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Realistische Phänomenologie und Dialog Christentum Islam
Transcript of Realistische Phänomenologie und Dialog Christentum Islam
BEITRAG DER REALISTISCHEN
PHÄNOMENOLOGIE
ZUM DIALOG
ZWISCHEN DEM CHRISTENTUM UND DEM ISLAM
Josef Seifert,
Internationale Akademie für Philosophie im Fürstentum Liechtenstein
1 Was ist die „realistische Phänomenologie“ und welchen Beitrag kann sie für den
Dialog zwischen Islam und Christentum leisten?
Herr Dr. Hamid Lechab hat mir vor Jahren den Vorschlag gemacht, mein Buch Gott
als Gottesbeweis für eine vorwiegend moslemische Leserschaft ins Arabische zu
übersetzen und eine philosophische Gesellschaft zu gründen, die den Dialog zwischen
Philosophen aus der islamischen und der christlichen Welt fördern sollte. Aus den
Gründen, die er für dieses Projekt, das mich zunächst überraschte, anführte, wurde mir
nach näherem Nachdenken mehr als zuvor die universale Dimension der Philosophie
deutlich, die ein alle Menschen, die die Wahrheit suchen, verbindendes Band sein
kann. In verschiedenen Dialogen, etwa mit dem Leiter der islamischen Gemeinschaft
Deutschlands, hat sich bestätigt, daß nicht ein Relativismus, in dem die Idee einer
Wahrheit aufgegeben wird, sondern vielmehr die gemeinsame Suche nach Wahrheit
und einem Leben, das auf ihr beruht, Grundlage einer echten Gemeinschaft zwischen
Muslimen und Christen sein kann. Wie soll dies aber möglich sein? Zeigen nicht die
Geschichte der Glaubenskriege und die traurigen Ereignisse des 11. September 2001,
daß gerade die absoluten Wahrheitsansprüche die Menschen entzweien, ja bis zum
gegenseitigen Hinmorden treiben?
Dies aber ist gerade nicht der Fall, auch wenn man nicht leugnen kann, daß es feste
Überzeugungen von Fanatikern gibt, die wirklich zu Krieg und Gewalt führen. Das
ehrliche gemeinsame Bemühen um die Wahrheit ist in Wirklichkeit Fundament echter
Gemeinschaft auch unter Menschen, die inhaltlich nicht übereinstimmen. Schon die
Tatsache, daß jeder ernsthafte Anhänger einer Religion dieser nur deshalb anhängt,
weil er sie für die wahre hält und weil er dem wahren Gott in der Wahrheit dienen und
ihn anbeten will,1 kann ein Band der Einheit sein. In diesem Streben nach Wahrheit,
das Jan Hus für den Kern der Ethik gehalten hat,2 und im Suchen und Dienenwollen
dem einzig wahren Gott, liegt ein tiefes und letztlich philosophisches verbindendes
Element aller echten Gläubigen einer Religion.
Und hier ist gerade die Philosophie, die ihres Namens einer Liebe zur Weisheit
würdig ist, die für ein Streben nach Wahrheit von Menschen verschiedenster
Religionen steht und damit jenes echte Band der Einheit fördert, von dem eben die
Rede war. Es freute mich an dem Vorschlag Dr. Lechabs besonders, daß es seinem
Urteil nach gerade die „realistische Phänomenologie“, deren Grundlegung und
Ausführung ich mein Lebenswerk widme und die an der Internationalen Akademie für
Philosophie im Fürstentum Liechtenstein gepflegt und weiterentwickelt wird, war, die
von ihm als ein solches Band der Einheit betrachtet wurde, das zwischen arabischen
und westeuropäischen Denkern vermitteln kann.
Freilich bleibt es wahr: Sosehr Christen, Juden und Muslime im Glauben an einen
einzigen Gott verbunden sind, so ist doch der Glaube des Islam über den „einigen
Gott“ ganz verschieden von dem an die göttliche Dreifaltigkeit, die vom Koran
verworfen wird.3 Die an den dreieinigen Gott Glaubenden sowie die Juden werden
sogar vom Koran verflucht.4 Daher mag es dem muslimischen Leser unmöglich
erscheinen, die Philosophie eines Christen, oder irgendeines westlichen Philosophen
überhaupt, vor allem wenn diese Philosophie auch Gott zum Gegenstand hat, mit
Gewinn kennenlernen zu können.
Bei näherem Nachdenken sind solche Urteile jedoch unrichtig. Denn zunächst ist
die realistische Phänomenologie kein Ergebnis des christlichen oder eines sonstigen
Glaubens. Sie ist reine Philosophie, die mit Hilfe der Vernunft die Wirklichkeit zu
ergründen sucht. Und die Vernunft ist allen Menschen gemeinsam. Sodann ist die
einigende Kraft einer „Schule der Philosophie“, die nichts als die Welt und die Dinge
aussprechen will, wie sie wirklich sind und uns gegeben sind, nicht erstaunlich und
1 Koran und Evangelium bestätigen dies. Man denke etwa an 2 3 Vgl. Koran, Sure 4: 171 f.; 5: 73. 4 Koran 9: 30:
Die Juden sagen, Esra sei Allahs Sohn, und die Christen sagen, der Messias ist Allahs Sohn ... Sie ahmen die
Rede derer nach, die vor ihnen ungläubig waren. Allahs Fluch über sie! Wie sind sie irregeleitet!
kann Menschen verschiedenster religiöser und kultureller Hintergründe verbinden.
Denn diese Philosophie ist eigentlich keine bestimmte „Schule“; sie entwickelt nicht
ein System aus nur „dem Westen“ zugehörigen Begriffen, sie ist nicht eine historische
Richtung, der es auf Treue zur „eigenen Tradition“ ankäme. Vielmehr ist die
realistische Phänomenologie eine Philosophie, deren Prinzip die Liebe zur Wahrheit
und damit im Reich der Philosophie ein bedingungsloses Ausgehen von der Erfahrung
und ein genauestes Hinhören auf jedes in ihr Gegebene ist, das allen Menschen
zugänglich ist. Darin ist zugleich eine Rückkehr zum „wahren Wesen der Dinge“
eingeschlossen, insofern dieses Wesen trotz aller kultureller und sonstiger
Verschiedenheiten seiner geschichtlichen Erscheinungsweisen dasselbe bleibt und
zugleich von jeder historischen und kulturellen Erfahrung aus neu beleuchtet, wenn
auch oft in ihr entstellt, wird. In der Philosophie geht es freilich nicht um eine
Beschreibung der konkreten Erfahrungen oder historischen Zustände, in denen sich
Erkennen, Liebe, Wissenschaft usf. darbieten, sondern um eine gereinigte und
einsehende Erfahrung, welche sich zum einleuchtenden wahren Wesen, zu den Eide
der erfahrenen Dinge aufschwingt.5 Dieses wahre Wesen der Dinge ist allen Menschen
in der Erfahrung der Dinge zugänglich und mitgegeben, liegt aber in seiner Wahrheit
und inneren einleuchtenden Notwendigkeit zugleich in gewissem Sinne „über den
konkreten Dingen“, was besonders in der Ethik hervortritt, welche die moralischen
Wesenheiten in einer Reinheit erforscht, in der sie von keinem konkreten Menschen,
den wir aus der Erfahrung kennen, vollkommen verwirklicht sind.
Eine solche realistische Philosophie des Rückgangs auf jenes Gegebene, das „über
den konkreten empirischen Daten“ liegt, knüpft an eine universale und alle Menschen
verbindende reine Wesenserfahrung an und stützt sich auch, wie wir sehen werden, auf
eine Erfahrung vom Dasein der Dinge; sie versucht, Gegebenheiten aufzudecken und
zu analysieren, die jedem Menschen bekannt und jeder menschlichen Vernunft
zugänglich sind, vor und unabhängig von seinen Glaubensüberzeugungen, auch wenn
es sich nicht nur um empirische faktische Gegebenheiten handelt, sondern um Ideale,
die, besonders im Ethischen, oft von den Menschen nicht realisiert werden und deren
inneres Gesetz für die wirkliche Welt nicht automatisch wirkt, sondern oft nicht
5 Vgl. auch Max Scheler, „Vom Wesen der Philosophie und der moralischen Bedingung des philosophischen Erkennens“ in:
Max Scheler, Gesammelte Werke, Vom Ewigen im Menschen, 5. Aufl. (Bern/München: Francke, 1968), Bd. 5, S. 69-99.
befolgt wird. Eine solche Philosophie, die einfach auf die gegebene Wahrheit der
Dinge abzielt, besitzt, mehr als bestimmte Systeme westlicher Philosophie, viele
Anknüpfungspunkte an die Erfahrung verschiedenster Menschen, ob sie nun in ihrer
Wahrheitssuche von der westlichen oder der bunteren orientalischen Welt, der
christlichen Erfahrung oder der religiös ganz verschiedenen Welt des Islam ausgehen.
Denn Philosophie ist nicht Religion, sie erforscht dieselben Urgegebenheiten, die sich
in verschiedenem Ausmaß in aller menschlichen Erfahrung erschließen. Diese
Tatsache, daß die Philosophie nicht restriktiv „moslemisch“ oder „christlich“ ist und
sein kann, zeigt sich auch in der Geschichte der Philosophie, in der die Werke
arabischer Philosophen große Bedeutung in der westlichen Philosophie hatten und
umgekehrt.6
1.1 Zum Wesen der Phänomenologie überhaupt und der realistischen Phänomenologie
Der Bezug der realistischen Phänomenologie zur arabischen und
mohammedanischen Welt besteht auch historisch gesehen. Schon als Max Scheler,
einer der ersten bedeutenden Vertreter einer „realistischen Phänomenologie“, in
seinem Hauptwerk Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik (1913)
eine derartige Philosophie der Rückkehr zu den Sachen selbst entwarf, die sich durch
große Sachnähe auszeichnete und insbesondere die Objektivität der Werte
herausarbeitete, erregte diese Philosophie so großes Interesse seitens islamischer
6 So hatte Ibn Sina Avicenna (980–1037), etwa durch sein Hauptwerk Kitab-al-Shifa, Buch der Genesung, eine umfassende
philosophische Enzyklopädie, sowie durch seine Metaphysik, große Bedeutung in der europäischen Scholastik; sein Werk
stellt aber auch eine Synthese der westlichen Schulen des Aristotelismus und Neuplatonismus dar. Eine scharfe Kritik an
Avicennas Ideen der indirekten Notwendigkeit der Existenz der Welt finden wir u. a. bei Abu Hamid Mohammad ibn
Muhammad ibn Ahmad al-Ghazzali (auch Algazel, al-Ghassali oder al-Ghasali genannt, 1058–1111), dessen Hauptwerke
Ihya’u‚ Ulmi’Din und Al-Maqsadu‘l-Asna sind. In seinem Werk Tahfut-al-falasifa (Die Selbstdestruktion der Philosophen)
kritisiert er jede Philosophie, welche die Handlungen Gottes auf seine Wesensbestimmung zurückführt und notwendige
Kausalverbindungen zwischen den von Gott geschaffenen Dingen annimmt. Die bei Avicenna vorfindliche Leugnung der
Kontingenz der erschaffenen Welt, der gemäß alles notwendig, und nichts vollständig von Gottes freiem, schöpferischem
Willen abhängig wäre, sowie die traditionellen Argumente für die Ewigkeit der Welt und die Notwendigkeit der
Naturgesetze, werden von ihm, ebenso wie später von Thomas von Aquin, kritisiert. Avicenna, Avicebron, Averroes und al-
Ghazzali waren für die europäische Scholastik und auch für die spätere islamische Philosophie von Averroës einflußreich.
