Petrus Martyr d'Anghiera über die Freiheit der Indios (Epist. 806 und Dec. 7,4). ZRGG 60, 2008,...

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© Koninklijke Brill NV, Leiden ZRGG 60, 4 (2008) Also available online - www.brill.nl UTE TISCHER Petrus Martyr d’Anghiera über die Freiheit der Indios (Epist. 806 und Dec. 7,4) Petrus Martyr d’Anghiera dealt twice with the ethical discussions concerning the Spanish colonization in America around 1524. A straight reading shows how this sensitive topic was presented with caution and literary skill, thereby mitigating the charge of opportunism that several authors have made. Sed audi quid inter nos versetur. De Indorum libertate, super qua variae sunt opiniones diu discussae, nihil adhuc repertum conducibile. Iura natu- ralia pontificiaque iubent ut genus humanum omne sit liberum. Imperiale distinguit. Usus adversum aliquid sentit. Longa experientia hoc censet, ne servi sint, ne liberi sint hi , quod a natura sint in abominabilia vitia proclives; ad obscoenos errores, ducibus et tutoribus deficientibus, ilico revertuntur. Accitos in Senatum nostrum Indicum bicolores Dominicos fra- tres et pede nudos Franciscos illarum partium longo tempore colonos, quid fore putent satius consuluimus. Nihil a re magis alienum sanxerunt, quam quod liberi relinquantur. Latius haec et quae referent in particularibus. Nunc satis. Vale! sed om. AvH / adversus AvH / ne servi sint ne liberi sint hi C : ut servi sint, non liberi autem hi A : ut servi sint, non liberi hi AvH : ut servi sint, ne liberi sint hi Magioncalda/Mazzacane 1992, S. 186 / ne servi sint. ne liberi sint <dicunt> hi Tischer / Dominicos C : Dominicanos A AvH / Fran- ciscos C : Franciscanos A AvH / latius...vale om. AvH / 1 Doch höre, was man bei uns für Erwägungen anstellt. Bezüglich der Frei- heit der Indios, über die verschiedene Meinungen lange diskutiert wurden, hat man bis jetzt keine zweckdienliche Lösung gefunden. Natur- und Pon- tifikalrecht gebieten, daß das gesamte Menschengeschlecht frei sei. Das Recht des Kaisers trifft eine Unterscheidung. Die Praxis stimmt für das Gegenteil. Lange Erfahrung rät dies, † daß sie keine Sklaven seien, daß sie keine Freien seien, † weil sie von Natur aus zum Götzendienst neigten; zu scheußlicher Verblendung kehren sie auf der Stelle zurück, sobald Leiter und Hüter fehlen. Zu unserem Indienrat zogen wir Dominikanerbrüder im zweifarbigen Habit und Franziskanische Barfüßer hinzu, die schon lange 1 Sigla: AvH: A. v. Humboldt, Kritische Untersuchungen über die historische Entwi- ckelung der geographischen Kenntnisse von der Neuen Welt und die Fortschritte der nauti- schen Astronomie in dem 15ten und 16ten Jahrhundert, 3 Bde., Berlin 1835-52, 1. Bd., S. 487 f.; C: Opus Epistolarum Petri Martyris Anglerii […], Alcalá de Henares 1530 (Foto- mech. Nachdr. bei E. Woldan (Hg.), Petrus Martyr de Angleria Opera. Legatio babylonica, De orbe novo decades octo, Opus epistolarum, Graz 1966, S. 702); A: Ch. Patin (Hg.), Opus Epistolarum Petri Martyris Anglerii Mediolanensis […], Amsterdam 1670, S. 480; Magioncalda/Mazzacane: E. Lunardi/E. Magioncalda/R. Mazzacane (Hg.)/F. Azzola (Übers.), The Discovery of the New World in the Writings of Peter Martyr of Anghiera, Roma 1992, S. 186; Tischer: s. u. S. 293 f.

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© Koninklijke Brill NV, Leiden ZRGG 60, 4 (2008)Also available online - www.brill.nl

UTE TISCHER

Petrus Martyr d’Anghieraüber die Freiheit der Indios

(Epist. 806 und Dec. 7,4)

Petrus Martyr d’Anghiera dealt twice with the ethical discussions concerningthe Spanish colonization in America around 1524. A straight reading showshow this sensitive topic was presented with caution and literary skill, therebymitigating the charge of opportunism that several authors have made.

