Philosophie der Verkörperung - Grundlagen und Konzepte (2015)

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Thiemo Breyer Philosophie der Verkörperung Grundlagen und Konzepte 1. Einleitung In den Diskussionen der Philosophie des Geistes und der Kognitionswissen- schaften hat das Konzept der Verkörperung bzw. des embodiment in den ver- gangenen zwei Jahrzehnten zu einer tiefgreifenden Wende geführt. Mit den Forschungen zur verkörperten Kognition wurde das vorherrschende Symbolver- arbeitungsparadigma und der Repräsentationalismus in der Theorie des Mentalen einer grundlegenden Revision unterworfen. Während die Ansätze der klassischen Kognitionswissenschaft von in sich abgeschlossenen informationsverarbeitenden Systemen ausgingen, in denen sensorischer Input und motorischer Output mit angeborenen oder erworbenen Algorithmen verrechnet werden, betont der Ver- körperungsansatz die Rolle der peripheren leiblichen Verarbeitung sowie die Eingebettetheit des kognitiven Systems in eine ökologische und soziale Umwelt. Kritisiert wurde im Zuge dessen auch der naturalistische Reduktionismus in der Neurowissenschaft und Neurophilosophie. Nicht mehr das Gehirn wurde nun als genuiner Ort der Kognition oder des Geistigen thematisiert, sondern der ganze Organismus in seiner Beziehung zur Umwelt und seiner Angelegtheit auf inter- subjektive Kommunikation. Damit verbunden war auch ein vermehrter Rückbezug auf drei wichtige Denkrichtungen des 20. Jahrhunderts, nämlich auf die Phäno- menologie, den Pragmatismus und die Philosophische Anthropologie. In diesem einführenden Beitrag soll nun zunächst der Verkörperungsgedanke kurz historisch situiert werden. In einem zweiten Schritt werden einige zentrale Grundmotive der drei genannten philosophischen Richtungen erläutert und in einem dritten Schritt dann der aktuelle Verkörperungsdiskurs skizziert. Dabei werden das Paradigma der 4E Cognition und der Begriff der Artikulation thema- tisiert. Breyer, T. (2015). Philosophie der Verkörperung – Grundlagen und Konzepte. In: G. Etzelmüller, A. Weissenrieder (eds.), Verkörperung als Paradigma der theologischen Anthropologie. Berlin/Boston: de Gruyter, 29–50.

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Thiemo Breyer

Philosophie der Verkörperung – Grundlagenund Konzepte

1. Einleitung

In den Diskussionen der Philosophie des Geistes und der Kognitionswissen-

schaften hat das Konzept der Verkörperung bzw. des embodiment in den ver-

gangenen zwei Jahrzehnten zu einer tiefgreifenden Wende geführt. Mit den

Forschungen zur verkörperten Kognition wurde das vorherrschende Symbolver-

arbeitungsparadigmaund der Repräsentationalismus in der Theorie desMentalen

einer grundlegenden Revision unterworfen.Während die Ansätze der klassischen

Kognitionswissenschaft von in sich abgeschlossenen informationsverarbeitenden

Systemen ausgingen, in denen sensorischer Input und motorischer Output mit

angeborenen oder erworbenen Algorithmen verrechnet werden, betont der Ver-

körperungsansatz die Rolle der peripheren leiblichen Verarbeitung sowie die

Eingebettetheit des kognitiven Systems in eine ökologische und soziale Umwelt.

Kritisiert wurde im Zuge dessen auch der naturalistische Reduktionismus in

der Neurowissenschaft und Neurophilosophie. Nicht mehr das Gehirn wurde nun

als genuiner Ort der Kognition oder des Geistigen thematisiert, sondern der ganze

Organismus in seiner Beziehung zur Umwelt und seiner Angelegtheit auf inter-

subjektive Kommunikation. Damit verbundenwar auch ein vermehrter Rückbezug

auf drei wichtige Denkrichtungen des 20. Jahrhunderts, nämlich auf die Phäno-

menologie, den Pragmatismus und die Philosophische Anthropologie.

In diesem einführenden Beitrag soll nun zunächst der Verkörperungsgedanke

kurz historisch situiert werden. In einem zweiten Schritt werden einige zentrale

Grundmotive der drei genannten philosophischen Richtungen erläutert und in

einem dritten Schritt dann der aktuelle Verkörperungsdiskurs skizziert. Dabei

werden das Paradigma der 4E Cognition und der Begriff der Artikulation thema-

tisiert.

Breyer, T. (2015). Philosophie der Verkörperung – Grundlagen und Konzepte. In: G. Etzelmüller, A. Weissenrieder (eds.), Verkörperung als Paradigma der theologischen Anthropologie. Berlin/Boston: de Gruyter, 29–50.

2. Historische Situierung

Die Herausgeber des 2013 erschienenen Bandes Philosophie der Verkörperung¹, der

zentrale Texte der angloamerikanischen Debatte der letzten 20 Jahre zu diesem

Thema erstmals in deutscher Sprache zugänglich macht, diagnostizieren in ihrer

Einführung eine weitreichende „Körpervergessenheit und teilweise sogar Kör-

perverachtung“² in der philosophischen Tradition. In der Tat zeigt ein Blick auf die

abendländische Geistesgeschichte, dass der Körper in der theoretischen wie

praktischen Philosophie häufig negativ bewertet wurde. In epistemologischer

Hinsicht wurde argumentiert, die Sinnesvermögen erlaubten nur eine unklare und

ungenaue Wahrnehmung der Dinge und somit eine verzerrte Sicht der Wirklich-

keit. In ethischer Hinsicht wurde der Körper als Sitz der Triebe und Leidenschaften

häufig als Widersacher des Intellekts dargestellt, der das rationale Streben nach

dem wahrhaft Guten und Rechten erschwert. Man denke als hervorstechendes

Beispiel an die platonische Lehre vom Körper als Grab bzw. Gefängnis der Seele

und als Hindernis auf demWeg zuwahremWissen.WahresWissen bezieht sich für

Platon auf das unvergänglich Ideale und solche Erkenntnis wird von der Seele

erlangt, die ihrerseits unvergänglich ist.

Im Dialog Gorgias beispielsweise versucht Sokrates, den Sophisten Kallikles

davon zu überzeugen, dass es tugendhaft sei, seine leiblichen Bedürfnisse zu

kontrollieren und dass diejenigen die Glücklichsten seien, die nicht bedürftig im

Sinne körperlicher Lust- und Triebbefriedigung sind. In diesem Zusammenhang

wird ein orphisch-pythagoreisch überlieferterMythos zitiert, in dem der Körper als

Grab der Seele dargestellt wird.³

Im Phaidon lesen wir, die Seele sei „gebunden im Leibe und ihm anklebend

und gezwungen, wie durch ein Gitter durch ihn das Sein zu betrachten“⁴. Die

Philosophie nun, „indem sie die Gewalt dieses Kerkers erkennt“, versucht die

Seele „zu erlösen, indem sie zeigt, daß alle Betrachtung durch die Augen voll

Betrug ist, voll Betrug auch die durch die Ohren und die übrigen Sinne“.⁵ Die

Joerg Fingerhut/Rebekka Hufendiek/Markus Wild, Hgg., Philosophie der Verkörperung.

Grundlagentexte zu einer aktuellen Debatte, stw (Berlin: Suhrkamp, ).

Joerg Fingerhut/Rebekka Hufendiek/Markus Wild, „Einleitung,“ in Philosophie der Verkörpe-

rung. Grundlagentexte zu einer aktuellen Debatte, Hgg. dies., stw (Berlin: Suhrkamp, ):

–, .

Platon, Georgias (ders., Werke in acht Bänden. Zweiter Band [Darmstadt: WBG, ]: –

), a.

Platon, Phaidon (ders., Werke in acht Bänden. Dritter Band [Darmstadt: WBG, ]: –),

e.

Platon, Phaidon (s. Anm. ), e–a.

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Philosophie soll die Seele überreden, sich von den Sinnen „zurückzuziehen“ und

„sich vielmehr in sich selbst zu sammeln und zusammenzuhalten und nichts

anderem zu glauben als wiederum sich selbst“.⁶ Für Platon ist dementsprechend

ein wesentliches Ziel der Philosophie, sich aus dem Gefängnis des Körpers zu

befreien und die Augen der Seele auf das zu richten, was gänzlich unkörperlich,

ewig und sicher ist. So lässt er Sokrates den Gefährten kurz vor seinem Tod auch

berichten, dass Philosophieren letztlich nichts anderes sei als Sterbenlernen. Der

Philosoph strebt schon während des Lebens nach einer gewissen Trennung von

Körper und Seele,welche Trennung sich dann realiter im Tod ereignet. Indem der

Philosoph nach wahrer Erkenntnis strebt, versucht er, alle körperlichen Faktoren

im Denkprozess auszuschalten, den Körper gleichsam von der Seele abzustreifen.

