Philosophie der Verkörperung - Grundlagen und Konzepte (2015)
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Thiemo Breyer
Philosophie der Verkörperung – Grundlagenund Konzepte
1. Einleitung
In den Diskussionen der Philosophie des Geistes und der Kognitionswissen-
schaften hat das Konzept der Verkörperung bzw. des embodiment in den ver-
gangenen zwei Jahrzehnten zu einer tiefgreifenden Wende geführt. Mit den
Forschungen zur verkörperten Kognition wurde das vorherrschende Symbolver-
arbeitungsparadigmaund der Repräsentationalismus in der Theorie desMentalen
einer grundlegenden Revision unterworfen.Während die Ansätze der klassischen
Kognitionswissenschaft von in sich abgeschlossenen informationsverarbeitenden
Systemen ausgingen, in denen sensorischer Input und motorischer Output mit
angeborenen oder erworbenen Algorithmen verrechnet werden, betont der Ver-
körperungsansatz die Rolle der peripheren leiblichen Verarbeitung sowie die
Eingebettetheit des kognitiven Systems in eine ökologische und soziale Umwelt.
Kritisiert wurde im Zuge dessen auch der naturalistische Reduktionismus in
der Neurowissenschaft und Neurophilosophie. Nicht mehr das Gehirn wurde nun
als genuiner Ort der Kognition oder des Geistigen thematisiert, sondern der ganze
Organismus in seiner Beziehung zur Umwelt und seiner Angelegtheit auf inter-
subjektive Kommunikation. Damit verbundenwar auch ein vermehrter Rückbezug
auf drei wichtige Denkrichtungen des 20. Jahrhunderts, nämlich auf die Phäno-
menologie, den Pragmatismus und die Philosophische Anthropologie.
In diesem einführenden Beitrag soll nun zunächst der Verkörperungsgedanke
kurz historisch situiert werden. In einem zweiten Schritt werden einige zentrale
Grundmotive der drei genannten philosophischen Richtungen erläutert und in
einem dritten Schritt dann der aktuelle Verkörperungsdiskurs skizziert. Dabei
werden das Paradigma der 4E Cognition und der Begriff der Artikulation thema-
tisiert.
Breyer, T. (2015). Philosophie der Verkörperung – Grundlagen und Konzepte. In: G. Etzelmüller, A. Weissenrieder (eds.), Verkörperung als Paradigma der theologischen Anthropologie. Berlin/Boston: de Gruyter, 29–50.
2. Historische Situierung
Die Herausgeber des 2013 erschienenen Bandes Philosophie der Verkörperung¹, der
zentrale Texte der angloamerikanischen Debatte der letzten 20 Jahre zu diesem
Thema erstmals in deutscher Sprache zugänglich macht, diagnostizieren in ihrer
Einführung eine weitreichende „Körpervergessenheit und teilweise sogar Kör-
perverachtung“² in der philosophischen Tradition. In der Tat zeigt ein Blick auf die
abendländische Geistesgeschichte, dass der Körper in der theoretischen wie
praktischen Philosophie häufig negativ bewertet wurde. In epistemologischer
Hinsicht wurde argumentiert, die Sinnesvermögen erlaubten nur eine unklare und
ungenaue Wahrnehmung der Dinge und somit eine verzerrte Sicht der Wirklich-
keit. In ethischer Hinsicht wurde der Körper als Sitz der Triebe und Leidenschaften
häufig als Widersacher des Intellekts dargestellt, der das rationale Streben nach
dem wahrhaft Guten und Rechten erschwert. Man denke als hervorstechendes
Beispiel an die platonische Lehre vom Körper als Grab bzw. Gefängnis der Seele
und als Hindernis auf demWeg zuwahremWissen.WahresWissen bezieht sich für
Platon auf das unvergänglich Ideale und solche Erkenntnis wird von der Seele
erlangt, die ihrerseits unvergänglich ist.
Im Dialog Gorgias beispielsweise versucht Sokrates, den Sophisten Kallikles
davon zu überzeugen, dass es tugendhaft sei, seine leiblichen Bedürfnisse zu
kontrollieren und dass diejenigen die Glücklichsten seien, die nicht bedürftig im
Sinne körperlicher Lust- und Triebbefriedigung sind. In diesem Zusammenhang
wird ein orphisch-pythagoreisch überlieferterMythos zitiert, in dem der Körper als
Grab der Seele dargestellt wird.³
Im Phaidon lesen wir, die Seele sei „gebunden im Leibe und ihm anklebend
und gezwungen, wie durch ein Gitter durch ihn das Sein zu betrachten“⁴. Die
Philosophie nun, „indem sie die Gewalt dieses Kerkers erkennt“, versucht die
Seele „zu erlösen, indem sie zeigt, daß alle Betrachtung durch die Augen voll
Betrug ist, voll Betrug auch die durch die Ohren und die übrigen Sinne“.⁵ Die
Joerg Fingerhut/Rebekka Hufendiek/Markus Wild, Hgg., Philosophie der Verkörperung.
Grundlagentexte zu einer aktuellen Debatte, stw (Berlin: Suhrkamp, ).
Joerg Fingerhut/Rebekka Hufendiek/Markus Wild, „Einleitung,“ in Philosophie der Verkörpe-
rung. Grundlagentexte zu einer aktuellen Debatte, Hgg. dies., stw (Berlin: Suhrkamp, ):
–, .
Platon, Georgias (ders., Werke in acht Bänden. Zweiter Band [Darmstadt: WBG, ]: –
), a.
Platon, Phaidon (ders., Werke in acht Bänden. Dritter Band [Darmstadt: WBG, ]: –),
e.
Platon, Phaidon (s. Anm. ), e–a.
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Philosophie soll die Seele überreden, sich von den Sinnen „zurückzuziehen“ und
„sich vielmehr in sich selbst zu sammeln und zusammenzuhalten und nichts
anderem zu glauben als wiederum sich selbst“.⁶ Für Platon ist dementsprechend
ein wesentliches Ziel der Philosophie, sich aus dem Gefängnis des Körpers zu
befreien und die Augen der Seele auf das zu richten, was gänzlich unkörperlich,
ewig und sicher ist. So lässt er Sokrates den Gefährten kurz vor seinem Tod auch
berichten, dass Philosophieren letztlich nichts anderes sei als Sterbenlernen. Der
Philosoph strebt schon während des Lebens nach einer gewissen Trennung von
Körper und Seele,welche Trennung sich dann realiter im Tod ereignet. Indem der
Philosoph nach wahrer Erkenntnis strebt, versucht er, alle körperlichen Faktoren
im Denkprozess auszuschalten, den Körper gleichsam von der Seele abzustreifen.
Auch im platonischen Staatsmodell, das in der Politeia entwickelt wird,
spiegelt sich die Zurückstellung des Körpers gegenüber der Seele wider. Platon
analogisiert dort bekanntermaßen Mensch und Staat und entwickelt eine Hier-
archie aus drei Ebenen, an deren Spitze die Philosophen stehen,die aufgrund ihrer
rationalen Fähigkeiten und der dadurch verbürgten wahren Erkenntnis die Ge-
schicke des Staates lenken sollen. Auf der mittleren Ebene ist der Wehrstand
angesiedelt, der aus Wächtern und Soldaten besteht, die darauf trainiert werden,
ihre Körper und Leidenschaften zu kontrollieren und die Tugenden der Tapferkeit,
des Gehorsams und der Mäßigung auszubilden, um das Staatswesen zu schützen
und zu verteidigen. Auf der untersten Ebene befindet sich schließlich der Nähr-
stand, der für die Befriedigung der elementaren körperlichen Bedürfnisse zur
Lebenserhaltung zuständig ist und alle Stände mit Nahrungsmitteln versorgt.
Hiermit ist deutlich, dass der Körper gegenüber der Seelemit ihren auf Tugend und
Erkenntnis zielenden Vermögen, gleichsam als „notwendiges Übel“ gesehenwird.
In dieser Tradition erscheint der menschliche Körper, so lange er existiert, als Ort
des Leidens und der Leidenschaften, der Sünde und der Unreinheit.
Zum sogenannten Leib-Seele-Problem, das die Erkenntnistheorie bis heute
beschäftigt und das von vielen als unlösbar gehalten wird, spitzt sich die Ver-
hältnisbestimmung von Körperlichem und Geistigem in der Neuzeit zu, nament-
lich mit Descartes. Descartes trennt bekanntlich res extensa und res cogitans und
sieht sie als Substanzen und als die beiden exklusiven ontologischen Bereiche an.