Sed audi quid inter nos versetur. De Indorum libertate, super qua variaesunt opiniones diu discussae, nihil adhuc repertum conducibile. Iura natu-ralia pontificiaque iubent ut genus humanum omne sit liberum. Imperialedistinguit. Usus adversum aliquid sentit. Longa experientia hoc censet, †ne servi sint, ne liberi sint hi †, quod a natura sint in abominabilia vitiaproclives; ad obscoenos errores, ducibus et tutoribus deficientibus, ilicorevertuntur. Accitos in Senatum nostrum Indicum bicolores Dominicos fra-tres et pede nudos Franciscos illarum partium longo tempore colonos, quidfore putent satius consuluimus. Nihil a re magis alienum sanxerunt, quamquod liberi relinquantur. Latius haec et quae referent in particularibus.Nunc satis. Vale!

sed om. AvH / adversus AvH / ne servi sint ne liberi sint hi C : ut servisint, non liberi autem hi A : ut servi sint, non liberi hi AvH : ut servi sint,ne liberi sint hi Magioncalda/Mazzacane 1992, S. 186 / ne servi sint. neliberi sint <dicunt> hi Tischer / Dominicos C : Dominicanos A AvH / Fran-ciscos C : Franciscanos A AvH / latius...vale om. AvH /1

Doch höre, was man bei uns für Erwägungen anstellt. Bezüglich der Frei-heit der Indios, über die verschiedene Meinungen lange diskutiert wurden,hat man bis jetzt keine zweckdienliche Lösung gefunden. Natur- und Pon-tifikalrecht gebieten, daß das gesamte Menschengeschlecht frei sei. DasRecht des Kaisers trifft eine Unterscheidung. Die Praxis stimmt für dasGegenteil. Lange Erfahrung rät dies, † daß sie keine Sklaven seien, daß siekeine Freien seien, † weil sie von Natur aus zum Götzendienst neigten; zuscheußlicher Verblendung kehren sie auf der Stelle zurück, sobald Leiterund Hüter fehlen. Zu unserem Indienrat zogen wir Dominikanerbrüder imzweifarbigen Habit und Franziskanische Barfüßer hinzu, die schon lange

1 Sigla: AvH: A. v. Humboldt, Kritische Untersuchungen über die historische Entwi-ckelung der geographischen Kenntnisse von der Neuen Welt und die Fortschritte der nauti-schen Astronomie in dem 15ten und 16ten Jahrhundert, 3 Bde., Berlin 1835-52, 1. Bd., S.487 f.; C: Opus Epistolarum Petri Martyris Anglerii […], Alcalá de Henares 1530 (Foto-mech. Nachdr. bei E. Woldan (Hg.), Petrus Martyr de Angleria Opera. Legatio babylonica,De orbe novo decades octo, Opus epistolarum, Graz 1966, S. 702); A: Ch. Patin (Hg.),Opus Epistolarum Petri Martyris Anglerii Mediolanensis […], Amsterdam 1670, S. 480;Magioncalda/Mazzacane: E. Lunardi/E. Magioncalda/R. Mazzacane (Hg.)/F. Azzola(Übers.), The Discovery of the New World in the Writings of Peter Martyr of Anghiera,Roma 1992, S. 186; Tischer: s. u. S. 293 f.

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I

Für Petrus Martyr d’Anghiera (1457-1526), den ersten Chronisten derspanischen Eroberung Amerikas, findet Alexander von Humboldt immerwieder bewundernde Worte. Er hält ihn für „einen der talentvollstenunter den Zeitgenossen des Columbus“,2 rühmt seine Briefe für die „Le-bendigkeit der Schilderung“ und bemerkt mit Achtung auch den gele-gentlich „kühnen und gewagten Ausdruck“ gegenüber höhergestelltenKorrespondenten.3 Nur hinsichtlich der „religiösen Verfolgung der un-terjochten Völker“ und des „Glück(s) der niederen Volksklassen, Ge-genstände, welche jedes edelgesinnte Herz in Bewegung setzen soll-ten“, weicht dieses Lob der Mißbilligung, und kritisch bemerkt er die„wenig mitfühlende Gemütsstimmung“, die der Italiener zeige, „wo ervon der Freiheit der Urvölker von Amerika redet“. Als Exempel füreine „religiöse Unduldsamkeit“, die sich hier „mit der kalten, berech-nenden und umsichtigen Klugheit des Staatsmannes“ mische, zitiert erdas oben angeführte Brieffragment.4

Auf der Suche nach dem „Zweckdienlichen“ (conducibile) reiht Pe-trus Martyr darin rechtliche Argumente, Praxis und Erfahrunganeinander. Deren Voten decken eine Skala ab, die von vollständigerFreiheit für alle Menschen bis zu unbedingter Versklavung der Indiosreicht. Er selbst vermeidet eine explizite eigene Stellungnahme zu demProblem. Durch die Ausführlichkeit, mit der sie allein begründet wird,erhält die zuletzt referierte Meinung aber eine Betonung, durch die manden Eindruck gewinnen kann, daß auch er selbst gegen humanere Stim-men der Freiheit der Ureinwohner eine Absage erteilt.

