Alexa vonWinning in diesem Heft. Vgl. auch Vincent Vieane, International History, ReligiousHistory, Catholic History. Perspectives for Cross-Fertilization (1830 – 1914), in: Euro-pean History Quarterly 38. 2008, S. 578 – 607, hier S. 584 – 590; Abigail Green, TheBritish Empire and the Jews. An Imperialism of Human Rights?, in: Past & Present199. 2008, S. 175 – 205 und dies. , Nationalism and the „Jewish International“. ReligiousInternationalism in Europe and the Middle East c. 1840 – c. 1880, in: ComparativeStudies in Society and History 50. 2008, S. 535 – 558, hier S. 536 f.

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Im Gegensatz zu früheren, modernisierungstheoretisch geleiteten Ansichten,versteht die jüngere Forschung diese Interaktion von Religion, internationalerPolitik und sich pluralisierendem Meinungsmarkt nicht mehr als Bedeu-tungsverlust des Sakralen und stetiger Säkularisierung.4 Vielmehr waren diereligiösen Sphären zwar den Modernisierungsprozessen unterworfen undwurden durch sie verändert. Zugleich nahmen sie jedoch gestaltenden Einflussauf deren Dynamik. Abigail Green hat die These aufgestellt, dass die„Interaktion traditioneller religiöser Strukturen und Identitäten mit größerenProzessen politischen, sozialen, kulturellen, technologischen und ökonomi-schen Wandels […] die Transformation von Glaubens- in Meinungsgemein-schaften“ herbeigeführt hat.5

Diese These aufgreifend werden im vorliegenden Beitrag zunächst dieBiographien der beiden Akteure, die religiöse Strukturen mit jenen Prozesseninteragieren ließen, vorgestellt. Anschließend werden Wechselwirkungenzwischen den Akteuren und die internationalen Dimensionen ihres Handelnsherausgearbeitet. Ihre imperialen Biographien sollen dabei als Schnittstellenzwischen Religion und habsburgischer Öffentlichkeit beziehungsweise Politikeinerseits sowie zwischen dem Imperium und ihrer Glaubensgemeinschaftandererseits verstanden werden. Ebenso erlauben sie einen Einblick in diesubjektiv erfahrenen Strukturen des Reiches und den daraus abgeleitetenpolitischen Angeboten an die Wähler und Gefolgsleute dieser beiden impe-rialen Akteure.Die komplexen Wechselbeziehungen zwischen der Welt der Konfession unddem Reich zeigen sich auch in den Karrieren beider Akteure. Denn sievermochten es, das in geistlicher Ausbildung und Beruf angehäufte materielle,kulturelle und symbolische Kapital für den politischen Betrieb der Monarchienutzbar zu machen. Sie bewegten sich zwischen den lokalen politischenKontexten des Reiches und der religiösen Welt und waren zugleich in beidenSystemen jeweils eigenen Zwängen und Logiken unterworfen. Die in derEinleitung aufgeworfenen Fragen laden zum Nachdenken ein. Wie prägte dasImperium die Leben von Bloch und Stojałowski? Welche neuen Bedeutungenschrieben die beiden wiederum dem Reich zu?

4 Derek Peterson u. Darren Walhof, The Invention of Religion. Rethinking Belief in Politicsand History, New Brunswick 2002; Christopher Clark u. Wolfram Kaiser (Hg.), CultureWars. Secular-Catholic Conflict in Nineteenth-Century Europe, Cambridge 2005.

5 Green, Religious Internationalism, S. 537.

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I. Stanisław Stojałowski (1845 – 1911): Ein Tribun für daskatholische Volk

Stanisław Stojałowski wurde 1845 in eine römisch-katholische Adelsfamilie inder Nähe der galizischen Hauptstadt Lemberg geboren.6 Im folgenden Jahrscheiterte in Galizien ein Aufstand polnischer Adliger gegen die habsburgischeHerrschaft. Unfreie Bauern plünderten und brandschatzten Gutshöfe undermordeten ihre Besitzer. Die so genannte Rabacja blieb bis in das 20. Jahr-hundert hinein ein kollektives Trauma des polnischen Adels. Das Volk hattesich auf die Seite der Teilungsmächte gestellt und der Wiederherstellungpolnischer Staatlichkeit eine Absage erteilt. Mit der anschließenden Aufhe-bung der Fronarbeit durch den Gouverneur Franz Graf von Stadion richtetesich die Loyalität der bäuerlichen Untertanen fortan verstärkt an den Kaiser inWien. Sie stellten sich Franz Joseph als gütigen Fürsprecher vor.7 In denfolgenden Umwälzungen und Herausforderungen einer zunehmend geldwirt-schaftlich organisierten Agrarwirtschaft sahen sie einerseits die Adligen undandererseits die ökonomische Mittlerschicht der Juden als natürliche Antago-nisten.8

Die katholischen Bauern für eine neue polnische Sache zu gewinnen, bliebStojałowski ein Leben lang ein zentrales Anliegen. Seine Karriere führte ihndabei denkbar weit weg vom adligen Grundbesitzermilieu Ostgaliziens, in daser geboren wurde.Stojałowski fand früh, wenn auch etwas zufällig, zum Klerus. Nachdem erwegen schlechter Leistungen des staatlichen deutschsprachigen Gymnasiumsverwiesen wurde, musste er seine Schulbildung an einer privaten Schulefortsetzen.9 Durch Vermittlung seiner Schwester, einer Nonne, kam er 1863 aufdie Jesuitenschule in Nowa Wies.10 Anschließend absolvierte er Noviziat undTheologiestudium in Krakau, wo er 1870 zum Priester geweiht wurde und inultramontanen Zeitschriften publizierte.11 Auf den jesuitischen Volksmissio-nen erlebte er zugleich Armut und Perspektivlosigkeit der galizischen

6 Helena Hempel, Wspomnienia z zycia S. P. Stanisława Stojałowskiego. Z notatek, list�w ipamieci spisała Helena Hempel, Krak�w 1921.

7 Michał Łuczewski schreibt von einer „Imperialisierung“ der Bauern. Michał Łuczewski,Odwieczny nar�d. Polak i katolik w Zmiacej, Torun 2012, S. 123 ff.

8 Kai Struve, Bauern und Nation in Galizien. Über Zugehörigkeit und soziale Emanzi-pation im 19. Jahrhundert, Göttingen 2005.

9 Juliusz Stojałowski an die Statthalterei vom 21. Dezember 1862, in: Franciszek Kacki,Stanisław Stojałowski i jego działalnosc społeczno-polityczna, Lw�w 1937, S. 165.

10 Hempel, Wspomnienia.11 Zum Ultramontanismus als internationalem Phänomen siehe Emiel Lamberts (Hg.),

The Black International / L’Internationale Noir 1870 – 1878. The Holy See and MilitantCatholicism in Europe, Leuven 2002.

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Bauern.12 1873 wurde er für ein Jahr nach Belgien entsandt, wo er den späterenGründer der Christlichen Volkspartei, den Jesuit Adolf Daens kennen lernte.Daens organisierte die flämischen Arbeiter politisch im Namen des Katho-lizismus, kämpfte gegen marxistischen Sozialismus und Wirtschaftsliberalis-mus und für eine Verbesserung der sozialen Lage der Arbeiter.13

Nach seiner Rückkehr verließ Stojałowski 1875 den Orden Jesu, trat in denDiözesandienst ein und machte sich an die Verbreitung der katholischenSoziallehre in Galizien.14 Mit Unterstützung des Lemberger Erzbischofs kaufteer zwei kleine Bauernzeitungen, Winiec (Der Kranz) und Pszcz�tka (DasBienchen), für die er als Herausgeber und Chefredakteur fungierte.15 Aus denerbaulichen Schriften machte er beliebte Zeitungen, die die Probleme derBauern ansprachen und über Leserbriefe einen Kommunikationszusammen-hang zwischen polnischsprachigen Bauern und der ländlichen Intelligenzherstellten. In unzähligen Versammlungen rief er zur Gründung von christ-lichen Genossenschaften, Bauernbanken und Gemeindeläden unter derAnleitung von Priestern auf. Sie seien das wirksamste Mittel gegen „jüdischeAusbeutung“, die das polnische Volk zu Grunde richte. Seine korporationis-tischen Wirtschaftsvorstellungen zielten auf eine harmonische christlicheGemeinschaft, deren Einheit durch Geldwirtschaft und „jüdischen Liberalis-mus“ zerstört worden sei.

Früher ging jeder Stand seiner Arbeit nach. Der Bauer der Landwirtschaft, der Handwerkerin der Stadt dem Handwerk und der Adlige regierte, und musste dafür zur Verteidigung allerin den Krieg ziehen. Dann kamen die Juden, und weil alles schon besetzt war […], bedientensie sich des Handels, der damals kaum existierte. Deswegen assimilierten sie sich auch nicht.

12 Über die ersten Jahre in Stara Wies und Krakau informiert der Aufsatz anonymenUrsprungs. Biblioteki i Archiwa Jezuit�w w Krakowie, APMTJ 4445, Ks. StanisławStojałowski w zakonie Ks. Jezuit�w.

13 Zum politischen Katholizismus in Belgien siehe Vincent Viaene, Belgium and the HolySee from Gregory XVI to Pius IX (1831 – 1859). Catholic Revival, Society and Politics in19th Century Europe, Leuven 2001.