Körper und Seele sind in der cartesianischen Konzeption durch eine organische
Schnittstelle (die Zirbeldrüse) verknüpft und wirken durch diese aufeinander ein.
Der Körper ist dabei insofern relevant, als er der unmittelbarste Gegenstand der
ausgedehnten Welt ist, mit dem die Seele in Berührung steht. Daher ist der eigene
Körper für das Subjekt auch der erste Gegenstand der Erkenntnis. Erst durch den
Platon, Phaidon (s. Anm. ), a.
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Körper hindurch kann die Welt wahrgenommen werden. Und nur mittels des
Körpers kann die Welt von der Seele beeinflusst werden. Der Körper ist deshalb
auch das universale Instrument des Willens und anderer seelischer Aktivitäten.
Über die epistemische und praktisch-instrumentelle Funktion des Körpers
hinaus ist er für Descartes der Ort der Leidenschaften.⁷ Auch der Begriff des cogito
ist, was in der Rezeption des Satzes cogito ergo sum häufig übergangen wird,
entsprechend weit gefasst und beinhaltet perzeptive und kognitive Akte ebenso
wie leiblich fundierte Empfindungen und Wollungen. Der Zweifelsgang, den
Descartes in den Meditationes⁸ beschreitet und der zu diesem cogito als funda-
mentum inconcussum seiner Erkenntnistheorie führt, ist dennoch der Weg eines
Rückzugs aus dem Körperlichen zu den reinen Akten selbstreflexiven Denkens.
Zwar ist die Seele aufs Engstemit dem Körper verbunden, aber dennoch gehört der
Körper der denkenden Substanz nicht an: „Die Seele, das Selbst, das Bewusstsein,
der Geist werden verstanden als eine Beziehung zwischen einem kognitiven
Subjekt und seinen kognitiven Zuständen. Diese kognitiven Zustände erhalten in
der neuzeitlichen Philosophie ganz unterschiedliche Namen wie ‚Idee‘, ‚Vorstel-
lung‘ oder ‚Repräsentation‘.“⁹ Es geht dabei um die Darstellung und Verarbeitung
der externen Welt anhand von internen Strukturen, wobei nach dieser Weltsicht
Objektives und Subjektives als getrennt aufgefasst werden und sich die Frage nach
den Möglichkeiten und Grenzen ihrer Verbindung stellt.
Es ist dieser Dualismus und vor allem der in ihm verankerte Repräsentati-
onsbegriff, der auch den Denkrahmen der klassischen Kognitionswissenschaft
bildet, wie sie Mitte des 20. Jahrhunderts entstand. Gegen diesen Denkrahmen
wenden sich, wie zu zeigen sein wird, die embodied cognitive science und die
neueren Ansätze zur Philosophie der Verkörperung. Doch bereits vor diesen
Auseinandersetzungen entwickelten sich drei moderne philosophische Strö-
mungen, die auf je eigene Weise den Körper bzw. den Leib zum Gegenstand ihrer
Analysen machten und zu einer Überwindung dualistischen Repräsentationalis-
mus beitrugen, nämlich die bereits erwähnte Phänomenologie, der Pragmatismus
und die Philosophische Anthropologie. Einige Kernpunkte dieser Denkrichtungen
sollen deshalb kurz skizziert werden, bevor in die aktuelle Diskussion des em-
bodiment eingeführt wird.
Gewiss wäre es auch interessant, andere Positionen der Philosophiege-
schichte aufzugreifen, was in der aktuellen Debatte kaum geschieht. In der
„Meistererzählung“ über die Entstehung des Embodiment-Ansatzes kommen
Vgl. René Descartes, Les Passions de l’âme (Paris: Vrin, ).
Vgl. René Descartes, Meditationes de prima philosophia, Übers. Christian Wohlers (Hamburg:
Meiner, ).
Fingerhut u.a., „Einleitung“ (s. Anm. ), .
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hauptsächlich Phänomenologie, Pragmatismus und Philosophische Anthropo-
logie vor.Was im Folgenden nicht aufgerollt werden kann,wo es sich aber lohnen
würde, nach Vorläufern des Verkörperungsdenkens zu suchen, sind etwa mate-
rialistische Philosophien, angefangen beim antiken Atomismus, praktische
Klugheitslehren wie bei Aristoteles, christliche und mystische Lehren im Mittel-
alter, der Empirismus in der Neuzeit oder schließlich die Lebensphilosophien von
Nietzsche oder Bergson.¹⁰
3. Philosophische Theorien der Verkörperung
im 20. Jahrhundert
3.1. Phänomenologie
In der Philosophie des 20. Jahrhunderts wurde die Verkörperung zu einem zen-
tralen Themader Phänomenologie,wie sie von EdmundHusserl begründetwurde.
Eines der Hauptanliegen Husserls ist es, in der Erkenntnistheorie gegen eine
ontologische Trennung von subjektivem Bewusstsein und objektiver Außenwelt
zu argumentieren. Mit dem zentralen Begriff der Intentionalität¹¹ will er zeigen,
dass Bewusstsein undWelt konstitutiv aufeinander bezogen sind. Ein Bewusstsein
ohne Inhalt gebe es nicht und die Welt könne als Welt überhaupt nur für ein
Bewusstsein erscheinen. Intentionalität besagt also in der elementarsten For-
mulierung, dass immer „etwas als etwas für jemanden“ erscheint. Diese Ver-
klammerung von Subjektivem und Objektivem wird transzendentalphilosophisch
bei Husserl auch als Apriori der Korrelation¹² bezeichnet.
Den Versuch einer historisch umfassenderen Rekonstruktion des philosophischen Körper-
denkens unternimmt Michela Marzano, Philosophie des Körpers (München: Diederichsen, ).
Die Begriffsentwicklung bei Husserl wird nachgezeichnet von Dan Zahavi, Intentionalität und
Konstitution. Eine Einführung in Husserls Logische Untersuchungen (Kopenhagen: Museum Tus-
culanum, ). Vgl. vertiefend die fundierte Analyse von John Drummond, „The Structure of
Intentionality,“ in The New Husserl: A Critical Reader, Hg. DonnWelton (Bloomington/IN: Indiana
University Press, ): –. Mit Blick auf die Kognitionswissenschaft vgl. Thiemo Breyer,
Attentionalität und Intentionalität. Grundzüge einer phänomenologisch-kognitionswissenschaftli-
chen Theorie der Aufmerksamkeit (Paderborn: Wilhelm Fink, ).
Edmund Husserl, Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie.
Erstes Buch. Allgemeine Einführungen in die reine Phänomenologie, Hg. Karl Schuhmann, Hus-
serliana III (Den Haag: Nijhoff, ), (erster Halbbd.); ders., Die Krisis der europäischen
Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie, Hg.Walter Biemel, Husserliana VI (Den
Haag: Nijhoff, ), .
Philosophie der Verkörperung – Grundlagen und Konzepte 33
Wie aber nimmt das Subjekt auf die Welt Bezug? Es kann dies, wie Husserl
beschreibt, nur als verkörpertes Subjekt, nämlich indem es eine leiblich veran-
kerte Position im Raum hat. Die Perspektivität¹³ dieser Verankerung gilt als
Grundmodus unseres Zur-Welt-Seins: Die Wahrnehmungswelt kann nur durch
Kinästhesen, also gesamtleibliche Bewegungsvollzüge erschlossen werden. Die
Relation von Körper und Kognition wird hier also nicht mehr, wie im Cartesia-
nismus, als instrumental angesehen, sondern als konstitutiv. Ohne Verkörperung
wäre Wahrnehmung schlichtweg nicht möglich. Damit erhält der Leib eine
wichtige Funktion für die Erkenntnis. Anstatt die Erkenntnis zu behindern, wie
etwa bei Platon, macht er eine fundamentale Form der Erkenntnis überhaupt erst
möglich, nämlich die Erkenntnis von Gegenständen.