Nachdem er sein Referat beendet hat, verweist Martyr im Brief aufeine breitere Darstellung desselben Themas „in den Einzeldarstellun-gen“. Gemeint sind damit die etwa zeitgleich zum Brief als historischeSendschreiben entstandenen Dekaden 7 und 8, die Giovanni Ruffo in Kür-

Zeit Kolonisten in dieser Gegend sind. Wir befragten sie, was ihrer Mei-nung nach als das Zweckmäßigere geschehen solle. Sie versicherten fest,daß nichts abträglicher sei, als sie als Freie zu entlassen. Dies und was esbringen wird, ausführlicher in den Einzeldarstellungen. Genug für heute.Leb wohl!

Petrus Martyr d’Anghiera, Opus epistolarum, Epist. 806(an Giovanni Ruffo dei Teodoli, Erzbischof von Cosenza, vom 22. Februar1525)

2 A. v. Humboldt/O. Ette/O. Lubrich (Hg.), Kosmos. Entwurf einer physischen Welt-beschreibung, Frankfurt a. M. 2004, S. 330.

3 Kritische Untersuchungen (wie Anm. 1), 1. Bd., S. 488 u. 484.4 Ebd., S. 486 f.5 Epist. 806, etwas weiter oben; die eigentlichen Adressaten waren Francesco Maria

Sforza Visconti, Herzog von Mailand (Dec. 7), und Papst Clemens VII. (Dec. 8).

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ze erreichen sollen.5 Verfolgt man den Verweis in der Hoffnung auf einbesseres Verständnis der textkritisch, sprachlich und inhaltlich nicht leichtzu verstehenden Briefstelle, findet man das Gegenstück zur Diskussion DeIndorum libertate im vierten Buch der siebenten Dekade. Auch in dieserdetaillierteren Fassung hält Martyr seine eigene Position bedeckt und läßtdie Argumente, die gegen den freiheitlichen Status der Indios votieren, inauffälliger Breite und unter merkwürdigen Umständen zu Wort kommen.

In der Gegenwart teilt man Humboldts Einschätzung seiner intellek-tuellen und schriftstellerischen Leistung. Anders als dieser bewertet mandazu auch die Beschreibungen, die er von den Bewohnern der NeuenWelt liefert, als ausgesprochen unvoreingenommen und human im Ver-gleich zu seinen Zeitgenossen. Noch immer aber sorgen die eben zitier-ten Äußerungen für Irritationen in diesem freundlichen Porträt: Mansieht sie als bittere Zusammenfassung eines verlorenen Kampfes umdie Rechte der Indios,6 als generelles Zeugnis eines konservativen Op-portunismus7 – oder man zieht es vor, sie unerklärt zu lassen.8

Die folgenden Überlegungen sind durch diese Irritationen angesto-ßen. Sie sollen der Frage nachgehen, ob und wo in den beiden TextenMartyrs eigene Einstellung zu fassen sein könnte. Martyr setzt beidedurch seinen Verweis selbst in Beziehung. So liegt es nahe, ihr Ver-hältnis zueinander zu bestimmen und zu prüfen, inwiefern Dec. 7,4 dieNotiz in Epist. 806 tatsächlich erhellen kann. Ein textnaher Durchgangsoll zugleich ihre Erzähl- und Argumentationsstrukturen herausarbei-ten und insbesondere für Dec. 7,4 den Kontext, in dem die einzelnenArgumente präsentiert werden, und die gedanklichen Übergänge, dieder Autor zwischen ihnen herstellt, beleuchten. „His is a history to beread by those who know how to read. There is hardly a sentence […]which does not merit careful scrutiny.“9

II

Die Schwierigkeiten, die der zitierte Brief 806 bereitet, beruhen in ers-ter Linie auf der Knappheit und Dekontextualisierung der aufgeführtenArgumente. Die Sätze sind asyndetisch nebeneinandergestellt, explizi-te Verbindungen auf der sprachlich-stilistischen Ebene fehlen, und derLeser ist darauf angewiesen, die logischen Bezüge zwischen den Aus-

6 E. Lunardi, Outline of Peter Martyr’s Thought, in: Lunardi/Magioncalda/Mazzacane,Discovery (wie Anm. 1), S. 395-405, hier: S. 403–405 (nur zu Epist. 806, ohne Eingehenauf Dec. 7,4); Indiofreundlichkeit, gepaart mit Opportunismus, vermutet auch G. Eatough(Hg.), Selections from Peter Martyr, Turnhout 1998, S. 12 u. 32.