14 Jan Zamorski, Ks. Stanisław Stojałowski, Bielsko 1931, S. 15. Als Vordenker derEnzyklika und der „deutschen“ Strömung der katholischen Soziallehre gilt Karl vonVogelsang (1818 – 1890) als leitender Redakteur der katholischen Zeitung Das Vaterland.Albert Fuchs, Geistige Strömungen in Österreich. 1867 – 1918, Wien 1978. StojałowskisEntwicklung vom Publizisten im Namen der päpstlichen Unfehlbarkeit hin zu einemsozialen Aktivisten, der sich in den Wettbewerb mit weltlichen Akteuren zur Beant-wortung der „sozialen Frage“ begab, stand exemplarisch für die wachsende Bereitschaftdes Klerus, sich den Herausforderungen der Moderne zu stellen. Vgl. Brian Porter,Antisemitism and the Search for a Catholic Identity, in: Robert E. Blobaum (Hg.),Antisemitism and its Opponents in Modern Poland, Ithaca 2006, S. 103 – 123.

15 Die Auflage stieg von 1.000 Exemplaren nach einem Jahr auf 1.800 nach 3 Jahren bis auf4.500 um 1900, vgl. Krzysztof Dunin-Wasowicz, Czasopismiennictwo ludowe w Galicji,Wrocław 1952, S. 61.

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So wurden sie reich und mächtig, denn mittlerweile lässt sich ohne Geld nichts mehrerreichen […]. Daher sollen jetzt die Bauern, Bürger und Adligen auch anfangen, Handel zutreiben und nicht mehr bei Juden kaufen, sondern bei Christen. Unterstützen wir uns so, wiesich die Juden gegenseitig unterstützen!16

Das Zitat verdeutlicht zum einen, dass Stojałowski nicht an eine Rückkehr zueiner vormodernen Ordnung glaubte. Vielmehr warb er dafür, sich derMarktwirtschaft in christlicher Solidarität zu stellen. Dem Klerus wies er dabeieine Organisations- und Kontrollfunktion zu. Stojałowski legitimierte seinesozialpolitischen Forderungen wirksam mit der Lehre Jesu und übersetztechristliche Überlieferung in aktuelle politische Kontexte.17 Christliche Politiksei die einzige Richtige unter den sich formierenden Optionen, da nur sie auffestem, da göttlichem Fundament ruhe. Stojałowski nutzte sein symbolischesKapital als Priester, um seine Zielgruppe für politischen Wettbewerb undkatholische Organisationen zu gewinnen. Hierzu setzte er auch aus Predigtenbewährtes Drohpotenzial ein, indem er die Unterstützung von Liberalismusund säkularen Ideologien eine Sünde nannte.18

Zum anderen zeigt das Zitat sein ständisches Denken. Stojałowski warüberzeugter Monarchist und verteidigte den Kaiser und die Habsburgermo-narchie, welche die Allmachtsfantasien des bürgerlichen Nationalstaateseinhege und die universale katholische Kirche beschütze.19 In seiner Broschüre„Leben und Regierungen Kaiser Franz Josephs“ äußerte er Unverständnisgegenüber Kritik am Vielvölkerreich aus nationalistischen, auch polnischenKreisen. Galizien habe alle Freiheiten, die es brauche. Stojałowski vermittelteseinen ländlichen Lesern auch die politischen Strukturen der Monarchie,bestehend aus Kronländern und dem übergeordneten Reich.

Wenn das Volk davon liest, was in der Welt, im Reichsrat und im Landtag passiert und was dieeinfachen Leute anderswo tun, […] dann wird unser Volk lernen, was es selbst für das Wohlder Nation und des Landes tun kann und tun sollte.20

16 Wieniec, Nr. 3, 1898.17 Stojałowski sah in den Schriften Lassalles nur Wiederholungen der „christlichen

Prinzipien“. O. A., Ksiadz Stojałowski w swietle swoich własnych sł�w i list�w.Przyczynek do historii Galicji, London 1898, S. 71.

18 Andrzej Kudłaszyk, Katolicka mysl społeczno-polityczna w Galicji na przełomie XIX iXX wieku, Wrocław 1980, S. 95

19 „Wir sind gegen den allmächtigen Staat. Und wiederholen mit Leo XIII. : ,der Staat fürden Menschen und nicht der Mensch für den Staat‘. Und so wie wir keinensozialistischen Staat wollen, […] so wollen wir […] nicht den Patriotismus, der denStaat als das höchste Ziel und Lebensaufgabe und wichtigste Nationalarbeit stellt.“Wieniec, Nr. 14, 1895.

20 Pszcz�łka, Nr. 1, 1867.

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Die (polnische) Nation war Stojałowski ein wichtiger und positiver Bezugs-punkt, aber sie war nicht mit dem Volk identisch und legitimierte auch keinestaatliche Souveränität.In den nationalen Ambitionen der Ruthenen sah er keine direkte Gefahr für diestaatliche Ordnung, sondern fürchtete vielmehr um den Primat des Katho-lizismus in Galizien. Über die russophilen Ukrainer könne der Zar und damitdie russische Orthodoxie Einfluss auf Ostgalizien gewinnen. Sein Lob fürÖsterreich-Ungarn galt nicht nur den größeren kulturellen und politischenFreiheiten im Vergleich zum Russischen und dem Deutschen Reich. DieHabsburger erhielten seine Unterstützung aufgrund des Katholizismus, derdem Liberalismus im Innern widerstehe und sich international dem Einflussvon Orthodoxie und Protestantismus widersetze.Die internationale Dimension religiöser Identität verdeutlichte Stojałowski aufeiner Pilgerreise nach Jerusalem, bei der galizische Bauern eine durch Spendenfinanzierte goldene Laterne in die Kuppel der Grabeskirche hängten.21 Damituntermauerten die katholischen Gläubigen ihren Anspruch auf den histori-schen Ort. Zugleich trug die Pilgerfahrt zur wachsenden Internalisierung derReligion bei. Die Gläubigen zuhause erfuhren über die Zeitungen von denZuständen im Heiligen Land. Die Pilger erlebten die Zugehörigkeit zu einerglobalen katholischen Gemeinschaft, die an den heiligen Stätten mit anderenchristlichen Konfessionen sowie Islam und Judentum in Konkurrenz trat.Stojałowski versuchte, auch seine Leser von der fruchtbaren Verbindung vonhabsburgischer Herrschaft mit dem Katholizismus zu überzeugen. Wenn diesekatholisch-monarchische Ordnung auch von den ärmeren Gesellschafts-schichten angenommen werden sollte, dann müsste sie allerdings eineVerbesserung der sozialen Lage mit sich bringen. Da in der konstitutionellenÄra nach 1867 die Zentrale in Wien mehrere Wahlrechtsreformen anstieß,bekamen auch ländliche Wähler ohne Einkommen zunehmend politischesGewicht.22 Dadurch sah sich die alte Adelselite des Kronlands in ihrerpolitischen Dominanz herausgefordert.Indem Stojałowski den Diskurs über die christliche ständische Harmonie mitPraktiken wie dem Wahl- und Konsumverhalten verknüpfte, machte derPriester das Imperium für seine Anhänger zu einer positiv besetzten

21 Kacki, Stojałowski, S. 130.22 Seit 1873 wurde der Reichsrat nicht mehr aus den Landesparlamenten, sondern durch

eigene Wahlen mit einheitlichem Kuriensystem beschickt. Während der galizischeLandtag in Lemberg ein ständisches Organ blieb, dem bspw. die Erzbischöfe undVertreter der Handelskammern und der Universitäten angehörten, reformierte sich dasAbgeordnetenhaus des Reichsrats in Wien sukzessive zu einem die gesamte Bevölke-rung repräsentierenden demokratischen Parlament. Siehe Harald Binder, Galizien inWien. Parteien, Wahlen, Fraktionen und Abgeordnete im Übergang zur Massenpolitik,Wien 2005.

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Erfahrung. Zugleich rückte sein Handeln Katholizismus und Habsburger-monarchie in der öffentlichen Wahrnehmung enger aneinander.Auch seine Beteiligung an der „slavischen Wallfahrt“ nach Rom im Jahr 1881,der sich tschechische und südslavische Katholiken anschlossen, erzeugteperformativ eine Identität von religiöser und imperialer Zugehörigkeit.23 Mitder slavischen Offensive versuchte der neue Papst Leo XIII. , die Gefahr einesÜbertritts slavischsprachiger Katholiken zur Orthodoxie zu mindern.24 Zweiwichtige Kontaktzonen von katholischer und orthodoxer Konfession, die vonRom als umkämpfte Räume verstanden wurden, waren zugleich umstritteneGrenzregionen der Habsburger Monarchie: der westliche Balkan und Ostga-lizien.25 Eben dort, in einer überwiegend griechisch-katholischen Regionleitete Stojałowski eine Pfarrei und wirkte damit in einer vermeintlichunsicheren Glaubensgemeinschaft.26 Wien begrüßte die vatikanische Initiativezur Stärkung des katholischen Bewusstseins im Herrschaftsgebiet der Habs-

23 Zur slavischen Wallfahrt siehe Andreas Gottsmann, Rom und die nationalen Katho-lizismen in der Donaumonarchie. Römischer Universalismus, habsburgische Reichs-idee und nationale Identitäten 1878 – 1914, Wien 2010, S. 36 ff. ; Kacki, Stojałowski,S. 79 ff.

24 Vincent Viaene (Hg.), The Papacy and the New World Order. Vatican Diplomacy,Catholic Opinion and International Politics in the Time of Leo XII, 1878 – 1903, Leuven2005.