Husserl geht von einer Doppelaspektivität des Leibkörpers¹⁴ aus, d.h. einer
internen Gliederung nach zwei Dimensionen. Der Leib wird verstanden als ge-
lebter Leib bzw. Empfindungsorgan, mit dem wir Eindrücke aufnehmen und das
als Medium des Weltbezugs fungiert. Der Körper hingegen ist dadurch charakte-
risiert, dass er als materielles Ding in der Welt der Dinge ist, d.h. er hat ein be-
stimmtes Gewicht, unterliegt den Gesetzen der Schwerkraft, belegt eine Position
im geometrischen Raum, etc. Der Körperaspekt ist, mit anderen Worten, der ob-
jektivierbare Teil des Leibkörpers, während der Leibaspekt die erstpersonale Er-
lebnisqualität des Subjekts markiert. Ein beliebtes Beispiel, mit dem der Per-
spektivenwechsel zwischen diesen beiden Dimensionen erläutert wird, ist die
Doppelempfindung in der Selbstberührung. In ihr ist jene Reflexivität des Ei-
genleibes verankert, die MauriceMerleau-Ponty zur Ausarbeitung seines Konzepts
der Zwischenleiblichkeit¹⁵ motiviert. Dieses Konzept ist für den Begriff einer ver-
körperten Intersubjektivität zentral.
3.2. Pragmatismus
Als Gründungsfiguren des amerikanischen Pragmatismus gelten gemeinhin
Charles S. Peirce,William James und John Dewey.¹⁶ Ein wichtiger Grundgedanke
Husserl, Krisis (s. Anm. ), .
Vgl. Edmund Husserl, Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philo-
sophie. Zweites Buch. Phänomenologische Untersuchungen zur Konstitution, Hg. Marly Biemel,
Husserliana IV (Den Haag: Nijhoff, ),.
Maurice Merleau-Ponty, „Der Philosoph und sein Schatten,“ in ders., Zeichen (Hamburg:
Meiner, ), .
Zur Einführung in deren pragmatistisches Denken vgl. Thomas Burke,What Pragmatism Was
(Bloomington/IN: Indiana University Press, ).
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dieser Autoren ist, dass alle Erkenntnisprozesse immer auch einen experimen-
tellen Charakter haben, d.h. dass Wissen nicht rein kontemplativ erlangt wird,
sondern durch das Umgehen mit Gegenständen und Begriffen. Die Gegenstände
der Erkenntnis „liegen nicht einfach vor, sondern sie werden von Lebewesen, die
Probleme zu lösen haben oder Wissen erlangen wollen, gestaltet, erprobt, ver-
ändert und angepasst. Ein Erkenntnisobjekt ist also ein praktischer Gegen-
stand.“¹⁷
Begriffe und Gedanken sind so gesehen unmittelbar mit Verhalten und
Handeln verknüpft. Der Pragmatismus betont daher – wie in der phänomenolo-
gischen Tradition übrigens Martin Heidegger – den Vorrang des praktischen
Wissens-wie (knowing how) vor dem theoretischen Wissen-dass (knowing that).¹⁸
Das praktische Wissen bildet den impliziten Hintergrund (tacit knowledge),¹⁹ von
dem her wir die Welt verstehen und unsere Interaktion mit ihr jeweils situieren.
Der Pragmatismus geht davon aus, dass Konzepte sich überhaupt erst aus dem
praktischen, problemorientierten und leiblich gekonnten Umgangmit der Umwelt
entwickeln.
Damit wird der Repräsentationalismus gleichsam auf den Kopf gestellt, der
behauptet,wir hätten zunächst interne Zustände, die dann unser Handeln lenken.
Indem der Organismus mit der Umwelt, die nicht als vorgegeben und passiv re-
zipiert, sondern als aktiv mitgestaltet konzipiert wird, interagiert,werden zugleich
auch seine Begriffe aktualisiert und auf ihre Ermöglichungscharakteristik im
Hinblick auf eine sinnvolle Fortführung der Interaktion erprobt. Hierdurch ergibt
sich eine Rückkopplung, diemaßgeblich für die HerausbildungundModifizierung
mentaler Zustände ist. Für die aktuelle Forschungsrichtung des Enaktivismus
spielt dieser primäre gestaltkreishafte Interaktionszusammenhang von Organis-
mus und Umwelt eine zentrale Rolle. An den Pragmatismus schließen überdies
Ansätze an, die den Begriff der Artikulation ins Zentrum ihrer Überlegungen
stellen, wie gleich noch gezeigt werden soll.
3.3. Philosophische Anthropologie
Die Philosophische Anthropologie bietet zahlreiche Einsichten in die biologisch
fundierte Organisation des Lebewesens Mensch, von denen hier – am Beispiel
der Ausdruckstheorie Helmuth Plessners – nur einige wenige zur Illustration
Fingerhut u.a., „Einleitung“ (s. Anm. ), .
Vgl. zu dieser Differenzierung Jeremy Fantl, „Knowing-How and Knowing-That,“ Philosophy
Compass (), –.
Vgl. Michael Polanyi, The Tacit Dimension (London: Routledge, ).
Philosophie der Verkörperung – Grundlagen und Konzepte 35
herausgegriffen werden, die besonders markant Strukturmerkmale in eine phi-
losophische Begrifflichkeit bringen. Plessners Bestimmung der menschlichen
Expressivität ist besonders aufschlussreich für eine Konzeptualisierung der Ver-
körperung und insbesondere für die Dimension der verkörperten Intersubjekti-
vität.²⁰ So argumentiert er im Bereich sozial-kognitiver Leistungen etwa gegen
Analogieschlusslehren, denen gemäß man zunächst die Körpererscheinung des
Anderen wahrnimmt, von der ausgehend man dann per Inferenz zu seinen in-
tentionalen Zuständen vordringt. Plessner betont dagegen die psychophysische
Indifferenz, die sich besonders sinnfällig bei der Wahrnehmung von Ausdrucks-
erscheinungen zeigt. Hierbei werden die inneren Zustände wie Emotionen, An-
triebe, Wünsche und dergleichen in unmittelbarer Weise am immer schon als
lebendigen Leib erfahrenen Anderen miterlebt. Die Angst ist in den aufgerissenen
Augen gegeben, die Freude im Lachen, die Trauer imWeinen usw. Der psychische
Zustand „befindet“ sich nirgendwo hinter der Bühne des leiblichen Ausdrucks,
sondern hat in ihm seinen genuinen Ort. So schreibt Plessner: „Bei der Annahme
der Existenz anderer Iche handelt es sich nicht um Übertragung der eigenen
Daseinsweise, in welcher der Mensch für sich lebt, auf andere ihm nur körperhaft
gegebene Dinge, also um eine Ausdehnung des personalen Seinskreises, sondern
um eine Einengung und Beschränkung dieses ursprünglich eben gerade nicht
lokalisierten und seiner Lokalisierung Widerstände entgegensetzenden Seins-
kreises auf die ‚Menschen‘.“²¹
Als auch empirisch nachweisbare Evidenz für diesen Sachverhalt verweist
Plessner auf die Tendenz des Menschen zur Anthropomorphisierung bzw. attri-
butiven Animierung von unbelebten Objekten. Andere in erster Linie als physische
Gegenstände und erst in zweiter Instanz als belebte und mit psychischen Attri-
buten ausgestattete Wesen aufzufassen, widerspräche nach Plessner dieser na-
türlichen Tendenz. Diese Grundannahme teilt Plessner mit Autoren wie Max
Scheler oder Merleau-Ponty. Sie macht sich an der Gedankenfigur einer ur-
sprünglichen Einheit fest, in der Ich und Du, Selbst und Anderer, verbunden sind
und die sich sekundär in beide Momente aufspaltet, deren Konstitution dadurch
erst ermöglichend. So spricht schon Scheler in seiner bekannten Wendung von
einem „in Hinsicht auf Ich-Du indifferente[n] Strom der Erlebnisse“²², aus dem
sich nach und nach in Zyklen Elemente aussondern, die dann den beteiligten
Individuen zugeordnet werden können. Dieser Gedanke der primären Indifferenz
Vgl. hierzu Thiemo Breyer, „Helmuth Plessner und die Phänomenologie der Intersubjektivi-
tät,“ Bulletin d’analyse phénoménologique () : –.
Helmuth Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch. Einleitung in die philosophische
Anthropologie (Darmstadt: WBG, ), .
Max Scheler, Wesen und Formen der Sympathie (Bonn: Bouvier, ), .
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verbindet – freilich mit unterschiedlicher Akzentsetzung – die Philosophische
Anthropologie mit Ansätzen aus dem Pragmatismus (vorgängige Interaktions-
einheit Organismus-Umwelt) und der Phänomenologie (vorgängige Einheit Ich-
Du).