7 F. Cantù, Ideologia e storiografia in Pietro Martire d’Anghiera: rapporti tra vecchio enuovo mondo, in: Pietro Martire d’Anghiera nella Storia e nella Cultura, Genova 1980, S.225-239, hier: S. 237-239; ähnlich wie Humboldt urteilt I. Bernays, Petrus Martyr Angleriusund sein Opus Epistolarum, Straßburg 1891, S. 33 u. Anm. 5.

8 A. M. Salas, Tres cronistas de Indias. Pedro Mártir de Anglería, Gonzalo Fernándezde Oviedo, Fray Bartolomé de las Casas, 2. Aufl., México 1986, S. 54-56, aber auch Lu-nardi, Outline (wie Anm. 6).

9 Eatough, Selections (wie Anm. 6), S. XII (zu Dec. 1).

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sagen selbst herzustellen. Da die Exponenten der einzelnen Meinungennur abstrakt zu Wort kommen, hilft kaum etwas dabei, die Diskussionhistorisch zu orten, und man könnte denken, daß es sich um eine vonMartyr nur in Gedanken hergestellte Synopse handelt.

Die Liste beginnt mit einem Argument, dessen Haltung zur Skla-venfrage klar ist: „Naturrecht und Pontifikalrecht“ votieren für voll-ständige Freiheit, offenbar mit dem Syllogismus: Freiheit ist ein Grund-recht der menschlichen Natur, die Indios sind Menschen, also sind sieals Freie zu behandeln.10 Dagegen ist die kaiserliche Position nur sehrverhüllt umschrieben. Warum „das Kaiserrecht“ „eine Unterscheidungtrifft“ und zwischen wem oder was es differenziert, bleibt ungesagt.Das „Gegenteil“, für das die Praxis stimmt, weicht von beiden vorhergenannten Meinungen ab und läßt sich sinnvoll nur als Stimme für eineVersklavung ohne Abstriche interpretieren. Damit ist die Skala dermöglichen Positionen abgeschritten.

Es folgt jedoch als viertes das Votum der longa experientia, das ge-genüber den vorangegangenen durch die Ausführlichkeit hervorgeho-ben ist, mit der es begründet wird. Seine Rechtfertigung ist zweigeteilt.Als erstes führt Martyr eine Begründung an, die darauf hinausläuft, daßohne Aufsicht Missionierung11 und Zivilisierung aufgrund der natürli-chen Defizite der Indios gefährdet seien.12 Auf wen diese Erfahrungzurückgeht, teilt er nicht mit. Erst der zweite Teil gibt der experientiaein Gesicht, er beglaubigt durch die Gutachten von Dominikanern undFranziskanern als kompetenten Augenzeugen. Ihre Antwort zielt, ent-

10 „Naturrecht“ umschreibt aus der natürlichen Ordnung resultierende, für alle Men-schen geltende Regeln, ius pontificale oder auch divinum die aus dem Evangelium abzu-leitenden Rechtssätze. Humboldt, Kritische Untersuchungen (wie Anm. 1), 2. Bd., S. 218 f.,übersetzt letzteres geradewegs mit „Religion“, möglicherweise bezeichnet Martyr damitaber auch nur „den Standpunkt des Papstes“. Da das Evangelium die ebenfalls gottgegebe-ne natürliche Ordnung vollendet, hebt göttliches Recht das Naturrecht nicht auf, sondernschließt es in sich ein – es liegt also nahe, beider Votum als Einheit zu betrachten, wieMartyr es hier tut. Zur persönlichen Freiheit als Bestandteil des ius naturale und zumpäpstlichen Urteil über die Menschennatur der Indios vgl. J. Höffner, Christentum undMenschenwürde. Das Anliegen der spanischen Kolonialethik im Goldenen Zeitalter, Trier1947, S. 50, 222-226, 271 f.; L. Hanke, Aristotle and the American Indians. A Study inRace Prejudice in the Modern World, London 1959, S. 19.