Auch im platonischen Staatsmodell, das in der Politeia entwickelt wird,

spiegelt sich die Zurückstellung des Körpers gegenüber der Seele wider. Platon

analogisiert dort bekanntermaßen Mensch und Staat und entwickelt eine Hier-

archie aus drei Ebenen, an deren Spitze die Philosophen stehen,die aufgrund ihrer

rationalen Fähigkeiten und der dadurch verbürgten wahren Erkenntnis die Ge-

schicke des Staates lenken sollen. Auf der mittleren Ebene ist der Wehrstand

angesiedelt, der aus Wächtern und Soldaten besteht, die darauf trainiert werden,

ihre Körper und Leidenschaften zu kontrollieren und die Tugenden der Tapferkeit,

des Gehorsams und der Mäßigung auszubilden, um das Staatswesen zu schützen

und zu verteidigen. Auf der untersten Ebene befindet sich schließlich der Nähr-

stand, der für die Befriedigung der elementaren körperlichen Bedürfnisse zur

Lebenserhaltung zuständig ist und alle Stände mit Nahrungsmitteln versorgt.

Hiermit ist deutlich, dass der Körper gegenüber der Seelemit ihren auf Tugend und

Erkenntnis zielenden Vermögen, gleichsam als „notwendiges Übel“ gesehenwird.

In dieser Tradition erscheint der menschliche Körper, so lange er existiert, als Ort

des Leidens und der Leidenschaften, der Sünde und der Unreinheit.

Zum sogenannten Leib-Seele-Problem, das die Erkenntnistheorie bis heute

beschäftigt und das von vielen als unlösbar gehalten wird, spitzt sich die Ver-

hältnisbestimmung von Körperlichem und Geistigem in der Neuzeit zu, nament-

lich mit Descartes. Descartes trennt bekanntlich res extensa und res cogitans und

sieht sie als Substanzen und als die beiden exklusiven ontologischen Bereiche an.

Körper und Seele sind in der cartesianischen Konzeption durch eine organische

Schnittstelle (die Zirbeldrüse) verknüpft und wirken durch diese aufeinander ein.

Der Körper ist dabei insofern relevant, als er der unmittelbarste Gegenstand der

ausgedehnten Welt ist, mit dem die Seele in Berührung steht. Daher ist der eigene

Körper für das Subjekt auch der erste Gegenstand der Erkenntnis. Erst durch den

Platon, Phaidon (s. Anm. ), a.

Philosophie der Verkörperung – Grundlagen und Konzepte 31

Körper hindurch kann die Welt wahrgenommen werden. Und nur mittels des

Körpers kann die Welt von der Seele beeinflusst werden. Der Körper ist deshalb

auch das universale Instrument des Willens und anderer seelischer Aktivitäten.

Über die epistemische und praktisch-instrumentelle Funktion des Körpers

hinaus ist er für Descartes der Ort der Leidenschaften.⁷ Auch der Begriff des cogito

ist, was in der Rezeption des Satzes cogito ergo sum häufig übergangen wird,

entsprechend weit gefasst und beinhaltet perzeptive und kognitive Akte ebenso

wie leiblich fundierte Empfindungen und Wollungen. Der Zweifelsgang, den

Descartes in den Meditationes⁸ beschreitet und der zu diesem cogito als funda-

mentum inconcussum seiner Erkenntnistheorie führt, ist dennoch der Weg eines

Rückzugs aus dem Körperlichen zu den reinen Akten selbstreflexiven Denkens.

Zwar ist die Seele aufs Engstemit dem Körper verbunden, aber dennoch gehört der

Körper der denkenden Substanz nicht an: „Die Seele, das Selbst, das Bewusstsein,

der Geist werden verstanden als eine Beziehung zwischen einem kognitiven

Subjekt und seinen kognitiven Zuständen. Diese kognitiven Zustände erhalten in

der neuzeitlichen Philosophie ganz unterschiedliche Namen wie ‚Idee‘, ‚Vorstel-

lung‘ oder ‚Repräsentation‘.“⁹ Es geht dabei um die Darstellung und Verarbeitung

der externen Welt anhand von internen Strukturen, wobei nach dieser Weltsicht

Objektives und Subjektives als getrennt aufgefasst werden und sich die Frage nach

den Möglichkeiten und Grenzen ihrer Verbindung stellt.

Es ist dieser Dualismus und vor allem der in ihm verankerte Repräsentati-

onsbegriff, der auch den Denkrahmen der klassischen Kognitionswissenschaft

bildet, wie sie Mitte des 20. Jahrhunderts entstand. Gegen diesen Denkrahmen

wenden sich, wie zu zeigen sein wird, die embodied cognitive science und die

neueren Ansätze zur Philosophie der Verkörperung. Doch bereits vor diesen

Auseinandersetzungen entwickelten sich drei moderne philosophische Strö-

mungen, die auf je eigene Weise den Körper bzw. den Leib zum Gegenstand ihrer

Analysen machten und zu einer Überwindung dualistischen Repräsentationalis-

mus beitrugen, nämlich die bereits erwähnte Phänomenologie, der Pragmatismus

und die Philosophische Anthropologie. Einige Kernpunkte dieser Denkrichtungen

sollen deshalb kurz skizziert werden, bevor in die aktuelle Diskussion des em-

bodiment eingeführt wird.

Gewiss wäre es auch interessant, andere Positionen der Philosophiege-

schichte aufzugreifen, was in der aktuellen Debatte kaum geschieht. In der

„Meistererzählung“ über die Entstehung des Embodiment-Ansatzes kommen

Vgl. René Descartes, Les Passions de l’âme (Paris: Vrin, ).

Vgl. René Descartes, Meditationes de prima philosophia, Übers. Christian Wohlers (Hamburg:

Meiner, ).

Fingerhut u.a., „Einleitung“ (s. Anm. ), .

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hauptsächlich Phänomenologie, Pragmatismus und Philosophische Anthropo-

logie vor.Was im Folgenden nicht aufgerollt werden kann,wo es sich aber lohnen

würde, nach Vorläufern des Verkörperungsdenkens zu suchen, sind etwa mate-

rialistische Philosophien, angefangen beim antiken Atomismus, praktische

Klugheitslehren wie bei Aristoteles, christliche und mystische Lehren im Mittel-

alter, der Empirismus in der Neuzeit oder schließlich die Lebensphilosophien von

Nietzsche oder Bergson.¹⁰

3. Philosophische Theorien der Verkörperung

im 20. Jahrhundert

3.1. Phänomenologie

In der Philosophie des 20. Jahrhunderts wurde die Verkörperung zu einem zen-

tralen Themader Phänomenologie,wie sie von EdmundHusserl begründetwurde.

Eines der Hauptanliegen Husserls ist es, in der Erkenntnistheorie gegen eine

ontologische Trennung von subjektivem Bewusstsein und objektiver Außenwelt

zu argumentieren. Mit dem zentralen Begriff der Intentionalität¹¹ will er zeigen,

dass Bewusstsein undWelt konstitutiv aufeinander bezogen sind. Ein Bewusstsein

ohne Inhalt gebe es nicht und die Welt könne als Welt überhaupt nur für ein

Bewusstsein erscheinen. Intentionalität besagt also in der elementarsten For-

mulierung, dass immer „etwas als etwas für jemanden“ erscheint. Diese Ver-

klammerung von Subjektivem und Objektivem wird transzendentalphilosophisch

bei Husserl auch als Apriori der Korrelation¹² bezeichnet.

Den Versuch einer historisch umfassenderen Rekonstruktion des philosophischen Körper-

denkens unternimmt Michela Marzano, Philosophie des Körpers (München: Diederichsen, ).

Die Begriffsentwicklung bei Husserl wird nachgezeichnet von Dan Zahavi, Intentionalität und

Konstitution. Eine Einführung in Husserls Logische Untersuchungen (Kopenhagen: Museum Tus-

culanum, ). Vgl. vertiefend die fundierte Analyse von John Drummond, „The Structure of

Intentionality,“ in The New Husserl: A Critical Reader, Hg. DonnWelton (Bloomington/IN: Indiana

University Press, ): –. Mit Blick auf die Kognitionswissenschaft vgl. Thiemo Breyer,

Attentionalität und Intentionalität. Grundzüge einer phänomenologisch-kognitionswissenschaftli-

chen Theorie der Aufmerksamkeit (Paderborn: Wilhelm Fink, ).

Edmund Husserl, Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie.