Für Plessner ist die Expressivität in ihrer ganzen Fülle konkreter Ausprä-
gungen der Schlüssel zur Intersubjektivität. So zeigt sich etwa die „Unmittel-
barkeit und Unwillkürlichkeit des mimischen Ausdrucks […] an der Unvertret-
barkeit und Unablösbarkeit der Ausdrucksbewegung vom Ausdrucksgehalt.“²³
Was wir wahrnehmen, wenn wir den Anderen in seiner Expressivität wahrneh-
men, ist keine äußerliche Bewegung, kein Verhalten,von dem aus wir irgendeinen
propositionalen Inhalt ableiten müssten, den wir dann seiner Psyche oder seinem
Bewusstsein attribuieren würden. Was wir wahrnehmen, ist die „Einheit des ex-
pressiven Ganzen“²⁴, von der her sich die Aufteilung in Körperbewegung und
intentionalen Gehalt als eine retrospektive Abstraktion erweist.
Anders als bei Symbolen gibt es im Bereich der primären intersubjektiven
Ausdrucksphänomene wie Lachen und Weinen keine arbiträre Verknüpfung von
Zeichen und Bedeutung bzw. Meinendem und Gemeintem – es gibt, mit Plessner
gesprochen, eine „Indifferenz zwischen Inhalt und Form“²⁵. Zwar können der Leib
und seine Bewegungen im Sinne der Artikulation zeichenhaft werden,wie es etwa
bei sozial konventionalisierten Gesten oder in gesteigerter Form bei der Zei-
chensprache der Fall ist, doch enthalten die spontanen Ausdrücke stets einen
irreduziblen Anteil anUnverfügbarkeit und damit ein Zwangsmoment, in dem sich
der Körper in seiner Materialität und Widerständigkeit anzeigt. Dieser Konfron-
tation des Subjekts mit seiner eigenen Fremdheit, die sich primär als körperliche
Unwillkürlichkeit manifestiert, entspricht eine Betrachtungsweise, in der leibli-
cher und körperlicher Aspekt desselben Wesens allererst in ihrem Verhältnis
zueinander erkannt werden können. Gewährleistet wird diese Möglichkeit der
Selbstbezüglichkeit durch eine Reflexion, die für Plessner in der „exzentrischen“
Seinsart des Menschen gründet.
Scheler, Wesen (s. Anm ), .
Ebd.
Scheler, Wesen (s. Anm. ), .
Philosophie der Verkörperung – Grundlagen und Konzepte 37
4. Aktuelle Debatten in Philosophie und
Kognitionswissenschaft
Diemoderne Kognitionswissenschaft versteht sich alsWissenschaft vomMentalen
und vom Wissen. Sie nimmt für sich in Anspruch, alte philosophische Probleme
mit neuen, teils naturwissenschaftlich-experimentellen, teils technischen Me-
thoden (etwa aus der Künstlichen-Intelligenz-Forschung) zu lösen. Sie entwickelte
sich in den 1950er und 1960er Jahren als Gegenbewegung zum Behaviorismus.
Während der Behaviorismus²⁶ bekanntlich nur das messbare Reaktionsverhalten
von Organismen in Korrelation zu ebenfalls messbaren Stimulationsgrößen bei
der Erklärung von Verhalten gelten ließ und kognitive Zwischenprozesse in die
black box verbannte, versuchte der informationstheoretisch anhebende Kogniti-
vismus²⁷ diese wundersame Kiste zu öffnen. Denkern des Kognitivismuswar daran
gelegen, die funktionale Eigenständigkeit einer kognitiven Zwischeninstanz
zwischen sensorischem Input und motorischen Output als genuines wissen-
schaftliches Forschungsfeld zu etablieren und die internen Mechanismen auf ihre
Gesetzmäßigkeiten freizulegen.
Kognition wird dabei aufgefasst als interne Verarbeitung von Repräsenta-
tionen der Außenwelt. Die entscheidenden Schritte geschehen also innerhalb des
kognitiven Systems, zwischen dem passiv empfangenen Außenwelt-Input und
dem aktiv erzeugten Handlungs-Output. Susan Hurley nannte diese Vorstellung
treffend das „Sandwich-Modell“²⁸ der Kognition.
Im Symbolismus²⁹, der den theoretischen Rahmen für kognitive Modellie-
rungen seit dem Beginn der computationalen Kognitionswissenschaft darstellt,
bedeutet Wissen die Menge von systeminternen Inhalten und ist zweifach defi-
niert, einmal als Zustand und einmal als Prozess. Als Zustand entspricht es einer
Datenstruktur, als Prozess entspricht es algorithmischen Verrechnungen. Insofern
eine solche Formalisierbarkeit besteht, geht die Kognitionswissenschaft davon
Einen historischen Überblick über diese Strömung bietet John Mills, Control: A History of
Behavioral Psychology (New York: New York University Press, ).
Vgl. zur Situierung im geistesgeschichtlichen Kontext und als Einführung Brendan Wallace
u.a., Hgg., The Mind, the Body and the World: Psychology After Cognitivism (Exeter: Imprint
Academic, ).
Susan Hurley, Consciousness in Action (Cambridge/MA: Harvard University Press, ), :
„The mind is a kind of sandwich, and cognition is the filling“.
Vgl. als theoretischeGrundlage des Symbolismus die Physical Symbol SystemsHypothesis von
Alan Newell/Herbert Simon, „Computer Science as Empirical Inquiry: Symbols and Search,“
Communications of the ACM / (): –.
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aus, dass Wissen prinzipiell auf unterschiedlichen physischen Systemen imple-
mentiert sein kann, ohne sich dabei wesentlich zu verändern – auf einem Com-
puter, in einem Gehirn, oder einem anderen materiellen Träger. Man spricht hier
auch von multipler Realisierbarkeit.³⁰ Kognitive Zustände werden einzig mit Blick
auf ihre kausalen Rollen für das Verhalten und ihre formalen Strukturen unter-
sucht. Eine beliebte Gedankenfigur eines solchen Funktionalismus ist die Analo-
gisierung von Gehirn undHardware auf der einen Seite und Geist und Software auf
der anderen. Die Eigenständigkeit der kognitiven Sphäre ist in dieser Vorstellung
dadurch begründet, dass eine noch so genaue Kenntnis der Hardware bei einem
Computer nicht ausreicht, um Probleme auf der Software-Ebene zu lösen, z.B.
wenn ein Programm abstürzt. Hierfür bedarf es nicht der Halbleiterphysik, son-
dern einer Programmiersprache. Ebenso verhalte es sich nun auch zwischen
Physis und Psyche. Auch eine noch so genaue Kenntnis der Neuronenaktivität im
Gehirn erkläre nicht die kognitiven Prozesse – und hierfür will die Kognitions-
wissenschaft mit ihren Algorithmen eben die „Programmiersprache“ liefern.
Dass die Computertheorie des Geistes zu formalistisch und nicht angemessen
zur Beschreibung dessen ist, was im Menschen als biologischem Organismus
vorgeht, betonte etwas später der Konnektionismus.³¹ Theoretiker dieses ur-
sprünglich kybernetischen Ansatzes versuchen, die Informationsverarbeitung im
Gehirn insofern nachzubilden, als elementare Funktionseinheiten miteinander in
einer Netzwerkstruktur aus mehreren Schichten verknüpft werden. Ein Sandwich-
Modell liegt prinzipiell auch hier zugrunde, da es eine Input-Schicht aus künst-
lichen Neuronen gibt, die eingehende Informationen an Zwischenschichten
weiterleiten, in denen die eigentliche „Verrechnung“ anhand von Gewichtungen
und statistischem Lernen erfolgt. Die hieraus resultierenden, mehr oder weniger
geordneten Reizmuster werden dann an eine Output-Schicht weitergegeben, die
das „Ergebnis“ des Verarbeitungsprozesses erkennbar macht. Wissen ist in kon-
nektionistischen Systemen als Muster der Aktivierung von Knoten repräsentiert.
Immer wenn ein hinreichend ähnliches Informationsmuster im Netzwerk erzeugt
wird, kann man vom Aufrufen eines bestimmten Wissensinhalts sprechen.
Vgl. Jaegwon Kim, „Multiple Realization and the Metaphysics of Reduction,“ Philosophy and
Phenomenological Research (): –; Elliott Sober, „The Multiple Realizability Argument
Against Reductionism,“ Philosophy of Science (): –.
