Realistische Phänomenologie und Dialog Christentum Islam

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BEITRAG DER REALISTISCHEN PHÄNOMENOLOGIE ZUM DIALOG ZWISCHEN DEM CHRISTENTUM UND DEM ISLAM Josef Seifert, Internationale Akademie für Philosophie im Fürstentum Liechtenstein 1 Was ist die „realistische Phänomenologie“ und welchen Beitrag kann sie für den Dialog zwischen Islam und Christentum leisten? Herr Dr. Hamid Lechab hat mir vor Jahren den Vorschlag gemacht, mein Buch Gott als Gottesbeweis für eine vorwiegend moslemische Leserschaft ins Arabische zu übersetzen und eine philosophische Gesellschaft zu gründen, die den Dialog zwischen Philosophen aus der islamischen und der christlichen Welt fördern sollte. Aus den Gründen, die er für dieses Projekt, das mich zunächst überraschte, anführte, wurde mir nach näherem Nachdenken mehr als zuvor die universale Dimension der Philosophie deutlich, die ein alle Menschen, die die Wahrheit suchen, verbindendes Band sein kann. In verschiedenen Dialogen, etwa mit dem Leiter der islamischen Gemeinschaft Deutschlands, hat sich bestätigt, daß nicht ein Relativismus, in dem die Idee einer Wahrheit aufgegeben wird, sondern vielmehr die gemeinsame Suche nach Wahrheit und einem Leben, das auf ihr beruht, Grundlage einer echten Gemeinschaft zwischen Muslimen und Christen sein kann. Wie soll dies aber möglich sein? Zeigen nicht die Geschichte der Glaubenskriege und die traurigen Ereignisse des 11. September 2001, daß gerade die absoluten Wahrheitsansprüche die Menschen entzweien, ja bis zum gegenseitigen Hinmorden treiben? Dies aber ist gerade nicht der Fall, auch wenn man nicht leugnen kann, daß es feste Überzeugungen von Fanatikern gibt, die wirklich zu Krieg und Gewalt führen. Das ehrliche gemeinsame Bemühen um die Wahrheit ist in Wirklichkeit Fundament echter Gemeinschaft auch unter Menschen, die inhaltlich nicht übereinstimmen. Schon die Tatsache, daß jeder ernsthafte Anhänger einer Religion dieser nur deshalb anhängt,

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BEITRAG DER REALISTISCHEN

PHÄNOMENOLOGIE

ZUM DIALOG

ZWISCHEN DEM CHRISTENTUM UND DEM ISLAM

Josef Seifert,

Internationale Akademie für Philosophie im Fürstentum Liechtenstein

1 Was ist die „realistische Phänomenologie“ und welchen Beitrag kann sie für den

Dialog zwischen Islam und Christentum leisten?

Herr Dr. Hamid Lechab hat mir vor Jahren den Vorschlag gemacht, mein Buch Gott

als Gottesbeweis für eine vorwiegend moslemische Leserschaft ins Arabische zu

übersetzen und eine philosophische Gesellschaft zu gründen, die den Dialog zwischen

Philosophen aus der islamischen und der christlichen Welt fördern sollte. Aus den

Gründen, die er für dieses Projekt, das mich zunächst überraschte, anführte, wurde mir

nach näherem Nachdenken mehr als zuvor die universale Dimension der Philosophie

deutlich, die ein alle Menschen, die die Wahrheit suchen, verbindendes Band sein

kann. In verschiedenen Dialogen, etwa mit dem Leiter der islamischen Gemeinschaft

Deutschlands, hat sich bestätigt, daß nicht ein Relativismus, in dem die Idee einer

Wahrheit aufgegeben wird, sondern vielmehr die gemeinsame Suche nach Wahrheit

und einem Leben, das auf ihr beruht, Grundlage einer echten Gemeinschaft zwischen

Muslimen und Christen sein kann. Wie soll dies aber möglich sein? Zeigen nicht die

Geschichte der Glaubenskriege und die traurigen Ereignisse des 11. September 2001,

daß gerade die absoluten Wahrheitsansprüche die Menschen entzweien, ja bis zum

gegenseitigen Hinmorden treiben?

Dies aber ist gerade nicht der Fall, auch wenn man nicht leugnen kann, daß es feste

Überzeugungen von Fanatikern gibt, die wirklich zu Krieg und Gewalt führen. Das

ehrliche gemeinsame Bemühen um die Wahrheit ist in Wirklichkeit Fundament echter

Gemeinschaft auch unter Menschen, die inhaltlich nicht übereinstimmen. Schon die

Tatsache, daß jeder ernsthafte Anhänger einer Religion dieser nur deshalb anhängt,

weil er sie für die wahre hält und weil er dem wahren Gott in der Wahrheit dienen und

ihn anbeten will,1 kann ein Band der Einheit sein. In diesem Streben nach Wahrheit,

das Jan Hus für den Kern der Ethik gehalten hat,2 und im Suchen und Dienenwollen

dem einzig wahren Gott, liegt ein tiefes und letztlich philosophisches verbindendes

Element aller echten Gläubigen einer Religion.

Und hier ist gerade die Philosophie, die ihres Namens einer Liebe zur Weisheit

würdig ist, die für ein Streben nach Wahrheit von Menschen verschiedenster

Religionen steht und damit jenes echte Band der Einheit fördert, von dem eben die

Rede war. Es freute mich an dem Vorschlag Dr. Lechabs besonders, daß es seinem

Urteil nach gerade die „realistische Phänomenologie“, deren Grundlegung und

Ausführung ich mein Lebenswerk widme und die an der Internationalen Akademie für

Philosophie im Fürstentum Liechtenstein gepflegt und weiterentwickelt wird, war, die

von ihm als ein solches Band der Einheit betrachtet wurde, das zwischen arabischen

und westeuropäischen Denkern vermitteln kann.

Freilich bleibt es wahr: Sosehr Christen, Juden und Muslime im Glauben an einen

einzigen Gott verbunden sind, so ist doch der Glaube des Islam über den „einigen

Gott“ ganz verschieden von dem an die göttliche Dreifaltigkeit, die vom Koran

verworfen wird.3 Die an den dreieinigen Gott Glaubenden sowie die Juden werden

sogar vom Koran verflucht.4 Daher mag es dem muslimischen Leser unmöglich

erscheinen, die Philosophie eines Christen, oder irgendeines westlichen Philosophen

überhaupt, vor allem wenn diese Philosophie auch Gott zum Gegenstand hat, mit

Gewinn kennenlernen zu können.

Bei näherem Nachdenken sind solche Urteile jedoch unrichtig. Denn zunächst ist

die realistische Phänomenologie kein Ergebnis des christlichen oder eines sonstigen

Glaubens. Sie ist reine Philosophie, die mit Hilfe der Vernunft die Wirklichkeit zu

ergründen sucht. Und die Vernunft ist allen Menschen gemeinsam. Sodann ist die

einigende Kraft einer „Schule der Philosophie“, die nichts als die Welt und die Dinge

aussprechen will, wie sie wirklich sind und uns gegeben sind, nicht erstaunlich und

1 Koran und Evangelium bestätigen dies. Man denke etwa an 2 3 Vgl. Koran, Sure 4: 171 f.; 5: 73. 4 Koran 9: 30:

Die Juden sagen, Esra sei Allahs Sohn, und die Christen sagen, der Messias ist Allahs Sohn ... Sie ahmen die

Rede derer nach, die vor ihnen ungläubig waren. Allahs Fluch über sie! Wie sind sie irregeleitet!

kann Menschen verschiedenster religiöser und kultureller Hintergründe verbinden.

Denn diese Philosophie ist eigentlich keine bestimmte „Schule“; sie entwickelt nicht

ein System aus nur „dem Westen“ zugehörigen Begriffen, sie ist nicht eine historische

Richtung, der es auf Treue zur „eigenen Tradition“ ankäme. Vielmehr ist die

realistische Phänomenologie eine Philosophie, deren Prinzip die Liebe zur Wahrheit

und damit im Reich der Philosophie ein bedingungsloses Ausgehen von der Erfahrung

und ein genauestes Hinhören auf jedes in ihr Gegebene ist, das allen Menschen

zugänglich ist. Darin ist zugleich eine Rückkehr zum „wahren Wesen der Dinge“

eingeschlossen, insofern dieses Wesen trotz aller kultureller und sonstiger

Verschiedenheiten seiner geschichtlichen Erscheinungsweisen dasselbe bleibt und

zugleich von jeder historischen und kulturellen Erfahrung aus neu beleuchtet, wenn

auch oft in ihr entstellt, wird. In der Philosophie geht es freilich nicht um eine

Beschreibung der konkreten Erfahrungen oder historischen Zustände, in denen sich

Erkennen, Liebe, Wissenschaft usf. darbieten, sondern um eine gereinigte und

einsehende Erfahrung, welche sich zum einleuchtenden wahren Wesen, zu den Eide

der erfahrenen Dinge aufschwingt.5 Dieses wahre Wesen der Dinge ist allen Menschen

in der Erfahrung der Dinge zugänglich und mitgegeben, liegt aber in seiner Wahrheit

und inneren einleuchtenden Notwendigkeit zugleich in gewissem Sinne „über den

konkreten Dingen“, was besonders in der Ethik hervortritt, welche die moralischen

Wesenheiten in einer Reinheit erforscht, in der sie von keinem konkreten Menschen,

den wir aus der Erfahrung kennen, vollkommen verwirklicht sind.

Eine solche realistische Philosophie des Rückgangs auf jenes Gegebene, das „über

den konkreten empirischen Daten“ liegt, knüpft an eine universale und alle Menschen

verbindende reine Wesenserfahrung an und stützt sich auch, wie wir sehen werden, auf

eine Erfahrung vom Dasein der Dinge; sie versucht, Gegebenheiten aufzudecken und

zu analysieren, die jedem Menschen bekannt und jeder menschlichen Vernunft

zugänglich sind, vor und unabhängig von seinen Glaubensüberzeugungen, auch wenn

es sich nicht nur um empirische faktische Gegebenheiten handelt, sondern um Ideale,

die, besonders im Ethischen, oft von den Menschen nicht realisiert werden und deren

inneres Gesetz für die wirkliche Welt nicht automatisch wirkt, sondern oft nicht

5 Vgl. auch Max Scheler, „Vom Wesen der Philosophie und der moralischen Bedingung des philosophischen Erkennens“ in:

Max Scheler, Gesammelte Werke, Vom Ewigen im Menschen, 5. Aufl. (Bern/München: Francke, 1968), Bd. 5, S. 69-99.

befolgt wird. Eine solche Philosophie, die einfach auf die gegebene Wahrheit der

Dinge abzielt, besitzt, mehr als bestimmte Systeme westlicher Philosophie, viele

Anknüpfungspunkte an die Erfahrung verschiedenster Menschen, ob sie nun in ihrer

Wahrheitssuche von der westlichen oder der bunteren orientalischen Welt, der

christlichen Erfahrung oder der religiös ganz verschiedenen Welt des Islam ausgehen.