Erstes Buch. Allgemeine Einführungen in die reine Phänomenologie, Hg. Karl Schuhmann, Hus-

serliana III (Den Haag: Nijhoff, ), (erster Halbbd.); ders., Die Krisis der europäischen

Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie, Hg.Walter Biemel, Husserliana VI (Den

Haag: Nijhoff, ), .

Philosophie der Verkörperung – Grundlagen und Konzepte 33

Wie aber nimmt das Subjekt auf die Welt Bezug? Es kann dies, wie Husserl

beschreibt, nur als verkörpertes Subjekt, nämlich indem es eine leiblich veran-

kerte Position im Raum hat. Die Perspektivität¹³ dieser Verankerung gilt als

Grundmodus unseres Zur-Welt-Seins: Die Wahrnehmungswelt kann nur durch

Kinästhesen, also gesamtleibliche Bewegungsvollzüge erschlossen werden. Die

Relation von Körper und Kognition wird hier also nicht mehr, wie im Cartesia-

nismus, als instrumental angesehen, sondern als konstitutiv. Ohne Verkörperung

wäre Wahrnehmung schlichtweg nicht möglich. Damit erhält der Leib eine

wichtige Funktion für die Erkenntnis. Anstatt die Erkenntnis zu behindern, wie

etwa bei Platon, macht er eine fundamentale Form der Erkenntnis überhaupt erst

möglich, nämlich die Erkenntnis von Gegenständen.

Husserl geht von einer Doppelaspektivität des Leibkörpers¹⁴ aus, d.h. einer

internen Gliederung nach zwei Dimensionen. Der Leib wird verstanden als ge-

lebter Leib bzw. Empfindungsorgan, mit dem wir Eindrücke aufnehmen und das

als Medium des Weltbezugs fungiert. Der Körper hingegen ist dadurch charakte-

risiert, dass er als materielles Ding in der Welt der Dinge ist, d.h. er hat ein be-

stimmtes Gewicht, unterliegt den Gesetzen der Schwerkraft, belegt eine Position

im geometrischen Raum, etc. Der Körperaspekt ist, mit anderen Worten, der ob-

jektivierbare Teil des Leibkörpers, während der Leibaspekt die erstpersonale Er-

lebnisqualität des Subjekts markiert. Ein beliebtes Beispiel, mit dem der Per-

spektivenwechsel zwischen diesen beiden Dimensionen erläutert wird, ist die

Doppelempfindung in der Selbstberührung. In ihr ist jene Reflexivität des Ei-

genleibes verankert, die MauriceMerleau-Ponty zur Ausarbeitung seines Konzepts

der Zwischenleiblichkeit¹⁵ motiviert. Dieses Konzept ist für den Begriff einer ver-

körperten Intersubjektivität zentral.

3.2. Pragmatismus

Als Gründungsfiguren des amerikanischen Pragmatismus gelten gemeinhin

Charles S. Peirce,William James und John Dewey.¹⁶ Ein wichtiger Grundgedanke

Husserl, Krisis (s. Anm. ), .

Vgl. Edmund Husserl, Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philo-

sophie. Zweites Buch. Phänomenologische Untersuchungen zur Konstitution, Hg. Marly Biemel,

Husserliana IV (Den Haag: Nijhoff, ),.

Maurice Merleau-Ponty, „Der Philosoph und sein Schatten,“ in ders., Zeichen (Hamburg:

Meiner, ), .

Zur Einführung in deren pragmatistisches Denken vgl. Thomas Burke,What Pragmatism Was

(Bloomington/IN: Indiana University Press, ).

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dieser Autoren ist, dass alle Erkenntnisprozesse immer auch einen experimen-

tellen Charakter haben, d.h. dass Wissen nicht rein kontemplativ erlangt wird,

sondern durch das Umgehen mit Gegenständen und Begriffen. Die Gegenstände

der Erkenntnis „liegen nicht einfach vor, sondern sie werden von Lebewesen, die

Probleme zu lösen haben oder Wissen erlangen wollen, gestaltet, erprobt, ver-

ändert und angepasst. Ein Erkenntnisobjekt ist also ein praktischer Gegen-

stand.“¹⁷

Begriffe und Gedanken sind so gesehen unmittelbar mit Verhalten und

Handeln verknüpft. Der Pragmatismus betont daher – wie in der phänomenolo-

gischen Tradition übrigens Martin Heidegger – den Vorrang des praktischen

Wissens-wie (knowing how) vor dem theoretischen Wissen-dass (knowing that).¹⁸

Das praktische Wissen bildet den impliziten Hintergrund (tacit knowledge),¹⁹ von

dem her wir die Welt verstehen und unsere Interaktion mit ihr jeweils situieren.

Der Pragmatismus geht davon aus, dass Konzepte sich überhaupt erst aus dem

praktischen, problemorientierten und leiblich gekonnten Umgangmit der Umwelt

entwickeln.

Damit wird der Repräsentationalismus gleichsam auf den Kopf gestellt, der

behauptet,wir hätten zunächst interne Zustände, die dann unser Handeln lenken.

Indem der Organismus mit der Umwelt, die nicht als vorgegeben und passiv re-

zipiert, sondern als aktiv mitgestaltet konzipiert wird, interagiert,werden zugleich

auch seine Begriffe aktualisiert und auf ihre Ermöglichungscharakteristik im

Hinblick auf eine sinnvolle Fortführung der Interaktion erprobt. Hierdurch ergibt

sich eine Rückkopplung, diemaßgeblich für die HerausbildungundModifizierung

mentaler Zustände ist. Für die aktuelle Forschungsrichtung des Enaktivismus

spielt dieser primäre gestaltkreishafte Interaktionszusammenhang von Organis-

mus und Umwelt eine zentrale Rolle. An den Pragmatismus schließen überdies

Ansätze an, die den Begriff der Artikulation ins Zentrum ihrer Überlegungen

stellen, wie gleich noch gezeigt werden soll.

3.3. Philosophische Anthropologie

Die Philosophische Anthropologie bietet zahlreiche Einsichten in die biologisch

fundierte Organisation des Lebewesens Mensch, von denen hier – am Beispiel

der Ausdruckstheorie Helmuth Plessners – nur einige wenige zur Illustration

Fingerhut u.a., „Einleitung“ (s. Anm. ), .

Vgl. zu dieser Differenzierung Jeremy Fantl, „Knowing-How and Knowing-That,“ Philosophy

Compass (), –.

Vgl. Michael Polanyi, The Tacit Dimension (London: Routledge, ).

Philosophie der Verkörperung – Grundlagen und Konzepte 35

herausgegriffen werden, die besonders markant Strukturmerkmale in eine phi-

losophische Begrifflichkeit bringen. Plessners Bestimmung der menschlichen

Expressivität ist besonders aufschlussreich für eine Konzeptualisierung der Ver-

körperung und insbesondere für die Dimension der verkörperten Intersubjekti-

vität.²⁰ So argumentiert er im Bereich sozial-kognitiver Leistungen etwa gegen

Analogieschlusslehren, denen gemäß man zunächst die Körpererscheinung des

Anderen wahrnimmt, von der ausgehend man dann per Inferenz zu seinen in-

tentionalen Zuständen vordringt. Plessner betont dagegen die psychophysische

Indifferenz, die sich besonders sinnfällig bei der Wahrnehmung von Ausdrucks-

erscheinungen zeigt. Hierbei werden die inneren Zustände wie Emotionen, An-

triebe, Wünsche und dergleichen in unmittelbarer Weise am immer schon als

lebendigen Leib erfahrenen Anderen miterlebt. Die Angst ist in den aufgerissenen

Augen gegeben, die Freude im Lachen, die Trauer imWeinen usw. Der psychische

Zustand „befindet“ sich nirgendwo hinter der Bühne des leiblichen Ausdrucks,

sondern hat in ihm seinen genuinen Ort. So schreibt Plessner: „Bei der Annahme

der Existenz anderer Iche handelt es sich nicht um Übertragung der eigenen

Daseinsweise, in welcher der Mensch für sich lebt, auf andere ihm nur körperhaft

gegebene Dinge, also um eine Ausdehnung des personalen Seinskreises, sondern

um eine Einengung und Beschränkung dieses ursprünglich eben gerade nicht

lokalisierten und seiner Lokalisierung Widerstände entgegensetzenden Seins-

kreises auf die ‚Menschen‘.“²¹

Als auch empirisch nachweisbare Evidenz für diesen Sachverhalt verweist

Plessner auf die Tendenz des Menschen zur Anthropomorphisierung bzw. attri-

butiven Animierung von unbelebten Objekten. Andere in erster Linie als physische

Gegenstände und erst in zweiter Instanz als belebte und mit psychischen Attri-

buten ausgestattete Wesen aufzufassen, widerspräche nach Plessner dieser na-

türlichen Tendenz. Diese Grundannahme teilt Plessner mit Autoren wie Max

Scheler oder Merleau-Ponty. Sie macht sich an der Gedankenfigur einer ur-

sprünglichen Einheit fest, in der Ich und Du, Selbst und Anderer, verbunden sind

und die sich sekundär in beide Momente aufspaltet, deren Konstitution dadurch

erst ermöglichend. So spricht schon Scheler in seiner bekannten Wendung von

einem „in Hinsicht auf Ich-Du indifferente[n] Strom der Erlebnisse“²², aus dem

sich nach und nach in Zyklen Elemente aussondern, die dann den beteiligten

Individuen zugeordnet werden können. Dieser Gedanke der primären Indifferenz

Vgl. hierzu Thiemo Breyer, „Helmuth Plessner und die Phänomenologie der Intersubjektivi-

tät,“ Bulletin d’analyse phénoménologique () : –.