11 Vgl. J. F. Niermeyer, Mediae latinitatis lexicon minus, Leiden 1976, s. v. abomina-tio „Götzendienst“; s. v. error „falscher Glaube, Ketzertum“.

12 Dieses Argument von der Unfähigkeit zur Freiheit geht über Thomas von Aquin aufAristoteles (Pol. 1,1253b 23-1255b 40) zurück; vgl. Höffner, Christentum, S. 176 f.; Han-ke, Aristotle, S. 12-27 (wie Anm. 10); H. Pietschmann, Aristotelischer Humanismus undInhumanität? Sepúlveda und die amerikanischen Ureinwohner, in: W. Reinhard (Hg.),Humanismus und Neue Welt, Weinheim 1987, S. 143-166, hier: S. 161 f.

13 Vgl. K. E. Georges, Ausführliches lateinisch-deutsches Handwörterbuch, 2 Bde.,unv. Nachdr. d. 8. Aufl., Darmstadt 1992, s. v. satis B II satius esse puto: „für besser,dienlicher halten“; ebd. s. v. alienus II b: „nicht entsprechend, ungeeignet, unzuträglich“;irreführend sind Übersetzungen wie „farther from the truth“ (Magioncalda/Mazzacane,Discovery (wie Anm. 1), S. 187) oder „dangereux“ bzw. „peligroso“ (P. Gaffarel/F. Lou-vot (Übers.), Lettres de Pierre Martyr Anghiera relatives aux découvertes maritimes desEspagnols et des Portugais, Paris 1885, S. 49; J. López de Toro (Hg.), Pedro Mártir de

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sprechend der an sie gestellten Frage, auf Zweckmäßigkeit ab.13 Wofüroder für wen „nichts abträglicher wäre, als sie als Freie zu entlassen“,bleibt im dunkeln. Der Umfang, mit dem Martyr allein dieses Argu-ment behandelt, weist darauf hin, daß hier die eigentliche Neuigkeitder Mitteilung zu suchen ist, während die übrigen Positionen seinemAdressaten Giovanni Ruffo zur Genüge vertraut waren.14

Allerdings unterschied sich das, was Martyr hier über die mit „lan-ger Erfahrung“ argumentierenden Stimmen schrieb, von der Fassung,in der Humboldt und der größte Teil der Leser nach ihm den Text desBriefes vor Augen hatten. Der Beginn des experientia-Teils nämlichweist in der Erstausgabe des Opus epistolarum von 1530 (C) eine text-kritische Störung auf, die in der von Humboldt benutzten zweiten Auf-lage von 1670 (A) durch Konjektur15 beseitigt ist. Charles Patin, derHerausgeber dieser zweiten Auflage, emendierte das logisch, stilistischund sprachlich anstößige16 ne servi sint, ne liberi sint hi zu ut servi sint,non liberi autem hi. Diese Änderung verkehrt die Aussage des erstenKolons ne servi sint ins Gegenteil und ist textkritisch auch sonst nichthaltbar.17 Besser und nur durch einen leichten Texteingriff ist der An-stoß auszuräumen, wenn man annimmt, daß vor hi ein zweites verbumdicendi ausgefallen ist, und indem man gleichzeitig die Interpunktion

Anglería, Epistolario. Estudio y traducción. 4. Bd.: Libros XXXIII-XXXVIII, Epístolas656-813, Madrid 1957 (Documentos Inéditos para la Historia de España. 12), S. 388).

14 Er war als apostolischer Legat am spanischen Hof (seit 1512) ein Kenner der dortigenPolitik und ein langjähriger Freund, mit dem Martyr seit 1493 in Briefwechsel stand; vgl. P.Schiappacasse, Giovanni Ruffo dei Teodoli, in: Pietro Martire (wie Anm. 7), S. 104-108.

15 A beruht ausschließlich auf dem Erstdruck C, dessen Herausgeber unbekannt ist.Alle Varianten von A zu C sind Konjekturen Patins oder neue Druckfehler; vgl. H. Hei-denheimer, Petrus Martyr Anglerius und sein Opus epistolarum. Ein Beitrag zur Quellen-kunde des Zeitalters der Renaissance und der Reformation, Berlin 1881, S. 70-72; J. Ge-rigk, Das opus epistolarum des Petrus Martyr, ein Beitrag zur Kritik der Quellen des aus-gehenden 15. und beginnenden 16. Jahrhunderts, Braunsberg 1881, S. 13 f.; J. Bauzano(Übers.)/R. Alba (Hg.), Pedro Mártir de Anglería. Cartas sobre el Nuevo Mundo, Madrid1990, S. 10. Humboldt benutzt in den Kritischen Untersuchungen durchgängig A, die leich-ter zugänglich und zu handhaben ist als C. In Ermangelung einer kritischen Edition wirdsie auch heute noch allgemein als Zitiergrundlage verwendet und liegt für Epist. 806 allenmodernen Übersetzungen zugrunde. Nur für eine Auswahl von Briefen, darunter Epist.806, gibt es einen kritischen Text (Magioncalda/Mazzacane, Discovery (wie Anm. 1)).