25 Mit dem Berliner Kongress hatten Russland und die Donaumonarchie ihren Einfluss aufdem Balkan gestärkt und wurden auch dort zu Rivalen. Unter Alexander III. und demOberprokuror des Heiligen Synods Konstantin P. Pobedonoscev erfolgte in den 1880erJahren der demonstrative Rückgriff auf die von Uvarov postulierte Symbiose vonAutokratie und Orthodoxie. Dieser Versuch, die Einheit von Kirche und Kaiserherzustellen, orientierte sich an den mythologisierten Verhältnissen des 17. Jahrhun-derts. Vgl. dazu Richard Wortman, Scenarios of Power. Myth and Ceremony in RussianMonarchy. From Alexander II to the Abdication of Nicholas II, Bd. 2, Princeton 2000,S. 235 – 270; Klaus Zernack, Polen und Rußland. Zwei Wege in der europäischenGeschichte, Berlin 1994, S. 357 – 360; ähnlich auch bei Theodore R. Weeks, Official andPopular Nationalism. Imperial Russia 1863 – 1914, in: Ulrike von Hirschhausen u. JörnLeonhard (Hg.), Nationalismen in Europa. West- und Osteuropa im Vergleich,Göttingen 2001, S. 411 – 432; Malte Rolf, Russische Herrschaft in Warschau. DieAleksandr-Nevskij-Kathedrale im Konfliktraum politischer Kommunikation, in: WalterSperling (Hg.), Jenseits der Zarenmacht. Dimensionen des Politischen im RussischenReich 1800 – 1917, Frankfurt 2008, S. 163 – 189.

26 Tatsächlich pflegten die lokalen Bauern ein pragmatisches Verhältnis zur Religion undbegingen bisweilen Feiertage der anderen Konfession oder besuchten deren Kirche,wenn sie nähergelegen war. Stojałowski war mit dem örtlichen Popen wegen angeblicherVereinnahmung römisch-katholischer Gläubiger verfeindet, siehe Kacki, Stojałowski,S. 77 f.

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burger Monarchie, da sie die Legitimität des Reiches unter den katholischenUntertanen erhöhen würde.27

Für den Heiligen Stuhl war der 1877 zum päpstlichen Ehrenkaplan (Monsi-gnore) erhobene Stojałowski noch von zusätzlicher Bedeutung. Über dashabsburgische Galizien konnte die große Gemeinde aller polnischen Katho-liken erreicht werden.28 Denn die Beziehungen zum Russischen und demDeutschen Reich gestalteten sich für den Vatikan schwierig. Die galizischenBischöfe jedoch waren gegen den „katholischen Panslavismus“, da er nationalepolnische Interessen schwäche.29 Sie entstammten fast ausnahmslos jenenAdelsfamilien, die in der „Autonomie“30 seit den 1870er Jahren das Kronlandauch politisch regierten. Daher rief Stojałowskis ultramontanes Engagementzugleich den Widerstand der galizischen Verwaltung hervor. Die alten Elitenbefürchteten, dass seine sozialpolitische und religiöse Mobilisierung derBauern ähnliche Folgen wie 1846 zeitigen könnte.31

Tatsächlich mobilisierte Stojałowski seine Anhänger auch mit rhetorischenAngriffen gegen Adel, Statthalterei und die galizischen Bischöfe, die seinerAnsicht nach dem Elend der Landbevölkerung gleichgültig gegenüberstün-

27 Ivan Vitezic, Katholische Slawen zwischen Ost und West im Lichte der Ideen und derTätigkeit des Bischofs Stroßmayer, in: Anton Zollitsch (Hg.), Josef Georg Stroßmayer.Beiträge zur konfessionellen Situation Oesterreich-Ungarns im ausgehenden 19. Jahr-hundert und zur Unionsbewegung der Slawen bis in die Gegenwart, Salzburg 1962,S. 25 ff. ; Gottsmann, Nationale Katholizismen, S. 34 ff. Zu Galizien als Konfliktfeld desHabsburgisch-Russischen Antagonismus siehe auch Hans-Christian Maner, Galizien.Eine Grenzregion im Kalkül der Donaumonarchie im 18. und 19. Jahrhundert, München2007; Klaus Bachmann, Ein Herd der Feindschaft gegen Russland. Galizien alsKrisenherd in den Beziehungen der Donaumonarchie mit Russland (1907 – 1914), Wien2001.

28 Bezeichnenderweise war Stojałowski nach einer Pilgerreise zum 50. BischofsjubiläumPius IX., zu der er Bauern aus Großpolen, Galizien und dem Zarenreich, darunter auchUnierte aus Podlachien, eingeladen hatte, zum Ehrenkaplan ernannt worden, vgl. Kacki,Stojałowski, S. 46 f.

29 Insbesondere der aus Galizien stammende Bischof von Posen und KurienkardinalMieczysław Led�chowski widersetzte sich panslavischen Bemühungen.

30 Zur Problematik des Autonomiebegriffs siehe Harald Binder, „Galizische Autonomie“.Ein streitbarer Begriff und seine Karriere, in: Lukas Fasora (Hg.), Moravske vyronani zroku 1905, Der Mährische Ausgleich von 1905, Brno 2006, S. 239 – 266.

31 An der Rabacja hatte eine breit angelegte katholische Nüchternheitskampagne einenAnteil. Siehe Jan Kracik, W Galicji trzezwiejacej, krwawej, poboznej, Krak�w 2008,S. 28 – 50. Der Statthalter von Galizien Alfred Potocki bat den Lemberger Erzbischof,Stojałowskis Versammlungen zu verbieten, da sie ihn an 1846 erinnerten. Kacki,Stojałowski, S.109.

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den.32 Im Jahr 1883 ließ er sich für die Reichsratswahlen aufstellen. Erversprach seiner bäuerlichen Klientel, ihre Anliegen zukünftig nicht nur beimPapst in Rom, sondern auch beim Kaiser in Wien zu vertreten. Diesetraditionellen Vorstellungen bediente Stojałowski mit der modernen Kom-munikation der Presse. Seine Kandidatur beantworteten staatliche undkirchliche Stellen aus Galizien mit harten Repressionen. Im Laufe derfolgenden dreizehn Jahre verlor der ehemalige Jesuit seine Pfarrei, das RechtMessen zu lesen und schließlich gar die Zugehörigkeit zur katholischenKirche.33 Die galizische Justiz ließ mehrfach die Zeitungen Stojałowskisbeschlagnahmen, erhob gegen den Herausgeber insgesamt 212-mal Anklageund verhängte mehrere Haftstrafen.34

Stojałowski schöpfte aus den Repressionen politisches Kapital. Gegenüberseinen Anhängern stellte er sie als direkten Angriff auf das einfache Volk dar,für dessen Interessen er kämpfe, und inszenierte sich erfolgreich als Volks-tribun. Die immer weiter reichenden Bestrafungen des „Demagogen in derSoutane“ waren eine Reaktion darauf, dass sich Stojałowski Anweisungenwidersetzte und die Anschuldigungen gegen die „galizischen Allerheiligen“beständig verschärfte.Indem er seine Druckerei 1892 ins zisleithanische Schlesien und 1896 insoberungarische Czacza verlegte, entzog er sich dem galizischen und sogar demösterreichischen Zugriff, ohne ins Ausland umziehen zu müssen. Hier kamihm die Reichsstruktur zu Hilfe, in der unterschiedliche Verwaltungs- undJustizeinheiten auch untereinander um Ressourcen und Zugeständnisse ausWien konkurrierten. In der Zeitungsöffentlichkeit wurden solche Konflikte alsAuseinandersetzung um nationale Besitzstände interpretiert. Tschechen (inSchlesien) oder Ungarn hatten kein Interesse daran, dass die galizischen Poleneinen ihre Autorität untergrabenden Störenfried loswurden. Stojałowskibewegte sich auch noch in anderer Weise über die Provinzgrenzen hinausund nutzte seine transkarpatischen Netzwerke, um seine katholische Agendazu verfolgen. So hielt der Spiritus Rector des katholischen Panslavismus und

32 Anna Staudacher, Der Bauernagitator Stanisław Stojałowski: Priester, Journalist undAbgeordneter zum österreichischen Reichsrat. Ein biographischer Versuch, in: Römi-sche Historiographische Mitteilungen 25. 1983, S. 165 – 202, hier S. 166.

33 Um den Einfluss Stojałowskis auf die Landbevölkerung zu unterbinden, forderte dieStatthalterei das Konsistorium in Lemberg auf, ihn zu suspendieren. Dieser Forderungkam Weihbischof Jan Puzyna am 24. 05. 1888 bei einer kanonischen Visitation nach. EinJahr später verlor Stojałowski seine Pfarrei und das Recht, Messen zu lesen. Exkom-muniziert wurde er im August 1896. Vgl. Staudacher, Bauernagitator, S. 170 u. S. 165.

34 Insgesamt wurde gegen ihn im Laufe seines Lebens 212-mal Anklage vor Gerichterhoben. Weitere Vorwürfe waren „Aufreizung gegen den Kaiser“ § 65 StG oder„öffentliche Ruhestörung“ § 300. Vgl. Czesław Szczepanczyk, Problematyka gos-podarcza w działalnosci ks. Stanisława Stojałowskiego, in: Studia Historyczne, Lublin1995, S. 132 – 150, hier S. 136.