Auf Thomas von Aquin übte zweifellos Avicenna, dem er in philosophischer Hinsicht von allen ihm bekannten
mohammedanischen Philosophen am nächsten stand und den er nahezu fünfhundertmal (479), oft zustimmend, zitiert, einen
größeren Einfluß aus als Avicebron, auf den er 23 Mal Bezug nimmt und auch als Averroës, den er 125 Mal zitiert, dem er
aber vorwiegend kritisch gegenübersteht. Vgl. auch Max Horten (Hrsg.), Avicennas Buch der Genesung der Seele (1907-
09); ders., Die Metaphysik des Avicenna (1907). Averroës (Ibn Rushd, 1126–98), obwohl er die volle Übereinstimmung
zwischen Koran und Aristoteles lehrte, interpretierte Aristoteles im Sinne einer Leugnung persönlicher Unsterblichkeit, und
wich darin und in anderen Punkten seiner Lehre sicherlich nicht nur vom Christentum, für das seine Lehren über Gott und
die Seele eine dramatische Bedrohung darstellten, auf die Thomas von Aquin antwortete, sondern auch vom Koran, der ja
die persönliche Auferstehung und das Jüngste Gericht lehrt, ab.
Herrscher und geistiger Autoritäten des Islam, daß er einen Ruf an die Universität
Kairo erhalten sollte.7
Was aber ist die „realistische Phänomenologie“ und was ist ihr Platz im 20.
Jahrhundert? Die Philosophie der „realistischen Phänomenologie“ ist zugleich modern,
da sie im 20. Jahrhundert entstand, und klassisch bzw. zeitlos. Daher kann man auch in
klassischen Denkern zahlreiche Einsichten entdecken, die die Methoden und Inhalte
einer „realistischen Phänomenologie“ bekunden, aber durch deren in unserem
Jahrhundert entwickelte Methoden noch systematischer entfaltet werden können.8
Obwohl sie dem Begründer aller Phänomenologie, Edmund Husserl, und anderen
Denkern unseres Jahrhunderts immens viel verdankt, unterscheidet sich die
„realistische Phänomenologie“ viel radikaler von den subjektivistischen
Phänomenologien des 20. Jahrhunderts als von der großen abendländischen Tradition
der Philosophie der Antike, aber auch des Mittelalters, deren bedeutende Geschichte
zahlreiche große muslimische Denker wie Avicenna und al-Ghazzali ebenso wie viele
christliche Philosophen zu ihren Vertretern zählt.
Dem können wir hinzufügen: Im Reich der Philosophie verwirklicht sich besonders
der heute eingetretene historische Augenblick der Ökumene, da dieselben
philosophischen Fundamente, ohne die eine angemessene theoretische Erfassung jeder
der verschiedenen monotheistischen Religion undenkbar ist, heute in Krise geraten
sind: der Wahrheitsbegriff überhaupt, objektive ethische Normen, die Möglichkeit des
Menschen, über die übersinnliche und gar die göttliche Wirklichkeit Aussagen zu
machen – sie alle werden in der zeitgenössischen Philosophie radikal in Frage gestellt
und geleugnet. Die daraus folgende Zersetzung aller Religion betrifft genauso den
Islam wie das Christentum und Judentum. Vielleicht ist angesichts der beschriebenen
Situation heute, da zudem in Europa gewaltige Massen muslimischer und
arabischsprechender Menschen leben, die Zeit noch reifer als im berühmten „goldenen
Zeitalter“ friedlicher Zusammenarbeit muslimischer und christlicher Denker in
Spanien, zu erkennen, wie viele wesentliche philosophische Fundamente den großen
7 Vgl. Dietrich von Hildebrand, (unveröffentlichte) Memoiren, Dietrich von Hildebrand-Archiv der Internationalen Akademie
für Philosophie im Fürstentum Liechtenstein, sowie Alice von Hildebrand-Jourdain, 8 Vgl. zum Beweis dieser These etwa Ludger Hölscher, Die Realität des Geistes. Eine Darstellung und phänomenologische
Neubegründung der Argumente Augustins für die geistige Substantialität der Seele (Heidelberg: Universitätsverlag
C. Winter, 1999); Kateryna Fedoryka, “Certitude and Contuition. St. Bonaventure’s Contributions to the Theory of
Knowledge”, in: Aletheia VI (1993/94), S. 163-197; oder auch ein von mir vorbereitetes italienisches Buch „Platon und die
,realistische Phänomenologie‘.“
Denkern des Islam und des Christentums und den Anhängern beider Religionen
gemeinsam sind.
In einer solchen geschichtlichen Lage ist es bemerkenswert, daß die realistische
Phänomenologie fast allein unter den Philosophien des 20. Jahrhunderts einen
Anschluß an diese klassische Tradition islamisch-christlicher Philosophie entdeckt,
indem sie nicht nur einen Weg zur Begründung objektiver sittlicher Werte, der
Erkenntnis des geistigen Wesens der menschlichen Seele, objektiver Gesetze der
Logik, usf. findet, sondern sich auch bis in die höchsten Sphären der klassischen
Philosophie vorwagt und Beiträge zur Metaphysik und Gotteserkenntnis leistet.
Das unterscheidende Merkmal realistischer Phänomenologie ist dabei dieses: Auch
adäquate metaphysische Erkenntnis des Seins kann nur unter Beachtung des
phänomenologischen Urprinzips aller Prinzipien geschehen; nur durch ein Ausgehen
vom leibhaftig selbst Gegebenen, von den selbst gegebenen Sachen her ist sie möglich.
Husserl formulierte ein solches Programm als einziges Ziel einer phänomenologischen
Philosophie und schrieb:
Doch genug der verkehrten Theorien. Am P r i n z i p a l l e r P r i n z i p e n : daß jede o r i g i n ä r
g e b e n d e A n s c h a u u n g e i n e R e c h t s q u e l l e d e r E r k e n n t n i s sei, daß a l l e s , was
sich uns i n d e r ‘ I n t u i t i o n ’ o r i g i n ä r , (sozusagen in seiner leibhaften Wirklichkeit)
d a r b i e t e t , e i n f a c h h i n z u n e h m e n s e i , a l s w a s e s s i c h g i b t , aber auch n u r i n
d e n S c h r a n k e n , i n d e n e n e s s i c h d a g i b t , kann uns keine erdenkliche Theorie irre
machen. Sehen wir doch ein, daß eine jede [indirekte Beweisführung] ihre Wahrheit nur aus den
originären Gegebenheiten schöpfen könnte. 9
Goethe hatte schon zuvor ein ähnliches phänomenologisches philosophisches
Programm formuliert:
Das Höchste, wozu der Mensch gelangen kann, ... ist das Erstaunen, und wenn das Urphänomen ihn in
Erstaunen setzt, so sei er zufrieden; ein Höheres kann es ihm nicht gewähren, und ein Weiteres soll er
nicht dahinter suchen; hier ist die Grenze. Aber den Menschen ist der Anblick eines Urphänomens
gewöhnlich noch nicht genug, sie denken, es müsse noch weiter gehen, und sie sind den Kindern
ähnlich, die, wenn sie in einen Spiegel geguckt, ihn sogleich umwenden, um zu sehen, was auf der
anderen Seite ist.10
9 Edmund Husserl, Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie I, ed. Karl Schuhmann.
Husserliana, vol. III/1; 1. Buch, text of 1.-3. edn, 1. Buch, 1. Abschnitt, 2. Kapitel, § 24. 10 Johann Wolfgang von Goethe, Goethes Gespräche mit Eckermann, (Leipzig: Insel-Verlag, 1921) S. 448.
Vgl. auch J. W. von Goethe, Zur Farbenlehre. Didaktischer Theil. Der Farbenlehre polemischer Theil. Geschichte
der Farbenlehre. Nachträge zur Farbenlehre. Johann Wolfgang von Goethe, Sämmtliche Werke in 40 Bänden (Stuttgart
and Tübingen: J.G. Cotta’scher Verlag, 1840), vls 37-40. Farbenlehre, II. Abtheilung, Nr. 177, Bd. 37, S. 68.
Er soll sich eine Methode bilden, die dem Anschauen gemäß ist; er soll sich hüten, das Anschauen in
Begriffe, den Begriff in Worte zu verwandeln, und mit diesen Worten, als wären’s Gegenstände,
umzugehen und zu verfahren ... 11
Während, wenn auch nicht in der konkreten Durchführung, so doch in der Theorie,
alle Phänomenologie prinzipiell dem zu folgen suchte, was Husserl das „Prinzip aller
Prinzipien“ nannte, so konnte die tatsächliche Anwendung und das reale
methodologische Verständnis einer solchen Philosophie, die sich seit 1905 zunehmend
einem transzendentalen Idealismus verschrieb und von ihrem ursprünglichen
Objektivismus zu einem Subjektivismus führte, doch dieses Vorhaben nicht erfüllen.
Gerade das im „Prinzip aller Prinzipien“ genannte Ziel konnte das von Husserl
bereitgestellte konkrete methodische Instrument, das zu einer solchen Rückkehr zu den
Sachen selbst führen sollte und zum Teil auch brillant führte, aus verschiedenen
Gründen und wegen schwerwiegender Mängel, von denen im folgenden drei genannt
seien, nicht, zumindest nicht in einem umfassenden und ausreichenden Sinne, leisten.
Am besten demonstrieren wir dies an dem Thema dieses Buches: der
Gotteserkenntnis.
1.2 Die realistische Phänomenologie als Fortführung der Anfänge der Phänomenologie und als Überwindung des ersten späteren Mangels der Husserlschen Phänomenologie: des Immanentismus und Subjektivismus, der sich auf jede Gotteserkenntnis fatal auswirkt und zur Implikation des „Todes Gottes“ führen muß
Die erste Interpretation der von Husserl intendierten Rückkehr zu den Sachen selbst
in Beschränkung auf die „reinen Gegebenheiten“ war es, zu behaupten, dem Menschen
seien nur intentionale Gegenstände des Bewußtseins und die diesen entsprechenden
Noesen als solche gegeben. Objekte seien ihm nur als „Gegebenheitsweisen“
zugänglich, weshalb alle ontologischen und metaphysischen Ansprüche, ja alle
Geltungsansprüche über die Sphären menschlichen Bewußtseins hinaus auf die
Ebenso Farbenlehre, ebd., Nr. 177, Bd. 37, S. 68. Ebenso Gespräche mit Eckermann, ebd., S. 639:
Ein einfaches Urphänomen aufzunehmen, es in seiner hohen Bedeutung zu erkennen und
damit zu wirken, erfordert einen produktiven Geist, der vieles zu übersehen vermag, und ist
eine seltene Gabe, die sich nur bei ganz vorzüglichen Naturen findet. (Vgl. auch ebd., S. 432, 514, 567, 591.)