Helmuth Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch. Einleitung in die philosophische

Anthropologie (Darmstadt: WBG, ), .

Max Scheler, Wesen und Formen der Sympathie (Bonn: Bouvier, ), .

36 Thiemo Breyer

verbindet – freilich mit unterschiedlicher Akzentsetzung – die Philosophische

Anthropologie mit Ansätzen aus dem Pragmatismus (vorgängige Interaktions-

einheit Organismus-Umwelt) und der Phänomenologie (vorgängige Einheit Ich-

Du).

Für Plessner ist die Expressivität in ihrer ganzen Fülle konkreter Ausprä-

gungen der Schlüssel zur Intersubjektivität. So zeigt sich etwa die „Unmittel-

barkeit und Unwillkürlichkeit des mimischen Ausdrucks […] an der Unvertret-

barkeit und Unablösbarkeit der Ausdrucksbewegung vom Ausdrucksgehalt.“²³

Was wir wahrnehmen, wenn wir den Anderen in seiner Expressivität wahrneh-

men, ist keine äußerliche Bewegung, kein Verhalten,von dem aus wir irgendeinen

propositionalen Inhalt ableiten müssten, den wir dann seiner Psyche oder seinem

Bewusstsein attribuieren würden. Was wir wahrnehmen, ist die „Einheit des ex-

pressiven Ganzen“²⁴, von der her sich die Aufteilung in Körperbewegung und

intentionalen Gehalt als eine retrospektive Abstraktion erweist.

Anders als bei Symbolen gibt es im Bereich der primären intersubjektiven

Ausdrucksphänomene wie Lachen und Weinen keine arbiträre Verknüpfung von

Zeichen und Bedeutung bzw. Meinendem und Gemeintem – es gibt, mit Plessner

gesprochen, eine „Indifferenz zwischen Inhalt und Form“²⁵. Zwar können der Leib

und seine Bewegungen im Sinne der Artikulation zeichenhaft werden,wie es etwa

bei sozial konventionalisierten Gesten oder in gesteigerter Form bei der Zei-

chensprache der Fall ist, doch enthalten die spontanen Ausdrücke stets einen

irreduziblen Anteil anUnverfügbarkeit und damit ein Zwangsmoment, in dem sich

der Körper in seiner Materialität und Widerständigkeit anzeigt. Dieser Konfron-

tation des Subjekts mit seiner eigenen Fremdheit, die sich primär als körperliche

Unwillkürlichkeit manifestiert, entspricht eine Betrachtungsweise, in der leibli-

cher und körperlicher Aspekt desselben Wesens allererst in ihrem Verhältnis

zueinander erkannt werden können. Gewährleistet wird diese Möglichkeit der

Selbstbezüglichkeit durch eine Reflexion, die für Plessner in der „exzentrischen“

Seinsart des Menschen gründet.

Scheler, Wesen (s. Anm ), .

Ebd.

Scheler, Wesen (s. Anm. ), .

Philosophie der Verkörperung – Grundlagen und Konzepte 37

4. Aktuelle Debatten in Philosophie und

Kognitionswissenschaft

Diemoderne Kognitionswissenschaft versteht sich alsWissenschaft vomMentalen

und vom Wissen. Sie nimmt für sich in Anspruch, alte philosophische Probleme

mit neuen, teils naturwissenschaftlich-experimentellen, teils technischen Me-

thoden (etwa aus der Künstlichen-Intelligenz-Forschung) zu lösen. Sie entwickelte

sich in den 1950er und 1960er Jahren als Gegenbewegung zum Behaviorismus.

Während der Behaviorismus²⁶ bekanntlich nur das messbare Reaktionsverhalten

von Organismen in Korrelation zu ebenfalls messbaren Stimulationsgrößen bei

der Erklärung von Verhalten gelten ließ und kognitive Zwischenprozesse in die

black box verbannte, versuchte der informationstheoretisch anhebende Kogniti-

vismus²⁷ diese wundersame Kiste zu öffnen. Denkern des Kognitivismuswar daran

gelegen, die funktionale Eigenständigkeit einer kognitiven Zwischeninstanz

zwischen sensorischem Input und motorischen Output als genuines wissen-

schaftliches Forschungsfeld zu etablieren und die internen Mechanismen auf ihre

Gesetzmäßigkeiten freizulegen.

Kognition wird dabei aufgefasst als interne Verarbeitung von Repräsenta-

tionen der Außenwelt. Die entscheidenden Schritte geschehen also innerhalb des

kognitiven Systems, zwischen dem passiv empfangenen Außenwelt-Input und

dem aktiv erzeugten Handlungs-Output. Susan Hurley nannte diese Vorstellung

treffend das „Sandwich-Modell“²⁸ der Kognition.

Im Symbolismus²⁹, der den theoretischen Rahmen für kognitive Modellie-

rungen seit dem Beginn der computationalen Kognitionswissenschaft darstellt,

bedeutet Wissen die Menge von systeminternen Inhalten und ist zweifach defi-

niert, einmal als Zustand und einmal als Prozess. Als Zustand entspricht es einer

Datenstruktur, als Prozess entspricht es algorithmischen Verrechnungen. Insofern

eine solche Formalisierbarkeit besteht, geht die Kognitionswissenschaft davon

Einen historischen Überblick über diese Strömung bietet John Mills, Control: A History of

Behavioral Psychology (New York: New York University Press, ).

Vgl. zur Situierung im geistesgeschichtlichen Kontext und als Einführung Brendan Wallace

u.a., Hgg., The Mind, the Body and the World: Psychology After Cognitivism (Exeter: Imprint

Academic, ).

Susan Hurley, Consciousness in Action (Cambridge/MA: Harvard University Press, ), :

„The mind is a kind of sandwich, and cognition is the filling“.

Vgl. als theoretischeGrundlage des Symbolismus die Physical Symbol SystemsHypothesis von

Alan Newell/Herbert Simon, „Computer Science as Empirical Inquiry: Symbols and Search,“

Communications of the ACM / (): –.

38 Thiemo Breyer

aus, dass Wissen prinzipiell auf unterschiedlichen physischen Systemen imple-

mentiert sein kann, ohne sich dabei wesentlich zu verändern – auf einem Com-

puter, in einem Gehirn, oder einem anderen materiellen Träger. Man spricht hier

auch von multipler Realisierbarkeit.³⁰ Kognitive Zustände werden einzig mit Blick

auf ihre kausalen Rollen für das Verhalten und ihre formalen Strukturen unter-

sucht. Eine beliebte Gedankenfigur eines solchen Funktionalismus ist die Analo-

gisierung von Gehirn undHardware auf der einen Seite und Geist und Software auf

der anderen. Die Eigenständigkeit der kognitiven Sphäre ist in dieser Vorstellung

dadurch begründet, dass eine noch so genaue Kenntnis der Hardware bei einem

Computer nicht ausreicht, um Probleme auf der Software-Ebene zu lösen, z.B.

wenn ein Programm abstürzt. Hierfür bedarf es nicht der Halbleiterphysik, son-

dern einer Programmiersprache. Ebenso verhalte es sich nun auch zwischen

Physis und Psyche. Auch eine noch so genaue Kenntnis der Neuronenaktivität im

Gehirn erkläre nicht die kognitiven Prozesse – und hierfür will die Kognitions-

wissenschaft mit ihren Algorithmen eben die „Programmiersprache“ liefern.