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Bischof von Djakovo Josip Strossmayer zu Stojałowski und versuchte, diesennach der Suspendierung in der Diözese Montenegro unterzubringen.35

Im Vatikan waren ihm Papst Leo XIII. und sein Staatssekretär Rampolla wohlgesonnen. Sie ließen die Bemühungen der galizischen Bischöfe und galizischerMinister nach einer päpstlichen Disziplinierung Stojałowskis wegen Missach-tung der Autoritäten und Aufwiegelung des Volkes mehr als drei Jahre insLeere laufen. Sie sahen in ihm einen Gesinnungsgenossen Karl Luegers undpapsttreuen Streiter gegen den Sozialismus, der dem Vatikan „von großemWert“ sein könne.36 Staatssekretär Rampolla übermittelte gar den päpstlichenSegen für die Zeitungen Wieniec und Pszcz�łka, nachdem deren Chefredakteurihm seinen unbedingten Gehorsam geschworen hatte.37

Die Zustimmung aus Rom brachte Stojałowski zusätzliche Anerkennung beiseinen katholischen Lesern und unterhöhlte zugleich die Autorität dergalizischen Stellen. An der Diskreditierung der galizischen Elite war auchdeutschnationalen und antisemitischen Reichsratsabgeordneten gelegen.Nicht erst seit der Badeni-Krise kämpften sie gegen den wachsenden Einflussvon Polen in der zisleithanischen Regierung. Um deren Willkürherrschaft inGalizien im ganzen Reich an den Pranger zu stellen, interpellierten sie imParlament gegen die ungesetzlichen Repressionen gegen Stojałowski.38

Die Allianz aus deutschen Antisemiten und Stojałowski kam nicht nuraufgrund eines gemeinsamen Feindes zu Stande. In erster Linie beruhte sie aufder politischen Idee des christlichen Sozialismus, die Leo XIII. 1891 mit derEnzyklika rerum novarum enorm aufgewertet hatte. Während seiner zahlrei-chen Aufenthalte in Wien traf sich Stojałowski mit deutschen Christlichso-zialen, ihnen nahestehenden Journalisten und Geistlichen. Er erhielt materielleund logistische Unterstützung für die Gründung christlichsozialer Vereine inGalizien und verabredete eine mögliche Zusammenarbeit im Wiener Parla-ment.39

35 Staudacher, Bauernagitator, S. 187 f.36 David Kertzer, Die Päpste gegen die Juden. Der Vatikan und die Entstehung des

modernen Antisemitismus, Berlin 2001, S. 266.37 Über diese Geste, die den schwelenden Konflikt zwischen Vatikan und habsburgischem

Staat und Klerus deutlich werden ließ, berichtete sogar die Wiener Neue Freie Presse am5. 3. 1895, S. 9.

38 Im Oktober 1895 händigte ihm ein Polizeikommissar ein Dekret des päpstlichenNuntius in Wien aus. Darin wurde er aufgefordert, innerhalb von acht Tagen dieÖsterreichisch-Ungarische Monarchie zu verlassen, da seine Anwesenheit „öffentlicheRuhe“ und „kirchliche Disziplin“ gefährde. Wieniec, Nr. 14, 1895; Gazeta Lwowska,16. 10. 1895. Gegen Inhalt und Form der Übermittlung protestierten die Reichstagsab-geordneten Kronawetter und Pernerstorfer, Stenographische Protokolle des Abgeord-netenhauses des Reichsrates 1895, 11. Session, 421. Sitzung, 24. 10. 1895, S. 21037.

39 Von Oktober 1895 bis Februar 1896 hielt er sich mehrmals in Wien auf. Dort sprach erunter anderem mit den christlich-sozialen Politikern und Reichsratsabgeordneten

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Erst im Jahr 1896 gab man in Rom dem Druck nach, den die galizischengeistlichen und weltlichen Eliten auch über Wien und Nuntius Agliardiaufgebaut hatten. Um das wichtige Verhältnis zur Habsburgermonarchie nichtzu gefährden, exkommunizierte Leo XIII. Stojałowski. Diese Maßnahme warfür den Priester untragbar und eine seelische Belastung. Sofort bemühte er sichum die Wiederaufnahme in die Kirche auch zum Preis von Zugeständnissen.40

Er gelobte dem Papst und den galizischen Autoritäten Demut und versprach,seinen Sinneswandel auch in Galizien öffentlich zu leisten. Diese Beichteerfolgte ein Jahr später beim berühmten „slavischen Bankett“ in Krakau, das inseinen Parteizeitungen keine Erwähnung fand.41

Ein Grund, warum sich die galizischen Konservativen auf diesen Kompromisseinließen, lag abermals in einer Wahlrechtsreform aus Wien. In einer neuenfünften Kurie durften nun auch besitzlose Männer über 24 Jahre wählen.Angesichts eines drohenden Erdrutschsieges der Sozialdemokratie erschienein gebändigter Stojałowski die bessere Alternative für das konservativeEstablishment zu sein. Außerdem hatten im Anschluss an den KrakauerKatholikentag im Jahr 1893 einige galizische Bischöfe in katholische Zeitungenund Vereine investiert. Diese sollten der Sozialdemokratie in den Städten einekatholische Alternative entgegensetzen. Ihnen fehlte jedoch eine charismati-sche Figur. Stojałowski konnte Abhilfe schaffen. In seinen Zeitungen machte ernun Juden, Sozialisten und die säkulare Bauernpartei Stronnictwo Ludowe(SL) zu den bevorzugten Angriffszielen. Antisemitismus wurde neben demständigen Verweis auf Frömmigkeit die deutlichste politische Botschaft seiner1896 gegründeten Christlichen Volkspartei SCL (Stronnictwo Chrzesciansko-Ludowe).Als Stojałowski bei den Reichsratswahlen im Jahr 1898 mit fünf weiterenKandidaten in den Reichsrat einzog, erhielt er Immunität und Diäten, die ihmdie Fortführung seines verschuldeten Zeitungsbetriebs erlaubten.42 Gemäßden Absprachen wurde die Gründung einer zisleithanischen christlich-sozialen Fraktion ernsthaft erwogen. Ähnlich den Sozialdemokraten hätten

Aloys Prinz Liechtenstein, Leopold Steiner, Karl Lueger, Josef Scheicher und ErnstSchneider. Liechtenstein, der guten Zugang zu Ministerpräsident Taafe hatte, versprachStojałowski jegliche Unterstützung beim Aufbau christlich-sozialer Vereine. RobertKriechbaumer, Die großen Erzählungen der Politik. Politische Kultur und Parteien inÖsterreich von der Jahrhundertwende bis 1945, Wien 2001, S. 243; Staudacher,Bauernagitator, S. 193.

40 Hempel, Wspomnienia, S. 120.41 Szczepanczyk, Problematyka, S. 139. Seinen Vorläufer hatte diese Form katholischer

Politinszenierung in Wien. Karl Lueger machte dort am 16. 05. 1895 durch Demutsbe-kundung vor Papst und Kaiser den Weg für seine Ernennung zum Bürgermeister frei.Kertzer, Päpste, S. 260.

42 Stojałowski kam durch eine Nachwahl in den Reichsrat, seine Mitstreiter bei denregulären Wahlen 1897.

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antisemitische Abgeordnete kronland- und nationsübergreifend den politi-schen Katholizismus vertreten. Auch diese Überlegungen verdeutlichen, dassStojałowski in einer reichsweiten übernationalen katholischen Bewegungdachte, welche sich dem Einfluss des als einer organisierten Einheit vorge-stellten österreichischen Judentums entgegenstellen sollte.43

Der Zuschnitt der Partei auf seine Person und die Inszenierung als Einzel-kämpfer für das katholische Volk brachten jedoch auch Probleme mit sich.Zwei seiner Parteigenossen verließen gleich nach dem Einzug ins Parlamentdie Gruppierung, die sie nun nicht mehr benötigten. Sie beschwerten sichöffentlich über Stojałowskis angeblich tyrannischen Führungsstil. Mit denersten Wahlen nach allgemeinem gleichen Wahlrecht im Jahr 1906 war die Zeitder politischen one-man shows vorbei.44 Professionell organisierte Parteienmit durchlässigen Mitgliederstrukturen gewannen an Bedeutung. In denfolgenden Jahren verstärkten seine Zeitungen und seine neue Partei, dasPolnische Volkszentrum, die nationalistische Rhetorik. Sie näherte sich derpolnischen Nationaldemokratie an, die ihrerseits um die Jahrhundertwendeden Katholizismus zum Bestandteil des Polentums erklärte und den Kleruserfolgreich in die Parteiarbeit einband.45 Als Stojałowski im November 1911starb, wurden die Zeitungen und seine Parteiorganisation auch formellBestandteil der Nationaldemokraten unter Roman Dmowski.Die antisemitische Allianz im Reichsrat war bereits 1904 beendet worden.Auslöser war die Solidaritätsadresse der deutschen Christlichsozialen anWilhelm II., nach dessen antipolnischer Rede auf der Marienburg. Derdeutsch-polnische Konflikt hatte sich damit derart zugespitzt, dass er einegemeinsame antisemitische Interessenpolitik unmöglich machte. Die Ausein-andersetzung mit alldeutschem und polnischem Nationalismus prägte auchdie imperiale Biographie von Joseph Samuel Bloch.

43 Die SCL entschloss sich letztlich gegen den Beitritt zur größeren Wiener Fraktion. DieZusammenarbeit zwischen SCL und Christlich-sozialen bestand aus gemeinsamenInterpellationen. Mehrmals bekräftigte Lueger antisemitische Reden von SCL-Abge-ordneten im Parlament. Binder, Galizien, S. 363 – 372 und Tim Buchen, Antisemitismusin Galizien. Agitation, Gewalt und Politik in der Habsburgermonarchie um 1900, Berlin2012.

44 Grund hierfür war der enorme Bedeutungsgewinn, den die bislang systematischmarginalisierten ruthenischen Wähler durch das allgemeine Wahlrecht bekamen.Hierdurch mussten sich die polnischen nichtsozialistischen Parteien um Wahlabspra-chen mit polnischen und jüdischen Parteien bemühen. Binder, Galizien.

45 Vgl. Brian Porter, When Nationalism Began to Hate. Imagining Modern Politics inNineteenth Century Poland, New York 2000.