Vgl. auch Farbenlehre, Einleitung, Bd. 37, S. 9:
Vom Philosophen glauben wir Dank zu verdienen, daß wir gesucht die Phänomene bis zu ihren Urquellen zu
verfolgen, bis dorthin, wo sie bloß erscheinen und sind, und wo sich nichts weiter an ihnen erklären läßt ...
Vgl. Farbenlehre, Nr. 177, Bd. 37, S. 68. Auch Ebd., Nr. 752, S. 246, sowie ebd., Nr. 752, S. 246: „Sie verwandeln
das Lebendige in ein Todtes.“ Ebd., Nr. 754, S. 247: „und wie oft wird ... das Elementare durch ein Abgeleitetes mehr
zugedeckt, und verdunkelt, als aufgehellt und näher gebracht.“ Vgl. Goethe, Nachträge zur Farbenlehre, ebd., Bd. 40,
S. 423–425.
Vgl. auch Hans Leisegang, Goethes Denken (Leipzig: Felix Meiner, 1932), S. 157–159; 168 f. 11 Goethe, Farbenlehre, V. Abtheilung, Nr. 716, 720, Bd. 37, S. 232–233. Ebd., Nr. 175, Bd. 37, S. 67. Farbenlehre, Nr.
175, Bd. 37, S. 67.
Wirklichkeit selber hin fallengelassen werden müßten. Denn es könne der Mensch, der
sich nicht in Weltanschauungsphilosophie erginge, sondern in reiner Wissenschaft auf
das Erkannte beschränke, sich selbst im Erkennen niemals in Richtung auf die Dinge
an sich überschreiten.12 Gewiß, Husserl betont konsequent eine gewisse „immanente
Transzendenz“, die schon in der Intentionalität allen Bewußtseins impliziert ist: das
Bewußtsein vermag auf Objekte des Bewußtseins zu blicken, die Noemata oder
Percepta sind und sich nicht auf den Bewußtseinsstrom im Subjekt (die Noesis)
reduzieren lassen. Die Häuser und Zwerge, von denen wir träumen, sind nicht Inhalte
und Gehalte unseres bewußten Lebens selber; sie liegen nicht auf der Subjektseite,
sondern stehen dem Bewußtseinsstrom als Gegenständlichkeiten gegenüber, von denen
wir Bewußtsein haben.
Um jedoch Metaphysik und überhaupt eine objektive Erkenntnis der Wahrheit über
die Dinge selbst zu ermöglichen, ist eine ganz andere und tiefere Transzendenz in der
Erkenntnis Voraussetzung, die Husserl „transzendente Transzendenz“ nannte und
leugnete:13 die Dinge an sich, die Wesensgesetze, die sich auf die wirkliche und jede
mögliche Welt erstrecken, und auch das Sein selber, müssen intelligibel sein. Sonst ist
Metaphysik unmöglich. Während Husserl in den Logischen Untersuchungen gerade
dies behauptete, daß die von uns erkannten Wesensgesetze in sich wahr seien, und
deshalb gleichermaßen wahr, ob sie von Engeln, Menschen oder Göttern geurteilt
würden,14 wandte er sich seit 1905, nach einem genauen Studium Kants und der Kritik
12 Vgl. Edmund Husserl, „Philosophie als strenge Wissenschaft“, in: Edmund Husserl, Aufsätze und Vorträge (1911-1921),
Hrsg. Thomas Nenon und Hans Rainer Sepp, Husserliana Bd. XXV (Dordrecht/Boston/Lancaster: M. Nijhoff, 1987), S. 3-
62. Vgl. auch Josef Seifert, „Phänomenologie und Philosophie als strenge Wissenschaft. Zur Grundlegung einer
realistischen phänomenologischen Methode – in kritischem Dialog mit Edmund Husserls Ideen über die Philosophie als
strenge Wissenschaft“ in: Filosofie, Pravda, Nesmrtlenost. Tòi praúskå pòednáóky/Philosophie, Wahrheit, Unsterblichkeit.
Drei Prager Vorlesungen (tschechisch-deutsch), pòeklad, úvod a bibliografi Martin Cajthaml, (Prague: Vydala Kòestanská
akademie Òim, svacek, edice Studium, 1998), S. 14-50; auch auf Russisch “Philosophy as a Rigorous Science. Towards the
Foundations of a Realist Phenomenological Method – in Critical Dialogue with Edmund Husserl’s Ideas about Philosophy
as a Rigorous Science”, Logos 12 9 (1997), 54-76. 13 Vgl. Edmund Husserl, Die Idee der Phänomenologie (Den Haag: Martinus Nijhoff, 1950), Beilage II, S. 81–83.
Unklar ist die B e z i e h u n g d e r E r k e n n t n i s a u f T r a n s z e n d e n t e s . Wann hätten wir Klarheit
und wo hätten wir sie? Nun, wenn und wo uns das Wesen dieser Beziehung gegeben wäre, daß wir sie
s c h a u e n könnten, dann würden wir die Möglichkeit der Erkenntnis (für die betreffende Erkenntnisartung, wo
sie geleistet wäre) verstehen. Freilich erscheint diese Forderung eben von vornherein für alle transzendente Erkenntnis u n e r f ü l l b a r und damit auch transzendente Erkenntnis u n m ö g l i c h z u s e i n .
Vgl. auch Husserl, ebd., S. 84: „Wie Immanenz erkannt werden kann, ist verständlich, wie Transzendenz,
unverständlich.“ 14 Edmund Husserl, Logische Untersuchungen. Text der ersten und zweiten Auflage, Bd. I: Prolegomena zu einer reinen
Logik, hrsg. v. E. Holenstein, Husserliana, Bd. xviii (Den Haag: M. Nijhoff, 1975); Bd. II, 1: Untersuchungen zur
Phänomenologie und Theorie der Erkenntnis, 1. Teil, Bd. II,2: Untersuchungen zur Phänomenologie und Erkenntnis, 2.
Teil, hrsg.v. U. Panzer, Husserliana, Bd. xix, 1 und Bd. xix, 2 (Den Haag: Nijhoff, 1984), Prolegomena, Kap. 5 ff., z. B.
Kap. 7, § 36:
der reinen Vernunft, radikal von dieser Position ab und einem Immanentismus zu, in
dem nur noch reine Gegenstände des Bewußtseins und die ihnen korrespondierenden
Akte philosophisch zugänglich seien.
Die realistische Phänomenologie hingegen entwickelt, in schärfstem Gegensatz zu
dieser Position, die durch obige Zitate belegte Ansicht der Logischen Untersuchungen
weiter und wendet sie auf die Erkenntnis des Wesens der seit Kant verloren geglaubten
„Dinge an sich“ an. Eine Erkenntnis der „Dinge an sich“ wird von der „realistischen
Phänomenologie“ nicht als Leugnung der menschlichen Erkenntnisgrenzen
verstanden, die es uns in der Tat verbieten, das „Ding an sich“ im Sinne der
unausschöpfbaren Fülle der Wirklichkeit, wie sie Gott allein erkennt, geistig zu
umfassen, sondern im menschlichen Sinne einer unvollständigen, aber wahren
Erkenntnis notwendiger Wesenheiten und der in ihnen gründenden Wesensgesetze
sowie der Existenz von Dingen, die vom menschlichen Geist unabhängig sind.
Husserl hingegen definierte, wie gesagt, die Grenzen phänomenologischer
Rückkehr zu den Sachen innerhalb der Grenzen einer Analyse des Bewußtseins und
seiner (immanent transzendenten) intentionalen Gegenstände, indem er leugnete, daß
wir jemals erkennend an ein Sein rühren können, das wahrhaft unabhängig vom
Subjekt besteht und dem Subjekt gegenüber transzendent ist. Ja Husserl geht zur These
über, daß jeder erdenkliche Sinn und jedes erdenkliche Sein, die überhaupt
erkenntnismäßig gegeben sein könnten, vom menschlichen Bewußtsein allein
konstituiert und abhängig sein müßten.15 Mit diesem Schritt fügte sich seine
ursprünglich objektivistische Philosophie ganz in jene entgegengesetzte
subjektivistische Philosophie ein, die seit Immanuel Kant und David Hume die
Was wahr ist, ist absolut, ist „an sich“ wahr; die Wahrheit ist identisch eine, ob sie Menschen oder Unmenschen,
Engel oder Götter urteilend erfassen. Von der Wahrheit in dieser idealen Einheit gegenüber der realen
Mannigfaltigkeit von Rassen, Individuen und Erlebnissen sprechen die logischen Gesetze und sprechen wir alle, wenn wir nicht etwa relativistisch verwirrt sind.
15 Vgl. Edmund Husserl, Cartesianische Meditationen und Pariser Vorträge, hrsg. u. eingel. von S. Strasser, in:
Husserliana: Gesammelte Werke E. Husserls, auf Grund des Nachlasses veröffentlicht vom Husserl-Archiv (Louvain) unter
der Leitung von H. L. Breda. (Den Haag, Nijhoff 1950 – 1962), Bd. 1, 1950, § 41:
Transzendenz in jeder Form ist ein immanenter, innerhalb des ego sich konstituierender Seinscharakter. Jeder
erdenkliche Sinn, jedes erdenkliche Sein, ob es immanent oder transzendent heißt, fällt in den Bereich der
transzendentalen Subjektivität als der Sinn und Sein konstituierenden...
Das Universum wahren Seins fassen zu wollen als etwas, das außerhalb des Universums möglichen
Bewußtseins, möglicher Erkenntnis, möglicher Evidenz steht,... ist unsinnig. Wesensmäßig gehört beides
zusammen, und wesensmäßig Zusammengehöriges ist auch konkret eins, eins in der absoluten einzigen
Konkretion der transzendentalen Subjektivität.