Denn Philosophie ist nicht Religion, sie erforscht dieselben Urgegebenheiten, die sich

in verschiedenem Ausmaß in aller menschlichen Erfahrung erschließen. Diese

Tatsache, daß die Philosophie nicht restriktiv „moslemisch“ oder „christlich“ ist und

sein kann, zeigt sich auch in der Geschichte der Philosophie, in der die Werke

arabischer Philosophen große Bedeutung in der westlichen Philosophie hatten und

umgekehrt.6

1.1 Zum Wesen der Phänomenologie überhaupt und der realistischen Phänomenologie

Der Bezug der realistischen Phänomenologie zur arabischen und

mohammedanischen Welt besteht auch historisch gesehen. Schon als Max Scheler,

einer der ersten bedeutenden Vertreter einer „realistischen Phänomenologie“, in

seinem Hauptwerk Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik (1913)

eine derartige Philosophie der Rückkehr zu den Sachen selbst entwarf, die sich durch

große Sachnähe auszeichnete und insbesondere die Objektivität der Werte

herausarbeitete, erregte diese Philosophie so großes Interesse seitens islamischer

6 So hatte Ibn Sina Avicenna (980–1037), etwa durch sein Hauptwerk Kitab-al-Shifa, Buch der Genesung, eine umfassende

philosophische Enzyklopädie, sowie durch seine Metaphysik, große Bedeutung in der europäischen Scholastik; sein Werk

stellt aber auch eine Synthese der westlichen Schulen des Aristotelismus und Neuplatonismus dar. Eine scharfe Kritik an

Avicennas Ideen der indirekten Notwendigkeit der Existenz der Welt finden wir u. a. bei Abu Hamid Mohammad ibn

Muhammad ibn Ahmad al-Ghazzali (auch Algazel, al-Ghassali oder al-Ghasali genannt, 1058–1111), dessen Hauptwerke

Ihya’u‚ Ulmi’Din und Al-Maqsadu‘l-Asna sind. In seinem Werk Tahfut-al-falasifa (Die Selbstdestruktion der Philosophen)

kritisiert er jede Philosophie, welche die Handlungen Gottes auf seine Wesensbestimmung zurückführt und notwendige

Kausalverbindungen zwischen den von Gott geschaffenen Dingen annimmt. Die bei Avicenna vorfindliche Leugnung der

Kontingenz der erschaffenen Welt, der gemäß alles notwendig, und nichts vollständig von Gottes freiem, schöpferischem

Willen abhängig wäre, sowie die traditionellen Argumente für die Ewigkeit der Welt und die Notwendigkeit der

Naturgesetze, werden von ihm, ebenso wie später von Thomas von Aquin, kritisiert. Avicenna, Avicebron, Averroes und al-

Ghazzali waren für die europäische Scholastik und auch für die spätere islamische Philosophie von Averroës einflußreich.

Auf Thomas von Aquin übte zweifellos Avicenna, dem er in philosophischer Hinsicht von allen ihm bekannten

mohammedanischen Philosophen am nächsten stand und den er nahezu fünfhundertmal (479), oft zustimmend, zitiert, einen

größeren Einfluß aus als Avicebron, auf den er 23 Mal Bezug nimmt und auch als Averroës, den er 125 Mal zitiert, dem er

aber vorwiegend kritisch gegenübersteht. Vgl. auch Max Horten (Hrsg.), Avicennas Buch der Genesung der Seele (1907-

09); ders., Die Metaphysik des Avicenna (1907). Averroës (Ibn Rushd, 1126–98), obwohl er die volle Übereinstimmung

zwischen Koran und Aristoteles lehrte, interpretierte Aristoteles im Sinne einer Leugnung persönlicher Unsterblichkeit, und

wich darin und in anderen Punkten seiner Lehre sicherlich nicht nur vom Christentum, für das seine Lehren über Gott und

die Seele eine dramatische Bedrohung darstellten, auf die Thomas von Aquin antwortete, sondern auch vom Koran, der ja

die persönliche Auferstehung und das Jüngste Gericht lehrt, ab.

Herrscher und geistiger Autoritäten des Islam, daß er einen Ruf an die Universität

Kairo erhalten sollte.7

Was aber ist die „realistische Phänomenologie“ und was ist ihr Platz im 20.

Jahrhundert? Die Philosophie der „realistischen Phänomenologie“ ist zugleich modern,

da sie im 20. Jahrhundert entstand, und klassisch bzw. zeitlos. Daher kann man auch in

klassischen Denkern zahlreiche Einsichten entdecken, die die Methoden und Inhalte

einer „realistischen Phänomenologie“ bekunden, aber durch deren in unserem

Jahrhundert entwickelte Methoden noch systematischer entfaltet werden können.8

Obwohl sie dem Begründer aller Phänomenologie, Edmund Husserl, und anderen

Denkern unseres Jahrhunderts immens viel verdankt, unterscheidet sich die

„realistische Phänomenologie“ viel radikaler von den subjektivistischen

Phänomenologien des 20. Jahrhunderts als von der großen abendländischen Tradition

der Philosophie der Antike, aber auch des Mittelalters, deren bedeutende Geschichte

zahlreiche große muslimische Denker wie Avicenna und al-Ghazzali ebenso wie viele

christliche Philosophen zu ihren Vertretern zählt.

Dem können wir hinzufügen: Im Reich der Philosophie verwirklicht sich besonders

der heute eingetretene historische Augenblick der Ökumene, da dieselben

philosophischen Fundamente, ohne die eine angemessene theoretische Erfassung jeder

der verschiedenen monotheistischen Religion undenkbar ist, heute in Krise geraten

sind: der Wahrheitsbegriff überhaupt, objektive ethische Normen, die Möglichkeit des

Menschen, über die übersinnliche und gar die göttliche Wirklichkeit Aussagen zu

machen – sie alle werden in der zeitgenössischen Philosophie radikal in Frage gestellt

und geleugnet. Die daraus folgende Zersetzung aller Religion betrifft genauso den

Islam wie das Christentum und Judentum. Vielleicht ist angesichts der beschriebenen

Situation heute, da zudem in Europa gewaltige Massen muslimischer und

arabischsprechender Menschen leben, die Zeit noch reifer als im berühmten „goldenen

Zeitalter“ friedlicher Zusammenarbeit muslimischer und christlicher Denker in

Spanien, zu erkennen, wie viele wesentliche philosophische Fundamente den großen

7 Vgl. Dietrich von Hildebrand, (unveröffentlichte) Memoiren, Dietrich von Hildebrand-Archiv der Internationalen Akademie

für Philosophie im Fürstentum Liechtenstein, sowie Alice von Hildebrand-Jourdain, 8 Vgl. zum Beweis dieser These etwa Ludger Hölscher, Die Realität des Geistes. Eine Darstellung und phänomenologische

Neubegründung der Argumente Augustins für die geistige Substantialität der Seele (Heidelberg: Universitätsverlag

C. Winter, 1999); Kateryna Fedoryka, “Certitude and Contuition. St. Bonaventure’s Contributions to the Theory of

Knowledge”, in: Aletheia VI (1993/94), S. 163-197; oder auch ein von mir vorbereitetes italienisches Buch „Platon und die

,realistische Phänomenologie‘.“

Denkern des Islam und des Christentums und den Anhängern beider Religionen

gemeinsam sind.

In einer solchen geschichtlichen Lage ist es bemerkenswert, daß die realistische

Phänomenologie fast allein unter den Philosophien des 20. Jahrhunderts einen

Anschluß an diese klassische Tradition islamisch-christlicher Philosophie entdeckt,

indem sie nicht nur einen Weg zur Begründung objektiver sittlicher Werte, der

Erkenntnis des geistigen Wesens der menschlichen Seele, objektiver Gesetze der

Logik, usf. findet, sondern sich auch bis in die höchsten Sphären der klassischen

Philosophie vorwagt und Beiträge zur Metaphysik und Gotteserkenntnis leistet.

Das unterscheidende Merkmal realistischer Phänomenologie ist dabei dieses: Auch

adäquate metaphysische Erkenntnis des Seins kann nur unter Beachtung des

phänomenologischen Urprinzips aller Prinzipien geschehen; nur durch ein Ausgehen

vom leibhaftig selbst Gegebenen, von den selbst gegebenen Sachen her ist sie möglich.

Husserl formulierte ein solches Programm als einziges Ziel einer phänomenologischen

Philosophie und schrieb:

Doch genug der verkehrten Theorien. Am P r i n z i p a l l e r P r i n z i p e n : daß jede o r i g i n ä r

g e b e n d e A n s c h a u u n g e i n e R e c h t s q u e l l e d e r E r k e n n t n i s sei, daß a l l e s , was

sich uns i n d e r ‘ I n t u i t i o n ’ o r i g i n ä r , (sozusagen in seiner leibhaften Wirklichkeit)

d a r b i e t e t , e i n f a c h h i n z u n e h m e n s e i , a l s w a s e s s i c h g i b t , aber auch n u r i n

d e n S c h r a n k e n , i n d e n e n e s s i c h d a g i b t , kann uns keine erdenkliche Theorie irre

machen. Sehen wir doch ein, daß eine jede [indirekte Beweisführung] ihre Wahrheit nur aus den

originären Gegebenheiten schöpfen könnte. 9

Goethe hatte schon zuvor ein ähnliches phänomenologisches philosophisches

Programm formuliert:

Das Höchste, wozu der Mensch gelangen kann, ... ist das Erstaunen, und wenn das Urphänomen ihn in

Erstaunen setzt, so sei er zufrieden; ein Höheres kann es ihm nicht gewähren, und ein Weiteres soll er

nicht dahinter suchen; hier ist die Grenze. Aber den Menschen ist der Anblick eines Urphänomens

gewöhnlich noch nicht genug, sie denken, es müsse noch weiter gehen, und sie sind den Kindern

ähnlich, die, wenn sie in einen Spiegel geguckt, ihn sogleich umwenden, um zu sehen, was auf der

anderen Seite ist.10

9 Edmund Husserl, Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie I, ed. Karl Schuhmann.

Husserliana, vol. III/1; 1. Buch, text of 1.-3. edn, 1. Buch, 1. Abschnitt, 2. Kapitel, § 24. 10 Johann Wolfgang von Goethe, Goethes Gespräche mit Eckermann, (Leipzig: Insel-Verlag, 1921) S. 448.

Vgl. auch J. W. von Goethe, Zur Farbenlehre. Didaktischer Theil. Der Farbenlehre polemischer Theil. Geschichte

der Farbenlehre. Nachträge zur Farbenlehre. Johann Wolfgang von Goethe, Sämmtliche Werke in 40 Bänden (Stuttgart

and Tübingen: J.G. Cotta’scher Verlag, 1840), vls 37-40. Farbenlehre, II. Abtheilung, Nr. 177, Bd. 37, S. 68.

Er soll sich eine Methode bilden, die dem Anschauen gemäß ist; er soll sich hüten, das Anschauen in

Begriffe, den Begriff in Worte zu verwandeln, und mit diesen Worten, als wären’s Gegenstände,

umzugehen und zu verfahren ... 11

Während, wenn auch nicht in der konkreten Durchführung, so doch in der Theorie,

alle Phänomenologie prinzipiell dem zu folgen suchte, was Husserl das „Prinzip aller

Prinzipien“ nannte, so konnte die tatsächliche Anwendung und das reale

methodologische Verständnis einer solchen Philosophie, die sich seit 1905 zunehmend

einem transzendentalen Idealismus verschrieb und von ihrem ursprünglichen

Objektivismus zu einem Subjektivismus führte, doch dieses Vorhaben nicht erfüllen.