Das Standardwerk dieses Modellierungsparadigmas sind die beiden Bände von David Ru-
melhart u.a., Parallel Distributed Processing: Explorations in the Microstructure of Cognition
(Cambridge/MA: MIT Press, ). Für den Bereich der Sprachverarbeitung war besonders ein-
flussreich die Ausarbeitung von David Touretzky, Connectionist Approaches to Language Learning
(Dordrecht: Kluwer, ).
Philosophie der Verkörperung – Grundlagen und Konzepte 39
Dass aber auch eine solche Beschreibung zu abstrakt ist und es nicht erlaubt,
die mannigfaltigen Beziehungen, in denen ein biologisches System mit seinen
unterschiedlichen Kontexten steht, betont seit den 1990er Jahren die sogenannte
„verkörperte Kognitionswissenschaft“ (embodied cognitive science). Dieser neue
Forschungsansatz empfing wichtige Impulse aus der immer bedeutsamer wer-
denden kognitiven Neurowissenschaft, der Theorie der dynamischen Systeme
sowie der biologischen Modelle von Autopoiesis und Emergenz.³² Im Folgenden
werden die theoretischen Grundannahmen rekonstruiert, die sich aus den un-
terschiedlichen wissenschaftlichen wie philosophischen Positionen heraus de-
stillieren lassen.
5. Das Paradigma der 4E Cognition
Als Sammelbezeichnung für die unterschiedlichen Ansätze der Philosophie der
Verkörperung hat sich in den letzten Jahren der Begriff 4E Cognition eingebür-
gert.³³ Die vier Dimensionen dieses Konzept sollen nun vorgestellt werden,
nämlich (1.) embodied, (2.) extended, (3.) embedded und (4.) enactive.
5.1. Embodied (verkörpert):
Die These der Verkörperung des Geistigen bildet die allgemeine Überzeugung aller
Ansätze und liegt den anderen drei Es zugrunde. Um extended, embedded und
enactive sein zu können, muss der Geist notwendigerweise verkörpert sein. Was
Verkörperung aber im Speziellen meint, wird durch einen Vergleich mit dem
Funktionalismus der Kognitionswissenschaft deutlich. Dieser geht, wie bereits
erwähnt,von einer extremen Körperneutralität kognitiver Zustände aus, die durch
die Annahme begründet wird, kognitive Zustände seien computationale Zustände
Vorbild und kontinuierlicher Bezugspunkt diesesDenkens ist das Standardwerk von Francisco
Varela u.a., The Embodied Mind: Cognitive Science and Human Experience (Cambridge/MA: MIT
Press, ). Der Gedanke der Autopoiesis wird unter anderem von Paul Bourgine/John Stewart,
„Autopoiesis and Cognition,“ Artificial Life (): –, weiterentwickelt. Als Überblick
über die philosophischen und wissenschaftstheoretischen Grundlagen des Emergenzbegriffs vgl.
Achim Stephan, Emergenz: Von der Unvorhersagbarkeit zur Selbstorganisation (Dresden: Dresden
University Press, ).
Als Bündelung unterschiedlicher zunächst verstreuter Konzeptualisierungen der vier Di-
mensionen dieses Ansatzes und zugleich als Einführung vgl. RichardMenary, „Introduction to the
special issue on E Cognition,“ Phenomenology and the Cognitive Sciences (): –.
40 Thiemo Breyer
und als solche auf unterschiedlichen materiellen Trägern implementierbar. Mit
dieser Annahme einer multiplen Realisierbarkeit ist eine „Trennbarkeitsthese“³⁴ in
Bezug auf Körper und Geist verbunden. Ein menschlicher Geist könne demnach
prinzipiell – wie jeder überhaupt vorstellbare Geist – in ganz unterschiedlich
gearteten Körpern wohnen. Vertreter des Verkörperungsparadigmas gehen dem-
gegenüber von einer „Einschränkungsthese“³⁵ aus, die besagt, dass kognitive Zu-
stände wesentlich dadurch geprägt sind,wie der Körper beschaffen ist, in dem sie
stattfinden. Sie berufen sich auf Erkenntnisse aus der Robotik ebenso wie der
Biologie, um diese Position zu stärken. In der Robotik zeigt sich, dass selbst mi-
nimale Veränderungen in der materiellen Beschaffenheit komplexer künstlicher
Agenten deren Verhalten und Ausführungsleistungen bei Problemlösungsaufga-
ben drastisch verändern. Mechanik und Kognition scheinen hier aufs engste
verknüpft zu sein. Noch komplizierter wird es, wenn man den Begriff des Lebens
hinzunimmt. Bei Organismen sind nämlich die Ausführungsorgane, also die
materielle Basis kognitiver Prozesse, selbst lebendig und richten den Organismus
auf lebenserhaltende Bezüge zur Umwelt aus.³⁶ Ohne ein Verständnis dieser
biologischen Vorgänge – so argumentieren Vertreter der Verkörperungsthese –
sind auch höhere geistige Leistungen nicht angemessen zu verstehen.
5.2. Extended (ausgedehnt):
Ausgedehntheit des Geistes bedeutet, dass geistige Prozesse nicht zwischen
Sensorik und Motorik „eingeklemmt“ sind (vgl. Sandwich-Modell), sondern in
diese hineinreichen. Dass die Sinnesorgane dabei keine passiven Rezeptoren für
Einflüsse aus der Außenwelt, sondern selbst „geistige Organe“ sind, zeigt sich
unter anderem daran, dass sie durch kognitive Faktoren geformt werden. So hört
beispielsweise das durch intellektuelle musikalische Schulung vorbereitete Ohr
eines Dirigenten bei einem Konzert mehr und anderes als das Ohr eines unmu-
sikalischen Laien. Das Mentale sedimentiert sich gleichsam im Sinnlichen und
prägt die Weltwahrnehmung entscheidend mit, indem bestimmte Faktoren aus-
geblendet und andere hervorgehoben werden.Was wir hören und sehen hängt –
einfach gesprochen – wesentlich auch davon ab, was wir wissen.
Fingerhut u.a., „Einleitung“ (s. Anm. ), .
Ebd.
Vgl. hierzu Michael Wheeler, „Minds, Things, and Materiality,“ in The Cognitive Life of Things:
Recasting the Boundaries of the Mind, Hgg. Lambros Malafouris/Colin Renfrew (Cambridge:
Cambridge University Press, ): –.
Philosophie der Verkörperung – Grundlagen und Konzepte 41
Der Begriff des extended mind reicht aber über die Sinne noch hinaus und
bezeichnet die Funktion gesamtleiblicher und räumlicher Faktoren in der Kog-
nition. Ein beliebtes Beispiel dafür,wie sich das kognitive System in den Umraum
hinaus verlagert und sich diesen zunutzemacht, ist der instrumentelle Einsatz von
Hilfsmitteln, etwa beim Rechnen. Eine komplizierte Rechenaufgabe mit mehreren
Schritten können die meisten Menschen nur ausführen, wenn sie nicht alle Teil-
ergebnisse im Kopf behalten müssen, sondern diese auf ein externes Medium wie
eine Tafel oder einen Schreiblock auslagern können. Im Sinne der Ausgedehntheit
des Geistes kann man hier argumentieren, dass diese Hilfsmittel selbst Teil des
kognitiven Systems sind, und zwar deshalb, weil sie konstitutiv sind für den ko-
gnitiven Prozess des Rechnens und nicht bloß unterstützend. Ein anderes Beispiel,
das von David Chalmers und Andy Clark eingebracht wurde,³⁷ ist Otto, ein fiktiver
Alzheimerpatient, der stets ein Notizbuch bei sich trägt, das für ihn wichtige In-
formationen beinhaltet,wie etwa seine Adresse oder Telefonnummer.Otto schlägt
immer dann nach, wenn ihm aufgrund seiner Erkrankung etwas nicht einfällt.
„Diese Notizbucheinträge übernehmen also die Funktion, die bei gesunden
Menschen im Gehirn abgespeicherte Informationen innehaben.Wenn Letztere als
Teil eines mentalen Zustands gelten, warum sollte man Ottos Notizbucheinträge
ausschließen?“³⁸ Der Leib fungiert bei allen solchen Externalisierungen als Uni-
versalmedium oder Vehikel, das wir benötigen, um etwas aufschreiben oder auf
andere Weise fixieren zu können.³⁹
5.3. Embedded (eingebettet):
Eingebettetheit bedeutet, dass kognitive Prozesse von der Umwelt, von einzelnen
Gegenständen und deren Arrangement unterstützt werden. Während Ausge-
dehntheit des Geistigen – wie zuvor gesehen – meint, dass kognitive Prozesse
selbst auf die Umwelt ausgreifen bzw. Elemente der Umwelt konstitutiv für diese
Prozesse sind, bedeutet Eingebettetheit, dass Kognition – egal wie weit sie selbst
reicht – immer in einem Kontext von räumlich, instrumentell und kulturell Mit-
gegebenem stattfindet. Dieses Mitgegebene kann die Kognition in unterschiedli-
Andy Clark/David Chalmers, „The Extended Mind,“ Analysis (): –, ff.