Vgl. auch Josef Seifert, „Kritik am Relativismus und Immanentismus in E. Husserls ,Cartesianischen
Meditationen‘ “. Die Aequivokationen im Ausdruck ‘transzendentales Ego’ an der Basis jedes transzendentalen
Idealismus.“ Salzburger Jahrbuch für Philosophie XIV, 1970.
abendländische Philosophie beherrscht, wie Husserl selbst in Logische
Untersuchungen beklagt.16 In einem Vorwort für arabische Leser ist es interessant
darauf hinzuweisen, daß es innerhalb der Philosophie im Raume des Islam einen ganz
ähnlichen Gegensatz zwischen dem erwähnten Objektivismus der Erkenntnistheorie
eines Avicenna und al-Ghazzali und einem Kant und den späten Husserl
vorwegnehmenden Subjektivismus bei Averroës gegeben hat. Averroës nahm, in
radikalem Gegensatz zu anderen arabischen Philosophen, zumindest in manchen seiner
Ideen, eine der subjektiven Konstitutionslehre des späten Husserl verwandte Position
ein, auf deren subjektivistischen Gedanken der auf den Menschen relativ betrachteten
Erkennbarkeit des Seins Thomas von Aquin ausgezeichnet antwortete. Und zwar ging
es dabei um das berühmte Beispiel der Nachteule, die Aristoteles zum Vergleich der
metaphysischen Erkenntnis nimmt und sagt, daß, wie sie das Licht der Sonne nicht
sehen kann, was nicht auf einem Mangel seitens der Sonne, sondern auf einem Mangel
ihrer Sehkraft beruht, so können auch wir, und zwar wegen eines Defektes unseres
Intellekts, die sublimsten metaphysischen Gegenstände der Metaphysik, vor allem
Gott, nicht umfassend und deutlich erkennen, obwohl sie in sich die intelligibelsten
sind. Averroës verwirft dieses Beispiel, indem er sagt, die Intelligibilität dieser
Gegenstände sei fruchtlos, wenn wir sie nicht erkennen könnten, so wie es sinnlos sei,
ein Sichtbares anzunehmen, das niemand sehen könnte. Thomas wendet gegen diesen
„frivolen Gedanken“ ein, daß das, was in sich (quoad se) intelligibel sei, nicht
notwendig für den Menschen (quoad nos) einsichtig sein müsse und daß außerdem ein
dem Menschen überlegener Geist es sehr wohl erfassen könne.17
16 Eine eindrucksvolle Analyse dieses Faktums findet sich im 7. Kapitel, I. Teil, S. 116, der Logischen Untersuchungen,
„Der Psychologismus als skeptischer Relativismus“, nicht zuletzt deshalb, weil Husserl dort die Unterscheidung zwischen
individuellem Relativismus und spezifischem Relativismus, bzw. Anthropologismus, der die Wahrheit nicht auf den
einzelnen Menschen, sondern auf „die Spezies Mensch“ relativ setzt, durchführt:
Können wir bei dem Subjektivismus (individuellem Relativismus) zweifeln, ob er je in vollem Ernste vertreten
worden sei, so neigt im Gegenteil die neuere und neueste Philosophie dem spezifischen Relativismus, und näher
dem Anthropologismus, in einem Maße zu, daß wir nur ausnahmsweise einem Denker begegnen, der sich von den Irrtümern dieser Lehre ganz rein zu erhalten wußte.'
(A. a. O., . Vgl. auch S. 117 ff. 17 Summa contra gentiles, lb3 cp4–5 n.7–8:
propter quod et aristoteles congruo exemplo usus est: nam oculus vespertilionis nunquam potest videre lucem
solis. quamvis averroes hoc exemplum depravare nitatur, dicens quod simile non est de intellectu nostro ad
substantias separatas, et oculo vespertilionis ad lucem solis, quantum ad impossibilitatem, sed solum quantum ad
difficultatem. quod tali ratione probat ibidem. quia si illa quae sunt intellecta secundum se, scilicet substantiae
separatae, essent nobis impossibiles ad intelligendum, frustra essent: sicut si esset aliquod visibile quod nullo
visu videri posset. ...
quae quidem ratio quam frivola sit, apparet. etsi enim a nobis nunquam illae substantiae intelligerentur,
tamen intelliguntur a seipsis. unde nec frustra intelligibiles essent: sicut nec sol frustra visibilis est, ut aristotelis
Formatiert
Formatiert
Im Gegensatz zu jedem derartigen Subjektivismus entwickelte sich die realistische
Phänomenologie in radikalem Gegensatz zu einer solchen Auffassung und wies nach,
wie Husserl selbst dies in Logische Untersuchungen getan hatte, daß jede solche
Auffassung, ein radikaler Idealismus und Relativismus aller Spielarten, nicht nur
falsch, sondern auch prinzipiell widersprüchlich ist. Denn es ist gar keine Täuschung
und kein Irrtum möglich, ohne gewisse Sachverhalte und Sachen einzusehen, die in
sich wirklich sind und in deren Erkenntnis der Geist sich selbst überschreitet und
etwas erfaßt, von dem er einsieht, daß es auf Grund seiner inneren Notwendigkeit
und/oder auf Grund seiner absolut unbezweifelbaren Gegebenheitsform als „an sich
wirklich“ unmöglich vom menschlichen Subjekt konstituiert und geschaffen sein kann.
Nur von einer solchen Anerkennung der Transzendenz des Menschen in der
Erkenntnis her aber ist es möglich, irgend eine sinnvolle Basis für Religion zu haben.
Denn das Bekenntnis zu Allah dem Schöpfergott, oder auch zu Jesus Christus, als dem
menschgewordenen ewigen Gott, setzt notwendig eine Grundfähigkeit zu einer das
Subjekt erkennend überschreitenden Erkenntnis voraus, die allein es erklären kann,
daß wir mit Gott nicht nur als mit einem immanenten und kulturell geprägten
Gegenstand menschlichen Bewußtseins in Berührung treten. Eine Philosophie, die
meint, die „Sachen selbst“ auf rein intentionale Gegenstände des Bewußtseins
einschränken zu dürfen, kann nur von einem „Gott als Gegenstand menschlichen
Bewußtseins“ reden und leugnet daher die gemeinsame Basis aller monotheistischen
Religionen, daß es nämlich einen allem menschlichen Denken gegenüber
transzendenten Gott gibt, der in sich Sein und Bestand hat, und an dem dennoch der
Mensch erkennend teilhat.
Wenn ich die notwendigen und informativen Urteile, die Kant synthetische Urteile a
priori nennt, als Ergebnis einer „transzendentalen Synthesis“ oder einer Konstitution
durch das Subjekt erkläre, dann begehe ich in der synthetischen apriorischen
Erkenntnis, wie Nietzsche die Kantsche Grundposition genial gekennzeichnet hat,
höchstens „unwiderlegbare Irrtümer“.18 Und dies gilt notgedrungen besonders, wenn
man der Gottesidee einen derartigen subjektiven Ursprung unterstellt. Daher muß der
exemplum prosequamur, quia non potest ipsum videre vespertilio; cum possit ipsum videre homo et alia
animalia.
Summa contra gentiles, lib. 3 cap. 4-5, N. 7-8. 18 F. Nietzsche, Fröhliche Wissenschaft, 3. Buch, 265: „Was sind denn zuletzt die Wahrheiten des Menschen? — Es sind
die unwiderlegbaren Irrtümer des Menschen.“ Ne. We., Bd. II, S. 159. Formatiert
Immanentismus, sei es in seiner Kantschen, sei es in der späteren Husserlschen Form,
notwendig zum Atheismus führen. Denn ein Gott, der nur im Bewußtsein des
Menschen lebt, ist in Wirklichkeit tot und lebt nicht. Denn leben kann nur ein Wesen,
das vom Menschengeist unabhängig ist; dies gilt für Pflanzen, Tiere, Menschen, aber
am meisten von Gott, der keines seiner 99 Attribute und Beinamen und der „sieben
Attribute“ (Haft Sifat), die der Imam und bedeutende Philosoph Abu Hamid
Mohammad ibn Muhammad ibn Ahmad al-Ghazzali ihm zuschreiben, etwa Hayat
(Leben), Ilm (Wissen), Qudra (Macht), Irada (Wille), Sam und Basar (geistiges Hören
und Sehen aller Dinge), oder Kalam (eine transzendente, nicht-menschliche Sprache)
ihm zuschreibt, besitzen kann, wenn er nicht vom menschlichen Bewußtsein
unabhängig ist. Und der Mensch kann diese göttlichen Attribute nur dann erkennen,
sei es durch reine Philosophie, sei es durch Glauben, wenn menschliches Erkennen der
Wahrheit über das reine Bewußtseinsleben und seine immanenten
Gegenständlichkeiten hinausblicken und die Dinge selbst so sehen kann, wie sie sind.
Alle die genannten göttlichen Attribute, wie etwa höchstes Leben, setzen voraus, daß
Gott nicht nur Objekt transzendentalen menschlichen Bewußtseins, sondern in sich
wirklich ist.19 Die realistische Phänomenologie hat zur Evidenz gebracht, daß jeder
Immanentismus der Erkenntnistheorie, der den Menschen in rein immanente
Gegenstandswelten einschließt, die keine Unabhängigkeit von seinem Denken besitzen
und die bloße „unvermeidliche Irrtümer“ der Spezies Mensch sein könnten, unhaltbar
ist.20
1.3 Die realistische Phänomenologie als Überwindung des zweiten Dogmas mancher Phänomenologen: des reinen „Essentialismus“
Ein zweites „Dogma“, das nicht nur subjektivistische, sondern auch eminente
objektivistische Phänomenologen der ersten Phase, zum Beispiel Adolf Reinach,
teilten, das es aber durch einen kritischen Rückgang auf das Gegebene zu überwinden
galt, ist eine Form des „Essentialismus“, den besonders die aristotelisch-thomistische
Philosophie angriff. Dieser „Essentialismus“ besteht in einer radikalisierten Methode
19 Vgl. dazu auch Josef Seifert, What is Life? On the Originality, Irreducibility and Value of Life. Value Inquiry Book
Series (VIBS), ed. by Robert Ginsberg, vol 51/Central European Value Studies (CEVS), ed. by H.G. Callaway
(Amsterdam: Rodopi, 1997). 20 Vgl. dazu Adolf Reinach, „Über Phänomenologie“, in: Adolf Reinach, Sämtliche Werke, Bd. I, ebd., S. 531-550; Dietrich
von Hildebrand, What is Philosophy?, 3rd edn, with a New Introductory Essay by Josef Seifert (London: Routledge, 1991);
Josef Seifert, Back to Things in Themselves. A Phenomenological Foundation for Classical Realism (London: Routledge,
1987).
Formatiert
der phänomenologischen Epoché als Einklammerung der realen Existenz und in einer
Reduktion der Phänomene auf deren reines Wesen, um nach dieser „eidetischen
Reduktion“ ihr Wesen zu beschreiben und zu analysieren, was als einzige Methode der
Phänomenologie angesehen wird. Indem eine solche Philosophie aber von jenem Sein,
jener Existenz absah, die den überwältigenden Unterschied zwischen einer rein
möglichen und der wirklichen Welt ausmacht, sah sie auch von jenem Actus essendi,
von jener einzigartigen aktuellen Wirklichkeit ab, die eben gerade das Sein im Sinne
der Existenz ist. Die Erkenntnis dieses Seinsaktes aber ist für jede Philosophie Gottes,
aber auch für jedes Verstehen der geschaffenen Welt entscheidend, was Thomas von
Aquin ebenso wie Avicenna oder al-Ghazzali betonten. Damit übersieht eine solche
exklusiv essentialistische Phänomenologie eine entscheidende Dimension der „Sachen
selbst“, die es philosophisch zu erhellen gilt: den Sinn des Daseins im Sinne der
Existenz; deren Unterschied vom Wesen; die Frage nach der wirklich daseienden Welt
und nach der Existenz der eigenen und anderer Personen; und vor allem die
Grundfrage nach der Existenz Gottes.