Gerade das im „Prinzip aller Prinzipien“ genannte Ziel konnte das von Husserl

bereitgestellte konkrete methodische Instrument, das zu einer solchen Rückkehr zu den

Sachen selbst führen sollte und zum Teil auch brillant führte, aus verschiedenen

Gründen und wegen schwerwiegender Mängel, von denen im folgenden drei genannt

seien, nicht, zumindest nicht in einem umfassenden und ausreichenden Sinne, leisten.

Am besten demonstrieren wir dies an dem Thema dieses Buches: der

Gotteserkenntnis.

1.2 Die realistische Phänomenologie als Fortführung der Anfänge der Phänomenologie und als Überwindung des ersten späteren Mangels der Husserlschen Phänomenologie: des Immanentismus und Subjektivismus, der sich auf jede Gotteserkenntnis fatal auswirkt und zur Implikation des „Todes Gottes“ führen muß

Die erste Interpretation der von Husserl intendierten Rückkehr zu den Sachen selbst

in Beschränkung auf die „reinen Gegebenheiten“ war es, zu behaupten, dem Menschen

seien nur intentionale Gegenstände des Bewußtseins und die diesen entsprechenden

Noesen als solche gegeben. Objekte seien ihm nur als „Gegebenheitsweisen“

zugänglich, weshalb alle ontologischen und metaphysischen Ansprüche, ja alle

Geltungsansprüche über die Sphären menschlichen Bewußtseins hinaus auf die

Ebenso Farbenlehre, ebd., Nr. 177, Bd. 37, S. 68. Ebenso Gespräche mit Eckermann, ebd., S. 639:

Ein einfaches Urphänomen aufzunehmen, es in seiner hohen Bedeutung zu erkennen und

damit zu wirken, erfordert einen produktiven Geist, der vieles zu übersehen vermag, und ist

eine seltene Gabe, die sich nur bei ganz vorzüglichen Naturen findet. (Vgl. auch ebd., S. 432, 514, 567, 591.)

Vgl. auch Farbenlehre, Einleitung, Bd. 37, S. 9:

Vom Philosophen glauben wir Dank zu verdienen, daß wir gesucht die Phänomene bis zu ihren Urquellen zu

verfolgen, bis dorthin, wo sie bloß erscheinen und sind, und wo sich nichts weiter an ihnen erklären läßt ...

Vgl. Farbenlehre, Nr. 177, Bd. 37, S. 68. Auch Ebd., Nr. 752, S. 246, sowie ebd., Nr. 752, S. 246: „Sie verwandeln

das Lebendige in ein Todtes.“ Ebd., Nr. 754, S. 247: „und wie oft wird ... das Elementare durch ein Abgeleitetes mehr

zugedeckt, und verdunkelt, als aufgehellt und näher gebracht.“ Vgl. Goethe, Nachträge zur Farbenlehre, ebd., Bd. 40,

S. 423–425.

Vgl. auch Hans Leisegang, Goethes Denken (Leipzig: Felix Meiner, 1932), S. 157–159; 168 f. 11 Goethe, Farbenlehre, V. Abtheilung, Nr. 716, 720, Bd. 37, S. 232–233. Ebd., Nr. 175, Bd. 37, S. 67. Farbenlehre, Nr.

175, Bd. 37, S. 67.

Wirklichkeit selber hin fallengelassen werden müßten. Denn es könne der Mensch, der

sich nicht in Weltanschauungsphilosophie erginge, sondern in reiner Wissenschaft auf

das Erkannte beschränke, sich selbst im Erkennen niemals in Richtung auf die Dinge

an sich überschreiten.12 Gewiß, Husserl betont konsequent eine gewisse „immanente

Transzendenz“, die schon in der Intentionalität allen Bewußtseins impliziert ist: das

Bewußtsein vermag auf Objekte des Bewußtseins zu blicken, die Noemata oder

Percepta sind und sich nicht auf den Bewußtseinsstrom im Subjekt (die Noesis)

reduzieren lassen. Die Häuser und Zwerge, von denen wir träumen, sind nicht Inhalte

und Gehalte unseres bewußten Lebens selber; sie liegen nicht auf der Subjektseite,

sondern stehen dem Bewußtseinsstrom als Gegenständlichkeiten gegenüber, von denen

wir Bewußtsein haben.

Um jedoch Metaphysik und überhaupt eine objektive Erkenntnis der Wahrheit über

die Dinge selbst zu ermöglichen, ist eine ganz andere und tiefere Transzendenz in der

Erkenntnis Voraussetzung, die Husserl „transzendente Transzendenz“ nannte und

leugnete:13 die Dinge an sich, die Wesensgesetze, die sich auf die wirkliche und jede

mögliche Welt erstrecken, und auch das Sein selber, müssen intelligibel sein. Sonst ist

Metaphysik unmöglich. Während Husserl in den Logischen Untersuchungen gerade

dies behauptete, daß die von uns erkannten Wesensgesetze in sich wahr seien, und

deshalb gleichermaßen wahr, ob sie von Engeln, Menschen oder Göttern geurteilt

würden,14 wandte er sich seit 1905, nach einem genauen Studium Kants und der Kritik

12 Vgl. Edmund Husserl, „Philosophie als strenge Wissenschaft“, in: Edmund Husserl, Aufsätze und Vorträge (1911-1921),

Hrsg. Thomas Nenon und Hans Rainer Sepp, Husserliana Bd. XXV (Dordrecht/Boston/Lancaster: M. Nijhoff, 1987), S. 3-

62. Vgl. auch Josef Seifert, „Phänomenologie und Philosophie als strenge Wissenschaft. Zur Grundlegung einer

realistischen phänomenologischen Methode – in kritischem Dialog mit Edmund Husserls Ideen über die Philosophie als

strenge Wissenschaft“ in: Filosofie, Pravda, Nesmrtlenost. Tòi praúskå pòednáóky/Philosophie, Wahrheit, Unsterblichkeit.

Drei Prager Vorlesungen (tschechisch-deutsch), pòeklad, úvod a bibliografi Martin Cajthaml, (Prague: Vydala Kòestanská

akademie Òim, svacek, edice Studium, 1998), S. 14-50; auch auf Russisch “Philosophy as a Rigorous Science. Towards the

Foundations of a Realist Phenomenological Method – in Critical Dialogue with Edmund Husserl’s Ideas about Philosophy

as a Rigorous Science”, Logos 12 9 (1997), 54-76. 13 Vgl. Edmund Husserl, Die Idee der Phänomenologie (Den Haag: Martinus Nijhoff, 1950), Beilage II, S. 81–83.

Unklar ist die B e z i e h u n g d e r E r k e n n t n i s a u f T r a n s z e n d e n t e s . Wann hätten wir Klarheit

und wo hätten wir sie? Nun, wenn und wo uns das Wesen dieser Beziehung gegeben wäre, daß wir sie

s c h a u e n könnten, dann würden wir die Möglichkeit der Erkenntnis (für die betreffende Erkenntnisartung, wo

sie geleistet wäre) verstehen. Freilich erscheint diese Forderung eben von vornherein für alle transzendente Erkenntnis u n e r f ü l l b a r und damit auch transzendente Erkenntnis u n m ö g l i c h z u s e i n .

Vgl. auch Husserl, ebd., S. 84: „Wie Immanenz erkannt werden kann, ist verständlich, wie Transzendenz,

unverständlich.“ 14 Edmund Husserl, Logische Untersuchungen. Text der ersten und zweiten Auflage, Bd. I: Prolegomena zu einer reinen

Logik, hrsg. v. E. Holenstein, Husserliana, Bd. xviii (Den Haag: M. Nijhoff, 1975); Bd. II, 1: Untersuchungen zur

Phänomenologie und Theorie der Erkenntnis, 1. Teil, Bd. II,2: Untersuchungen zur Phänomenologie und Erkenntnis, 2.

Teil, hrsg.v. U. Panzer, Husserliana, Bd. xix, 1 und Bd. xix, 2 (Den Haag: Nijhoff, 1984), Prolegomena, Kap. 5 ff., z. B.

Kap. 7, § 36:

der reinen Vernunft, radikal von dieser Position ab und einem Immanentismus zu, in

dem nur noch reine Gegenstände des Bewußtseins und die ihnen korrespondierenden

Akte philosophisch zugänglich seien.

Die realistische Phänomenologie hingegen entwickelt, in schärfstem Gegensatz zu

dieser Position, die durch obige Zitate belegte Ansicht der Logischen Untersuchungen

weiter und wendet sie auf die Erkenntnis des Wesens der seit Kant verloren geglaubten

„Dinge an sich“ an. Eine Erkenntnis der „Dinge an sich“ wird von der „realistischen

Phänomenologie“ nicht als Leugnung der menschlichen Erkenntnisgrenzen

verstanden, die es uns in der Tat verbieten, das „Ding an sich“ im Sinne der

unausschöpfbaren Fülle der Wirklichkeit, wie sie Gott allein erkennt, geistig zu

umfassen, sondern im menschlichen Sinne einer unvollständigen, aber wahren

Erkenntnis notwendiger Wesenheiten und der in ihnen gründenden Wesensgesetze

sowie der Existenz von Dingen, die vom menschlichen Geist unabhängig sind.

Husserl hingegen definierte, wie gesagt, die Grenzen phänomenologischer

Rückkehr zu den Sachen innerhalb der Grenzen einer Analyse des Bewußtseins und

seiner (immanent transzendenten) intentionalen Gegenstände, indem er leugnete, daß

wir jemals erkennend an ein Sein rühren können, das wahrhaft unabhängig vom

Subjekt besteht und dem Subjekt gegenüber transzendent ist. Ja Husserl geht zur These

über, daß jeder erdenkliche Sinn und jedes erdenkliche Sein, die überhaupt

erkenntnismäßig gegeben sein könnten, vom menschlichen Bewußtsein allein

konstituiert und abhängig sein müßten.15 Mit diesem Schritt fügte sich seine

ursprünglich objektivistische Philosophie ganz in jene entgegengesetzte

subjektivistische Philosophie ein, die seit Immanuel Kant und David Hume die

Was wahr ist, ist absolut, ist „an sich“ wahr; die Wahrheit ist identisch eine, ob sie Menschen oder Unmenschen,

Engel oder Götter urteilend erfassen. Von der Wahrheit in dieser idealen Einheit gegenüber der realen

Mannigfaltigkeit von Rassen, Individuen und Erlebnissen sprechen die logischen Gesetze und sprechen wir alle, wenn wir nicht etwa relativistisch verwirrt sind.

15 Vgl. Edmund Husserl, Cartesianische Meditationen und Pariser Vorträge, hrsg. u. eingel. von S. Strasser, in:

Husserliana: Gesammelte Werke E. Husserls, auf Grund des Nachlasses veröffentlicht vom Husserl-Archiv (Louvain) unter

der Leitung von H. L. Breda. (Den Haag, Nijhoff 1950 – 1962), Bd. 1, 1950, § 41:

Transzendenz in jeder Form ist ein immanenter, innerhalb des ego sich konstituierender Seinscharakter. Jeder

erdenkliche Sinn, jedes erdenkliche Sein, ob es immanent oder transzendent heißt, fällt in den Bereich der

transzendentalen Subjektivität als der Sinn und Sein konstituierenden...