Dass die Computertheorie des Geistes zu formalistisch und nicht angemessen

zur Beschreibung dessen ist, was im Menschen als biologischem Organismus

vorgeht, betonte etwas später der Konnektionismus.³¹ Theoretiker dieses ur-

sprünglich kybernetischen Ansatzes versuchen, die Informationsverarbeitung im

Gehirn insofern nachzubilden, als elementare Funktionseinheiten miteinander in

einer Netzwerkstruktur aus mehreren Schichten verknüpft werden. Ein Sandwich-

Modell liegt prinzipiell auch hier zugrunde, da es eine Input-Schicht aus künst-

lichen Neuronen gibt, die eingehende Informationen an Zwischenschichten

weiterleiten, in denen die eigentliche „Verrechnung“ anhand von Gewichtungen

und statistischem Lernen erfolgt. Die hieraus resultierenden, mehr oder weniger

geordneten Reizmuster werden dann an eine Output-Schicht weitergegeben, die

das „Ergebnis“ des Verarbeitungsprozesses erkennbar macht. Wissen ist in kon-

nektionistischen Systemen als Muster der Aktivierung von Knoten repräsentiert.

Immer wenn ein hinreichend ähnliches Informationsmuster im Netzwerk erzeugt

wird, kann man vom Aufrufen eines bestimmten Wissensinhalts sprechen.

Vgl. Jaegwon Kim, „Multiple Realization and the Metaphysics of Reduction,“ Philosophy and

Phenomenological Research (): –; Elliott Sober, „The Multiple Realizability Argument

Against Reductionism,“ Philosophy of Science (): –.

Das Standardwerk dieses Modellierungsparadigmas sind die beiden Bände von David Ru-

melhart u.a., Parallel Distributed Processing: Explorations in the Microstructure of Cognition

(Cambridge/MA: MIT Press, ). Für den Bereich der Sprachverarbeitung war besonders ein-

flussreich die Ausarbeitung von David Touretzky, Connectionist Approaches to Language Learning

(Dordrecht: Kluwer, ).

Philosophie der Verkörperung – Grundlagen und Konzepte 39

Dass aber auch eine solche Beschreibung zu abstrakt ist und es nicht erlaubt,

die mannigfaltigen Beziehungen, in denen ein biologisches System mit seinen

unterschiedlichen Kontexten steht, betont seit den 1990er Jahren die sogenannte

„verkörperte Kognitionswissenschaft“ (embodied cognitive science). Dieser neue

Forschungsansatz empfing wichtige Impulse aus der immer bedeutsamer wer-

denden kognitiven Neurowissenschaft, der Theorie der dynamischen Systeme

sowie der biologischen Modelle von Autopoiesis und Emergenz.³² Im Folgenden

werden die theoretischen Grundannahmen rekonstruiert, die sich aus den un-

terschiedlichen wissenschaftlichen wie philosophischen Positionen heraus de-

stillieren lassen.

5. Das Paradigma der 4E Cognition

Als Sammelbezeichnung für die unterschiedlichen Ansätze der Philosophie der

Verkörperung hat sich in den letzten Jahren der Begriff 4E Cognition eingebür-

gert.³³ Die vier Dimensionen dieses Konzept sollen nun vorgestellt werden,

nämlich (1.) embodied, (2.) extended, (3.) embedded und (4.) enactive.

5.1. Embodied (verkörpert):

Die These der Verkörperung des Geistigen bildet die allgemeine Überzeugung aller

Ansätze und liegt den anderen drei Es zugrunde. Um extended, embedded und

enactive sein zu können, muss der Geist notwendigerweise verkörpert sein. Was

Verkörperung aber im Speziellen meint, wird durch einen Vergleich mit dem

Funktionalismus der Kognitionswissenschaft deutlich. Dieser geht, wie bereits

erwähnt,von einer extremen Körperneutralität kognitiver Zustände aus, die durch

die Annahme begründet wird, kognitive Zustände seien computationale Zustände

Vorbild und kontinuierlicher Bezugspunkt diesesDenkens ist das Standardwerk von Francisco

Varela u.a., The Embodied Mind: Cognitive Science and Human Experience (Cambridge/MA: MIT

Press, ). Der Gedanke der Autopoiesis wird unter anderem von Paul Bourgine/John Stewart,

„Autopoiesis and Cognition,“ Artificial Life (): –, weiterentwickelt. Als Überblick

über die philosophischen und wissenschaftstheoretischen Grundlagen des Emergenzbegriffs vgl.

Achim Stephan, Emergenz: Von der Unvorhersagbarkeit zur Selbstorganisation (Dresden: Dresden

University Press, ).

Als Bündelung unterschiedlicher zunächst verstreuter Konzeptualisierungen der vier Di-

mensionen dieses Ansatzes und zugleich als Einführung vgl. RichardMenary, „Introduction to the

special issue on E Cognition,“ Phenomenology and the Cognitive Sciences (): –.

40 Thiemo Breyer

und als solche auf unterschiedlichen materiellen Trägern implementierbar. Mit

dieser Annahme einer multiplen Realisierbarkeit ist eine „Trennbarkeitsthese“³⁴ in

Bezug auf Körper und Geist verbunden. Ein menschlicher Geist könne demnach

prinzipiell – wie jeder überhaupt vorstellbare Geist – in ganz unterschiedlich

gearteten Körpern wohnen. Vertreter des Verkörperungsparadigmas gehen dem-

gegenüber von einer „Einschränkungsthese“³⁵ aus, die besagt, dass kognitive Zu-

stände wesentlich dadurch geprägt sind,wie der Körper beschaffen ist, in dem sie

stattfinden. Sie berufen sich auf Erkenntnisse aus der Robotik ebenso wie der

Biologie, um diese Position zu stärken. In der Robotik zeigt sich, dass selbst mi-

nimale Veränderungen in der materiellen Beschaffenheit komplexer künstlicher

Agenten deren Verhalten und Ausführungsleistungen bei Problemlösungsaufga-

ben drastisch verändern. Mechanik und Kognition scheinen hier aufs engste

verknüpft zu sein. Noch komplizierter wird es, wenn man den Begriff des Lebens

hinzunimmt. Bei Organismen sind nämlich die Ausführungsorgane, also die

materielle Basis kognitiver Prozesse, selbst lebendig und richten den Organismus

auf lebenserhaltende Bezüge zur Umwelt aus.³⁶ Ohne ein Verständnis dieser

biologischen Vorgänge – so argumentieren Vertreter der Verkörperungsthese –

sind auch höhere geistige Leistungen nicht angemessen zu verstehen.

5.2. Extended (ausgedehnt):

Ausgedehntheit des Geistes bedeutet, dass geistige Prozesse nicht zwischen

Sensorik und Motorik „eingeklemmt“ sind (vgl. Sandwich-Modell), sondern in

diese hineinreichen. Dass die Sinnesorgane dabei keine passiven Rezeptoren für

Einflüsse aus der Außenwelt, sondern selbst „geistige Organe“ sind, zeigt sich

unter anderem daran, dass sie durch kognitive Faktoren geformt werden. So hört

beispielsweise das durch intellektuelle musikalische Schulung vorbereitete Ohr

eines Dirigenten bei einem Konzert mehr und anderes als das Ohr eines unmu-

sikalischen Laien. Das Mentale sedimentiert sich gleichsam im Sinnlichen und

prägt die Weltwahrnehmung entscheidend mit, indem bestimmte Faktoren aus-

geblendet und andere hervorgehoben werden.Was wir hören und sehen hängt –

einfach gesprochen – wesentlich auch davon ab, was wir wissen.

Fingerhut u.a., „Einleitung“ (s. Anm. ), .

Ebd.

Vgl. hierzu Michael Wheeler, „Minds, Things, and Materiality,“ in The Cognitive Life of Things:

Recasting the Boundaries of the Mind, Hgg. Lambros Malafouris/Colin Renfrew (Cambridge:

Cambridge University Press, ): –.

Philosophie der Verkörperung – Grundlagen und Konzepte 41

Der Begriff des extended mind reicht aber über die Sinne noch hinaus und

bezeichnet die Funktion gesamtleiblicher und räumlicher Faktoren in der Kog-

nition. Ein beliebtes Beispiel dafür,wie sich das kognitive System in den Umraum

hinaus verlagert und sich diesen zunutzemacht, ist der instrumentelle Einsatz von

Hilfsmitteln, etwa beim Rechnen. Eine komplizierte Rechenaufgabe mit mehreren

Schritten können die meisten Menschen nur ausführen, wenn sie nicht alle Teil-

ergebnisse im Kopf behalten müssen, sondern diese auf ein externes Medium wie

eine Tafel oder einen Schreiblock auslagern können. Im Sinne der Ausgedehntheit

des Geistes kann man hier argumentieren, dass diese Hilfsmittel selbst Teil des

kognitiven Systems sind, und zwar deshalb, weil sie konstitutiv sind für den ko-

gnitiven Prozess des Rechnens und nicht bloß unterstützend. Ein anderes Beispiel,

das von David Chalmers und Andy Clark eingebracht wurde,³⁷ ist Otto, ein fiktiver

Alzheimerpatient, der stets ein Notizbuch bei sich trägt, das für ihn wichtige In-

formationen beinhaltet,wie etwa seine Adresse oder Telefonnummer.Otto schlägt

immer dann nach, wenn ihm aufgrund seiner Erkrankung etwas nicht einfällt.