Fingerhut u.a., „Einleitung“ (s. Anm. ), .
Die Ansicht, dass kognitive Systeme räumlich erstreckt sind und unterschiedliche materielle
Träger integrieren können, wird auch als Vehikel-Externalismus bezeichnet. Vgl. Susan Hurley,
„Action, the Unity of Consciousness, and Vehicle Externalism,“ in The Unity of Consciousness:
Binding, Integration, and Dissociation, Hg. Axel Cleeremans (Oxford: Oxford University Press,
): –.
42 Thiemo Breyer
cherWeise beeinflussen undunterstützen, ohne konstitutiv für sie zuwerden.Man
denke beispielsweise an einen Barkeeper, der die unterschiedlichen Bestandteile
seiner Cocktails hinter dem Tresen so anordnet, dass er die Abläufe beim Mixen
möglichst effizient gestalten kann. Die individuell gewählte Anordnung von
Spirituosen, Sirup, Früchten und Eis macht ihm einen schnellen und gezielten
Zugriff möglich.
Ein anderes Beispiel, das die sinnhafte Strukturierung der Umwelt deutlich
macht, sind kollektiv verständliche Verweisungen im öffentlichen Raum,wie etwa
durch Straßenschilder. Die kognitive Aufgabe der Orientierung in einer Stadt wird
durch sie deutlich erleichtert. Ihre Anordnung hängt dabei nicht wie beim Bar-
keeper von individuellen Präferenzen ab, sondern wird von einer allgemeinen
Instanz so geregelt, dass möglichst alle Individuen sie verstehen und nutzen
können.⁴⁰
Zwei Ebenen der Einbettung des Geistigen sind also zu unterscheiden,
nämlich die individuelle zur Perfektionierung instrumenteller Bezüge zur direkten
Umwelt einerseits und die kollektive zur Koordinierung von Individuen und zur
sinnhaften Strukturierung des öffentlichen Raumes andererseits. Der Mensch
nimmt seine Umwelt nicht nur als sinnhaft wahr und geht auf ihre Affordanz-
struktur ein,⁴¹ sondern er formt auch seine Umwelt in einer Weise, die ihm den
kognitiven Zugang zu ihr wiederum erleichtert. Daher spricht Markus Wild im
Anschluss an Kim Sterelny vom Menschen auch als einem „epistemischen Ni-
schenbauer“.⁴²
5.4. Enactive (enaktiv bzw. hervorbringend):
Dass der Geist enaktiv ist, bedeutet, „dass dermenschliche Organismus seineWelt
aktivgestaltend hervorbringt [enacts] und sie nicht nur passiv wahrnimmt oder auf
Vgl. zu diesen Beispielen auch Fingerhut u.a., „Einleitung“ (s. Anm. ), ff.
Der Begriff der Affordanzenwurde von James Gibson (ders., The Ecological Approach to Visual
Perception [Boston: Houghton, ]) geprägt und bezeichnet den Charakter des Angebots oder
der Aufforderung, die von Gegenständen ausgehen und auf die das Subjekt bzw. der Akteur
entsprechend eingehen kann. Ein Stuhl besitzt für den Menschen beispielsweise den Aufforde-
rungscharakter einer „Sitzgelegenheit“ – für einen anders gearteten Organismus, wie etwa eine
Ameise oder auch einen Elefanten, hätte der Stuhl nicht dieselbe Signifikanz. Affordanzen sind
also nicht als unabhängige objektive Gegebenheiten zu verstehen, sondern in Relation zur phy-
sischen, behavioralen und kognitiven Struktur des jeweiligen auf sie reagierenden Organismus.
MarkusWild, Tierphilosophie zur Einführung (Hamburg: Meiner, ), .Vgl. Kim Sterelny,
Thought in a Hostile World: The Evolution of Human Cognition (Oxford: Oxford University Press,
), ff.
Philosophie der Verkörperung – Grundlagen und Konzepte 43
sie als etwas von ihm Getrenntes einwirkt. Ein Organismus repräsentiert nicht, er
interagiert.“⁴³ Der Enaktivismus erhielt Anfang der 1990er Jahremit dem Buch The
Embodied Mind von Francisco Varela, Evan Thompson und Eleanor Rosch eine
wegweisende Ausarbeitung und wird seither von Autoren wie Thompson⁴⁴ und
Alva Noë⁴⁵ und anderen weiterentwickelt. Zwei Hauptthesen sind für den Enak-
tivismus maßgeblich, nämlich erstens die Notwendigkeit einer strukturellen
Kopplung von Organismus und Umwelt als Grundlage der Kognition und zweitens
die Abhängigkeit derWahrnehmungund Erfahrung von der Aktivität des Subjekts.
Die erste These hat einen evolutionstheoretischen Hintergrund und sieht die
Artentwicklung nicht als Prozess der Anpassung des Organismus an eine vorge-
gebene und gleichsam statische Umwelt, sondern als kreative Beeinflussung der
Umwelt durch den Organismus, wodurch neue Umweltmerkmale erst entstehen,
die für den Organismus weiterhin relevant sind. Der Grad an Adaptivität wird
dabei mitbestimmt durch die kognitiven Fähigkeiten des Organismus. Je flexibler
dieser mit der Umwelt interagieren kann, desto mehr Einfluss hat er auf die Ge-
staltung seiner eigenen evolutionären Nische.
Die zweite These besagt, dass Wahrnehmung kein passives Empfangen von
Reizen ist, sondern eine gesamtkörperliche Fertigkeit, die gelernt sein will.⁴⁶ Wie
auch die Phänomenologie betont, wäre eine Wahrnehmung der Welt bzw. ein-
zelner Gegenstände nicht möglich, wenn der Körper völlig statisch in einer Po-
sition verharrte. Die Objekte der Wahrnehmung konstituieren sich in kinästheti-
schen Vollzügen, durch die sich mehrere Perspektiven erschließen. So kann das
Subjekt einen Gegenstand in der Hand drehen oder um ihn herumgehen, und erst
so zeigt sich dieser als im vollen Sinne räumlich. Die gekonnte Aktivität des
leiblichen Subjekts in solchen Wahrnehmungsvollzügen nennen Autoren wie
Kevin O’Regan und Noë die Beherrschung „sensomotorischer Kontingenzen“.⁴⁷
Das Subjekt benötigt also ein Wissen, wie das Wahrgenommene und die eigene
Selbstbewegungmiteinander korrelieren, um einen spezifischen Eindruck von der
Fingerhut u.a., „Einleitung“ (s. Anm. ), .
Vgl. Evan Thompson, Mind in Life: Biology, Phenomenology, and the Sciences of Mind (Cam-
bridge/MA: Harvard University Press, ).
Alva Noë, Action in Perception (Cambridge/MA: MIT Press, ); ders., Varieties of Presence
(Cambridge/MA: Harvard University Press, ).
Hubert Dreyfus beschreibt die leiblichen Fertigkeiten im Anschluss an Heidegger als „non-
conceptual embodied coping skills“ (Hubert Dreyfus, „Overcoming the Myth of the Mental: How
Philosophers Can Profit from the Phenomenology of Everyday Expertise,“ Proceedings and Ad-
dresses of the American Philosophical Association []: –, ).
Kevin O’Regan/Alva Noë, „A Sensorimotor Account of Vision and Visual Consciousness,“
Behavioral and Brain Sciences (): –, .
44 Thiemo Breyer
Welt zu erzeugen. Dieses Wissen entwickelt sich ontogenetisch in permanentem
Kontakt und in Interaktion mit der Umwelt.
6. Der Begriff der Artikulation
Das im Pragmatismus begründete und in enaktiven Konzeptionen weiterentwi-
ckelte interaktionistische Denken findet derzeit auch auf produktive Weise Ein-
gang in Forschungsvorhaben im Bereich der interdisziplinären Anthropologie.