Das Universum wahren Seins fassen zu wollen als etwas, das außerhalb des Universums möglichen

Bewußtseins, möglicher Erkenntnis, möglicher Evidenz steht,... ist unsinnig. Wesensmäßig gehört beides

zusammen, und wesensmäßig Zusammengehöriges ist auch konkret eins, eins in der absoluten einzigen

Konkretion der transzendentalen Subjektivität.

Vgl. auch Josef Seifert, „Kritik am Relativismus und Immanentismus in E. Husserls ,Cartesianischen

Meditationen‘ “. Die Aequivokationen im Ausdruck ‘transzendentales Ego’ an der Basis jedes transzendentalen

Idealismus.“ Salzburger Jahrbuch für Philosophie XIV, 1970.

abendländische Philosophie beherrscht, wie Husserl selbst in Logische

Untersuchungen beklagt.16 In einem Vorwort für arabische Leser ist es interessant

darauf hinzuweisen, daß es innerhalb der Philosophie im Raume des Islam einen ganz

ähnlichen Gegensatz zwischen dem erwähnten Objektivismus der Erkenntnistheorie

eines Avicenna und al-Ghazzali und einem Kant und den späten Husserl

vorwegnehmenden Subjektivismus bei Averroës gegeben hat. Averroës nahm, in

radikalem Gegensatz zu anderen arabischen Philosophen, zumindest in manchen seiner

Ideen, eine der subjektiven Konstitutionslehre des späten Husserl verwandte Position

ein, auf deren subjektivistischen Gedanken der auf den Menschen relativ betrachteten

Erkennbarkeit des Seins Thomas von Aquin ausgezeichnet antwortete. Und zwar ging

es dabei um das berühmte Beispiel der Nachteule, die Aristoteles zum Vergleich der

metaphysischen Erkenntnis nimmt und sagt, daß, wie sie das Licht der Sonne nicht

sehen kann, was nicht auf einem Mangel seitens der Sonne, sondern auf einem Mangel

ihrer Sehkraft beruht, so können auch wir, und zwar wegen eines Defektes unseres

Intellekts, die sublimsten metaphysischen Gegenstände der Metaphysik, vor allem

Gott, nicht umfassend und deutlich erkennen, obwohl sie in sich die intelligibelsten

sind. Averroës verwirft dieses Beispiel, indem er sagt, die Intelligibilität dieser

Gegenstände sei fruchtlos, wenn wir sie nicht erkennen könnten, so wie es sinnlos sei,

ein Sichtbares anzunehmen, das niemand sehen könnte. Thomas wendet gegen diesen

„frivolen Gedanken“ ein, daß das, was in sich (quoad se) intelligibel sei, nicht

notwendig für den Menschen (quoad nos) einsichtig sein müsse und daß außerdem ein

dem Menschen überlegener Geist es sehr wohl erfassen könne.17

16 Eine eindrucksvolle Analyse dieses Faktums findet sich im 7. Kapitel, I. Teil, S. 116, der Logischen Untersuchungen,

„Der Psychologismus als skeptischer Relativismus“, nicht zuletzt deshalb, weil Husserl dort die Unterscheidung zwischen

individuellem Relativismus und spezifischem Relativismus, bzw. Anthropologismus, der die Wahrheit nicht auf den

einzelnen Menschen, sondern auf „die Spezies Mensch“ relativ setzt, durchführt:

Können wir bei dem Subjektivismus (individuellem Relativismus) zweifeln, ob er je in vollem Ernste vertreten

worden sei, so neigt im Gegenteil die neuere und neueste Philosophie dem spezifischen Relativismus, und näher

dem Anthropologismus, in einem Maße zu, daß wir nur ausnahmsweise einem Denker begegnen, der sich von den Irrtümern dieser Lehre ganz rein zu erhalten wußte.'

(A. a. O., . Vgl. auch S. 117 ff. 17 Summa contra gentiles, lb3 cp4–5 n.7–8:

propter quod et aristoteles congruo exemplo usus est: nam oculus vespertilionis nunquam potest videre lucem

solis. quamvis averroes hoc exemplum depravare nitatur, dicens quod simile non est de intellectu nostro ad

substantias separatas, et oculo vespertilionis ad lucem solis, quantum ad impossibilitatem, sed solum quantum ad

difficultatem. quod tali ratione probat ibidem. quia si illa quae sunt intellecta secundum se, scilicet substantiae

separatae, essent nobis impossibiles ad intelligendum, frustra essent: sicut si esset aliquod visibile quod nullo

visu videri posset. ...

quae quidem ratio quam frivola sit, apparet. etsi enim a nobis nunquam illae substantiae intelligerentur,

tamen intelliguntur a seipsis. unde nec frustra intelligibiles essent: sicut nec sol frustra visibilis est, ut aristotelis

Formatiert

Formatiert

Im Gegensatz zu jedem derartigen Subjektivismus entwickelte sich die realistische

Phänomenologie in radikalem Gegensatz zu einer solchen Auffassung und wies nach,

wie Husserl selbst dies in Logische Untersuchungen getan hatte, daß jede solche

Auffassung, ein radikaler Idealismus und Relativismus aller Spielarten, nicht nur

falsch, sondern auch prinzipiell widersprüchlich ist. Denn es ist gar keine Täuschung

und kein Irrtum möglich, ohne gewisse Sachverhalte und Sachen einzusehen, die in

sich wirklich sind und in deren Erkenntnis der Geist sich selbst überschreitet und

etwas erfaßt, von dem er einsieht, daß es auf Grund seiner inneren Notwendigkeit

und/oder auf Grund seiner absolut unbezweifelbaren Gegebenheitsform als „an sich

wirklich“ unmöglich vom menschlichen Subjekt konstituiert und geschaffen sein kann.

Nur von einer solchen Anerkennung der Transzendenz des Menschen in der

Erkenntnis her aber ist es möglich, irgend eine sinnvolle Basis für Religion zu haben.

Denn das Bekenntnis zu Allah dem Schöpfergott, oder auch zu Jesus Christus, als dem

menschgewordenen ewigen Gott, setzt notwendig eine Grundfähigkeit zu einer das

Subjekt erkennend überschreitenden Erkenntnis voraus, die allein es erklären kann,

daß wir mit Gott nicht nur als mit einem immanenten und kulturell geprägten

Gegenstand menschlichen Bewußtseins in Berührung treten. Eine Philosophie, die

meint, die „Sachen selbst“ auf rein intentionale Gegenstände des Bewußtseins

einschränken zu dürfen, kann nur von einem „Gott als Gegenstand menschlichen

Bewußtseins“ reden und leugnet daher die gemeinsame Basis aller monotheistischen

Religionen, daß es nämlich einen allem menschlichen Denken gegenüber

transzendenten Gott gibt, der in sich Sein und Bestand hat, und an dem dennoch der

Mensch erkennend teilhat.

Wenn ich die notwendigen und informativen Urteile, die Kant synthetische Urteile a

priori nennt, als Ergebnis einer „transzendentalen Synthesis“ oder einer Konstitution

durch das Subjekt erkläre, dann begehe ich in der synthetischen apriorischen

Erkenntnis, wie Nietzsche die Kantsche Grundposition genial gekennzeichnet hat,

höchstens „unwiderlegbare Irrtümer“.18 Und dies gilt notgedrungen besonders, wenn

man der Gottesidee einen derartigen subjektiven Ursprung unterstellt. Daher muß der

exemplum prosequamur, quia non potest ipsum videre vespertilio; cum possit ipsum videre homo et alia

animalia.

Summa contra gentiles, lib. 3 cap. 4-5, N. 7-8. 18 F. Nietzsche, Fröhliche Wissenschaft, 3. Buch, 265: „Was sind denn zuletzt die Wahrheiten des Menschen? — Es sind

die unwiderlegbaren Irrtümer des Menschen.“ Ne. We., Bd. II, S. 159. Formatiert

Immanentismus, sei es in seiner Kantschen, sei es in der späteren Husserlschen Form,

notwendig zum Atheismus führen. Denn ein Gott, der nur im Bewußtsein des

Menschen lebt, ist in Wirklichkeit tot und lebt nicht. Denn leben kann nur ein Wesen,

das vom Menschengeist unabhängig ist; dies gilt für Pflanzen, Tiere, Menschen, aber

am meisten von Gott, der keines seiner 99 Attribute und Beinamen und der „sieben

Attribute“ (Haft Sifat), die der Imam und bedeutende Philosoph Abu Hamid

Mohammad ibn Muhammad ibn Ahmad al-Ghazzali ihm zuschreiben, etwa Hayat

(Leben), Ilm (Wissen), Qudra (Macht), Irada (Wille), Sam und Basar (geistiges Hören

und Sehen aller Dinge), oder Kalam (eine transzendente, nicht-menschliche Sprache)

ihm zuschreibt, besitzen kann, wenn er nicht vom menschlichen Bewußtsein

unabhängig ist. Und der Mensch kann diese göttlichen Attribute nur dann erkennen,

sei es durch reine Philosophie, sei es durch Glauben, wenn menschliches Erkennen der

Wahrheit über das reine Bewußtseinsleben und seine immanenten

Gegenständlichkeiten hinausblicken und die Dinge selbst so sehen kann, wie sie sind.

Alle die genannten göttlichen Attribute, wie etwa höchstes Leben, setzen voraus, daß

Gott nicht nur Objekt transzendentalen menschlichen Bewußtseins, sondern in sich

wirklich ist.19 Die realistische Phänomenologie hat zur Evidenz gebracht, daß jeder

Immanentismus der Erkenntnistheorie, der den Menschen in rein immanente

Gegenstandswelten einschließt, die keine Unabhängigkeit von seinem Denken besitzen

und die bloße „unvermeidliche Irrtümer“ der Spezies Mensch sein könnten, unhaltbar

ist.20

1.3 Die realistische Phänomenologie als Überwindung des zweiten Dogmas mancher Phänomenologen: des reinen „Essentialismus“

Ein zweites „Dogma“, das nicht nur subjektivistische, sondern auch eminente

objektivistische Phänomenologen der ersten Phase, zum Beispiel Adolf Reinach,

teilten, das es aber durch einen kritischen Rückgang auf das Gegebene zu überwinden

galt, ist eine Form des „Essentialismus“, den besonders die aristotelisch-thomistische

Philosophie angriff. Dieser „Essentialismus“ besteht in einer radikalisierten Methode

19 Vgl. dazu auch Josef Seifert, What is Life? On the Originality, Irreducibility and Value of Life. Value Inquiry Book

Series (VIBS), ed. by Robert Ginsberg, vol 51/Central European Value Studies (CEVS), ed. by H.G. Callaway

(Amsterdam: Rodopi, 1997). 20 Vgl. dazu Adolf Reinach, „Über Phänomenologie“, in: Adolf Reinach, Sämtliche Werke, Bd. I, ebd., S. 531-550; Dietrich

von Hildebrand, What is Philosophy?, 3rd edn, with a New Introductory Essay by Josef Seifert (London: Routledge, 1991);

Josef Seifert, Back to Things in Themselves. A Phenomenological Foundation for Classical Realism (London: Routledge,

1987).