Daher setzte innerhalb der realistischen Phänomenologie, als logische Konsequenz
der Rückkehr zu den „Sachen selbst“, und nicht zuletzt auf Grund eines Dialogs mit
einer „existentialistischen thomistischen“ Philosophie, welche die Seinsvergessenheit
eines phänomenologischen „Essentialismus“ anprangerte, eine intensive Reflexion
über die zentrale Bedeutung der Existenz und die Unzurückführbarkeit des Seins auf
das Wesen ein, ohne die auch die in diesem Buch entwickelte philosophische
Gotteslehre undenkbar wäre.21
1.4 Die „realistische Phänomenologie“ als „spekulative
Phänomenologie“ und als Überwindung eines dritten Vorurteils
früherer Phänomenologen: einer reduktiven Auffassung vom „leibhaft selbst Gegebenen“
Um Metaphysik und vor allem philosophische Gotteserkenntnis zu ermöglichen, ist
auch ein breiteres Verständnis des Prinzips aller Prinzipien: „daß j e d e o r i g i n ä r
g e b e n d e A n s c h a u u n g e i n e R e c h t s q u e l l e d e r E r k e n n t n i s sei, daß
a l l e s , was sich uns i n d e r ‘ I n t u i t i o n ’ o r i g i n ä r , (sozusagen in seiner
21 Vgl. dazu Josef Seifert, Sein und Wesen. Philosophie und Realistische Phänomenologie/ Philosophy and Realist
Phenomenology. Studien der Internationalen Akademie für Philosophie im Fürstentum Liechtenstein/Studies of the
International Academy of Philosophy in the Principality Liechtenstein, (Hrsg./Ed.), Rocco Buttiglione and Josef Seifert,
Band/Vol. 3 (Heidelberg: Universitätsverlag C. Winter, 1996); vgl. auch ders., “Essence and Existence. A New Foundation
of Classical Metaphysics on the Basis of ‘Phenomenological Realism,’ and a Critical Investigation of ‘Existentialist
Thomism’,” Aletheia I (1977), pp. 17-157; I,2 (1977), pp. 371-459, sowie die Urform dieses Werkes, die den heftig
geführten Dialog zwischen Phänomenologen und existentialistischen Thomisten an der University of Dallas schildert, in der
Bibliothek der Internationalen Akademie für Philosophie im Fürstentum Liechtenstein.
Formatiert
leibhaften Wirklichkeit) d a r b i e t e t , e i n f a c h h i n z u n e h m e n s e i , a l s w a s
e s s i c h g i b t , aber auch n u r i n d e n S c h r a n k e n , i n d e n e n e s s i c h d a
g i b t “ neu zu durchdenken. Denn wenn diese leibhaftige Selbstgegebenheit nach dem
Modell sinnlichen unmittelbaren Anschauens oder konkreter Gegebenheiten, wie der
eigenen Liebe, des Schmerzes, des Leibes usf. aufgefaßt wird, dann kann eine phäno-
menologische Methode uns niemals zur Gotteserkenntnis führen; dann ist Gott
prinzipiell unserem Erkennen unzugänglich. Daher muß auch alles indirekt, im Spiegel
solcher unmittelbaren Gegebenheiten Zugängliche, so wie es sich uns da gibt,
anerkannt werden, um die phänomenologische Methode für eine Erfassung des
absoluten göttlichen Wesens per analogiam geeignet zu machen, wie in diesem Buch
und auch anderswo und von anderen Autoren erklärt wird.22
Eine von Jean-Luc Marion in Form einer „metaphysischen Intuition“ verlangte
Erkenntnisform als wichtiger Aspekt der nötigen Reform der phänomenologischen
Methode kann auch so ausgedrückt werden: Es darf der Erfahrungsbegriff nicht
unbegründeterweise so eingeengt werden, daß, wie in Martin Heideggers Sein und
Zeit, nur das unmittelbar hier und jetzt in der Zeit Anwesende als Phänomen gilt und
alle ausschließlich spekulativ – im Spiegel anderer – gegebenen Wesenheiten aus dem
Reich des Gegebenen ausgeschlossen werden.23 Denn nicht nur wäre auf dem Boden
einer solchen reduzierten Phänomenologie jede metaphysische Gotteserkenntnis
unmöglich, sondern eine solche Einengung des Gegebenheitsbegriffs entspricht auch
nicht der tatsächlichen Fülle der Gegebenheitsweisen. Um zu einer philosophischen
Gotteserkenntnis, wie sie auch der menschlichen Vernunft zugänglich ist, zu gelangen,
müssen neben dem direkt Gegebenen auch alle indirekten, vermittelten und
unvollkommenen Gegebenheitsformen anerkannt werden. So müssen etwa in der
moralischen Erfahrung auch jene Aspekte berücksichtigt werden, die sich im
menschlichen Gewissen, in der Fülle der moralischen Verpflichtungen und des in
ihnen angedeuteten göttlichen Herrseins und Gerichts als letzter Instanz unserer
22 Vgl. dazu auch Edith Stein, Endliches und Ewiges Sein. Versuch eines Aufstiegs zum Sinne des Seins, in: Edith Steins
Werke, Bd. II, Hrsg. L. Gerber, 2. Aufl. (Wien, 1962); 3. unver. Aufl. (Freiburg: Herder, 1986); sowie Josef Seifert, Essere
e persona. Verso una fondazione fenomenologica di una metafisica classica e personalistica . (Milano: Vita e Pensiero,
1989), Kap. 1-4, 7. 23 Vgl. Martin Heidegger, Sein und Zeit, 10. unveränd. Auflage (Tübingen, Max Niemeyer Verlag, 1963). Vgl. auch Josef
Seifert, „Die verschiedenen Bedeutungen von ‘Sein’ - Dietrich von Hildebrand als Metaphysiker und Martin Heideggers
Vorwurf der Seinsvergessenheit“, in: Balduin Schwarz (Hg.), Wahrheit, Wert und Sein. Festgabe für Dietrich von
Hildebrand zum 80. Geburtstag (Regensburg: Habbel, 1970), S. 301-332.
Verantwortung, auf dessen Erbarmen der Unrecht Tuende angewiesen ist, zeigen.24
Oder bei der Untersuchung der göttlichen Ewigkeit müssen alle im Gegensatz zu
diesem dem Fluß und der Nichtigkeit des Zeitlichen und Vergänglichen, sowie alle in
den Analogien des Zeitlichen sich enthüllenden Aspekte der göttlichen
allgegenwärtigen Ewigkeit treu dem unmittelbar Gegebenen, aber auch allen
geheimnisvollen, über sich hinausweisenden Aspekten des im Gegebenen
Mitgegebenen, anerkannt werden. Nur so können etwa die großartigen Ausführungen
al-Ghazzalis über die ewigen Wahrheiten, das göttliche Wesen betreffend – über seine
Transzendenz gegenüber allem innerweltlich Seienden, seine Ewigkeit, seine
unkörperliche geistige Präsenz und sein reines Sehen aller sichtbaren und unsichtbaren
Dinge, etc. – begründet werden.25
Zur Realisierung des Ziels einer Neufassung der phänomenologischen Methode als
geeignetes Instrument einer Metaphysik der Transzendenz scheinen uns allerdings die
postmodernen und an Levinas und Derrida sich anlehnenden Versuche Marions
ungenügend zu sein, der zwar mit Recht die Horizontalität und Reduktion der
Husserlschen Methode kritisiert und auch zum Zweck ihrer Eignung zu einer
Philosophie des Absoluten eine Reform der Phänomenologie und eine „nicht-
endliche“ Intuition verlangt, aber diese mit einer Verweigerung der Ontologie und
Metaphysik sowie mit der Annahme der Destruktion der Onto-Theologie durch
Heidegger sowie mit der These einer durch den endlichen Geist sich ereignenden
unvermeidlichen Idolatrie und „Zerstörung“ der Gottesidee verbindet – alles Thesen,
die ich in keiner Weise teilen kann. Allerdings kann man die schwer zu verfolgenden
Gedanken Marions auch anders, nämlich im Sinne eines „transgresser l’intuition“,
einer Transzendenz der Intuition in ihrem immanenten Husserlschen Verstande,
interpretieren. Marion entwickelt diese höchst bemerkenswerte Idee, die die
Gegenwärtigkeit des Gegenstands des Erkennens (la présence) über das in der (von
Husserl immanent gedeuteten) Intuition Gegebene hinaus behauptet und die Idee einer
24 Al-Ghazzali schreibt in seinem Al-Maqsadu’l-Asna über die Sprache Gottes: „Darüber hinaus spricht, befiehlt, verbietet,
verspricht und droht er in einer ewigen, alten Sprache, die zu seinem Wesen gehört ... [und] in die Herzen der Menschen
gelangt.“ Vgl. dazu auch den Koran, Sure 15: 16–25; 19: 95–96, sowie die Namen Allahs, Der Allbarmherzige (1), Der
Allerbarmer (2) Der Gerechte (29), Der Rächer (80). Vgl. auch John Henry Cardinal Newman, An Essay in Aid of A
Grammar of Assent (Westminster, Md.: Christian Classics Inc., 1973). Vgl. gleichfalls Josef Seifert, Was ist und was
motiviert eine sittliche Handlung? (What is and what Motivates a Moral Action?), (Salzburg: Universitätsverlag A. Pustet,
1976). 25 Vgl. die Stellen aus al-Ghazzalis Al-Masquadu’l-Asna, die wir weiter unten zitieren werden.
„transgression“ der Intuition, aber auch jene ihrer „Erweiterung“,26 die er suggeriert,
nicht ausreichend, sagt aber viel Bemerkenswertes und Richtiges darüber.27 Aus im
vorliegenden und anderen Werken ausgeführten grundsätzlichen
erkenntnistheoretischen und metaphysischen Erwägungen heraus kann ich mich
Heideggers Subjektivismus und einem Denken, das auf diesem aufbaut, wie auf weiten
Strecken das Marions, dennoch nicht anschließen.28 Bei aller notwendigen Kritik aber
darf man nicht Marions wertvolles Abzielen auf eine transzendente Gegenwärtigkeit,
für die der immanentistische Gegebenheits- und Intuitionsbegriff des transzendentalen
Husserl tatsächlich keinen Raum läßt, übersehen. Und gerade eine solche Erweiterung
des Intuitionsbegriffs ist auch für die realistische Phänomenologie zentral.