„Diese Notizbucheinträge übernehmen also die Funktion, die bei gesunden

Menschen im Gehirn abgespeicherte Informationen innehaben.Wenn Letztere als

Teil eines mentalen Zustands gelten, warum sollte man Ottos Notizbucheinträge

ausschließen?“³⁸ Der Leib fungiert bei allen solchen Externalisierungen als Uni-

versalmedium oder Vehikel, das wir benötigen, um etwas aufschreiben oder auf

andere Weise fixieren zu können.³⁹

5.3. Embedded (eingebettet):

Eingebettetheit bedeutet, dass kognitive Prozesse von der Umwelt, von einzelnen

Gegenständen und deren Arrangement unterstützt werden. Während Ausge-

dehntheit des Geistigen – wie zuvor gesehen – meint, dass kognitive Prozesse

selbst auf die Umwelt ausgreifen bzw. Elemente der Umwelt konstitutiv für diese

Prozesse sind, bedeutet Eingebettetheit, dass Kognition – egal wie weit sie selbst

reicht – immer in einem Kontext von räumlich, instrumentell und kulturell Mit-

gegebenem stattfindet. Dieses Mitgegebene kann die Kognition in unterschiedli-

Andy Clark/David Chalmers, „The Extended Mind,“ Analysis (): –, ff.

Fingerhut u.a., „Einleitung“ (s. Anm. ), .

Die Ansicht, dass kognitive Systeme räumlich erstreckt sind und unterschiedliche materielle

Träger integrieren können, wird auch als Vehikel-Externalismus bezeichnet. Vgl. Susan Hurley,

„Action, the Unity of Consciousness, and Vehicle Externalism,“ in The Unity of Consciousness:

Binding, Integration, and Dissociation, Hg. Axel Cleeremans (Oxford: Oxford University Press,

): –.

42 Thiemo Breyer

cherWeise beeinflussen undunterstützen, ohne konstitutiv für sie zuwerden.Man

denke beispielsweise an einen Barkeeper, der die unterschiedlichen Bestandteile

seiner Cocktails hinter dem Tresen so anordnet, dass er die Abläufe beim Mixen

möglichst effizient gestalten kann. Die individuell gewählte Anordnung von

Spirituosen, Sirup, Früchten und Eis macht ihm einen schnellen und gezielten

Zugriff möglich.

Ein anderes Beispiel, das die sinnhafte Strukturierung der Umwelt deutlich

macht, sind kollektiv verständliche Verweisungen im öffentlichen Raum,wie etwa

durch Straßenschilder. Die kognitive Aufgabe der Orientierung in einer Stadt wird

durch sie deutlich erleichtert. Ihre Anordnung hängt dabei nicht wie beim Bar-

keeper von individuellen Präferenzen ab, sondern wird von einer allgemeinen

Instanz so geregelt, dass möglichst alle Individuen sie verstehen und nutzen

können.⁴⁰

Zwei Ebenen der Einbettung des Geistigen sind also zu unterscheiden,

nämlich die individuelle zur Perfektionierung instrumenteller Bezüge zur direkten

Umwelt einerseits und die kollektive zur Koordinierung von Individuen und zur

sinnhaften Strukturierung des öffentlichen Raumes andererseits. Der Mensch

nimmt seine Umwelt nicht nur als sinnhaft wahr und geht auf ihre Affordanz-

struktur ein,⁴¹ sondern er formt auch seine Umwelt in einer Weise, die ihm den

kognitiven Zugang zu ihr wiederum erleichtert. Daher spricht Markus Wild im

Anschluss an Kim Sterelny vom Menschen auch als einem „epistemischen Ni-

schenbauer“.⁴²

5.4. Enactive (enaktiv bzw. hervorbringend):

Dass der Geist enaktiv ist, bedeutet, „dass dermenschliche Organismus seineWelt

aktivgestaltend hervorbringt [enacts] und sie nicht nur passiv wahrnimmt oder auf

Vgl. zu diesen Beispielen auch Fingerhut u.a., „Einleitung“ (s. Anm. ), ff.

Der Begriff der Affordanzenwurde von James Gibson (ders., The Ecological Approach to Visual

Perception [Boston: Houghton, ]) geprägt und bezeichnet den Charakter des Angebots oder

der Aufforderung, die von Gegenständen ausgehen und auf die das Subjekt bzw. der Akteur

entsprechend eingehen kann. Ein Stuhl besitzt für den Menschen beispielsweise den Aufforde-

rungscharakter einer „Sitzgelegenheit“ – für einen anders gearteten Organismus, wie etwa eine

Ameise oder auch einen Elefanten, hätte der Stuhl nicht dieselbe Signifikanz. Affordanzen sind

also nicht als unabhängige objektive Gegebenheiten zu verstehen, sondern in Relation zur phy-

sischen, behavioralen und kognitiven Struktur des jeweiligen auf sie reagierenden Organismus.

MarkusWild, Tierphilosophie zur Einführung (Hamburg: Meiner, ), .Vgl. Kim Sterelny,

Thought in a Hostile World: The Evolution of Human Cognition (Oxford: Oxford University Press,

), ff.

Philosophie der Verkörperung – Grundlagen und Konzepte 43

sie als etwas von ihm Getrenntes einwirkt. Ein Organismus repräsentiert nicht, er

interagiert.“⁴³ Der Enaktivismus erhielt Anfang der 1990er Jahremit dem Buch The

Embodied Mind von Francisco Varela, Evan Thompson und Eleanor Rosch eine

wegweisende Ausarbeitung und wird seither von Autoren wie Thompson⁴⁴ und

Alva Noë⁴⁵ und anderen weiterentwickelt. Zwei Hauptthesen sind für den Enak-

tivismus maßgeblich, nämlich erstens die Notwendigkeit einer strukturellen

Kopplung von Organismus und Umwelt als Grundlage der Kognition und zweitens

die Abhängigkeit derWahrnehmungund Erfahrung von der Aktivität des Subjekts.

Die erste These hat einen evolutionstheoretischen Hintergrund und sieht die

Artentwicklung nicht als Prozess der Anpassung des Organismus an eine vorge-

gebene und gleichsam statische Umwelt, sondern als kreative Beeinflussung der

Umwelt durch den Organismus, wodurch neue Umweltmerkmale erst entstehen,

die für den Organismus weiterhin relevant sind. Der Grad an Adaptivität wird

dabei mitbestimmt durch die kognitiven Fähigkeiten des Organismus. Je flexibler

dieser mit der Umwelt interagieren kann, desto mehr Einfluss hat er auf die Ge-

staltung seiner eigenen evolutionären Nische.

Die zweite These besagt, dass Wahrnehmung kein passives Empfangen von

Reizen ist, sondern eine gesamtkörperliche Fertigkeit, die gelernt sein will.⁴⁶ Wie

auch die Phänomenologie betont, wäre eine Wahrnehmung der Welt bzw. ein-

zelner Gegenstände nicht möglich, wenn der Körper völlig statisch in einer Po-

sition verharrte. Die Objekte der Wahrnehmung konstituieren sich in kinästheti-

schen Vollzügen, durch die sich mehrere Perspektiven erschließen. So kann das

Subjekt einen Gegenstand in der Hand drehen oder um ihn herumgehen, und erst

so zeigt sich dieser als im vollen Sinne räumlich. Die gekonnte Aktivität des

leiblichen Subjekts in solchen Wahrnehmungsvollzügen nennen Autoren wie

Kevin O’Regan und Noë die Beherrschung „sensomotorischer Kontingenzen“.⁴⁷

Das Subjekt benötigt also ein Wissen, wie das Wahrgenommene und die eigene

Selbstbewegungmiteinander korrelieren, um einen spezifischen Eindruck von der

Fingerhut u.a., „Einleitung“ (s. Anm. ), .

Vgl. Evan Thompson, Mind in Life: Biology, Phenomenology, and the Sciences of Mind (Cam-

bridge/MA: Harvard University Press, ).

Alva Noë, Action in Perception (Cambridge/MA: MIT Press, ); ders., Varieties of Presence

(Cambridge/MA: Harvard University Press, ).

Hubert Dreyfus beschreibt die leiblichen Fertigkeiten im Anschluss an Heidegger als „non-

conceptual embodied coping skills“ (Hubert Dreyfus, „Overcoming the Myth of the Mental: How

Philosophers Can Profit from the Phenomenology of Everyday Expertise,“ Proceedings and Ad-

dresses of the American Philosophical Association []: –, ).