Formatiert

der phänomenologischen Epoché als Einklammerung der realen Existenz und in einer

Reduktion der Phänomene auf deren reines Wesen, um nach dieser „eidetischen

Reduktion“ ihr Wesen zu beschreiben und zu analysieren, was als einzige Methode der

Phänomenologie angesehen wird. Indem eine solche Philosophie aber von jenem Sein,

jener Existenz absah, die den überwältigenden Unterschied zwischen einer rein

möglichen und der wirklichen Welt ausmacht, sah sie auch von jenem Actus essendi,

von jener einzigartigen aktuellen Wirklichkeit ab, die eben gerade das Sein im Sinne

der Existenz ist. Die Erkenntnis dieses Seinsaktes aber ist für jede Philosophie Gottes,

aber auch für jedes Verstehen der geschaffenen Welt entscheidend, was Thomas von

Aquin ebenso wie Avicenna oder al-Ghazzali betonten. Damit übersieht eine solche

exklusiv essentialistische Phänomenologie eine entscheidende Dimension der „Sachen

selbst“, die es philosophisch zu erhellen gilt: den Sinn des Daseins im Sinne der

Existenz; deren Unterschied vom Wesen; die Frage nach der wirklich daseienden Welt

und nach der Existenz der eigenen und anderer Personen; und vor allem die

Grundfrage nach der Existenz Gottes.

Daher setzte innerhalb der realistischen Phänomenologie, als logische Konsequenz

der Rückkehr zu den „Sachen selbst“, und nicht zuletzt auf Grund eines Dialogs mit

einer „existentialistischen thomistischen“ Philosophie, welche die Seinsvergessenheit

eines phänomenologischen „Essentialismus“ anprangerte, eine intensive Reflexion

über die zentrale Bedeutung der Existenz und die Unzurückführbarkeit des Seins auf

das Wesen ein, ohne die auch die in diesem Buch entwickelte philosophische

Gotteslehre undenkbar wäre.21

1.4 Die „realistische Phänomenologie“ als „spekulative

Phänomenologie“ und als Überwindung eines dritten Vorurteils

früherer Phänomenologen: einer reduktiven Auffassung vom „leibhaft selbst Gegebenen“

Um Metaphysik und vor allem philosophische Gotteserkenntnis zu ermöglichen, ist

auch ein breiteres Verständnis des Prinzips aller Prinzipien: „daß j e d e o r i g i n ä r

g e b e n d e A n s c h a u u n g e i n e R e c h t s q u e l l e d e r E r k e n n t n i s sei, daß

a l l e s , was sich uns i n d e r ‘ I n t u i t i o n ’ o r i g i n ä r , (sozusagen in seiner

21 Vgl. dazu Josef Seifert, Sein und Wesen. Philosophie und Realistische Phänomenologie/ Philosophy and Realist

Phenomenology. Studien der Internationalen Akademie für Philosophie im Fürstentum Liechtenstein/Studies of the

International Academy of Philosophy in the Principality Liechtenstein, (Hrsg./Ed.), Rocco Buttiglione and Josef Seifert,

Band/Vol. 3 (Heidelberg: Universitätsverlag C. Winter, 1996); vgl. auch ders., “Essence and Existence. A New Foundation

of Classical Metaphysics on the Basis of ‘Phenomenological Realism,’ and a Critical Investigation of ‘Existentialist

Thomism’,” Aletheia I (1977), pp. 17-157; I,2 (1977), pp. 371-459, sowie die Urform dieses Werkes, die den heftig

geführten Dialog zwischen Phänomenologen und existentialistischen Thomisten an der University of Dallas schildert, in der

Bibliothek der Internationalen Akademie für Philosophie im Fürstentum Liechtenstein.

Formatiert

leibhaften Wirklichkeit) d a r b i e t e t , e i n f a c h h i n z u n e h m e n s e i , a l s w a s

e s s i c h g i b t , aber auch n u r i n d e n S c h r a n k e n , i n d e n e n e s s i c h d a

g i b t “ neu zu durchdenken. Denn wenn diese leibhaftige Selbstgegebenheit nach dem

Modell sinnlichen unmittelbaren Anschauens oder konkreter Gegebenheiten, wie der

eigenen Liebe, des Schmerzes, des Leibes usf. aufgefaßt wird, dann kann eine phäno-

menologische Methode uns niemals zur Gotteserkenntnis führen; dann ist Gott

prinzipiell unserem Erkennen unzugänglich. Daher muß auch alles indirekt, im Spiegel

solcher unmittelbaren Gegebenheiten Zugängliche, so wie es sich uns da gibt,

anerkannt werden, um die phänomenologische Methode für eine Erfassung des

absoluten göttlichen Wesens per analogiam geeignet zu machen, wie in diesem Buch

und auch anderswo und von anderen Autoren erklärt wird.22

Eine von Jean-Luc Marion in Form einer „metaphysischen Intuition“ verlangte

Erkenntnisform als wichtiger Aspekt der nötigen Reform der phänomenologischen

Methode kann auch so ausgedrückt werden: Es darf der Erfahrungsbegriff nicht

unbegründeterweise so eingeengt werden, daß, wie in Martin Heideggers Sein und

Zeit, nur das unmittelbar hier und jetzt in der Zeit Anwesende als Phänomen gilt und

alle ausschließlich spekulativ – im Spiegel anderer – gegebenen Wesenheiten aus dem

Reich des Gegebenen ausgeschlossen werden.23 Denn nicht nur wäre auf dem Boden

einer solchen reduzierten Phänomenologie jede metaphysische Gotteserkenntnis

unmöglich, sondern eine solche Einengung des Gegebenheitsbegriffs entspricht auch

nicht der tatsächlichen Fülle der Gegebenheitsweisen. Um zu einer philosophischen

Gotteserkenntnis, wie sie auch der menschlichen Vernunft zugänglich ist, zu gelangen,

müssen neben dem direkt Gegebenen auch alle indirekten, vermittelten und

unvollkommenen Gegebenheitsformen anerkannt werden. So müssen etwa in der

moralischen Erfahrung auch jene Aspekte berücksichtigt werden, die sich im

menschlichen Gewissen, in der Fülle der moralischen Verpflichtungen und des in

ihnen angedeuteten göttlichen Herrseins und Gerichts als letzter Instanz unserer

22 Vgl. dazu auch Edith Stein, Endliches und Ewiges Sein. Versuch eines Aufstiegs zum Sinne des Seins, in: Edith Steins

Werke, Bd. II, Hrsg. L. Gerber, 2. Aufl. (Wien, 1962); 3. unver. Aufl. (Freiburg: Herder, 1986); sowie Josef Seifert, Essere

e persona. Verso una fondazione fenomenologica di una metafisica classica e personalistica . (Milano: Vita e Pensiero,

1989), Kap. 1-4, 7. 23 Vgl. Martin Heidegger, Sein und Zeit, 10. unveränd. Auflage (Tübingen, Max Niemeyer Verlag, 1963). Vgl. auch Josef

Seifert, „Die verschiedenen Bedeutungen von ‘Sein’ - Dietrich von Hildebrand als Metaphysiker und Martin Heideggers

Vorwurf der Seinsvergessenheit“, in: Balduin Schwarz (Hg.), Wahrheit, Wert und Sein. Festgabe für Dietrich von

Hildebrand zum 80. Geburtstag (Regensburg: Habbel, 1970), S. 301-332.

Verantwortung, auf dessen Erbarmen der Unrecht Tuende angewiesen ist, zeigen.24

Oder bei der Untersuchung der göttlichen Ewigkeit müssen alle im Gegensatz zu

diesem dem Fluß und der Nichtigkeit des Zeitlichen und Vergänglichen, sowie alle in

den Analogien des Zeitlichen sich enthüllenden Aspekte der göttlichen

allgegenwärtigen Ewigkeit treu dem unmittelbar Gegebenen, aber auch allen

geheimnisvollen, über sich hinausweisenden Aspekten des im Gegebenen

Mitgegebenen, anerkannt werden. Nur so können etwa die großartigen Ausführungen

al-Ghazzalis über die ewigen Wahrheiten, das göttliche Wesen betreffend – über seine

Transzendenz gegenüber allem innerweltlich Seienden, seine Ewigkeit, seine

unkörperliche geistige Präsenz und sein reines Sehen aller sichtbaren und unsichtbaren

Dinge, etc. – begründet werden.25

Zur Realisierung des Ziels einer Neufassung der phänomenologischen Methode als

geeignetes Instrument einer Metaphysik der Transzendenz scheinen uns allerdings die

postmodernen und an Levinas und Derrida sich anlehnenden Versuche Marions

ungenügend zu sein, der zwar mit Recht die Horizontalität und Reduktion der

Husserlschen Methode kritisiert und auch zum Zweck ihrer Eignung zu einer

Philosophie des Absoluten eine Reform der Phänomenologie und eine „nicht-

endliche“ Intuition verlangt, aber diese mit einer Verweigerung der Ontologie und

Metaphysik sowie mit der Annahme der Destruktion der Onto-Theologie durch

Heidegger sowie mit der These einer durch den endlichen Geist sich ereignenden

unvermeidlichen Idolatrie und „Zerstörung“ der Gottesidee verbindet – alles Thesen,

die ich in keiner Weise teilen kann. Allerdings kann man die schwer zu verfolgenden

Gedanken Marions auch anders, nämlich im Sinne eines „transgresser l’intuition“,

einer Transzendenz der Intuition in ihrem immanenten Husserlschen Verstande,

interpretieren. Marion entwickelt diese höchst bemerkenswerte Idee, die die

Gegenwärtigkeit des Gegenstands des Erkennens (la présence) über das in der (von

Husserl immanent gedeuteten) Intuition Gegebene hinaus behauptet und die Idee einer

24 Al-Ghazzali schreibt in seinem Al-Maqsadu’l-Asna über die Sprache Gottes: „Darüber hinaus spricht, befiehlt, verbietet,

verspricht und droht er in einer ewigen, alten Sprache, die zu seinem Wesen gehört ... [und] in die Herzen der Menschen

gelangt.“ Vgl. dazu auch den Koran, Sure 15: 16–25; 19: 95–96, sowie die Namen Allahs, Der Allbarmherzige (1), Der

Allerbarmer (2) Der Gerechte (29), Der Rächer (80). Vgl. auch John Henry Cardinal Newman, An Essay in Aid of A

Grammar of Assent (Westminster, Md.: Christian Classics Inc., 1973). Vgl. gleichfalls Josef Seifert, Was ist und was

motiviert eine sittliche Handlung? (What is and what Motivates a Moral Action?), (Salzburg: Universitätsverlag A. Pustet,

1976). 25 Vgl. die Stellen aus al-Ghazzalis Al-Masquadu’l-Asna, die wir weiter unten zitieren werden.

„transgression“ der Intuition, aber auch jene ihrer „Erweiterung“,26 die er suggeriert,

nicht ausreichend, sagt aber viel Bemerkenswertes und Richtiges darüber.27 Aus im

vorliegenden und anderen Werken ausgeführten grundsätzlichen

erkenntnistheoretischen und metaphysischen Erwägungen heraus kann ich mich

Heideggers Subjektivismus und einem Denken, das auf diesem aufbaut, wie auf weiten

Strecken das Marions, dennoch nicht anschließen.28 Bei aller notwendigen Kritik aber

darf man nicht Marions wertvolles Abzielen auf eine transzendente Gegenwärtigkeit,

für die der immanentistische Gegebenheits- und Intuitionsbegriff des transzendentalen

Husserl tatsächlich keinen Raum läßt, übersehen. Und gerade eine solche Erweiterung

des Intuitionsbegriffs ist auch für die realistische Phänomenologie zentral.