2 Die „realistische Phänomenologie“ als eine Philosophie des Dialogs zwischen Philosophen
der christlichen
und der islamischen Welt
Im Lichte des Gesagten ist das Interesse an der „realistischen Phänomenologie“
seitens arabischer und islamischer Philosophen verständlich, wenn man bedenkt, daß
jene Philosophen, die Anhänger des Islam sind, weder an jenen westlichen
Philosophien Gefallen finden werden, die alle Fundamente ihres Glaubens oder
moralischen Lebens untergraben, noch an jenen, die auf spezifisch und exklusiv
westliche Begriffssysteme oder Konstrukte aufbauen, für die es keine klaren
Anknüpfungspunkte in der erfahrenen und intelligiblen Wirklichkeit gibt. Wenn die
Philosophie hingegen – wie es ein Grundanliegen der Phänomenologie ist – sich durch
26 „l’élargissement de l’intuition“, Jean-Luc Marion, Dieu sans l’Etre (Paris: Communio/FAYARD, 1982), S. 90. 27 Vgl. Jean-Luc Marion, «La percée et l’élargissement. Contribution à l’interprétation des Recherches Logiques»
Philosophie 2 (1983), 67-91, speziell S. 90 f. Diese Transzendenz allerdings, so meine ich mit Dietrich von Hildebrand,
What is Philosophy?, 3rd edn, with a New Introductory Essay by Josef Seifert (London: Routledge, 1991), gehört zum
Wesen der Erkenntnis überhaupt, besonders der evidenten Intuition und Einsicht in Wesenssachverhalte. Daher verlangt sie
nicht ein Verlassen der Intuition, sondern ihre transzendente Deutung und ihr erweitertes Verständnis, das auch jene
spekulative Erkenntnisdimension einbezieht, auf die Marion abzuzielen scheint. Vgl. Josef Seifert, Erkenntnis objektiver
Wahrheit. Die Transzendenz des Menschen in der Erkenntnis (Salzburg: A. Pustet, 21976) und ders., Back to Things in
Themselves. A Phenomenological Foundation for Classical Realism (London: Routledge, 1987). Vgl. zu Marions Position
Jean-Luc Marion, Dieu sans l’Etre (Paris: Communio/FAYARD, 1982), sowie die Kritik an Marions Buch Dieu sans l’Etre
in Karol Tarnowski, «Dieu après la Métaphysique?», Kwartalnik Filozof (1996), 24 (1), 31-47. Tarnowski verwirft mit
Recht die Idee, daß eine postmetaphysische Philosophie, die auf den „Tod Gottes“ aufbaut, zu einer Erneuerung
philosophischer Gotteslehre führen kann. Vgl. auch Jean-Luc Marion, God Without Being, Thomas A. Carlson (trans),
(Chicago: Univ of Chicago Press, 1991); ders., L’idole et la distance (Paris: Presses Universitaires de France, 1977);
ders., “The Idea of God” in: Daniel Garber (Ed), The Cambridge History of Seventeenth-Century Philosophy (New York:
Cambridge Univ Pr, 1998); ders., “The End of the End of Metaphysics”, Epoche (1994), 2 (2), 1-22. 28 Vgl. außer den eben zitierten Arbeiten auch Josef Seifert, „Die verschiedenen Bedeutungen von ‘Sein’ - Dietrich von
Hildebrand als Metaphysiker und Martin Heideggers Vorwurf der Seinsvergessenheit“, in: Balduin Schwarz, Hg., Wahrheit,
Wert und Sein. Festgabe für Dietrich von Hildebrand zum 80. Geburtstag (Regensburg: Habbel, 1970), S. 301-332. Vgl.
ferner zur Kritik an Marions Thesen Jean-Yves Lacoste, «Penser a Dieu en l‘aimant: philosophie et théologie de J L
Marion», Arch Phil (Ap-Je 1987), 50, 245-270. Vgl. gleichfalls die fragwürdige immanentistisch-husserlianische Kritik an
Marions Standpunkt von James K. A. Smith, “Respect and Donation: A Critique of Marion’s Critique of Husserl”, Amer
Cath Phil Quart (Fall 1997), 71 (4), 523-538.
Formatiert
Formatiert
Sachnähe auszeichnet, wenn ihr Gesetz nicht westliche Gedankenströmungen, sondern
die Urphänomene selber sind – der Liebe, des Todes, der Gesundheit und Krankheit,
der Gerechtigkeit und Barmherzigkeit, des Verzeihens und der Dankbarkeit, des Seins
oder der logischen Gesetze –, dann kann es nicht erstaunen, daß eine solche
Philosophie Basis eines echten Dialogs werden kann. Denn wenn Menschen aller
Völker gewisse Wahrheiten als Fundamente menschlichen sinnvollen Lebens
entdecken können, dann sind diese Wahrheiten ebenso wichtig für Muslime wie für
Christen. Denn keine echte Religion darf ja gegen jene Wahrheiten und Gegebenheiten
gerichtet sein, die das Fundament aller menschlichen Erkenntnis und Erfahrung
ausmachen und ohne die keine wahre Religion und menschliche Gesellschaft möglich
sind, wie etwa die Menschenrechte und die Grundprinzipien der Ethik.
Ein auf der Erfahrung der Sachen selbst und der Wahrheit beruhender Dialog, der
an die einheitliche Basis menschlichen Lebens appelliert, hat auch in dem heutigen,
immer mehr integrierten Europa eine große menschliche, religiöse und politische
Bedeutung. Es ist ein „Dialog“ und eine Verständigungsmöglichkeit aller Menschen,
aber auch ein Dialog zwischen christlichen und islamischen Denkern, gerade weil er
sich nicht auf die trennenden religiösen Glaubensüberzeugungen, sondern auf jene
Grundwerte, Wahrheiten und „Sachen selbst“ bezieht, die dem Muslim ebenso wie
dem Christen bekannt sind.
Es gibt (neben zahlreichen illegitimen Einflüssen und Handlungsweisen wie den
grausamen Religionskriegen oder dem Gewissenszwang, unter Drohung für Leib und
Leben zu „konvertieren“) viele legitime Weisen, auf die Menschen verschiedener
Religionen mit einander in Kontakt treten können: zum Beispiel indem sie ihre
religiösen Erfahrungen austauschen, einander von der Wahrheit ihrer Religion zu
überzeugen suchen, wie die Apostel und Missionare dies in ihren Predigten und
Missionsreisen intendierten, oder aber auch indem sie gemeinsame Erkenntnisse
gewinnen und gemeinsame Ziele verfolgen. Gerade in diesen letztgenannten Bereich
fällt die Rolle der Philosophie für den Dialog zwischen Islam und Christentum.
Vertreter verschiedener Religionen begegnen sich in dieser Form etwa im
gemeinsamen Einsatz für den unantastbaren Wert des menschlichen Lebens oder
indem sie gemeinsam die Quellen ihres Glaubens zu verstehen suchen. Alle diese und
viele andere Formen der Gemeinschaft zwischen Menschen verschiedenen Glaubens
sind von hohem Wert und übertreffen in mancher Hinsicht, auf Grund ihrer
menschlichen und spezifisch religiösen Dimensionen, die der Intellekt oft nicht
einzuholen vermag, den Beitrag der Philosophie zum interreligiösen Dialog.
Die Philosophie jedoch ist dazu prädestiniert, im Dialog zwischen den Gläubigen
verschiedener Religionen eine wesentliche und ganz besondersartige Rolle zu spielen.
Denn die Philosophie baut erstens auf Vernunft und vernünftiger Einsicht auf, wie sie
Menschen aller Religionen zugänglich und auch von allen Religionen vorausgesetzt
sind. Zweitens aber tritt uns dieser allgemeine enge Kontakt zwischen Philosophie und
Religion in den monotheistischen Religionen noch viel deutlicher entgegen. Denn
diese setzen neben allgemeinen philosophischen Voraussetzungen auch noch viele
spezifische Erkenntnisse über Gott und den Menschen voraus, die einen viel breiteren
gemeinsamen Boden der Verständigung hergeben als die von sämtlichen, auch den
polytheistischen oder apersonalistischen, Religionen geteilten philosophischen
Fundamente.
Da den monotheistischen Religionen, vor allem dem Judentum, dem Christentum
und dem Islam, zahlreiche philosophische Erkenntnisse und Begriffe über den
Menschen, über Gott, sowie über Gut und Böse gemeinsam sind, die für einen solchen
Glauben Voraussetzung sind, bildet – neben einer Reihe gemeinsamer
Glaubensinhalte – in erster Linie die der Vernunft zugängliche Wahrheit das
Fundament einer echten Verständigung und eines echten Teilens grundlegender
Überzeugungen. Und es ist Aufgabe der Philosophie, besonders einer
phänomenologischen Philosophie, diesen gemeinsamen Boden zu einer Prise de
conscience zu bringen und voll ins Bewußtsein zu heben.
Die klare Erkenntnis der genannten unbegründeten Husserlschen „Dogmen“ und
ihre Widerlegung führte zur erkenntnistheoretischen Grundlegung einer grundsätzlich
verschiedenen, realistischen, Phänomenologie. Nur eine solche „realistische
Phänomenologie“ kann jene zentralen gemeinsamen Fundamente in ihrer Tiefe und
Breite entdecken, die eben einen gemeinsamen Boden zwischen Christen und
Muslimen zu bilden vermögen. Und es ist gerade erst eine derartige Philosophie, die
ihre Rückkehr zu „den Sachen selbst“ nicht wieder verrät und sich von den Quellen
des Seins nicht abschneidet, wodurch sie philosophisch und ökumenisch gesprochen
unfruchtbar würde. Vielmehr findet diese Philosophie die geeigneten Methoden für
eine solche Rückkehr zum Gegebenen. Sofern ihr diese gelingt, erhält sie eine
universale vereinigende Rolle zur geistigen Verständigung zwischen den Gläubigen
des Islam, den Juden und den Christen sowie anderer Religionen. Ja erst eine solche
wirklichkeitsgetreue und sachnahe Philosophie kann, wenn sie rückhaltlos nach der
Wahrheit forscht, zu einer echten Gemeinsamkeit auch unter solchen Menschen
führen, die in vielen Anschauungen stark von einander abweichen. Dabei kann
selbstredend die Philosophie den religiösen Glauben niemals ersetzen noch die
religiösen Gegensätze überwinden.29
Gerade hinsichtlich der philosophischen Grundlagen der Religion aber, sowohl
jener, die der Islam mit dem Judentum und Christentum teilt (wie die Objektivität der
Wahrheit und sittlicher Werte), als auch jener, die in mancherlei Formen die
monotheistischen Religionen trennen (wie eine Philosophie der menschlichen Freiheit
gegenüber einer von manchen mohammedanischen, wie von calvinistischen,
Theologen gelehrten Konzeption eines strengen Kismet)30, ergeben sich wichtige
Ansatzpunkte für einen fruchtbaren Dialog zwischen Islam und Christentum.
Trotz aller Religionskriege und schweren Konflikte zwischen Islam und
Christentum, von der Schlacht von Poitiers 732 bis zur Türkenbelagerung und
Schlacht bei Wien 1683, gab es auch in der Vergangenheit große Beispiele eines
fruchtbaren Dialogs – gerade im Bereich der Philosophie. Man braucht sich hier nur
daran zu erinnern, daß im Mittelalter und in der Renaissance, wofür etwa die
Geschichte und Kunst in Toledo Zeugnis gibt, eine außerordentlich friedliche und
fruchtbare Koexistenz des Islam, des Judentums und des Christentums möglich war.