Kevin O’Regan/Alva Noë, „A Sensorimotor Account of Vision and Visual Consciousness,“

Behavioral and Brain Sciences (): –, .

44 Thiemo Breyer

Welt zu erzeugen. Dieses Wissen entwickelt sich ontogenetisch in permanentem

Kontakt und in Interaktion mit der Umwelt.

6. Der Begriff der Artikulation

Das im Pragmatismus begründete und in enaktiven Konzeptionen weiterentwi-

ckelte interaktionistische Denken findet derzeit auch auf produktive Weise Ein-

gang in Forschungsvorhaben im Bereich der interdisziplinären Anthropologie.

Eines der Hauptanliegen ist es dabei, eine nicht-dualistische und zugleich nicht-

reduktionistische Sichtweise auf das Lebewesen Mensch zu erarbeiten.⁴⁸ Ein

vielversprechendes Konzept, das Autoren wie Matthias Jung in seiner Anthropo-

logie des Ausdrucks im Anschluss an die genannten pragmatistischen Positionen

aktualisiert, ist in diesem Zusammenhang das der Artikulation. Artikulation be-

zeichnet Jung zufolge

„die anthropologisch basale Tatsache, dass Menschen ihre Lebensvollzüge für sich und

andere verständlich machen, indem sie erlebte Qualitäten und motorische Impulse artiku-

lieren, sie also in gegliederte Handlungsabläufe und syntaktisch strukturierte Symbolketten

transformieren. Bei diesem Geschehen setzen die bedeutungsfestlegende Gliederung der

Gedanken wie die Bestimmung der Handlungsintention stets, und hierin liegt die antidua-

listische Pointe, eine physische Gliederung der Bewegungen voraus, ohne die sie nicht

möglich wären – ob es sich nun um die Verkettung von Lautfolgen, Schriftzeichen, moto-

rischen Aktivitäten usw. handelt. Wenn Menschen sich artikulieren, erzeugen sie sinnhafte

Strukturen, indem sie jeweils bestimmte physische – in den basalen Formen physiologische –

Muster realisieren: Der Gedanke bedarf des materiell realisierten Zeichens.“⁴⁹

Sinnlichkeit und Sinnhaftigkeit sind so aufeinander bezogen, dass ein Sinn sich

immer nur als artikulierter Sinn überhaupt erschließt.

Analytisch lassen sich, wie Stefan Niklas gezeigt hat, mindestens fünf Di-

mensionen des Artikulationsbegriffs unterscheiden, nämlich (1.) Verkörperung,

(2.) Gliederung, (3.) Explikation, (4.) Prägnanzbildung und (5.) Auseinanderset-

zung.⁵⁰

Vgl. Thiemo Breyer/Gregor Etzelmüller/Thomas Fuchs/Grit Schwarzkopf, Hgg., Interdiszipli-

näre Anthropologie: Leib – Geist – Kultur (Heidelberg: Winter, ).

Matthias Jung, Der bewusste Ausdruck. Anthropologie der Artikulation (Berlin/New York: de

Gruyter, ), f.

Vgl. hierzu Stefan Niklas, „Ein etwas rabiater Versuch, den Begriff der Artikulation zu arti-

kulieren,“ in Formen der Artikulation. Philosophische Beiträge zu einem kulturwissenschaftlichen

Grundbegriff, Hgg. ders./Martin Roussel (Paderborn: Wilhelm Fink, ): –, .

Philosophie der Verkörperung – Grundlagen und Konzepte 45

6.1. Verkörperung:

Wie bei der Erörterung der vier Dimensionen, die das Konzept der 4E Cognition

konstituieren, ist es auch mit Blick auf den Artikulationsbegriff geboten, Verkör-

perung mehr als Oberbegriff bzw. Sammelthese zu verstehen. Alle anderen Di-

mensionen der Artikulation sind ohne Verkörpertheit des Artikulierend-Artiku-

lierten nicht zu denken. Dennoch kann abstraktiv auf das Merkmal der

Verkörperung eigens eingegangen werden, wie auch im Kontext von 4E Cognition

das embodiment eigens thematisiert wird.

Der Verkörperungsbegriff hat dann zwei wesentliche Funktionen, und zwar

einmal, auf nicht-metaphorische Weise zu bestimmen, was mit „Gliederung“

gemeint ist, und einmal, den Zusammenhang von Sinnlichkeit und Sinnhaftigkeit

auf den Punkt zu bringen. Über die Wortherkunft vom lateinischen articulus

(Gelenk) und etwaige „nur“ metaphorische Verwendungen hinaus bezeichnet

Artikulation konkret die Notwendigkeit einer spezifischen materiellen Struktur.

Nur ein Wesen mit Gliedern kann selbst etwas gliedern und damit einen Sinn

artikulieren. „Das ist“,wie Stefan Niklas zurecht bemerkt, „zunächst völlig trivial,

insofern jeder Ausdruck (jede menschliche Expression) immer ein körperlicher

Akt ist. Gesten, Mimik, Sprechen, Schreiben, Singen, Malen und überhaupt

Handeln sind – was immer sie noch bedeuten mögen – zunächst einmal kör-

perliche Vollzüge.“⁵¹ Doch der Artikulationsbegriff hat eine radikalere Stoßrich-

tung, die darauf zielt, zu zeigen, dass alles, was überhaupt Sinn und Bedeutung

haben kann, dies nur insofern kann, als es physisch realisiert und strukturiert ist.

Artikuliertheit ist demnach der Titel für Sinnhaftigkeit überhaupt, oder anders-

herum: Jeder Sinn muss in der einen oder anderen Weise als verkörperter Sinn

vorliegen und nur so kann er – von einem ebenfalls notwendigerweise verkör-

perten Wesen wie dem Menschen – verstanden werden.

6.2. Gliederung:

Dem Wortsinn nach meint Artikulation Gliederung, und zwar ganz konkret die

Gegliedertheit der Körperteile, „deren Gelenkigkeit erst die Strukturierung von

Handlungen erlaubt.“⁵² Schon auf somatischer Ebene lässt sich in dieser Hinsicht

eine Strukturiertheit des Lebendigen feststellen, von der aus erst die semantische

Gliederung sprachlicher Artikulationen verständlich wird und sich zugleich in

Niklas, „Ein etwas rabiater Versuch“ (s. Anm. ), .

Jung, Der bewusste Ausdruck (s. Anm. ), .

46 Thiemo Breyer

einen natürlichen Zusammenhang der menschlichen Organisationsform stellen

lässt. Der gegliederte Körper setzt als fungierender Leib seine Glieder ein, um sich

selbst in eine expressive Stellung zu bringen und damit aussagekräftig zu werden.

Andererseits werden die Glieder dazu instrumentalisiert, externes Material zu

gliedern und damit die Umwelt konkret zu modifizieren. Man denke an die ein-

fachen leiblichen Gesten, die immer auch raumgreifend und somit raumbildend

sind, oder an die Herstellung sinntragender Artefakte, bis hin zur Einschreibung

komplexer Bewusstseinsinhalte und semantischer Gehalte in externe Medien.

Artikulation impliziert stets eine dynamische Potenz, sei es als Beweglichkeit

von Gliedern an Gelenkstellen, wo die Bewegung des einen Glieds in die des

anderen übersetzt wird, oder sei es als zeitlicher Prozess der Gestaltwerdung von

zunächst Ungegliedertem. Zum einen ist dasjenige artikuliert, was selbst Glieder

besitzt. Zum anderen wird etwas zu einem Artikulierten, indem es von etwas

anderem strukturiert wird, das selbst hierzu ein Artikuliertes sein muss.Wenn der

Mensch etwa einenmateriellen Sinnträger in bestimmterWeise formt, kann er ihm

durch den Einsatz seiner eigenen Glieder in instrumenteller Hinsicht eine Glie-

derung verleihen, die dieser Träger selbst zuvor nicht hatte und die eventuell

überhaupt nur durch diesen artikulierenden Zugriff entstehen kann.⁵³

6.3. Explikation:

Wenn etwas artikuliert wird, so entspricht dies keiner creatio ex nihilo, sondern

einer ausdrücklichen Strukturierung von etwas, das in vorstrukturierter Weise

bereits in der Erfahrung irgendwie zugänglich war. In der Artikulation wird, mit

anderen Worten, etwas expliziert, das als Implizites schon vorhanden war. Die

unterschiedlichsten Beispiele könnten hier gegeben werden: „Aussagen expli-

zieren Gedachtes, Handlungen explizieren die Möglichkeiten des Verhaltens,

Experimente explizieren Naturgesetze […], die psychoanalytische Selbsterfor-

schung expliziert das Un- oder Unterbewusste, politische Aktionen explizieren

kollektive oder individuelle (moralische) Bedürfnisse, Uhren […] machen den

Zeitverlauf explizit, Riten explizieren symbolische Ordnungen“⁵⁴ und so weiter.