16 Die beiden mit ne eingeleiteten Kola sind als parallele Finalsätze logisch unvereinbar,die Wiederholung des Prädikats sint im selben Satz ist stilistisch anstößig, sprachlich störtdas überflüssige Pronomen hi, welches statt eines Kausalsatzes einen Relativsatz fordert.

17 Der vorgeschlagene Text steht dem Befund paläologisch fern, und die Entstehungder Korruptel ist nicht erklärbar, die Entfernung der Negation im ersten Glied läßt daszweite tautologisch werden, autem durchbricht den asyndetischen Stil des Kontextes; dieSchwierigkeit, hi mit einem kausalen quod-Satz zu verbinden, bleibt unaufgelöst.

18 Da die in C und A häufig willkürliche Interpunktion nicht als Zeugnis für das Ausse-hen des Textes in Martyrs Manuskript angesehen werden kann, bleibt der überlieferte Text-bestand weitgehend bewahrt; der Textausfall ist leicht als Versehen bei der Übertragungin die gedruckte Fassung zu erklären (Parallelen für ähnliche kleinere lacunae weist der inC enthaltene Erstdruck der Dekaden 5-8 auf, vgl. z. B. 7,2,6; 4,13); die sprachliche Schwie-rigkeit ist beseitigt, weil hi als Subjekt eines zweiten Hauptsatzes nicht mehr mit demquod-Satz kollidiert; die Wiederholung des Prädikats sint ist notwendig.

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ändert.18 Zu lesen wäre dann longa experientia hoc censet, ne servi sint.Ne liberi sint, <dicunt> hi, quod („Lange Erfahrung rät, daß sie keineSklaven seien. Daß sie nicht frei sein sollen, <sagen> andere, weil“).Ist diese Lesart richtig, würde Martyr von zwei verschiedenen aus derErfahrung abgeleiteten Forderungen ausgehen. Deren erste wiese denSklavenstatus ab und wäre wie alle vorangegangenen Argumente nichtbegründet. Erst ein zweites anonymes Gutachten wendet sich gegen dieFreilassung und wird von der ausführlichen, wiederum zweigeteiltenRechtfertigung begleitet. Inhaltlich würde so die „Erfahrung“ die „Pra-xis“ nicht einfach nur bestätigen, sondern bildete eine neue Runde mitMeinungen pro und contra libertatem. Diese lokalisiert Martyr im In-dienrat, dem höchsten Gremium für die Verwaltung der spanischen Er-oberungen in der Neuen Welt, dessen Sitzungen er seit etwa 1516 selbstals Chronist und später als ordentliches Mitglied beiwohnte.

III

In den particularia der siebenten Dekade, auf die Petrus Martyr im Briefverwiesen hatte (Dec. 7,4),19 ist die Frage De Indorum libertate so engmit dem weiteren Kontext verwebt, daß sich die Entsprechungen zurBriefnotiz erst auf den zweiten Blick auftun.20 Zuvor führt er zwei inden vorangegangenen Kapiteln entwickelte Erzählstränge fort, die the-matisch mit der eigentlichen Diskussion in Zusammenhang stehen. Inbeiden hatte die Sklavenjägerpraxis der Spanier eine Rolle gespielt, überdie Martyr nicht ohne innere Beteiligung spricht. Die erste Erzählungbehandelt die Iukayer (i.e. die Bewohner der Kleinen Antillen) und ihrEnde durch Entführung in die Goldminen von Española (Haiti),21 diezweite beschäftigt sich mit dem an der Ostküste Floridas neu entdeck-ten Land Chicora und einem Menschenraub, den eine zufällig dort gelan-dete Sklavenfängerexpedition begangen hatte.22 Beide sind miteinanderverschränkt und explizit parallelisiert.23 Martyr hat den Stoff dabei jeweilsin einen narrativ-historischen und einen statisch-ethnographischen Teilzerlegt und so disponiert, daß die beiden Abschnitte ein- und desselbenErzählzusammenhangs räumlich und erzähllogisch getrennt sind.24 Diese

19 Die Kapitel- und Paragraphenzählung bezieht sich auf die einzige kritische Editionder Dekaden (R. Mazzacane/E. Magioncalda (Hg.), Pietro Martire d’Anghiera, De orbenovo decades, 2 Bde., Genova 2005). Zitate folgen deren Text, soweit nicht anders ver-merkt. Abweichungen von der Interpunktion sind nicht angegeben.