Eines der Hauptanliegen ist es dabei, eine nicht-dualistische und zugleich nicht-
reduktionistische Sichtweise auf das Lebewesen Mensch zu erarbeiten.⁴⁸ Ein
vielversprechendes Konzept, das Autoren wie Matthias Jung in seiner Anthropo-
logie des Ausdrucks im Anschluss an die genannten pragmatistischen Positionen
aktualisiert, ist in diesem Zusammenhang das der Artikulation. Artikulation be-
zeichnet Jung zufolge
„die anthropologisch basale Tatsache, dass Menschen ihre Lebensvollzüge für sich und
andere verständlich machen, indem sie erlebte Qualitäten und motorische Impulse artiku-
lieren, sie also in gegliederte Handlungsabläufe und syntaktisch strukturierte Symbolketten
transformieren. Bei diesem Geschehen setzen die bedeutungsfestlegende Gliederung der
Gedanken wie die Bestimmung der Handlungsintention stets, und hierin liegt die antidua-
listische Pointe, eine physische Gliederung der Bewegungen voraus, ohne die sie nicht
möglich wären – ob es sich nun um die Verkettung von Lautfolgen, Schriftzeichen, moto-
rischen Aktivitäten usw. handelt. Wenn Menschen sich artikulieren, erzeugen sie sinnhafte
Strukturen, indem sie jeweils bestimmte physische – in den basalen Formen physiologische –
Muster realisieren: Der Gedanke bedarf des materiell realisierten Zeichens.“⁴⁹
Sinnlichkeit und Sinnhaftigkeit sind so aufeinander bezogen, dass ein Sinn sich
immer nur als artikulierter Sinn überhaupt erschließt.
Analytisch lassen sich, wie Stefan Niklas gezeigt hat, mindestens fünf Di-
mensionen des Artikulationsbegriffs unterscheiden, nämlich (1.) Verkörperung,
(2.) Gliederung, (3.) Explikation, (4.) Prägnanzbildung und (5.) Auseinanderset-
zung.⁵⁰
Vgl. Thiemo Breyer/Gregor Etzelmüller/Thomas Fuchs/Grit Schwarzkopf, Hgg., Interdiszipli-
näre Anthropologie: Leib – Geist – Kultur (Heidelberg: Winter, ).
Matthias Jung, Der bewusste Ausdruck. Anthropologie der Artikulation (Berlin/New York: de
Gruyter, ), f.
Vgl. hierzu Stefan Niklas, „Ein etwas rabiater Versuch, den Begriff der Artikulation zu arti-
kulieren,“ in Formen der Artikulation. Philosophische Beiträge zu einem kulturwissenschaftlichen
Grundbegriff, Hgg. ders./Martin Roussel (Paderborn: Wilhelm Fink, ): –, .
Philosophie der Verkörperung – Grundlagen und Konzepte 45
6.1. Verkörperung:
Wie bei der Erörterung der vier Dimensionen, die das Konzept der 4E Cognition
konstituieren, ist es auch mit Blick auf den Artikulationsbegriff geboten, Verkör-
perung mehr als Oberbegriff bzw. Sammelthese zu verstehen. Alle anderen Di-
mensionen der Artikulation sind ohne Verkörpertheit des Artikulierend-Artiku-
lierten nicht zu denken. Dennoch kann abstraktiv auf das Merkmal der
Verkörperung eigens eingegangen werden, wie auch im Kontext von 4E Cognition
das embodiment eigens thematisiert wird.
Der Verkörperungsbegriff hat dann zwei wesentliche Funktionen, und zwar
einmal, auf nicht-metaphorische Weise zu bestimmen, was mit „Gliederung“
gemeint ist, und einmal, den Zusammenhang von Sinnlichkeit und Sinnhaftigkeit
auf den Punkt zu bringen. Über die Wortherkunft vom lateinischen articulus
(Gelenk) und etwaige „nur“ metaphorische Verwendungen hinaus bezeichnet
Artikulation konkret die Notwendigkeit einer spezifischen materiellen Struktur.
Nur ein Wesen mit Gliedern kann selbst etwas gliedern und damit einen Sinn
artikulieren. „Das ist“,wie Stefan Niklas zurecht bemerkt, „zunächst völlig trivial,
insofern jeder Ausdruck (jede menschliche Expression) immer ein körperlicher
Akt ist. Gesten, Mimik, Sprechen, Schreiben, Singen, Malen und überhaupt
Handeln sind – was immer sie noch bedeuten mögen – zunächst einmal kör-
perliche Vollzüge.“⁵¹ Doch der Artikulationsbegriff hat eine radikalere Stoßrich-
tung, die darauf zielt, zu zeigen, dass alles, was überhaupt Sinn und Bedeutung
haben kann, dies nur insofern kann, als es physisch realisiert und strukturiert ist.
Artikuliertheit ist demnach der Titel für Sinnhaftigkeit überhaupt, oder anders-
herum: Jeder Sinn muss in der einen oder anderen Weise als verkörperter Sinn
vorliegen und nur so kann er – von einem ebenfalls notwendigerweise verkör-
perten Wesen wie dem Menschen – verstanden werden.
6.2. Gliederung:
Dem Wortsinn nach meint Artikulation Gliederung, und zwar ganz konkret die
Gegliedertheit der Körperteile, „deren Gelenkigkeit erst die Strukturierung von
Handlungen erlaubt.“⁵² Schon auf somatischer Ebene lässt sich in dieser Hinsicht
eine Strukturiertheit des Lebendigen feststellen, von der aus erst die semantische
Gliederung sprachlicher Artikulationen verständlich wird und sich zugleich in
Niklas, „Ein etwas rabiater Versuch“ (s. Anm. ), .
Jung, Der bewusste Ausdruck (s. Anm. ), .
46 Thiemo Breyer
einen natürlichen Zusammenhang der menschlichen Organisationsform stellen
lässt. Der gegliederte Körper setzt als fungierender Leib seine Glieder ein, um sich
selbst in eine expressive Stellung zu bringen und damit aussagekräftig zu werden.
Andererseits werden die Glieder dazu instrumentalisiert, externes Material zu
gliedern und damit die Umwelt konkret zu modifizieren. Man denke an die ein-
fachen leiblichen Gesten, die immer auch raumgreifend und somit raumbildend
sind, oder an die Herstellung sinntragender Artefakte, bis hin zur Einschreibung
komplexer Bewusstseinsinhalte und semantischer Gehalte in externe Medien.
Artikulation impliziert stets eine dynamische Potenz, sei es als Beweglichkeit
von Gliedern an Gelenkstellen, wo die Bewegung des einen Glieds in die des
anderen übersetzt wird, oder sei es als zeitlicher Prozess der Gestaltwerdung von
zunächst Ungegliedertem. Zum einen ist dasjenige artikuliert, was selbst Glieder
besitzt. Zum anderen wird etwas zu einem Artikulierten, indem es von etwas
anderem strukturiert wird, das selbst hierzu ein Artikuliertes sein muss.Wenn der
Mensch etwa einenmateriellen Sinnträger in bestimmterWeise formt, kann er ihm
durch den Einsatz seiner eigenen Glieder in instrumenteller Hinsicht eine Glie-
derung verleihen, die dieser Träger selbst zuvor nicht hatte und die eventuell
überhaupt nur durch diesen artikulierenden Zugriff entstehen kann.⁵³
6.3. Explikation:
Wenn etwas artikuliert wird, so entspricht dies keiner creatio ex nihilo, sondern
einer ausdrücklichen Strukturierung von etwas, das in vorstrukturierter Weise
bereits in der Erfahrung irgendwie zugänglich war. In der Artikulation wird, mit
anderen Worten, etwas expliziert, das als Implizites schon vorhanden war. Die
unterschiedlichsten Beispiele könnten hier gegeben werden: „Aussagen expli-
zieren Gedachtes, Handlungen explizieren die Möglichkeiten des Verhaltens,
Experimente explizieren Naturgesetze […], die psychoanalytische Selbsterfor-
schung expliziert das Un- oder Unterbewusste, politische Aktionen explizieren
kollektive oder individuelle (moralische) Bedürfnisse, Uhren […] machen den
Zeitverlauf explizit, Riten explizieren symbolische Ordnungen“⁵⁴ und so weiter.
Vgl. zu diesem gestalterischen Aspekt der Artikulation Wilhelm Dilthey, „Leben und Erken-
nen,“ in Grundlegung der Wissenschaften vom Menschen, der Gesellschaft und der Geschichte.