Man bedenke auch, daß selbst die größten und entschiedensten christlichen Denker,
wie Thomas von Aquin, der die Auseinandersetzung mit dem Islam und dem
Judentum in aller Schärfe führte, die großen mohammedanischen Philosophen wie
Avicenna stets mit größter Hochachtung und als bedeutende Autoritäten in
philosophischen Fragen zitierten. Oder man denke an die schönen Erzählungen der
Fioretti über die Begegnung des hl. Franziskus mit dem Sultan und den Autoritäten
der Muslime oder auch an Leibniz’ Schriften zum Religionsfrieden. Man denke ferner
29 Die spezifisch religiös-theologische Wahrheit muß ebenfalls in allem Ernst einer spezifisch religiösen Wahrheitssuche
von allen Dialogpartnern untersucht werden, was aber nicht auf rein philosophischer Basis möglich ist. 30 Bekanntlich lehren die Dschabrianer (von Dschabr/Zwang) einen strengen Determinismus der Prädestination, der jeden
freien Willen ausschließt, während die Qadrianer (und in gewissem Maß die Asch’arianer) den freien Willen betonen und
sagen, daß das Böse nicht Gottes Willen, sondern dem Menschen zuzurechnen sei.
an die Toleranz, die etwa im „goldenen Zeitalter“ in Spanien zwischen Christen und
Muslimen herrschte und von der beispielsweise die friedlichen Dialoge von Juden,
Christen und Muslimen, die Raimundus Lullus berichtet und anregte, Zeugnis geben;
man behalte auch die tiefe Verbindung zwischen den großen muslimischen und den
christlichen Aristotelikern im Mittelalter im Auge. In all dem zeigen sich die
menschlichen, philosophischen und religiösen Verbindungen zwischen islamischen
und christlichen monotheistischen Denkern.
So bestanden in den höchsten Blütezeiten der christlichen und arabischen Kultur
nicht nur die unseligen fanatischen Religionskriege und grausamen gegenseitigen
Verfolgungen, sondern auch leuchtende Beispiele der gegenseitigen Achtung und des
friedlichen Dialogs sowie der gemeinsamen Suche nach Wahrheit. Einem solchen, auf
den Prinzipien der Menschenrechte, der Religionsfreiheit, der Achtung vor dem
Gewissen und der Pflege von Gemeinsamkeiten aufbauenden interkulturellen und
interreligiösen Dialog, der alle Abstriche von der Substanz der eigenen Religion
ablehnen mag, kommt heute angesichts der Tatsache, daß der Islam im christlichen
Abendland in der Philosophie kaum einen echten Gesprächspartner findet, dem jene
großen philosophischen Erkenntnisse, die der Glaube anerkennen muß, ein Anliegen
sind, eine neue und fundamentale Bedeutung zu. Denn gerade die gläubigen
islamischen Denker müssen den Westen und das Christentum fast unvermeidlich im
Lichte der in den heutigen christlichen Ländern herrschenden philosophischen Krise
als eine Quelle der Dekadenz und des antireligiösen Niedergangs sehen.
Damit berühren wir schon einen zweiten Punkt: die brisante politische Bedeutung
eines solchen Dialogs. Man bedenke, daß der Islam – in Anbetracht der hohen
Geburtenrate der islamischen Welt – bald die herrschende Religion in Westeuropa
bilden könnte und jedenfalls der Tag abzusehen ist, an dem er in manchen
europäischen Ländern die Religion der Mehrheit darstellen wird. Dazu kommen
mancherorts verbreitete fanatische fundamentalistische Tendenzen, die in vielen
Ländern zur Idee eines „heiligen Krieges“ (des Dschihad) gegen den gottlosen Westen
geführt haben, und die jederzeit in Europa die Herrschaft eines Islam begründen
könnten, der das ihm dekadent erscheinende Christentum und die Christen („die
Ungläubigen“) auszurotten versuchen könnte, wie dies der Koran, wenn auch mit
manchen Differenzierungen, zu gebieten scheint.31
Wenige Dinge sind daher weltpolitisch und im Hinblick auf den Weltfrieden von
größerer Bedeutung für das gegenwärtige Europa als ein echter menschlicher und
rationaler Austausch und eine gemeinsame Wahrheitsbemühung zwischen christlicher
und islamischer Welt sowie ein ökumenisches Gespräch (in einem Klima gegenseitiger
Achtung), das sich auf jene wichtigen gemeinsamen Grundlagen besinnt, die heute oft
gläubige Muslime und gläubige Christen viel enger verbindet als Christen oder
Mohammedaner, die im klassischen Sinne glauben, mit modernistischen „Gläubigen“
verbunden sein können, die im Grunde eine rein immanentistische und atheistische
Weltanschauung vertreten und diese mit dem bloßen Namen der Weltreligionen
tarnen. Dabei seien keineswegs die prinzipiellen Schwierigkeiten und Hindernisse
verkannt, die sich einem solchen gemeinsamen Bemühen um Wahrheit und hohe
Werte, wie das Leben, durch Intoleranz und Leugnung der legitimen Religionsfreiheit
entgegenstellen.
3 Kann eine philosophische Gotteslehre ein Einheit stiftendes Element im Dialog zwischen
christlichen und
islamischen Philosophen sein?
Die Geschichte Europas legt Zeugnis von Momenten einer großen Entzweiung und
zugleich einer tiefen Einheit ab, die zwischen Christen und Muslimen hinsichtlich der
Frage nach der göttlichen Natur bestehen. Von den Punkten der Einheit war schon die
Rede. Ohne Zweifel gibt es jedoch andererseits gegenteilige Zeichen: nicht nur die
Ströme menschlichen Blutes, die in den Kriegen zwischen Mohammedanern und
Christen geflossen sind, sondern auch die scharfen Verurteilungen des christlichen
Dreifaltigkeitsglaubens im Koran und in den Auseinandersetzungen zwischen
christlichen und mohammedanischen Denkern. In all dem ist auch der Gottesbegriff
trennendes Moment zwischen Islam und Christentum. So lesen wir beispielsweise im
Koran 5:73:
Ungläubig sind wahrlich, die da sprechen: „Allah ist der Dritte von Dreien“; es gibt keinen Gott als
den Einigen Gott. Und wenn sie nicht abstehen von dem, was sie sagen, wahrlich, so werden die unter
ihnen, die (weiter) dem Unglauben huldigen, eine schmerzliche Strafe erleiden.
31 Vgl. Koran, Sure 9: 5-6; 29; Sure 4: 76-79; Sure 2: 214-215; Sure 8: 39-42.
Die Anhänger des christlichen und jüdischen Gottglaubens sind nach dem Koran
Gegenstand des legitimen „heiligen Krieges“, was auch durch Mohammeds eigene
Feldzüge gegen die Juden (etwa gegen die Banu Nadir) unterstrichen wird. Wie also
kann ein von einem Philosophen, der persönlich Christ ist, geschriebenes Buch über
Gott einen Einheitspunkt zwischen christlichen und islamischen Gläubigen bilden?
Die Antwort ist einfach: Es gibt viele verbindende Elemente und Überzeugungen
zwischen Islam und Christentum. Die Momente dieser Einheit manifestieren sich
gerade und in besonderer Weise im philosophischen Gottesbegriff. Denn dieser kann
die beide Religionen trennende Frage, ob Gott ein „einiger“ oder ein „dreieiniger“
einziger Gott ist und ob er, ohne seine göttliche ewige Natur je zu verlieren, in
Christus Menschennatur angenommen hat oder nicht, nicht entscheiden. Was die
Philosophie über Gott sagt, ist daher beiden Religionen gemeinsam. Beide Religionen
nehmen nicht nur kraft vernünftiger Argumente, sondern auch auf Grund des
Glaubens, jene ewigen Wahrheiten über Gott an, wie daß es einen einzigen, einen
allbarmherzigen und allgütigen Gott gibt,32 einen ewigen, ungeschaffenen und
notwendig seienden Gott, einen Richter der Lebenden und Toten,33 einen allwissenden
Gott, usf. Beide Religionen schreiben Gott die genannten und viele andere reinen
Vollkommenheiten zu und beten Gott an, huldigen ihm, verehren und lieben ihn. So
gibt es zwischen Christentum und Islam hinsichtlich einer philosophischen Gotteslehre
wenig Trennendes, es seien denn manche philosophische Fragen wie die, ob auch
liebende personale Gemeinschaft (eine Communio personarum) eine reine
Vollkommenheit ist, die auch in Gott bestehen muß.34
Daher kann eine Philosophie, die jene fundamentalen, der Vernunft zugänglichen
Wahrheiten über Gott untersucht, welche muslimische Philosophen wie al-Ghazzali
ebenso wie christliche Denker wie Anselm von Canterbury und Thomas von Aquin
lehrten, sehr wohl eine gemeinsame Basis für arabische und westliche Philosophen
bilden.35 Ja, eine rein philosophische Gotteslehre, wie sie hier dargelegt wird, ist so
32 So beginnt jede Sure mit dem Satz: „Im Namen Allahs, des Gnädigen, des Barmherzigen.“ Und viele Texte, etwa Sure 1:
1-7, fügen hinzu: „Preis sei Allah, ....“ 33 Ebd., Sure 1: 2, 4: „Preis sei Allah, .... Dem Herrscher am Tage des Gerichts“. Damit lehren auch beide Religionen ein
Leben nach dem Tod. 34 Al-Wadud (Der Liebende) ist einer der 99 Namen Gottes (47) nach dem Islam. Gemeinschaft von göttlichen Personen
hingegen schließt er aus und betrachtet sie offenbar nur als wesenhaft begrenzte Eigenschaft. 35 Das ist auch die These Thomas von Aquins, wo er bemerkt, daß Christen und Moslems kein gemeinsam anerkanntes
heiliges Buch haben und deshalb sich auf der Ebene des Lichts der Vernunft verständigen müssen:
Formatiert
Formatiert
fern davon, einen trennenden Gegensatz zum Islam darzustellen, daß man sogar
zugestehen muß, daß eine rein philosophische Gotteslehre, wie sie hier dargelegt wird,
in vielfacher Hinsicht in leichter verständlicher Weise mit der Gotteslehre des Islam
vereinbar ist als mit dem in der christlichen Offenbarung geoffenbarten dreieinigen
Gott. Denn das vom Christen geglaubte Mysterium eines einzigen Gottes, der doch
drei göttliche Personen und die ewige Liebesgemeinschaft dieser göttlichen Personen
ist, übersteigt alles menschliche Begreifen unvergleichlich viel mehr als etwa die 99
göttlichen Namen Allahs, die sich fast alle mit einem gereinigten philosophischen
Gottesbild decken und von Moslems, Juden und Christen gemeinsam angenommen
werden. Die Philosophie, sei es jene, die hier dargelegt wird, sei es jene des berühmten
muslimischen Philosophen al-Ghazzali, deckt sich viel „direkter“ mit den Lehren des
Korans über Gott als mit den Mysterien des christlichen Glaubens. Man denke etwa an
die folgenden Stellen aus al-Ghazzalis Al-Masquadu’l-Asna:
Er, gepriesen sei sein Name, ist kein Körper, der einer Form unterworfen ist, und keine Substanz, die
begrenzt und meßbar ist ... Er ist kein Stoff, und kein Stoff hat Anteil an ihm. ... er i st um
Unendlichkeiten über die Erde erhoben ... Gleichzeitig ist er jedem Seienden nahe, ja, er ist dem
Menschen näher als seine Halsschlagader und ist Zeuge von allem, obwohl sein Nahsein nichts mit
körperlicher Nähe zu tun hat ... Er ist zu heilig, um dem Wandel oder der Bewegung unterworfen zu
sein ... Was seine Vollkommenheit betrifft, so duldet er keine Steigerung der Vollkommenheit [dieser
Text entspricht dem etwa gleichzeitigen Anselmischen „Etwas, worüber hinaus nichts Größeres
gedacht werden kann“]. ... Er ... ist lebendig, machtvoll, kraftvoll, allmächtig, keinem Wandel und
keiner Schwäche unterworfen; er schlummert und schläft nicht, kein Verfall und kein Tod bedrohen
ihn. Ihm gehört das Königtum, die Macht und die Herrlichkeit ... die Gegenstände seines Wissens sind
unendlich ...