20 Wenn Parallelen gezogen werden, dann erst ab Dec. 7,4,17; vgl. Bernays, PetrusMartyr; Cantù, Ideologia (wie Anm. 7); Salas, Tres cronistas (wie Anm. 8), S. 54 f.

21 Dec. 7,1,13-7,2,5 (ethnographisch); 7,4,8-12 (narrativ).22 Dec. 7,2,6-16 (narrativ); 7,2,17-7,4,7 (ethnographisch).23 Dec. 7,1,6: Die Menschenjäger von Chicora sind eigentlich auf der Jagd nach Iukay-

ern, als sie ihre Entdeckung machen; die Chicora-Geschichte ist in die Iukayer-Erzählungeingeschaltet; wenn sie beendet ist, wird der Bericht vom Untergang der Iukayer als einsimilis casus wiederaufgenommen (Dec. 7,4,8).

24 Bei der Iukayer-Erzählung durch die eingeschaltete Chicora-Handlung; ihr narrati-ver Teil ist in Dec. 7,4,8 wie ein neues Thema behandelt; beim Bericht über Chicora sind

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Isolierung der einzelnen Teile voneinander scheint mit der Haltung zu-sammenzuhängen, die er jeweils zum Berichteten einnimmt. In den nar-rativen Teilen kommt immer wieder seine Mißbilligung des spanischenVorgehens zum Ausdruck, und der rhetorisch ausgestaltete Berichtzeichnet die Indios als unschuldige Opfer gewissenloser Räuber undFriedensstörer.25 In den im Vergleich dazu langen ethnographischenPartien dagegen nimmt er eine Position betonter Objektivität ein, dieauf Wertungen weitestgehend verzichtet. Zwar kommt hier manchmalMitgefühl mit den Eingeborenen zum Ausdruck, doch ist jeglicher Ta-del an den Spaniern peinlichst vermieden.26 Überblickt man beide Kom-plexe insgesamt, sind in allen Abschnitten Strategien zu beobachten,mit deren Hilfe er die geäußerte Kritik entschärft. Dazu gehört die Be-hauptung, nur älteres Material und nur auf Drängen zu publizieren,27

die Berufung auf autoritative Zeugen,28 die Anonymisierung der Betei-ligten29 und die Aufgabe jeglicher Wertung, wenn spanische Akteurekonkret in Erscheinung treten.30 In der Summe ergibt dies den Eindruckeiner vorsichtigen Sachlichkeit, die besonders dann irritiert, wenn ausmitfühlenden Äußerungen über das Schicksal der betroffenen Indioskeine Anklage gegen die spanischen Verursacher abgeleitet ist.31

IV

Zu Beginn von Dec. 7,4 bringt Martyr mit wenigen Worten den ethno-graphischen Abschnitt der Chicora-Geschichte zu Ende und schließt

die beiden Abschnitte durch einen umständlich beglaubigten Zeugen getrennt, der die ge-raubten Indios auf Española gesehen hat und einiges über ihr gegenwärtiges Schicksalbekannt gibt (Dec. 7,2,15-16); im ethnographischen Teil treten die Berichterstatter nurnoch im unbestimmten Plural auf, ohne Hinweis darauf, daß es sich um die Akteure dervorangegangenen narrativen Partie handelt (vgl. bes. den Beginn Dec. 7,2,17 ff.).

25 Bes. Dec. 7,2,12-13; 7,4,10; 13.26 Vgl. z. B. Dec. 7,1,20-21, eine Anekdote zur Illustration der Eigenschaften des Jar-

umbabaumes: Einer der auf Española elend dahinsiechenden Iukayer wagt mit einem Ein-baum aus diesem Holz die Flucht in die Heimat. Er wird von der rückkehrenden Chicora-expedition (von der man an dieser Stelle noch nichts gehört hat) aufgegriffen und zurück-gebracht – ein Wort der Kritik gegen die Spanier fällt nicht, doch erwähnt Martyr alserschütterndes Detail, daß die Besatzung den Reiseproviant des Unglücklichen verzehrt.