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II. Joseph Samuel Bloch (1850 – 1923): Streitbarer Vermittlerzwischen Ost und West

Joseph Samuel Bloch kam 1850 als Sohn einer Bäckerfamilie in Dukla beiKrosno in den Karpaten zur Welt. Um seinem strengen Elternhaus zuentkommen, verbrachte er die meiste Zeit bei Thora- und Talmudstudien inder Synagoge. Seine Heimatstadt verließ er bereits als Jugendlicher.46 MehrereJahre zog er durch Galizien und studierte bei den verschiedensten orthodoxenRabbinern, unter anderem in Sambor und in Lemberg.47 Über Eisenstadt undWien gelangte Bloch im Jahr 1870 nach Breslau an das Jüdisch-TheologischeSeminar. Hier kam er erstmals mit profanen Lehrgegenständen und einemhistorischen Verständnis der jüdischen Überlieferung in Kontakt.48 Ihnfaszinierten die kontroversen Auseinandersetzungen, die ihm seine mangeln-den Kompetenzen in profanen Wissenschaften und der deutschen Sprache vorAugen führten. Sein bisheriges Leben hatte er in jiddischsprachiger, ortho-doxer Gelehrsamkeit verbracht, als Zwanzigjähriger eröffnete sich ihm dieWelt des deutschsprachigen liberalen Judentums. Diese Mobilität zwischenosteuropäischem und deutschsprachigem Judentum war insbesondere füreinen Gelehrten aus der Habsburger Monarchie nicht ungewöhnlich, jedochmit zahlreichen Konflikten verbunden.49 Aus der Sicht des liberalen Judentumsverkörperten orthodoxe Konzentration auf Thora und Talmud und diejiddische Sprache eine jüdische Isolation von theologischen Debatten etwa im

46 Bloch hat eine umfangreiche Autobiographie hinterlassen. Joseph Bloch, Erinnerungenaus meinem Leben, Bd. 1 u. 2, Leipzig 1922, Bd. 3, Wien 1933. Ein Teil des Nachlasses vonJoseph Bloch liegt in den Central Archives for the History of the Jewish People inJerusalem. Zu Bloch sind außerdem erschienen: Jacob Toury, Josef Samuel Bloch und dieJüdische Identität im österreichischen Kaiserreich, in: Walter Grab (Hg.), JüdischeIntegration und Identität in Deutschland und Österreich, 1848 – 1918, Tel Aviv 1984; IanReifowitz, Imagining an Austrian Nation. Joseph Samuel Bloch and the Search for aMultiethnic Austrian Identity, 1846 – 1919, New York 2003; Katja Lander, Josef SamuelBloch und die Österreichisch-Israelitische Union. Initiativen zur Begründung einerjüdischen Politik im späten 19. Jahrhundert in Wien, Saarbrücken 1993; Tim Buchen,„Herkules im antisemitischen Augiasstall“. Joseph Samuel Bloch und Galizien in derReaktion auf Antisemitismus in der Habsburgermonarchie, in: Ulrich Wyrwa (Hg.),Einspruch und Abwehr. Die Reaktion des europäischen Judentums auf die Entstehungdes Antisemitismus (1879 – 1914), Frankfurt 2010, S. 193 – 214.

47 Bloch, Erinnerungen, S. 13 – 16.48 Vgl. hierzu Dan Diner, Between Empire and Nation State. Outline for a European

Contemporary History of the Jews 1750 – 1950, in: Omer Bartov u. Eric D. Weitz (Hg.),Shatterzone of Empires. Coexistence and Violence in the German, Habsburg, Russian,and Ottoman Borderlands, Bloomington 2013.

49 Siehe etwa Michael Stanislawski, A Murder in Lemberg. Religion, Politics, and Violencein Modern Jewish History, Princeton 2007.

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Protestantismus. Im fortschrittsgläubigen Denken der Zeit haftete damit auchBloch das Stigma der Rückständigkeit an. Er war gewillt, diesen Makel zubeheben, Deutsch zu lernen und sich auch mit nichtreligiösen Studien zubeschäftigen.50

Die folgenden sieben Jahre verbrachte Bloch vor allem in Preußen, in Bayernund in der Schweiz. Er verdiente einen geringen Unterhalt mit Hebräisch- undThoraunterricht und studierte Philosophie und Rechtswissenschaft in Zürichund München. Seit 1874 wirkte er als Rabbiner in kleinen Gemeinden inSchlesien, Sachsen und in Holstein.51 Bloch erlebte die deutsche Reichsgrün-dung, die Wirtschaftskrise und den Kulturkampf vor Ort und erfuhr dieVeränderungen innerhalb des deutschen Nationalismus. Der inklusive, auferlernbare Gemeinsamkeiten wie Sprache, Bildungskanon und Bekenntniszum Deutschtum ausgerichtete liberale Nationalismus, der gerade auch von sovielen Juden in Mittel- und Osteuropa getragen worden war, bekam zuneh-mend ausschließende, ethnische Züge.52 Die Formierung antisemitischer unddezidiert christlicher Parteien verdeutlichte dem Rabbiner aus Galizien, dassdie deutsche Nation keine Heimat und das deutsche Kaiserreich kein Staatseien, indem er als Jude volle Anerkennung genießen würde. 1877 war Bloch indie Habsburgermonarchie zurückgekehrt. Im böhmischen Brüx (Most) hatteer die prekäre Lage der böhmischen Juden zwischen deutschem und tsche-chischem Bekenntnisdruck erlebt.53 Im Jahr 1881 wurde der mittlerweile ineinigen Schriften als konservativer Rabbiner anerkannte Bloch zum Rabbinerder jüdischen Gemeinde im Wiener Arbeitervorort Floridsdorf gewählt.Bald wurde er eingeladen, auf öffentlichen Versammlungen zu sprechen.Ebenso wie Stojałowski übersetzte Bloch seine religiösen Überzeugungen inpolitische Antworten auf die soziale Frage. Die Ausbeutung von Arbeiternkritisierte er aus der jüdischen Überlieferung heraus, die schon zu Zeiten Jesudas Gebot zur Begrenzung der täglichen Arbeitszeit und zur gerechtenEntlohnung gekannt habe. Mit dem Verweis auf die Zeiten Jesu dachte er auchan seine christlichen Zuhörer. Jüdische Kapitalisten, die ihre Arbeiterausbeuteten, hätten sich von den Lehren des Judaismus entfernt, Laissez-

50 Laut seinen Erinnerungen soll der berühmte Historiker des Judentums Heinrich Graetzin Hinblick auf seine Bildung gesagt haben, Bloch sei „fünfzig Jahre zu spät gekommen“.Bloch, Erinnerungen, S. 15.

51 In Liegnitz, Kobylin, Magdeburg und Rendsburg. Gründe für die häufigen Wohnort-wechsel waren sowohl die Aussicht auf ein jeweils besseres Gehalt als auch Konflikte mitorthodoxen Oberrabbinern. Ebd., S. 17.

52 Vgl. Peter Pulzer, Die Wiederkehr des alten Hasses, in: ders. u. a. (Hg.), Deutsch-Jüdische Geschichte in der Neuzeit, Bd. 3: Umstrittene Integration 1871 – 1918,München 1997, S. 193 – 242.

53 Siehe hierzu Hillel Kieval, Languages of Community. The Jewish Experience in the CzechLands, Berkeley 2000 und Michal Frankl, „Prag ist nunmehr antisemitisch“. Tschechi-scher Antisemitismus am Ende des 19. Jahrhunderts, Berlin 2011.

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faire-Kapitalismus sei mit der jüdischen Tradition unvereinbar. Die Vorurteileeines typischen jüdischen Kapitalismus wollte Bloch damit ausräumen.Zugleich richtete er aber auch eine Botschaft an seine jüdische Zielgruppe.Nicht die Schriften des Marxismus, sondern Thora und Talmud lieferten nachBloch eine Antwort auf die soziale Frage. Eine Rückbesinnung auf verlorengegangene Traditionen könne die gesellschaftlichen Gegensätze der Gegen-wart abmildern.Mit Kapitalismuskritik und einer aus religiösen Traditionen hergeleitetensozialen Mobilisierung der Unterschichten trug Bloch ähnlich wie Stojałowskizur Delegitimierung des politischen Liberalismus bei. Explizit kritisierte auchBloch die Träger des Liberalismus, insbesondere die jüdische bürgerlicheOberschicht seiner neuen Heimat Wien.54 In der Fixierung auf gesellschaft-lichen Aufstieg und die Akzeptanz der christlichen Umwelt hätten sie sich demdeutschen Liberalismus verschrieben. Dabei hätten sie ihre religiösen Werteverraten und mit dem Streben nach bürgerlicher Assimilation an die deutscheNation der jüdischen Glaubensgemeinschaft geschadet. Nationale Assimila-tion sei eine Illusion, da keine der mehrheitlich christlichen Nationen Juden alsechte Mitglieder akzeptieren würden. Der Streit um nationalen Besitzstand inMittel- und Osteuropa würde zudem auch jene Juden zu Gegnern machen, diesich zu unterschiedlichen Nationen bekannten.Bloch machte seine imperialen Erfahrungen aus der Mobilität entlang derPeripherien des Habsburgischen und des Deutschen Reiches im Zentrum derMonarchie publik. Anders als es die akkulturierten Wiener Juden aus demersten Bezirk erlebten, sei der deutsche Nationalismus nicht integrativ. Für dieGlaubensbrüder in den anderen Kronländern sei er nicht länger attraktiv.Zudem würden auch die tschechischen, polnischen und ungarischen Judenzunehmend erkennen, dass ihr Bekenntnis zur Nation gerade von religiösenNationalisten nicht akzeptiert werde. Die Entstehung von antisemitischenParteien in allen Kronländern sei der beste Beweis. Mit diesen Ansichtenprovozierte Bloch auch innerhalb der jüdischen Gemeinde Wiens. Dieangegriffene liberale Bürgerschicht versuchte, die politischen Äußerungendes Galiziers nicht als repräsentative Stimme der Wiener Juden erscheinen zulassen. Insbesondere die aus den östlichen Kronländern zugewandertenjüdischen Arbeiter fanden sich hingegen in der Kritik am Liberalismus wieder.Überregionale Aufmerksamkeit erlangte Bloch durch einen Medienskandal imJahr 1882. Er beschuldigte den Prager Professor für katholische Theologie undhebräische Altertümer August Rohling, Autor des antisemitischen Bestsellers„Der Talmudjude“, des Meineids im Prozess von Tiszaeszlar. Anschließendwarf er ihm öffentlich vor, den Talmud aufgrund fehlender Hebräischkennt-nisse gar nicht lesen zu können. Rohling reagierte mit einer Verleumdungs-

54 Siehe dazu Robert S. Wistrich, Die Juden Wiens im Zeitalter Kaiser Franz Josephs, Wien1999; Steven Beller, Wien und die Juden, 1867 – 1938, Wien 1993.