2 Die „realistische Phänomenologie“ als eine Philosophie des Dialogs zwischen Philosophen

der christlichen

und der islamischen Welt

Im Lichte des Gesagten ist das Interesse an der „realistischen Phänomenologie“

seitens arabischer und islamischer Philosophen verständlich, wenn man bedenkt, daß

jene Philosophen, die Anhänger des Islam sind, weder an jenen westlichen

Philosophien Gefallen finden werden, die alle Fundamente ihres Glaubens oder

moralischen Lebens untergraben, noch an jenen, die auf spezifisch und exklusiv

westliche Begriffssysteme oder Konstrukte aufbauen, für die es keine klaren

Anknüpfungspunkte in der erfahrenen und intelligiblen Wirklichkeit gibt. Wenn die

Philosophie hingegen – wie es ein Grundanliegen der Phänomenologie ist – sich durch

26 „l’élargissement de l’intuition“, Jean-Luc Marion, Dieu sans l’Etre (Paris: Communio/FAYARD, 1982), S. 90. 27 Vgl. Jean-Luc Marion, «La percée et l’élargissement. Contribution à l’interprétation des Recherches Logiques»

Philosophie 2 (1983), 67-91, speziell S. 90 f. Diese Transzendenz allerdings, so meine ich mit Dietrich von Hildebrand,

What is Philosophy?, 3rd edn, with a New Introductory Essay by Josef Seifert (London: Routledge, 1991), gehört zum

Wesen der Erkenntnis überhaupt, besonders der evidenten Intuition und Einsicht in Wesenssachverhalte. Daher verlangt sie

nicht ein Verlassen der Intuition, sondern ihre transzendente Deutung und ihr erweitertes Verständnis, das auch jene

spekulative Erkenntnisdimension einbezieht, auf die Marion abzuzielen scheint. Vgl. Josef Seifert, Erkenntnis objektiver

Wahrheit. Die Transzendenz des Menschen in der Erkenntnis (Salzburg: A. Pustet, 21976) und ders., Back to Things in

Themselves. A Phenomenological Foundation for Classical Realism (London: Routledge, 1987). Vgl. zu Marions Position

Jean-Luc Marion, Dieu sans l’Etre (Paris: Communio/FAYARD, 1982), sowie die Kritik an Marions Buch Dieu sans l’Etre

in Karol Tarnowski, «Dieu après la Métaphysique?», Kwartalnik Filozof (1996), 24 (1), 31-47. Tarnowski verwirft mit

Recht die Idee, daß eine postmetaphysische Philosophie, die auf den „Tod Gottes“ aufbaut, zu einer Erneuerung

philosophischer Gotteslehre führen kann. Vgl. auch Jean-Luc Marion, God Without Being, Thomas A. Carlson (trans),

(Chicago: Univ of Chicago Press, 1991); ders., L’idole et la distance (Paris: Presses Universitaires de France, 1977);

ders., “The Idea of God” in: Daniel Garber (Ed), The Cambridge History of Seventeenth-Century Philosophy (New York:

Cambridge Univ Pr, 1998); ders., “The End of the End of Metaphysics”, Epoche (1994), 2 (2), 1-22. 28 Vgl. außer den eben zitierten Arbeiten auch Josef Seifert, „Die verschiedenen Bedeutungen von ‘Sein’ - Dietrich von

Hildebrand als Metaphysiker und Martin Heideggers Vorwurf der Seinsvergessenheit“, in: Balduin Schwarz, Hg., Wahrheit,

Wert und Sein. Festgabe für Dietrich von Hildebrand zum 80. Geburtstag (Regensburg: Habbel, 1970), S. 301-332. Vgl.

ferner zur Kritik an Marions Thesen Jean-Yves Lacoste, «Penser a Dieu en l‘aimant: philosophie et théologie de J L

Marion», Arch Phil (Ap-Je 1987), 50, 245-270. Vgl. gleichfalls die fragwürdige immanentistisch-husserlianische Kritik an

Marions Standpunkt von James K. A. Smith, “Respect and Donation: A Critique of Marion’s Critique of Husserl”, Amer

Cath Phil Quart (Fall 1997), 71 (4), 523-538.

Formatiert

Formatiert

Sachnähe auszeichnet, wenn ihr Gesetz nicht westliche Gedankenströmungen, sondern

die Urphänomene selber sind – der Liebe, des Todes, der Gesundheit und Krankheit,

der Gerechtigkeit und Barmherzigkeit, des Verzeihens und der Dankbarkeit, des Seins

oder der logischen Gesetze –, dann kann es nicht erstaunen, daß eine solche

Philosophie Basis eines echten Dialogs werden kann. Denn wenn Menschen aller

Völker gewisse Wahrheiten als Fundamente menschlichen sinnvollen Lebens

entdecken können, dann sind diese Wahrheiten ebenso wichtig für Muslime wie für

Christen. Denn keine echte Religion darf ja gegen jene Wahrheiten und Gegebenheiten

gerichtet sein, die das Fundament aller menschlichen Erkenntnis und Erfahrung

ausmachen und ohne die keine wahre Religion und menschliche Gesellschaft möglich

sind, wie etwa die Menschenrechte und die Grundprinzipien der Ethik.

Ein auf der Erfahrung der Sachen selbst und der Wahrheit beruhender Dialog, der

an die einheitliche Basis menschlichen Lebens appelliert, hat auch in dem heutigen,

immer mehr integrierten Europa eine große menschliche, religiöse und politische

Bedeutung. Es ist ein „Dialog“ und eine Verständigungsmöglichkeit aller Menschen,

aber auch ein Dialog zwischen christlichen und islamischen Denkern, gerade weil er

sich nicht auf die trennenden religiösen Glaubensüberzeugungen, sondern auf jene

Grundwerte, Wahrheiten und „Sachen selbst“ bezieht, die dem Muslim ebenso wie

dem Christen bekannt sind.

Es gibt (neben zahlreichen illegitimen Einflüssen und Handlungsweisen wie den

grausamen Religionskriegen oder dem Gewissenszwang, unter Drohung für Leib und

Leben zu „konvertieren“) viele legitime Weisen, auf die Menschen verschiedener

Religionen mit einander in Kontakt treten können: zum Beispiel indem sie ihre

religiösen Erfahrungen austauschen, einander von der Wahrheit ihrer Religion zu

überzeugen suchen, wie die Apostel und Missionare dies in ihren Predigten und

Missionsreisen intendierten, oder aber auch indem sie gemeinsame Erkenntnisse

gewinnen und gemeinsame Ziele verfolgen. Gerade in diesen letztgenannten Bereich

fällt die Rolle der Philosophie für den Dialog zwischen Islam und Christentum.

Vertreter verschiedener Religionen begegnen sich in dieser Form etwa im

gemeinsamen Einsatz für den unantastbaren Wert des menschlichen Lebens oder

indem sie gemeinsam die Quellen ihres Glaubens zu verstehen suchen. Alle diese und

viele andere Formen der Gemeinschaft zwischen Menschen verschiedenen Glaubens

sind von hohem Wert und übertreffen in mancher Hinsicht, auf Grund ihrer

menschlichen und spezifisch religiösen Dimensionen, die der Intellekt oft nicht

einzuholen vermag, den Beitrag der Philosophie zum interreligiösen Dialog.

Die Philosophie jedoch ist dazu prädestiniert, im Dialog zwischen den Gläubigen

verschiedener Religionen eine wesentliche und ganz besondersartige Rolle zu spielen.

Denn die Philosophie baut erstens auf Vernunft und vernünftiger Einsicht auf, wie sie

Menschen aller Religionen zugänglich und auch von allen Religionen vorausgesetzt

sind. Zweitens aber tritt uns dieser allgemeine enge Kontakt zwischen Philosophie und

Religion in den monotheistischen Religionen noch viel deutlicher entgegen. Denn

diese setzen neben allgemeinen philosophischen Voraussetzungen auch noch viele

spezifische Erkenntnisse über Gott und den Menschen voraus, die einen viel breiteren

gemeinsamen Boden der Verständigung hergeben als die von sämtlichen, auch den

polytheistischen oder apersonalistischen, Religionen geteilten philosophischen

Fundamente.

Da den monotheistischen Religionen, vor allem dem Judentum, dem Christentum

und dem Islam, zahlreiche philosophische Erkenntnisse und Begriffe über den

Menschen, über Gott, sowie über Gut und Böse gemeinsam sind, die für einen solchen

Glauben Voraussetzung sind, bildet – neben einer Reihe gemeinsamer

Glaubensinhalte – in erster Linie die der Vernunft zugängliche Wahrheit das

Fundament einer echten Verständigung und eines echten Teilens grundlegender

Überzeugungen. Und es ist Aufgabe der Philosophie, besonders einer

phänomenologischen Philosophie, diesen gemeinsamen Boden zu einer Prise de

conscience zu bringen und voll ins Bewußtsein zu heben.

Die klare Erkenntnis der genannten unbegründeten Husserlschen „Dogmen“ und

ihre Widerlegung führte zur erkenntnistheoretischen Grundlegung einer grundsätzlich

verschiedenen, realistischen, Phänomenologie. Nur eine solche „realistische

Phänomenologie“ kann jene zentralen gemeinsamen Fundamente in ihrer Tiefe und

Breite entdecken, die eben einen gemeinsamen Boden zwischen Christen und

Muslimen zu bilden vermögen. Und es ist gerade erst eine derartige Philosophie, die

ihre Rückkehr zu „den Sachen selbst“ nicht wieder verrät und sich von den Quellen

des Seins nicht abschneidet, wodurch sie philosophisch und ökumenisch gesprochen

unfruchtbar würde. Vielmehr findet diese Philosophie die geeigneten Methoden für

eine solche Rückkehr zum Gegebenen. Sofern ihr diese gelingt, erhält sie eine

universale vereinigende Rolle zur geistigen Verständigung zwischen den Gläubigen

des Islam, den Juden und den Christen sowie anderer Religionen. Ja erst eine solche

wirklichkeitsgetreue und sachnahe Philosophie kann, wenn sie rückhaltlos nach der

Wahrheit forscht, zu einer echten Gemeinsamkeit auch unter solchen Menschen

führen, die in vielen Anschauungen stark von einander abweichen. Dabei kann

selbstredend die Philosophie den religiösen Glauben niemals ersetzen noch die

religiösen Gegensätze überwinden.29

Gerade hinsichtlich der philosophischen Grundlagen der Religion aber, sowohl

jener, die der Islam mit dem Judentum und Christentum teilt (wie die Objektivität der

Wahrheit und sittlicher Werte), als auch jener, die in mancherlei Formen die

monotheistischen Religionen trennen (wie eine Philosophie der menschlichen Freiheit

gegenüber einer von manchen mohammedanischen, wie von calvinistischen,

Theologen gelehrten Konzeption eines strengen Kismet)30, ergeben sich wichtige

Ansatzpunkte für einen fruchtbaren Dialog zwischen Islam und Christentum.

Trotz aller Religionskriege und schweren Konflikte zwischen Islam und

Christentum, von der Schlacht von Poitiers 732 bis zur Türkenbelagerung und

Schlacht bei Wien 1683, gab es auch in der Vergangenheit große Beispiele eines

fruchtbaren Dialogs – gerade im Bereich der Philosophie. Man braucht sich hier nur

daran zu erinnern, daß im Mittelalter und in der Renaissance, wofür etwa die

Geschichte und Kunst in Toledo Zeugnis gibt, eine außerordentlich friedliche und

fruchtbare Koexistenz des Islam, des Judentums und des Christentums möglich war.