Ausarbeitungen und Entwürfe zum zweiten Band der Einleitung in die Geisteswissenschaften
(ca. –), Hgg. Helmut Johach/Frithjof Rodi, Gesammelte Schriften XIX (Göttingen:
Vandenhoeck & Ruprecht, ), ff.
Niklas, „Ein etwas rabiater Versuch“ (s. Anm. ), .
Philosophie der Verkörperung – Grundlagen und Konzepte 47
In der wissenschaftlichen und philosophischen Explikation von Sachver-
halten nimmt die Artikulation häufig die Gestalt einer Analyse an, also einer
Auseinanderlegung der konstitutiven Elemente, die dasjenige gliedern,was zuvor
als unthematische Sinnganzheit fungiert hat. Doch auch die alltägliche Erfahrung
ist geprägt von Explikationsverfahren, die besonders dort eine wichtige Rolle für
unseren praktischen Umgang mit den Dingen haben, wo etwas aus dem funk-
tionalen Sinnganzen herausfällt. Man erinnere sich an Heideggers Beispiel des
Hammers,⁵⁵ der eingebettet ist in den Sinn- und Zeugzusammenhang des Hand-
werkens und den wir – sofern wir einigermaßen geübte Handwerker sind – zu-
sammen mit Nägeln, Brettern und anderen Utensilien und mit unserem Leib in
einer impliziten Weise verwenden. Erst wenn der Vollzug des Hämmerns gestört
wird – etwa dadurch, dass wir uns aus Versehen auf den Finger klopfen oder sich
der Hammer als zu leicht oder zu schwer für eine bestimmte Aufgabe erweist –,
werden der Hammer und unser Bezug zu ihm selbst thematisch. In solchen Si-
tuationen des gebrochenen Sinnzusammenhangs explizieren wir, was zuvor im-
plizit und operativ war, nämlich unsere Handlungen ebenso wie die Instrumente,
derer sie sich bedient haben. Analytisch und artikulierend ist dieser reflexiv
konstituierte neue Bezug zumVerweisungsganzen der Situation deshalb,weil sich
einzelne Elemente aus ihr herauslösen, die für sich genommen bedeutsamwerden
können.
6.4. Prägnanzbildung:
Mit dem letztgenannten Punkt verbindet sich das an Ernst Cassirers Erkenntnis-
theorie anschließende Konzept der Prägnanzbildung, das im Kern besagt, dass
alles, was wir sinnlich wahrnehmen, nicht einfach eine Kollektion von in sich
sinnfreien Teilen ist, sondern immer als mit Sinn „imprägniert“ erscheint. Die
Gegenstände der Wahrnehmung verweisen aufeinander und konstituieren einen
Zusammenhang von sinnlicher Anschauung und nicht-sinnlichem Sinn, der ge-
rade in der Verweisung besteht. Die Wahrnehmung selbst ist als Erfahrungs-
struktur gegliedert und lässt die Welt nicht als Chaos von Eindrücken oder sen-
suellen Daten erscheinen, sondern als nach bestimmten Gesetzmäßigkeiten
strukturiert. Cassirer fasst diese Artikuliertheit der Wahrnehmung, die zu
sprachlichen Artikulationen Anlass geben kann, mit dem Begriff der „symboli-
Vgl. Martin Heidegger, Sein und Zeit (Tübingen: Niemeyer, ), f.
48 Thiemo Breyer
schen Prägnanz“⁵⁶. In der lebendigen Wahrnehmung hat man es diesem Ge-
danken zufolge mit einer vorgängigen Einheit von leiblichen und geistigen Di-
mensionen zu tun, die erst dann auseinander treten,wennman sich reflexiv auf sie
einstellt.
Zur Prägnanz eines Objektes gehört hierbei nicht nur die situationale Ver-
wiesenheit auf andere Objekte, die – wie im Fall von Hammer, Nagel und Brettern
– einen sinnvollen Handlungskontext ausmachen. Vielmehr geht es bei der
symbolischen Prägnanz von Objekten um ihre Einbettung in Relevanzstrukturen,
die individuell, sozial und kulturell geprägt sind. Ein Artefakt aus einer längst
vergangenen Kultur mag für den Archäologen eine ganze Reihe von Assoziationen
auslösen,während es bei einem unbedarften Laien nur Verwunderung hervorruft.
Zwei weitere Beispiele wurden oben schon genannt, nämlich die individuelle
Anordnung relevanter Gegenstände für einen Tätigkeitsbereich (Barkeeper) und
die kollektive Anordnung von Indikatoren in der Öffentlichkeit (Straßenschilder).
6.5. Auseinandersetzung:
Artikulation bedeutet schließlich auchAuseinandersetzung,und zwar zunächst in
einem sehr wörtlichen Sinne „als der Prozess, der ein von der Welt geschiedenes
Ich erst hervorbringt,was umgekehrt bedeutet, dass auch überhaupt erst eineWelt
hervortritt, die mit mir nicht mehr identisch ist.“⁵⁷ Die im Pragmatismus zugrunde
gelegte primäre Interaktionseinheit von Organismus und Umwelt wird hierbei
aufgebrochen. Indem die Artikulation etwas gliedert, was zuvor einheitlich und
ungegliedert, wenngleich in potentieller Gliederbarkeit und Vorstrukturiertheit,
gegeben war, erzeugt sie eine interne Differenz bzw. lässt den Unterschied zwi-
schen Unartikuliertem und Artikuliertem erkennen. Die Voraussetzung, dass
beide Interaktionselemente eine gewisse Eigenständigkeit gewinnen und analy-
tisch getrennt werden können, ist eine Distanz des Organismus zur Umwelt bzw.
ein Heraustreten-Können aus der vorgängigen Einheit. Hiermit ist gemeint, was
vorhin unter dem Stichwort der reflektierenden Explikation angesprochen wurde.
In einem zweiten Sinne meint Auseinandersetzung, auf der Grundlage dieser
Distanzierungsfähigkeit, sodann das aktive Sich-Einlassen und -Einstellen auf die
Welt und mithin auf die Anderen. Wer sich mit etwas auseinandersetzt, lässt es
nicht beim ersten Anblick bewenden, sondern vertieft die Wahrnehmung nach
Ernst Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen. Dritter Teil. Phänomenologie der Er-
kenntnis, Philosophische Bibliothek (Hamburg: Meiner, ), .
Niklas, „Ein etwas rabiater Versuch“ (s. Anm. ), .
Philosophie der Verkörperung – Grundlagen und Konzepte 49
unterschiedlichen Richtungen und Perspektiven, um ein umfassenderes Ver-
ständnis der Sache zu erlangen. In der sozialen Auseinandersetzung kommt es
überdies darauf an, dass man so verständlich wie möglich seine eigene Position
darstellt, was wiederum ein Artikulationsvorgang ist, der leibliche und sprachli-
che Fähigkeiten erfordert.
7. Schlussbemerkung
Dieses Kapitel war dem Versuch gewidmet, den vielgestaltigen Verkörperungs-
diskurs der Philosophie im Hinblick auf relevante Anknüpfungspunkte für eine
interdisziplinäre Anthropologie nach unterschiedlichen Dimensionen zu gliedern
und deren Überschneidungen mit historischen Positionen anzudeuten. Es han-
delte sich also um einen Artikulationsversuch, der durch schematische Explika-
tion einige Aspekte besonders hervorhebt, um damit zugleich auch ihre implizite
Verwiesenheit zur Geltung zu bringen. Hierüber hinaus wäre es eine für die ak-
tuellen Diskussionen bedeutsame Bestrebung, die zunächst lediglich nebenein-
ander gestellten Ansätze zur 4E Cognition und zum Begriff der Artikulation auf
einem interdisziplinären Terrain zusammenzuführen und die Bezüge ihrer je-
weiligen vier bzw. fünf Aspekte näher zu beleuchten. Ein solcher Vergleich wäre
nicht nur zur Erschließung des deskriptiven Reichtums der thematisierten Phä-
nomene von Interesse, sondern auch wissenschaftsgeschichtlich und methodo-
logisch relevant, um die Traditionen der analytischen Philosophie des Geistes und
der Kognitionswissenschaft (4E Cognition) einerseits mit der sogenannten „kon-
tinentalen“ Philosophie und insbesondere ihren kulturphilosophischen Ausprä-
gungen (Artikulation) andererseits in einen Dialog zu versetzen.
50 Thiemo Breyer