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klage, entzog sich jedoch der inhaltlichen Auseinandersetzung und wurdeschließlich der Fälschung überführt und entlassen.Die Entzauberung Rohlings und die selbstbewusste Verteidigung auch dertalmudischen Grundlagen des Judaismus verschafften Bloch insbesondereunter konservativen und orthodoxen Juden in seiner Heimat Galizien großenRespekt. Dort hatten ihm die Pogrome im benachbarten Zarenreich von 1881die Notwendigkeit einer starken jüdischen Repräsentation in der Hauptstadtvor Augen geführt.55 Zwei Jahre später forderten Bürger aus den überwiegendvon Juden bewohnten ostgalizischen Kleinstädten Buczacz, Sniatyn undKolomea Bloch zur Kandidatur um ihr Reichsratsmandat auf. Das kompli-zierte Kurienwahlsystem Zisleithaniens unterschied unter anderem zwischenstädtischen und ländlichen Wählern. Daher konnten diese drei Städte mitüberwiegend ukrainischem Umland als ein Wahlbezirk einen jüdischenAbgeordneten nach Wien entsenden. Bloch gewann die Wahl und saß fortanwie seine Vorgänger im Polenklub, der Bastion der galizischen Konservativen,die seit 1879 die zisleithanische Regierung unterstützten.Der Rabbiner interpretierte sein Mandat jedoch gar nicht im Namen der„galizischen Autonomie“, sondern verstand es als Auftrag, die Interessen allerJuden in der Habsburgermonarchie zu vertreten. Er war der erste Abgeordneteim Reichsrat, der eine dezidiert jüdische Interessenpolitik verfolgte. Blochäußerte sich ausschließlich zur Verteidigung der Rechte von Juden und gegenAngriffe von Antisemiten. Seine Redegefechte mit Antisemiten politisiertenreligiöse Überzeugungen, denn Bloch verteidigte nicht nur das Recht aufreligiöse Freiheit. Vielmehr berief er sich auf wissenschaftliche Untersuchun-gen, die beweisen sollten, dass das koschere Schlachten tierfreundlicher als diePraxis in städtischen Schlachthöfen sei.Ähnlich wie bei Stojałowski verband auch die politische Karriere Blochstraditionelle mit modernen Elementen religiöser Interessenpolitik. Sie begannnach dem Muster von Honoratiorenpolitik und bewährten Praktiken derFürsprache. Städtische Eliten von der Peripherie trugen einer geistlichenAutorität aus der Hauptstadt eine Nominierung an, damit sie im Herrschafts-zentrum für Unterstützung gegen Diskriminierungen von christlicher Seitesorge. Modern hingegen war die Nutzung des medialen Skandals um dieBeleidigungsklage und die Wiederwahlen in den Jahren 1885 und 1890, dieBloch nach Straßenwahlkämpfen in seinem Wahlbezirk gewann.56 Er ließFlugblätter in Jiddisch verteilen, die seinen Widersacher, den polnischenPatrioten und Vorsitzenden der Lemberger jüdischen Gemeinde, Emil Byk,

55 Siehe zu den Pogromen und den Auswirkungen auf die jüdische Politik John D. Klier,Russians, Jews, and the Pogroms of 1881 – 1882, Cambridge 2011; Israel Bartal,Geschichte der Juden im östlichen Europa 1772 – 1881, Göttingen 2009.

56 Lander, Josef Samuel Bloch, S. 138 ff.

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angriffen.57 Dass Bloch sein Mandat für alle Juden der Monarchie verstand, wareinerseits Ausdruck seiner imperialen Erfahrungen, andererseits reflektiertees seine Vorstellungen zur Lösung des nationalen Dilemmas der mitteleuro-päischen Juden. Bloch verstand die Monarchie in erster Linie als einenübernationalen Rechtsstaat, gewissermaßen einen Gegenentwurf zur russi-schen Autokratie und zum deutschen Kaiserreich.Die Juden der Donaumonarchie, mindestens in der zisleithanischen Hälfte,sollten sich zu einem Staat bekennen, der weder nationale Assimilationverlange noch die religiösen Freiheiten einschränke. Österreich stand für einepolitische Struktur, die neben sich weitere kulturelle Identifikationen zuließ,anders als der deutsche Nationalismus. Daher nannte er seine ZeitschriftÖsterreichische Wochenschrift. Gegründet hatte er sie im Zuge der Rohling-Affäre, um seine in Wien unbequemen Botschaften publizieren zu können.58

Auch die von Bloch angestoßene Rechtsschutzorganisation, die in dergesamten Monarchie Juden unterstütze, trug die „Bindestrich-Loyalität“ vonImperium und Glaubensgemeinschaft im Titel. Sie hieß Österreichisch-Israelitische Union.Als Abgeordneter und Herausgeber in Wien erhielt Bloch Anfragen, Infor-mationen und Zuschriften aus allen Reichsteilen. Diese speiste er in diepolitischen Öffentlichkeiten der Hauptstadt ein, die auch in der Provinzrezipiert wurden. Damit trug Bloch zur Entstehung einer politisch bewusstenjüdischen Gemeinschaft bei, die die Zentrum-Peripherie-Strukturen desReiches reproduzierte.59 Blochs Zeitung stellte einen wichtigen Kommunika-tionsraum des habsburgischen Judentums zwischen Bukowina, Galizien,Böhmen, Ungarn, den Erblanden und Kroatien her. Zionistische und natio-naljüdische Positionen wurden darin ebenso diskutiert wie orthodoxe undkonservative religiöse Anschauungen. Als Kämpfer gegen den Antisemitismusnahmen Berichte über Übergriffe gegen Juden oder Versuche, religiöse Rechtevon Juden einzuschränken, besonders viel Raum ein. Damit richtete sich die

57 Siehe Joshua Shanes, Diaspora Nationalism and Jewish Identity in Habsburg Galicia,Cambridge 2012, S. 140 ff.

58 Dies war zugleich eine Replik auf die Deutsche Wochenschrift des jüdischen Deutsch-liberalen und Gegner Blochs, Heinrich Friedjung.

59 Siehe dazu Ian Reifowitz, Imagining an Austrian Nation; ders., „To Become Jews OnceAgain“. Antisemitism and the Call to Embrace a Jewish Identity in Fin-de-Si�cle Austria,in: Transversal 2. 2001, S. 14 – 23, hier S. 16; Lander, Josef Samuel Bloch, S. 138 ff. DiesesModell lebten auch viele Juden in der Monarchie im frühen 20. Jahrhundert: „Jews inHabsburg Austria developed a tripartite identity in which they were Austrian bypolitical loyalty, German (or Czech or Polish) by cultural affiliation, and Jewish in anethnic sense.“ Marsha Rozenblit, Reconstructing a National Identity. The Jews ofHabsburg Austria during World War I, New York 2001, S. 4.

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Zeitung immer wieder auch gegen die galizischen, klerikalen Antisemiten umStanisław Stojałowski.60 Im Parlament begegneten sie sich hingegen nie.1895 wurde Bloch sein Mandat unter dem Vorwand, er sei nicht in seinemWahlbezirk gemeldet, entzogen. Tatsächlich war der Widerstand innerhalb desPolenklubs gegen einen Politiker, der gegen die Assimilation der galizischenJuden an die polnische Nation warb, zu groß geworden.61 Sein Nachfolgerwurde sein ewiger Widersacher, der polnische Patriot Emil Byk.Trotz mehrfacher Versuche in den folgenden Jahren schaffte Bloch nie wiederden Einzug in den Reichsrat. Unter allgemeinem gleichem Wahlrecht wurde inWien 1907 die erste jüdische Parlamentsfraktion der Welt gegründet. Sievertrat jedoch einen jüdischen Nationalismus, der mit der konservativenreligiösen Definition von Judentum im Sinne Blochs nicht mehr viel gemein-sam hatte. Für einen erfolgreichen Wahlkampf in Galizien fehlte Bloch eineParteiorganisation, die sich in Wahlabsprachen mit ukrainischen oderpolnischen Parteien in bestimmten Wahlkreisen positionieren konnte. Ähn-lich wie Stojałowski pflegte Bloch das Image des Einzelkämpfers, das sich mitdurchlässigen Parteistrukturen, wie sie um 1900 erfolgreich wurden, nichtmehr vertrug. Seine Zeitung blieb hingegen ein einflussreiches Meinungsfo-rum, in dem unterschiedliche politische und kulturelle Standpunkte zu Wortkamen. In seinen letzten Lebensjahren verstärkte Bloch zudem von Wien aussein Engagement für verfolgte Juden der Monarchie.Auf ausgedehnten USA-Reisen in den Jahren 1912 und 1920 sprach er unteranderem vor Juden, die aus Galizien und der Bukowina stammten. Bei ihnenwarb er um finanzielle Hilfe, die er galizischen Flüchtlingen und Opfern desWeltkriegs zukommen ließ. In den Augen Blochs teilten die VereinigtenStaaten eine Gemeinsamkeit mit der späten Donaumonarchie. Auch deramerikanische Patriotismus sei ein inklusives politisches Bekenntnis, das sichmit unterschiedlichsten kulturellen und religiösen Identitäten vertrage.Das Ende des Imperiums erlebte Bloch als tiefe Erschütterung. Die überna-tionale Staatsidee und religiöse Toleranz der Habsburgermonarchie bliebenihm bis zu seinem Tod 1923 ein Ideal. Weder die polnische Republik, derenStaatsangehörigkeit er nach mehrjähriger Staatenlosigkeit 1920 bekam,62 nochdie österreichische Republik, in deren Hauptstadt er weiterhin wohnte, warenihm eine Heimat. Seine imperiale Biographie, seine Erfahrungen als auch seineKarriere im Vielvölkerstaat machten ihn zu einem Fremden in der national-staatlich geordneten Welt Ostmitteleuropas.