Man bedenke auch, daß selbst die größten und entschiedensten christlichen Denker,

wie Thomas von Aquin, der die Auseinandersetzung mit dem Islam und dem

Judentum in aller Schärfe führte, die großen mohammedanischen Philosophen wie

Avicenna stets mit größter Hochachtung und als bedeutende Autoritäten in

philosophischen Fragen zitierten. Oder man denke an die schönen Erzählungen der

Fioretti über die Begegnung des hl. Franziskus mit dem Sultan und den Autoritäten

der Muslime oder auch an Leibniz’ Schriften zum Religionsfrieden. Man denke ferner

29 Die spezifisch religiös-theologische Wahrheit muß ebenfalls in allem Ernst einer spezifisch religiösen Wahrheitssuche

von allen Dialogpartnern untersucht werden, was aber nicht auf rein philosophischer Basis möglich ist. 30 Bekanntlich lehren die Dschabrianer (von Dschabr/Zwang) einen strengen Determinismus der Prädestination, der jeden

freien Willen ausschließt, während die Qadrianer (und in gewissem Maß die Asch’arianer) den freien Willen betonen und

sagen, daß das Böse nicht Gottes Willen, sondern dem Menschen zuzurechnen sei.

an die Toleranz, die etwa im „goldenen Zeitalter“ in Spanien zwischen Christen und

Muslimen herrschte und von der beispielsweise die friedlichen Dialoge von Juden,

Christen und Muslimen, die Raimundus Lullus berichtet und anregte, Zeugnis geben;

man behalte auch die tiefe Verbindung zwischen den großen muslimischen und den

christlichen Aristotelikern im Mittelalter im Auge. In all dem zeigen sich die

menschlichen, philosophischen und religiösen Verbindungen zwischen islamischen

und christlichen monotheistischen Denkern.

So bestanden in den höchsten Blütezeiten der christlichen und arabischen Kultur

nicht nur die unseligen fanatischen Religionskriege und grausamen gegenseitigen

Verfolgungen, sondern auch leuchtende Beispiele der gegenseitigen Achtung und des

friedlichen Dialogs sowie der gemeinsamen Suche nach Wahrheit. Einem solchen, auf

den Prinzipien der Menschenrechte, der Religionsfreiheit, der Achtung vor dem

Gewissen und der Pflege von Gemeinsamkeiten aufbauenden interkulturellen und

interreligiösen Dialog, der alle Abstriche von der Substanz der eigenen Religion

ablehnen mag, kommt heute angesichts der Tatsache, daß der Islam im christlichen

Abendland in der Philosophie kaum einen echten Gesprächspartner findet, dem jene

großen philosophischen Erkenntnisse, die der Glaube anerkennen muß, ein Anliegen

sind, eine neue und fundamentale Bedeutung zu. Denn gerade die gläubigen

islamischen Denker müssen den Westen und das Christentum fast unvermeidlich im

Lichte der in den heutigen christlichen Ländern herrschenden philosophischen Krise

als eine Quelle der Dekadenz und des antireligiösen Niedergangs sehen.

Damit berühren wir schon einen zweiten Punkt: die brisante politische Bedeutung

eines solchen Dialogs. Man bedenke, daß der Islam – in Anbetracht der hohen

Geburtenrate der islamischen Welt – bald die herrschende Religion in Westeuropa

bilden könnte und jedenfalls der Tag abzusehen ist, an dem er in manchen

europäischen Ländern die Religion der Mehrheit darstellen wird. Dazu kommen

mancherorts verbreitete fanatische fundamentalistische Tendenzen, die in vielen

Ländern zur Idee eines „heiligen Krieges“ (des Dschihad) gegen den gottlosen Westen

geführt haben, und die jederzeit in Europa die Herrschaft eines Islam begründen

könnten, der das ihm dekadent erscheinende Christentum und die Christen („die

Ungläubigen“) auszurotten versuchen könnte, wie dies der Koran, wenn auch mit

manchen Differenzierungen, zu gebieten scheint.31

Wenige Dinge sind daher weltpolitisch und im Hinblick auf den Weltfrieden von

größerer Bedeutung für das gegenwärtige Europa als ein echter menschlicher und

rationaler Austausch und eine gemeinsame Wahrheitsbemühung zwischen christlicher

und islamischer Welt sowie ein ökumenisches Gespräch (in einem Klima gegenseitiger

Achtung), das sich auf jene wichtigen gemeinsamen Grundlagen besinnt, die heute oft

gläubige Muslime und gläubige Christen viel enger verbindet als Christen oder

Mohammedaner, die im klassischen Sinne glauben, mit modernistischen „Gläubigen“

verbunden sein können, die im Grunde eine rein immanentistische und atheistische

Weltanschauung vertreten und diese mit dem bloßen Namen der Weltreligionen

tarnen. Dabei seien keineswegs die prinzipiellen Schwierigkeiten und Hindernisse

verkannt, die sich einem solchen gemeinsamen Bemühen um Wahrheit und hohe

Werte, wie das Leben, durch Intoleranz und Leugnung der legitimen Religionsfreiheit

entgegenstellen.

3 Kann eine philosophische Gotteslehre ein Einheit stiftendes Element im Dialog zwischen

christlichen und

islamischen Philosophen sein?

Die Geschichte Europas legt Zeugnis von Momenten einer großen Entzweiung und

zugleich einer tiefen Einheit ab, die zwischen Christen und Muslimen hinsichtlich der

Frage nach der göttlichen Natur bestehen. Von den Punkten der Einheit war schon die

Rede. Ohne Zweifel gibt es jedoch andererseits gegenteilige Zeichen: nicht nur die

Ströme menschlichen Blutes, die in den Kriegen zwischen Mohammedanern und

Christen geflossen sind, sondern auch die scharfen Verurteilungen des christlichen

Dreifaltigkeitsglaubens im Koran und in den Auseinandersetzungen zwischen

christlichen und mohammedanischen Denkern. In all dem ist auch der Gottesbegriff

trennendes Moment zwischen Islam und Christentum. So lesen wir beispielsweise im

Koran 5:73:

Ungläubig sind wahrlich, die da sprechen: „Allah ist der Dritte von Dreien“; es gibt keinen Gott als

den Einigen Gott. Und wenn sie nicht abstehen von dem, was sie sagen, wahrlich, so werden die unter

ihnen, die (weiter) dem Unglauben huldigen, eine schmerzliche Strafe erleiden.

31 Vgl. Koran, Sure 9: 5-6; 29; Sure 4: 76-79; Sure 2: 214-215; Sure 8: 39-42.

Die Anhänger des christlichen und jüdischen Gottglaubens sind nach dem Koran

Gegenstand des legitimen „heiligen Krieges“, was auch durch Mohammeds eigene

Feldzüge gegen die Juden (etwa gegen die Banu Nadir) unterstrichen wird. Wie also

kann ein von einem Philosophen, der persönlich Christ ist, geschriebenes Buch über

Gott einen Einheitspunkt zwischen christlichen und islamischen Gläubigen bilden?

Die Antwort ist einfach: Es gibt viele verbindende Elemente und Überzeugungen

zwischen Islam und Christentum. Die Momente dieser Einheit manifestieren sich

gerade und in besonderer Weise im philosophischen Gottesbegriff. Denn dieser kann

die beide Religionen trennende Frage, ob Gott ein „einiger“ oder ein „dreieiniger“

einziger Gott ist und ob er, ohne seine göttliche ewige Natur je zu verlieren, in

Christus Menschennatur angenommen hat oder nicht, nicht entscheiden. Was die

Philosophie über Gott sagt, ist daher beiden Religionen gemeinsam. Beide Religionen

nehmen nicht nur kraft vernünftiger Argumente, sondern auch auf Grund des

Glaubens, jene ewigen Wahrheiten über Gott an, wie daß es einen einzigen, einen

allbarmherzigen und allgütigen Gott gibt,32 einen ewigen, ungeschaffenen und

notwendig seienden Gott, einen Richter der Lebenden und Toten,33 einen allwissenden

Gott, usf. Beide Religionen schreiben Gott die genannten und viele andere reinen

Vollkommenheiten zu und beten Gott an, huldigen ihm, verehren und lieben ihn. So

gibt es zwischen Christentum und Islam hinsichtlich einer philosophischen Gotteslehre

wenig Trennendes, es seien denn manche philosophische Fragen wie die, ob auch

liebende personale Gemeinschaft (eine Communio personarum) eine reine

Vollkommenheit ist, die auch in Gott bestehen muß.34

Daher kann eine Philosophie, die jene fundamentalen, der Vernunft zugänglichen

Wahrheiten über Gott untersucht, welche muslimische Philosophen wie al-Ghazzali

ebenso wie christliche Denker wie Anselm von Canterbury und Thomas von Aquin

lehrten, sehr wohl eine gemeinsame Basis für arabische und westliche Philosophen

bilden.35 Ja, eine rein philosophische Gotteslehre, wie sie hier dargelegt wird, ist so

32 So beginnt jede Sure mit dem Satz: „Im Namen Allahs, des Gnädigen, des Barmherzigen.“ Und viele Texte, etwa Sure 1:

1-7, fügen hinzu: „Preis sei Allah, ....“ 33 Ebd., Sure 1: 2, 4: „Preis sei Allah, .... Dem Herrscher am Tage des Gerichts“. Damit lehren auch beide Religionen ein

Leben nach dem Tod. 34 Al-Wadud (Der Liebende) ist einer der 99 Namen Gottes (47) nach dem Islam. Gemeinschaft von göttlichen Personen

hingegen schließt er aus und betrachtet sie offenbar nur als wesenhaft begrenzte Eigenschaft. 35 Das ist auch die These Thomas von Aquins, wo er bemerkt, daß Christen und Moslems kein gemeinsam anerkanntes

heiliges Buch haben und deshalb sich auf der Ebene des Lichts der Vernunft verständigen müssen:

Formatiert

Formatiert

fern davon, einen trennenden Gegensatz zum Islam darzustellen, daß man sogar

zugestehen muß, daß eine rein philosophische Gotteslehre, wie sie hier dargelegt wird,

in vielfacher Hinsicht in leichter verständlicher Weise mit der Gotteslehre des Islam

vereinbar ist als mit dem in der christlichen Offenbarung geoffenbarten dreieinigen

Gott. Denn das vom Christen geglaubte Mysterium eines einzigen Gottes, der doch

drei göttliche Personen und die ewige Liebesgemeinschaft dieser göttlichen Personen

ist, übersteigt alles menschliche Begreifen unvergleichlich viel mehr als etwa die 99

göttlichen Namen Allahs, die sich fast alle mit einem gereinigten philosophischen

Gottesbild decken und von Moslems, Juden und Christen gemeinsam angenommen

werden. Die Philosophie, sei es jene, die hier dargelegt wird, sei es jene des berühmten

muslimischen Philosophen al-Ghazzali, deckt sich viel „direkter“ mit den Lehren des

Korans über Gott als mit den Mysterien des christlichen Glaubens. Man denke etwa an

die folgenden Stellen aus al-Ghazzalis Al-Masquadu’l-Asna:

Er, gepriesen sei sein Name, ist kein Körper, der einer Form unterworfen ist, und keine Substanz, die

begrenzt und meßbar ist ... Er ist kein Stoff, und kein Stoff hat Anteil an ihm. ... er i st um

Unendlichkeiten über die Erde erhoben ... Gleichzeitig ist er jedem Seienden nahe, ja, er ist dem

Menschen näher als seine Halsschlagader und ist Zeuge von allem, obwohl sein Nahsein nichts mit

körperlicher Nähe zu tun hat ... Er ist zu heilig, um dem Wandel oder der Bewegung unterworfen zu

sein ... Was seine Vollkommenheit betrifft, so duldet er keine Steigerung der Vollkommenheit [dieser

Text entspricht dem etwa gleichzeitigen Anselmischen „Etwas, worüber hinaus nichts Größeres

gedacht werden kann“]. ... Er ... ist lebendig, machtvoll, kraftvoll, allmächtig, keinem Wandel und

keiner Schwäche unterworfen; er schlummert und schläft nicht, kein Verfall und kein Tod bedrohen

ihn. Ihm gehört das Königtum, die Macht und die Herrlichkeit ... die Gegenstände seines Wissens sind

unendlich ...