Vgl. zu diesem gestalterischen Aspekt der Artikulation Wilhelm Dilthey, „Leben und Erken-

nen,“ in Grundlegung der Wissenschaften vom Menschen, der Gesellschaft und der Geschichte.

Ausarbeitungen und Entwürfe zum zweiten Band der Einleitung in die Geisteswissenschaften

(ca. –), Hgg. Helmut Johach/Frithjof Rodi, Gesammelte Schriften XIX (Göttingen:

Vandenhoeck & Ruprecht, ), ff.

Niklas, „Ein etwas rabiater Versuch“ (s. Anm. ), .

Philosophie der Verkörperung – Grundlagen und Konzepte 47

In der wissenschaftlichen und philosophischen Explikation von Sachver-

halten nimmt die Artikulation häufig die Gestalt einer Analyse an, also einer

Auseinanderlegung der konstitutiven Elemente, die dasjenige gliedern,was zuvor

als unthematische Sinnganzheit fungiert hat. Doch auch die alltägliche Erfahrung

ist geprägt von Explikationsverfahren, die besonders dort eine wichtige Rolle für

unseren praktischen Umgang mit den Dingen haben, wo etwas aus dem funk-

tionalen Sinnganzen herausfällt. Man erinnere sich an Heideggers Beispiel des

Hammers,⁵⁵ der eingebettet ist in den Sinn- und Zeugzusammenhang des Hand-

werkens und den wir – sofern wir einigermaßen geübte Handwerker sind – zu-

sammen mit Nägeln, Brettern und anderen Utensilien und mit unserem Leib in

einer impliziten Weise verwenden. Erst wenn der Vollzug des Hämmerns gestört

wird – etwa dadurch, dass wir uns aus Versehen auf den Finger klopfen oder sich

der Hammer als zu leicht oder zu schwer für eine bestimmte Aufgabe erweist –,

werden der Hammer und unser Bezug zu ihm selbst thematisch. In solchen Si-

tuationen des gebrochenen Sinnzusammenhangs explizieren wir, was zuvor im-

plizit und operativ war, nämlich unsere Handlungen ebenso wie die Instrumente,

derer sie sich bedient haben. Analytisch und artikulierend ist dieser reflexiv

konstituierte neue Bezug zumVerweisungsganzen der Situation deshalb,weil sich

einzelne Elemente aus ihr herauslösen, die für sich genommen bedeutsamwerden

können.

6.4. Prägnanzbildung:

Mit dem letztgenannten Punkt verbindet sich das an Ernst Cassirers Erkenntnis-

theorie anschließende Konzept der Prägnanzbildung, das im Kern besagt, dass

alles, was wir sinnlich wahrnehmen, nicht einfach eine Kollektion von in sich

sinnfreien Teilen ist, sondern immer als mit Sinn „imprägniert“ erscheint. Die

Gegenstände der Wahrnehmung verweisen aufeinander und konstituieren einen

Zusammenhang von sinnlicher Anschauung und nicht-sinnlichem Sinn, der ge-

rade in der Verweisung besteht. Die Wahrnehmung selbst ist als Erfahrungs-

struktur gegliedert und lässt die Welt nicht als Chaos von Eindrücken oder sen-

suellen Daten erscheinen, sondern als nach bestimmten Gesetzmäßigkeiten

strukturiert. Cassirer fasst diese Artikuliertheit der Wahrnehmung, die zu

sprachlichen Artikulationen Anlass geben kann, mit dem Begriff der „symboli-

Vgl. Martin Heidegger, Sein und Zeit (Tübingen: Niemeyer, ), f.

48 Thiemo Breyer

schen Prägnanz“⁵⁶. In der lebendigen Wahrnehmung hat man es diesem Ge-

danken zufolge mit einer vorgängigen Einheit von leiblichen und geistigen Di-

mensionen zu tun, die erst dann auseinander treten,wennman sich reflexiv auf sie

einstellt.

Zur Prägnanz eines Objektes gehört hierbei nicht nur die situationale Ver-

wiesenheit auf andere Objekte, die – wie im Fall von Hammer, Nagel und Brettern

– einen sinnvollen Handlungskontext ausmachen. Vielmehr geht es bei der

symbolischen Prägnanz von Objekten um ihre Einbettung in Relevanzstrukturen,

die individuell, sozial und kulturell geprägt sind. Ein Artefakt aus einer längst

vergangenen Kultur mag für den Archäologen eine ganze Reihe von Assoziationen

auslösen,während es bei einem unbedarften Laien nur Verwunderung hervorruft.

Zwei weitere Beispiele wurden oben schon genannt, nämlich die individuelle

Anordnung relevanter Gegenstände für einen Tätigkeitsbereich (Barkeeper) und

die kollektive Anordnung von Indikatoren in der Öffentlichkeit (Straßenschilder).

6.5. Auseinandersetzung:

Artikulation bedeutet schließlich auchAuseinandersetzung,und zwar zunächst in

einem sehr wörtlichen Sinne „als der Prozess, der ein von der Welt geschiedenes

Ich erst hervorbringt,was umgekehrt bedeutet, dass auch überhaupt erst eineWelt

hervortritt, die mit mir nicht mehr identisch ist.“⁵⁷ Die im Pragmatismus zugrunde

gelegte primäre Interaktionseinheit von Organismus und Umwelt wird hierbei

aufgebrochen. Indem die Artikulation etwas gliedert, was zuvor einheitlich und

ungegliedert, wenngleich in potentieller Gliederbarkeit und Vorstrukturiertheit,

gegeben war, erzeugt sie eine interne Differenz bzw. lässt den Unterschied zwi-

schen Unartikuliertem und Artikuliertem erkennen. Die Voraussetzung, dass

beide Interaktionselemente eine gewisse Eigenständigkeit gewinnen und analy-

tisch getrennt werden können, ist eine Distanz des Organismus zur Umwelt bzw.

ein Heraustreten-Können aus der vorgängigen Einheit. Hiermit ist gemeint, was

vorhin unter dem Stichwort der reflektierenden Explikation angesprochen wurde.

In einem zweiten Sinne meint Auseinandersetzung, auf der Grundlage dieser

Distanzierungsfähigkeit, sodann das aktive Sich-Einlassen und -Einstellen auf die

Welt und mithin auf die Anderen. Wer sich mit etwas auseinandersetzt, lässt es

nicht beim ersten Anblick bewenden, sondern vertieft die Wahrnehmung nach

Ernst Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen. Dritter Teil. Phänomenologie der Er-

kenntnis, Philosophische Bibliothek (Hamburg: Meiner, ), .

Niklas, „Ein etwas rabiater Versuch“ (s. Anm. ), .

Philosophie der Verkörperung – Grundlagen und Konzepte 49

unterschiedlichen Richtungen und Perspektiven, um ein umfassenderes Ver-

ständnis der Sache zu erlangen. In der sozialen Auseinandersetzung kommt es

überdies darauf an, dass man so verständlich wie möglich seine eigene Position

darstellt, was wiederum ein Artikulationsvorgang ist, der leibliche und sprachli-

che Fähigkeiten erfordert.

7. Schlussbemerkung

Dieses Kapitel war dem Versuch gewidmet, den vielgestaltigen Verkörperungs-

diskurs der Philosophie im Hinblick auf relevante Anknüpfungspunkte für eine

interdisziplinäre Anthropologie nach unterschiedlichen Dimensionen zu gliedern

und deren Überschneidungen mit historischen Positionen anzudeuten. Es han-

delte sich also um einen Artikulationsversuch, der durch schematische Explika-

tion einige Aspekte besonders hervorhebt, um damit zugleich auch ihre implizite

Verwiesenheit zur Geltung zu bringen. Hierüber hinaus wäre es eine für die ak-

tuellen Diskussionen bedeutsame Bestrebung, die zunächst lediglich nebenein-

ander gestellten Ansätze zur 4E Cognition und zum Begriff der Artikulation auf

einem interdisziplinären Terrain zusammenzuführen und die Bezüge ihrer je-

weiligen vier bzw. fünf Aspekte näher zu beleuchten. Ein solcher Vergleich wäre

nicht nur zur Erschließung des deskriptiven Reichtums der thematisierten Phä-

nomene von Interesse, sondern auch wissenschaftsgeschichtlich und methodo-

logisch relevant, um die Traditionen der analytischen Philosophie des Geistes und

der Kognitionswissenschaft (4E Cognition) einerseits mit der sogenannten „kon-

tinentalen“ Philosophie und insbesondere ihren kulturphilosophischen Ausprä-

gungen (Artikulation) andererseits in einen Dialog zu versetzen.

50 Thiemo Breyer