60 Auch wenn er noch 1885 hervorhob, dass Antisemitismus in Galizien relativ schwachverbreitet sei. Vgl. Buchen, Antisemitismus in Galizien, S. 92.

61 Robert S. Wistrich, Die Juden Wiens, S. 216. Reifowitz beschreibt die Anfechtung vonBlochs Mandat als antisemitisch motiviert, während Harald Binder dies mit derInitiative seines Widersachers Emil Byk und dem Einfluss des MinisterpräsidentenKasimir Badenis erklärt.

62 Central Archives for the History of the Jewish People, P 150, o. S.

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III. Resümee: Zwei imperiale Biographien zwischen Reich undReligion

Die imperialen Biographien von Joseph Bloch und Stanisław Stojałowskizeichneten sich durch hohe Mobilität und dichte Vernetzung innerhalb desReiches aus. Ihre Karrieren wurden durch die Nutzung bestehender politischerund kultureller Unterschiede zwischen den Reichsteilen ermöglicht. EineVoraussetzung hierfür war, dass in den unterschiedlichen Kontexten Anhängerihrer Religion lebten, die an einer reichsweiten politischen Artikulationreligiöser Anliegen interessiert waren. Sie waren bereit, sich vermittelt durchpolitische Repräsentation als Teil einer Gemeinschaft anzuerkennen, die auchgeographische, sprachliche und soziale Entfernungen aufhob. Um dieses imSinne Ernest Gellners geradezu klassische moderne Bedürfnis nach Über-windung kommunikativer Barrieren zu erfüllen,63 konnten sowohl Stojałowskials auch Bloch wichtige Mittlerfunktionen zwischen Galizien und Wien sowieder Ebene des Gesamtreichs erfüllen.Der zisleithanische Staat stellte mit seinem parlamentarischen und rechts-staatlichen System auf Länder- sowie auf Reichsebene die Strukturen dafürbereit, dass auch unterschiedliche historisch gewachsene religiöse Milieus ineinen Austausch treten konnten. Die beiden Geistlichen wussten dieseStrukturen für sich zu nutzen. Als bei den katholischen Bauern beliebter,von den polnischen Konservativen unabhängiger, potenzieller Reichsratsab-geordneter aus Galizien wurde Stojałowski für einflussreiche katholischeAkteure aus anderen Kronländern interessant. Als jüdischer Publizist in derHauptstadt ohne Verpflichtungen gegenüber der jüdischen Elite konnte Blochglaubwürdig religiöse Traditionen verteidigen, die ostgalizischen Wahlbe-rechtigten am Herzen lagen. Gleichzeitig konnte er sich überzeugend für dieBedürfnisse zugewanderter jüdischer Arbeiter in der Wiener Vorstadt einset-zen. Mit seiner Auslegung des politischen Mandats und der Konzeption seinerZeitung vermochte er sich zugleich als Sprachrohr für die Belange aller Judender Monarchie zu inszenieren.Die persönlichen Erfahrungen von den Möglichkeiten reichsweiter Mobilitätund Vernetzung flossen in ihr Programm ein. Denn sie stellten die Nutzung derimperialen Strukturen als Möglichkeit dar, Probleme ihrer Anhänger zu lösen.Der Reichszusammenhang als politischer Raum und mächtige Öffentlichkeitschien lokale Machtstrukturen unterlaufen zu können. Somit wirkten schließ-lich beide Akteure in Konstellationen, in denen sie ihre galizischen Wählergegen den Widerstand etablierter Eliten, die sich angeblich nicht ausreichendum religiöse Werte kümmerten, in Wien repräsentierten. Beiden brachte dieInszenierung als kämpferische Geistliche, die sich im Namen der Religion indie politische Arena begaben, große Beliebtheit ein. Diese populistische

63 Ernest Gellner, Nationalismus und Moderne, Berlin 1991.

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Strategie bezweifelte die Eignung des politischen Establishments, bejahtejedoch das politische System als Möglichkeit zur Partizipation. Mit ihrenWahlkämpfen und den Berichten über ihre Absichten und Erfolge imParlament führten sie die Lebenswelten der Hauptstadt und der Peripherienenger zusammen. In ihrem Kampf um Stimmen bewarben sie immer auch diereichsweiten politischen und rechtlichen Strukturen. Zugleich banden sie ihreWähler und Leser in dieses imperiale System ein und machten somit das Reichzu einer erfahrbaren Größe. Letztlich trugen sie dazu bei, dass der imperialeGesamthorizont in den lokalen Kontexten erheblich an Relevanz gewann.Die politischen Karrieren auf Reichsebene formten die Vorstellungen, die sichdie beiden Akteure vom Gesamtstaat machten. Diese Reichsbilder wurdenzwischen den Geistlichen und ihren Lesern kommuniziert und schrieben derHabsburgermonarchie neue Bedeutungen zu. Diese Bedeutungen entstandenim Umgang mit ihrer Glaubensgruppe aus den Erfahrungen der Akteure undden Erwartungen an den Staat. Damit wurden die geistlichen Politiker selbst zuTrägern eines Reichsgedankens, der mit dem Schicksal ihrer Glaubensge-meinschaften eng verbunden war.Für Stojałowski war das Reich eine katholische Monarchie, die das Verhältnisvon Kirche und christlicher Gemeinschaft bewahren sollte. Sie war einGegenmodell zum idealtypischen modernen Nationalstaat, der in alle Ange-legenheiten des Lebens seiner Bürger eingriff und zwischen Individuum undstaatlichen Institutionen keine Körperschaften duldete. Es sei im natürlichenInteresse aller gläubigen Katholiken, die in der Monarchie die absoluteMehrheit bildeten, dass ihre direkte Beziehung zum Vatikan durch keinestaatlichen Macht- und Kontrollambitionen gestört werde. Die Übernationa-lität von Staat und von Kirche und die daraus folgende Vereinbarkeit desMachtanspruchs von Kaiser und Papst sollten durch die gemeinsame mas-senhafte Mobilisierung der Gläubigen unterschiedlicher Nationalität undMuttersprache demokratisch legitimiert werden.Für Bloch hingegen war die Monarchie in erster Linie ein Rechtsraum. Erermöglichte den Juden kulturelle, religiöse und politische Entfaltung undbewahrte sie vor dem Zwang der einheitlichen nationalen (sprachlichen)Festlegung und anderen Zumutungen einer nichtjüdischen Umwelt. Bloch warzwar kein überzeugter Monarchist. Aber das Fortbestehen des patriarchali-schen Staatsverständnisses, demnach der Kaiser seine verschiedenen Unter-tanengruppen in den Reichsteilen vor Gefahren von außen und vor Übervor-teilung im Innern zu beschützen habe, kam seiner Vorstellung von einerjüdisch-österreichischen Loyalität entgegen. Auch seine Wahl als Abgeordne-ter war schließlich einem ständischen Relikt im Wahlrecht zu verdanken, dasdie Idee einer jüdischen städtischen Körperschaft fortführte.Die politischen Reichsvorstellungen beider Akteure waren eng damit ver-knüpft, was sie als Interessen ihrer Religionsgemeinschaften verstanden. Mitder Repräsentation der politischen und religiösen Vorstellungen und ihremBezug zum Imperium veränderten sie nicht nur die Glaubensgemeinschaft,

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sondern auch die politische Sphäre der Habsburger Monarchie. Bloch undStojałowski wurden zu Faktoren des Wandels, den sie in der Inszenierung vonKonflikten offen legten.In beiden Karrieren sorgten die Abgrenzung von Eliten der eigenen Glau-bensgemeinschaft und die Unterstützung aus (mindestens) einem anderenReichsteil für Popularität und Zuspruch bei den galizischen Wählern. Nochwichtiger war jedoch für beide Akteure die negative Bezugnahme auf dieGlaubensgemeinschaft des jeweils anderen und deren (unterstellte) politischeAmbitionen innerhalb der Monarchie.Die erste große öffentliche Aufmerksamkeit erhielt Bloch als Kämpfer gegenden katholischen Antisemitismus. Stojałowskis Vorwurf, dass die galizischeElite das Land den Juden ausliefere, konnte nicht ohne sichtbare jüdischeRepräsentanten wie Bloch im galizischen Polenklub erfolgen. Blochs Furchtvor einem die rechtlichen Errungenschaften der liberalen Ära zerstörendenKlerikalismus bezog sich auf die christlichsoziale Bewegung, die in den 1890erJahren gerade in Galizien an Bedeutung gewann.Die Bezugnahme auf die politische Äußerung der jeweils anderen Gruppefunktionierte bei beiden mit implizitem oder explizitem Verweis auf den Staat.Auch hierin trat das imaginierte Imperium der Glaubensgemeinschaft zu Tage.Mal drohte es, den katholischen Charakter zu verraten, wenn es sich den„Anmaßungen der Juden“ nicht widersetzte und die Empfindungen derKatholiken nicht schützte. Mal schien die Freiheit der Religionsausübung inGefahr oder die bürgerlichen Rechte verraten zu werden, wenn „fanatischeKatholiken“ unschuldige Juden belästigten.64

Verwaltung, Justiz und öffentliche Meinung für die eigene Sache einzunehmen,gehörte selbstverständlich zum politischen Geschäft. Diese Versuche verdeut-lichen zugleich, dass die Glaubensgemeinschaften immer auch als politischeMeinungsgruppierungen vorgestellt wurden, die ihre Interessen innerhalb desReiches zu verteidigen trachteten. Es war wichtig, diese Bereitschaft zudemonstrieren, weil in der öffentlichen Wahrnehmung Verletzungen dervorgestellten Rechte zunahmen. Die Politisierung und Demokratisierung derGesellschaft verstärkte im multikonfessionellen imperialen Raum auch reli-giöse Konflikte. Denn die in Auflage und Zahl wachsenden Zeitungen, auch diekonfessionellen, nahmen ständig aufeinander Bezug. Bei den Konfliktenhandelte es sich häufig um einen Streit um den Status von Religionen imVerhältnis zum Staat. Da Geistliche als Vermittler der Konflikte in Politik undÖffentlichkeit sprachen, erschienen die Antagonismen nicht als soziale odernationale, sondern religiöse Auseinandersetzungen. Stojałowski und Blochhatten als Politiker und Publizisten Anteil daran, dass dieser Streit permanent

64 Der Vorwurf, dass der Staat Anhänger der jeweils anderen Glaubensgruppe weniger hartbestrafe und die öffentliche Meinung von dieser manipuliert werde, war ein häufigesThema in der Monarchie vor 1900. Siehe Buchen, Bloch und Galizien, S. 213.