Er ... weiß alles, was man wissen kann, und er versteht ... alles, was man verstehen kann ... Er kennt

das Geheimste ... und er sieht die verborgensten Gedanken und das Innerste der Geheimnisse durch ein

... ewiges Wissen, das seit allen Ewigkeiten sein eigen ist ...

Man wird erkennen, wie nahe diese philosophischen Einsichten des großen

mohammedanischen Philosophen in Gottes Wesen, die auch dem im vorliegenden

Werk Dargelegten genau entsprechen, dem Gottesverständnis des Koran und des Islam

überhaupt sind, und wie weit die spezifisch christlichen Lehren der Dreifaltigkeit und

Menschwerdung über alles philosophisch Erkennbare hinausgehen. Ja man bedenke,

daß der westliche Philosoph Franz Brentano, früher ein katholischer Priester, von der

Kirche und vom Christentum abfiel, weil er glaubte, philosophische Einsichten gegen

die Wahrheit der Dreifaltigkeit anführen zu können und in diesen Lehren innere

secundo, quia quidam eorum, ut mahumetistae ..., non conveniunt nobiscum in auctoritate alicuius scripturae,

per quam possint convinci, sicut contra iudaeos disputare possumus per vetus testamentum, .... hi vero neutrum

recipiunt. unde necesse est ad naturalem rationem recurrere, cui omnes assentire coguntur. quae tamen in rebus

divinis deficiens est.

Summa Contra Gentiles, L. 1, Cp 2, N. 4.

Widersprüche und Widersprüche zu einer philosophischen Gotteslehre, die er

verteidigte, erkennen zu können.36 Auch wenn ich weder als Philosoph noch als

gläubiger Christ diesen Thesen Brentanos zustimmen kann, so ist doch sicher der

Glaube an einen personalen, einzigen und zugleich einigen (einpersonalen) Gott

vernunftmäßig viel leichter mit dem zu versöhnen, was die Philosophie über Gott zu

erkennen vermag, als das Mysterium eines dreieinigen und doch zugleich einzigen

Gottes. Erst recht übersteigt das christliche Zentraldogma von der Menschwerdung der

zweiten göttlichen Person und von der wahren Gottheit und zugleich der wahren

Menschheit Jesu Christi viel mehr als die Allah- und Schöpfungslehre des Islam eine

philosophische Gotteslehre.

Allerdings wird der Christ einwenden können, daß es bei tieferer Betrachtung

gerade die vom Islam gelehrten göttlichen Attribute sind, wie daß er der Allliebende

ist, die erst dann voll und ganz ihre Wirklichkeit besitzen und einigermaßen begreifbar

werden können, wenn der Gegenstand dieser Alliebe Gottes nicht nur eine alleinige

göttliche Person (2 Aussagen: 1. Gott ist der Alliebende, d.h. er liebt alles; 2. das

göttliche Du, das vom Menschen geliebt wird. Sollte der Satz nicht

auseinandergenommen und umformuliert werden?) und endliche Menschen und

Engel sowie geringere Geschöpfe, sondern an erster Stelle ein göttliches Du ist, das

allein über alles geliebt werden kann, so daß gerade diese tiefste und herrlichste

göttliche reine Vollkommenheit, die uns der Islam vor Augen stellt, nur in einem

multipersonalen Gott (wie dem dreieinigen und einzigen Gott, an den die Christen

glauben) die sie vollendende unendliche Vollkommenheit erreichen kann und daß auch

das „maßlose Maß“ der Liebe des Allerbarmers und Alliebenden, die in der

Menschwerdung, Kreuzigung und Auferstehung Jesu Christi aufleuchtet, erst jene

reinen Vollkommenheiten erfüllt, die uns der Koran lehrt.

Dennoch bleibt es bei alledem wahr, daß der Islam sich viel weniger weit von den

philosophischen Erkenntnissen über „Etwas, worüber hinaus nichts Größeres gedacht

werden kann“ erhebt und gleichsam von dem Gegenstand und den Grenzen der

natürlichen Gotteserkenntnis entfernt als das Christentum. Die Gotteslehre des Islam

stimmt mit einer philosophischen Wesenserkenntnis Gottes, wie sie in diesem Buch

dargelegt wird und wie sie die Vernunft ohne Hilfe religiösen Glaubens erreichen

36 Vgl. Franz Brentano, Vom Dasein Gottes, hrsg. A. Kastil (Hamburg: F. Meiner, 1980).

kann, weitestgehend überein. Im vorliegenden Werk wird kaum eine göttliche

Vollkommenheit vorausgesetzt,37 die nicht auch im Koran gelehrt wird, und so kann

dieses Werk als eine volle Bestätigung und rationale Begründung jener Wahrheiten

über Gott angesehen werden, über die Juden, Christen und Muslime übereinstimmen.

Denn sie alle erkennen in Gott jenes unendlich vollkommene Wesen an, über das

hinaus nichts Größeres gedacht werden kann. In diesem Sinne ist gerade eine

philosophische und phänomenologische Begründung des ontologischen Arguments

eine eminent ökumenische und bestätigt alle reinen monotheistischen Religionen in

den von ihnen gemeinsam gesehenen Wahrheiten.

4 Warum kam es zu Gott als Gottesbeweis?

Das Buch Gott als Gottesbeweis entstand als logische Frucht eines auf mein 14.

oder 15. Lebensjahr zurückgehenden intensiven Interesses am ontologischen

Gottesbeweis, auf den ich beim Lesen einer deutschen Anselm-Ausgabe in der

Bibliothek meines Elternhauses stieß und über den ich schon damals Aufzeichnungen

im Sinne meines jetzigen Buches machte. Das ontologische Argument dünkte mich

zunächst unhaltbar und unlogisch, auf seinen tieferen Sinn aber wies mich schon

damals mein Vater, der auch Philosophie studiert hatte,38 in allgemeinen Worten hin,

wobei er mir auch sagte, daß die bedeutenden Salzburger Professoren Albert Auer und

Alois Mager der Ansicht gewesen seien, daß sich dieses Argument keineswegs durch

die üblichen einfachen logischen Argumente dagegen (daß es von einem reinen

Begriff auf die Wirklichkeit schließe oder das zu Beweisende voraussetze und

ähnliche) widerlegen lasse. Im eigenen Nachdenken über diese Anregungen

entwickelte ich schon damals einige Grundideen des vorliegenden Buches im Sinne

der „realistischen Phänomenologie“, die mich schon in sehr jungen Jahren – vor allem

durch die Begegnung mit der Person und dem Werk Dietrich von Hildebrands –

faszinierte, ohne allerdings Hildebrand selber, der das Argument mit den meisten

Phänomenologen ablehnte, ihm aber sehr offen gegenüberstand, ganz überzeugen zu

können. In vielen Vorlesungen in Dallas, wo ich 8 Jahre lang an der University of

37 Eine Ausnahme davon bildet z.B. die Vollkommenheit der Freiheit Gottes und seines wahrhaften Freilassens der

Geschöpfe, die der Islam an manchen Stellen zu leugnen scheint und die auch eine Reihe christlicher Bekenntnisse (etwa

der strenge Calvinismus) leugnen. Dennoch setzt auch die Gerechtigkeit Gottes und seines Gerichtes, die der Islam lehrt,

diese genannte göttliche Vollkommenheit voraus, da es in höchstem Maß ungerecht wäre, Menschen zu verurteilen, die

keine wahrhafte Freiheit besäßen. 38 Eduard Seifert, mein Vater, war lange Jahre Vorstand eines Instituts für Grundlagenforschung der Erwachsenenbildung

und publizierte eine Reihe von Schriften über philosophische Themen, z.B. über das Gewissen, über Sport und Geist sowie

über Musische Bildung.

Dallas und dann an der International Academy of Philosophy, und später an der

Internationalen Akademie für Philosophie im Fürstentum Liechtenstein, lehrte,

diskutierte und durchdachte ich das Argument sehr oft und schrieb darüber eine große

Anzahl englischer und deutscher unveröffentlichter Texte. Auch publizierte ich einiges

darüber.39 So kann das vorliegende Buch als ein wichtiger Teil und eine Frucht meines

„Lebenswerks“ bezeichnet werden. Wenn der ontologische Gottesbeweis tatsächlich

gültig und der tiefste philosophische Gottesbeweis ist, ist er abgesehen von diesen

biographischen Wurzeln aufs engste mit dem Kern der philosophischen

Wahrheitssuche überhaupt verknüpft, die ja auf alle Wahrheit und vor allem auf den

ewigen Ursprung allen Seins und aller Wahrheit abzielt, und die sich meines Erachtens

in besonderer Weise in der Entfaltung dieses Arguments erfüllt und darin ihren

Höhepunkt findet. Denn welche philosophische Frage könnte wichtiger sein als die

nach dem Inbegriff und der Fülle allen Seins, aller Wahrheit und alles Guten? Und der

Versuch, auf diese für uns alle zentrale Frage eine Antwort zu finden, ist es, was in

erster Linie zum vorliegenden Buch führte.

39 Vgl. Josef Seifert, „Kant und Brentano gegen Anselm und Descartes. Reflexionen über das ontologische Argument“ in

Theologia (Athens 1985), 3-30; «Kant y Brentano contra Anselmo y Descartes. Reflexions sobre el argumento ontologico»

in Thémata 2 (Universidades de Malaga y Sevilla, 1985); ders., “Si Deus Deus est, Deus est. Reflections on St.

Bonaventure’s Interpretation of St. Anselm’s Ontological Argument”, in: Proceedings, 8th International Conference on

Patristic, Medieval, and Renaissance Studies, Villanova, 1983; Essere e persona, Kap. 14-15; ders., “Schelers Denken des

absoluten Ursprungs: Zum Verhältnis von Schelers Metaphysik und Religionsphilosophie zum ontologischen

Gottesbeweis“, in: Christian Bermes, Wolfhart Henckmann, Heinz Leonardy und Thüringische Gesellschaft für

Philosophie, Jena (Hg.), Denken des Ursprungs – Ursprung des Denkens. Schelers Philosophie und ihre Anfänge in Jena.

Kritisches Jahrbuch der Philosophie 3 (1998), S. 34-53.