Er ... weiß alles, was man wissen kann, und er versteht ... alles, was man verstehen kann ... Er kennt
das Geheimste ... und er sieht die verborgensten Gedanken und das Innerste der Geheimnisse durch ein
... ewiges Wissen, das seit allen Ewigkeiten sein eigen ist ...
Man wird erkennen, wie nahe diese philosophischen Einsichten des großen
mohammedanischen Philosophen in Gottes Wesen, die auch dem im vorliegenden
Werk Dargelegten genau entsprechen, dem Gottesverständnis des Koran und des Islam
überhaupt sind, und wie weit die spezifisch christlichen Lehren der Dreifaltigkeit und
Menschwerdung über alles philosophisch Erkennbare hinausgehen. Ja man bedenke,
daß der westliche Philosoph Franz Brentano, früher ein katholischer Priester, von der
Kirche und vom Christentum abfiel, weil er glaubte, philosophische Einsichten gegen
die Wahrheit der Dreifaltigkeit anführen zu können und in diesen Lehren innere
secundo, quia quidam eorum, ut mahumetistae ..., non conveniunt nobiscum in auctoritate alicuius scripturae,
per quam possint convinci, sicut contra iudaeos disputare possumus per vetus testamentum, .... hi vero neutrum
recipiunt. unde necesse est ad naturalem rationem recurrere, cui omnes assentire coguntur. quae tamen in rebus
divinis deficiens est.
Summa Contra Gentiles, L. 1, Cp 2, N. 4.
Widersprüche und Widersprüche zu einer philosophischen Gotteslehre, die er
verteidigte, erkennen zu können.36 Auch wenn ich weder als Philosoph noch als
gläubiger Christ diesen Thesen Brentanos zustimmen kann, so ist doch sicher der
Glaube an einen personalen, einzigen und zugleich einigen (einpersonalen) Gott
vernunftmäßig viel leichter mit dem zu versöhnen, was die Philosophie über Gott zu
erkennen vermag, als das Mysterium eines dreieinigen und doch zugleich einzigen
Gottes. Erst recht übersteigt das christliche Zentraldogma von der Menschwerdung der
zweiten göttlichen Person und von der wahren Gottheit und zugleich der wahren
Menschheit Jesu Christi viel mehr als die Allah- und Schöpfungslehre des Islam eine
philosophische Gotteslehre.
Allerdings wird der Christ einwenden können, daß es bei tieferer Betrachtung
gerade die vom Islam gelehrten göttlichen Attribute sind, wie daß er der Allliebende
ist, die erst dann voll und ganz ihre Wirklichkeit besitzen und einigermaßen begreifbar
werden können, wenn der Gegenstand dieser Alliebe Gottes nicht nur eine alleinige
göttliche Person (2 Aussagen: 1. Gott ist der Alliebende, d.h. er liebt alles; 2. das
göttliche Du, das vom Menschen geliebt wird. Sollte der Satz nicht
auseinandergenommen und umformuliert werden?) und endliche Menschen und
Engel sowie geringere Geschöpfe, sondern an erster Stelle ein göttliches Du ist, das
allein über alles geliebt werden kann, so daß gerade diese tiefste und herrlichste
göttliche reine Vollkommenheit, die uns der Islam vor Augen stellt, nur in einem
multipersonalen Gott (wie dem dreieinigen und einzigen Gott, an den die Christen
glauben) die sie vollendende unendliche Vollkommenheit erreichen kann und daß auch
das „maßlose Maß“ der Liebe des Allerbarmers und Alliebenden, die in der
Menschwerdung, Kreuzigung und Auferstehung Jesu Christi aufleuchtet, erst jene
reinen Vollkommenheiten erfüllt, die uns der Koran lehrt.
Dennoch bleibt es bei alledem wahr, daß der Islam sich viel weniger weit von den
philosophischen Erkenntnissen über „Etwas, worüber hinaus nichts Größeres gedacht
werden kann“ erhebt und gleichsam von dem Gegenstand und den Grenzen der
natürlichen Gotteserkenntnis entfernt als das Christentum. Die Gotteslehre des Islam
stimmt mit einer philosophischen Wesenserkenntnis Gottes, wie sie in diesem Buch
dargelegt wird und wie sie die Vernunft ohne Hilfe religiösen Glaubens erreichen
36 Vgl. Franz Brentano, Vom Dasein Gottes, hrsg. A. Kastil (Hamburg: F. Meiner, 1980).
kann, weitestgehend überein. Im vorliegenden Werk wird kaum eine göttliche
Vollkommenheit vorausgesetzt,37 die nicht auch im Koran gelehrt wird, und so kann
dieses Werk als eine volle Bestätigung und rationale Begründung jener Wahrheiten
über Gott angesehen werden, über die Juden, Christen und Muslime übereinstimmen.
Denn sie alle erkennen in Gott jenes unendlich vollkommene Wesen an, über das
hinaus nichts Größeres gedacht werden kann. In diesem Sinne ist gerade eine
philosophische und phänomenologische Begründung des ontologischen Arguments
eine eminent ökumenische und bestätigt alle reinen monotheistischen Religionen in
den von ihnen gemeinsam gesehenen Wahrheiten.
4 Warum kam es zu Gott als Gottesbeweis?
Das Buch Gott als Gottesbeweis entstand als logische Frucht eines auf mein 14.
oder 15. Lebensjahr zurückgehenden intensiven Interesses am ontologischen
Gottesbeweis, auf den ich beim Lesen einer deutschen Anselm-Ausgabe in der
Bibliothek meines Elternhauses stieß und über den ich schon damals Aufzeichnungen
im Sinne meines jetzigen Buches machte. Das ontologische Argument dünkte mich
zunächst unhaltbar und unlogisch, auf seinen tieferen Sinn aber wies mich schon
damals mein Vater, der auch Philosophie studiert hatte,38 in allgemeinen Worten hin,
wobei er mir auch sagte, daß die bedeutenden Salzburger Professoren Albert Auer und
Alois Mager der Ansicht gewesen seien, daß sich dieses Argument keineswegs durch
die üblichen einfachen logischen Argumente dagegen (daß es von einem reinen
Begriff auf die Wirklichkeit schließe oder das zu Beweisende voraussetze und
ähnliche) widerlegen lasse. Im eigenen Nachdenken über diese Anregungen
entwickelte ich schon damals einige Grundideen des vorliegenden Buches im Sinne
der „realistischen Phänomenologie“, die mich schon in sehr jungen Jahren – vor allem
durch die Begegnung mit der Person und dem Werk Dietrich von Hildebrands –
faszinierte, ohne allerdings Hildebrand selber, der das Argument mit den meisten
Phänomenologen ablehnte, ihm aber sehr offen gegenüberstand, ganz überzeugen zu
können. In vielen Vorlesungen in Dallas, wo ich 8 Jahre lang an der University of
37 Eine Ausnahme davon bildet z.B. die Vollkommenheit der Freiheit Gottes und seines wahrhaften Freilassens der
Geschöpfe, die der Islam an manchen Stellen zu leugnen scheint und die auch eine Reihe christlicher Bekenntnisse (etwa
der strenge Calvinismus) leugnen. Dennoch setzt auch die Gerechtigkeit Gottes und seines Gerichtes, die der Islam lehrt,
diese genannte göttliche Vollkommenheit voraus, da es in höchstem Maß ungerecht wäre, Menschen zu verurteilen, die
keine wahrhafte Freiheit besäßen. 38 Eduard Seifert, mein Vater, war lange Jahre Vorstand eines Instituts für Grundlagenforschung der Erwachsenenbildung
und publizierte eine Reihe von Schriften über philosophische Themen, z.B. über das Gewissen, über Sport und Geist sowie
über Musische Bildung.
Dallas und dann an der International Academy of Philosophy, und später an der
Internationalen Akademie für Philosophie im Fürstentum Liechtenstein, lehrte,
diskutierte und durchdachte ich das Argument sehr oft und schrieb darüber eine große
Anzahl englischer und deutscher unveröffentlichter Texte. Auch publizierte ich einiges
darüber.39 So kann das vorliegende Buch als ein wichtiger Teil und eine Frucht meines
„Lebenswerks“ bezeichnet werden. Wenn der ontologische Gottesbeweis tatsächlich
gültig und der tiefste philosophische Gottesbeweis ist, ist er abgesehen von diesen
biographischen Wurzeln aufs engste mit dem Kern der philosophischen
Wahrheitssuche überhaupt verknüpft, die ja auf alle Wahrheit und vor allem auf den
ewigen Ursprung allen Seins und aller Wahrheit abzielt, und die sich meines Erachtens
in besonderer Weise in der Entfaltung dieses Arguments erfüllt und darin ihren
Höhepunkt findet. Denn welche philosophische Frage könnte wichtiger sein als die
nach dem Inbegriff und der Fülle allen Seins, aller Wahrheit und alles Guten? Und der
Versuch, auf diese für uns alle zentrale Frage eine Antwort zu finden, ist es, was in
erster Linie zum vorliegenden Buch führte.
39 Vgl. Josef Seifert, „Kant und Brentano gegen Anselm und Descartes. Reflexionen über das ontologische Argument“ in
Theologia (Athens 1985), 3-30; «Kant y Brentano contra Anselmo y Descartes. Reflexions sobre el argumento ontologico»
in Thémata 2 (Universidades de Malaga y Sevilla, 1985); ders., “Si Deus Deus est, Deus est. Reflections on St.
Bonaventure’s Interpretation of St. Anselm’s Ontological Argument”, in: Proceedings, 8th International Conference on
Patristic, Medieval, and Renaissance Studies, Villanova, 1983; Essere e persona, Kap. 14-15; ders., “Schelers Denken des
absoluten Ursprungs: Zum Verhältnis von Schelers Metaphysik und Religionsphilosophie zum ontologischen
Gottesbeweis“, in: Christian Bermes, Wolfhart Henckmann, Heinz Leonardy und Thüringische Gesellschaft für
Philosophie, Jena (Hg.), Denken des Ursprungs – Ursprung des Denkens. Schelers Philosophie und ihre Anfänge in Jena.
Kritisches Jahrbuch der Philosophie 3 (1998), S. 34-53.