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ausgetragen wurde. Auch darin dynamisierten sie den Wandel im Verhältnisvon Politik und Religion im Reich.Die Gleichzeitigkeit und Reflexivität mit der Stojałowski und Bloch neuekatholische und jüdische Angebote in den politischen Meinungsmarkteinspeisten, deckt die wachsende Bedeutung von religiösen Vorstellungenund konfessioneller politischer Identifikation in der politischen Kultur derpostliberalen Ära auf. Die beiden Akteure verstärkten damit eine bereitsvorher einsetzende Ausdifferenzierung der politischen Landschaft des Impe-riums. Ein Faktor für den Bedeutungsgewinn der Religion war dem sich imÜbergang befindenden politischen System immanent. Die Ausweitung desWahlrechts erlaubte sozialen Gruppen die erstmalige Teilnahme an derpolitischen Auseinandersetzung. Sie wählten Autoritäten aus dem geistlichenLeben, weil dieser Bereich für ihr Leben zentral war.Es bestanden jedoch weiterhin spezielle Konstellationen, die etwa allebesitzlosen Wähler in einem ländlichen Bezirk beziehungsweise die Bürgereiner Steuerklasse aus drei Städten jeweils über ein Mandat entscheiden ließen.Diese Übergangssituation vor dem allgemeinen gleichen Wahlrecht, dasschließlich große Parteien hervorbringen sollte, schuf eine Nische fürKandidaten wie Bloch und Stojałowski. Als streitbare Einzelkämpfer gegendas Establishment trugen sie die Honoratiorenpolitik mit zu Grabe, bevorPartei- und Massenpolitik sich ihnen überlegen zeigten.Die Ausweitung des Wahlrechts brachte den Liberalismus als bürgerlichesProjekt zu Fall. Er bekam in dem Moment keine Mehrheiten mehr, in dembürgerliche Wähler nicht mehr die Mehrheit der Stimmen abgeben durften.Hinzu kam, dass das liberale Fortschrittsversprechen unter der Wirtschafts-krise von 1874 gelitten hatte. Die erklärte Gegnerschaft zum Liberalismus, diebeide Akteure mit fehlender religiöser Erdung und unmoralischem Laissez-faire-Kapitalismus begründeten, erklärt sich hiermit ebenso, wie mit dersozialen Zusammensetzung ihrer primären Wählergruppe. Beide Akteurewandten sich also nicht nur inhaltlich gegen den Liberalismus, ihre politischenKarrieren trugen nachhaltig zu dessen Untergang bei.Auf wichtige internationale, über das Imperium hinausreichende Zusammen-hänge verweisen schließlich die Jahre, in denen sich die beiden Geistlichenzum Eintritt in die Politik entschieden. In den Jahren um 1882 zeigt sich eineZäsur im Verhältnis von Religion, Politik und Imperium, die auch dieBiographien der beiden Geistlichen maßgeblich prägten. Sie stehen inZusammenhang mit der Politik zwei neuer gewichtiger Akteure. Die Slaven-politik Leos XIII. verarbeitete die neuen Machtkonstellationen auf dem Balkanebenso wie die religiöse Wende im russischen Reich unter Alexander III.Dessen Politik gegen die katholische Konfession und die fortgesetzten

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Repressionen gegen die Unierten, die sich der „Rückführung“ in die orthodoxeKirche widersetzten, verschärfte den Konflikt mit Rom. Galizien wurde zumumkämpften Einflussbereich zwischen Katholizismus und Orthodoxie.65

Die Pogrome von 1881 und die im Jahr darauf folgenden Maigesetze imZarenreich markierten schließlich die tiefste Zäsur in der Geschichte jüdischerPolitik in Osteuropa.66 Die von den Pogromen ausgelöste Flüchtlingswelle liefdurch das benachbarte Galizien. Sie veranschaulichte jedem die Möglichkeitmassenhafter jüdischer Emigration in kürzester Zeit. Zugleich verdeutlichtesie vielen Juden die Notwendigkeit, sich international zu organisieren und fürden Ernstfall der Unterstützung im Westen zu versichern.Stojałowski und Bloch erlebten diese Verschiebungen im Verhältnis vonReligion und imperialer Politik und sie gestalteten sie selbst aktiv mit. AlsGeistliche und Politiker in einer Person wurden sie zu Schnittstellen zwischender Religionsgemeinschaft auf dem Territorium der Monarchie und derpolitischen Repräsentation ihrer jeweiligen Interessen. So setzten sie sich fürdie Identifikation ihrer Glaubensgemeinschaft mit der Habsburgermonarchie(und umgekehrt der besonderen Verbindung des Imperiums mit ihrerReligion entsprechend ihrer Reichsidee) ein. Damit trugen beide zur Politi-sierung des religiösen Bekenntnisses und der Delegitimierung der Assimila-tionsidee bei.Beide nahmen die Monarchie auch bedingt durch ihre imperiumsübergrei-fende Mobilität im permanenten Vergleich mit Russland und dem deutschenReich wahr. Die ungünstigeren Bedingungen, die dort für ihre Glaubensge-meinschaften herrschten, beförderten das Werben Blochs für die österrei-chisch-jüdische Option. Stojałowski machten sie am Beginn seiner politischenKarriere zu einem engagierten Vertreter der austropolnischen Lösung und deskatholischen Panslavismus.Die benachbarten Reiche waren ein ständiger, hier negativer Bezugspunkt beider Konstruktion einer imperialen Meinungsgemeinschaft. Der von denAkteuren angestellte imperiale Vergleich verdeutlicht die gegenseitige Wahr-nehmung zwischen den Staaten und macht anhand zweier Leben verständlich,wie die eingangs genannte Zuschreibung von Religion und Imperium in einemreichsübergreifenden Beziehungsgefüge wirkmächtig werden konnte. DieHabsburgermonarchie wurde jedoch nicht eindeutig und ausschließlich mitdem Katholizismus identifiziert. Bloch trug dazu bei, dass auch ein besonderesVerhältnis von Judentum und habsburgischem Staat entstand.Die internationale Identifikation von Religionsgemeinschaft und Imperiumverstärkte sich durch die Aktivitäten wie Pilgerfahrten oder transatlantische

65 Zur zarischen Politik gegen die unierte Kirche siehe Theodore R. Weeks, Nation andState in Late Imperial Russia. Nationalism and Russification on Western Frontier,1863 – 1914, DeKalb 1996, S. 174 ff.

66 Vgl. Bartal, Geschichte der Juden; Klier, Russians.

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Philanthropie. Imperiale Biographien – wie die von Bloch und Stojałowski –decken die transimperialen Wechselwirkungen auf. Damit ist das Konzept einBeitrag zur Verflechtungsgeschichte der europäischen Großreiche.Der spezielle Fall der geistlichen Politiker verdeutlicht zudem, wie Gläubige inpolitische und kommunikative Modernisierungsprozesse eingebunden wur-den, die maßgeblich vom Vielvölkerreich beeinflusst wurden. Hierdurchwurden beide in unterschiedlichen lokalen Kontexten des Imperiums undinnerhalb ihrer Religionsgemeinschaften zu Faktoren des Wandels. Dass beideletztlich ihre religiöse gegen publizistische und politische Karrieren ein-tauschten, verdeutlicht die Transformation von Glaubens- zu Meinungsge-meinschaften. Auch in den beiden Biographien wird somit eine Veränderungvon religiöser Praxis sichtbar, die mit Säkularisierung allerdings sehr unzu-reichend beschrieben ist. Schließlich verdeutlichen die Karrieren die hoheÜberzeugungskraft, die von religiösen Interpretationen und Antworten impolitischen Betrieb ausgingen. Die Zunahme religiöser Vorstellungen in derpolitischen Kultur wurde von ihren Lesern und Wählern getragen. Darin zeigtsich, dass die Modernisierung durch Demokratisierung nicht mit Säkulari-sierung einherging. Die Gegnerschaft der beiden Personen und die Unver-träglichkeit ihrer Programmatik bei gleichzeitiger positiver Bezugnahme aufdas Reich veranschaulichen, wie offen die Monarchie für unterschiedlicheProjektionen blieb. Die Parallelen der Karrieren der beiden Geistlichenillustrieren hingegen, dass das Imperium zugleich mächtige Strukturenvorgab, die Leben und Karrieren prägten. Die imperialen Biographien vonStanisław Stojałowski und Joseph Bloch zeigen, wie Vorstellungen undStrukturen zusammenhingen.

Tim Buchen, Europa-Universität Viadrina, Zentrum für InterdisziplinärePolenstudien, Große Scharrnstraße 59, D-15230 FrankfurtE-Mail: [email protected]

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