27 Dec. 7,2,7, zur Expedition nach Chicora; diese erfolgte 1521, d. h. drei Jahre vordem Datum, an dem Martyr den Bericht abfaßt, vgl. Dec. 7,2,6; die Vernichtung der Iukayergeschieht schon seit „mehr als zwanzig Jahren“, vgl. Dec. 7,1,14 und u. Anm. 40.

28 Dec. 7,2,15; 20.29 Stets nur Hispani (Dec. 7,4,8-9) oder quidam Hispani (Dec. 7,2,6); vgl. auch u. Anm. 39.30 Besonders deutlich Dec. 7,2,14: Auf den brutalen und von Martyr mißbilligten Men-

schenraub von Chicora folgt ohne Kommentar die Reaktion des Senats von Española, der„das Raubgut höchst peinlich“ findet, die Bestrafung der Schuldigen und die Rückführungder Gefangenen aber aus undurchsichtigen Gründen unterläßt; sowie Dec. 7,2,20 die Ein-führung des Zeugen Ayllón im ethnographischen Teil: Unter den lobenden Epitheta, dieseine Autorität beglaubigen, finden sich beiläufige Informationen, aus denen der Leserselbst schließen muß, daß Ayllón einer der Nutznießer des Raubes und wohl auch an derNiederschlagung der Bestrafung beteiligt war.

31 Vgl. Dec. 7,2,4 u. 14.

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mit einer aktuellen Notiz: Der Lizentiat Lucas Vazquez de Ayllón, derdarum ersucht hatte, in Chicora eine Kolonie gründen zu dürfen, wirdvon Indienrat und Kaiser „auf unseren Rat hin“32 mit einem positivenBescheid entlassen (Dec. 7,4,5). Dieser einflußreiche Mann, MartyrsHauptzeuge33 für die Geschehnisse in Chicora, war als Finanzier einerder Nutznießer der Menschenbeute dieser Expedition und als Senatsmit-glied wohl auch für die Untätigkeit des Consejo von Española in der Sacheverantwortlich. Martyr läßt dies beiläufig durchblicken, behandelt ihn aberdurchgehend als hochachtbaren Zeugen, den er mit dem verwerflichenVorgehen der Beteiligten auf keine Weise in Verbindung bringt. Auch jetzt(Dec. 7,4,6-7) gelingt es ihm, seine Mißbilligung geschickt von Ayllónfernzuhalten. Bei der risikofreudigen Abenteurernatur der Spanier, so fährter fort, wird es ihm an mitziehenden Kolonisten nicht fehlen. Diese – ano-nymen – Hispani aber wird bei ihrer Ankunft die gerechte Strafe erwartenin Person der Eingeborenen, „die durch den Raub ihrer Kinder und Ver-wandten derart erschüttert wurden“: „Die Zeit wird es richten“ (Dec. 7,4,7).

Als „ein ähnlicher Fall, der nicht übergangen werden soll“, folgtunmittelbar darauf der narrative Teil der Iukayer-Geschichte, ein Be-richt von arglistiger Täuschung, Entführung und Versklavung, an de-ren Folgen die Inselbewohner dahinsterben, weil sie „das drückendeRegiment und die ungewohnte und grausame Arbeit“ nicht ertragenkönnen (Dec. 7,4,8-12). Für Martyr ist auch hier eine himmlische Be-strafung folgerichtig, wobei er seine gewohnte Zurückhaltung überra-schend deutlich aufgibt: „Aber ich bin überzeugt, daß auf das Klagenund Seufzen der armen Unschuldigen eine Gottheit aufgewacht ist undzur Rache für die große Vernichtung und den gestörten Frieden so vielerVölker sich erhoben hat, weil sie (die Spanier) unter dem Deckmantelder Religionsausbreitung behaupten, mit Recht so vorzugehen, <in Wirk-lichkeit aber> in ehrgeiziges Gewinnstreben und Gewalt verfallen“ (Dec.7,4,13).34 Das Vergehen, für welches Martyr zweimal das Himmelsge-richt zitiert, war beidemale die Versklavung bisher freier Indios.

Blickt der Leser nach der Lektüre der nächsten Seiten auf diese Stellezurück, wird er in dieser zweimaligen Anrufung der himmlischen Gerech-tigkeit ein verborgenes Pendant für das im Brief an erster Stelle aufgeführteVotum von „Natur- und Pontifikalrecht“ entdecken. Ganz in dessen Sinnenämlich ergeht das Gottesurteil, das nach Martyrs Ansicht gegen die aggres-sores und die von ihnen angerichtete Vernichtung gefallen ist, während Ge-walt gegen „Unschuldige“ und Krieg gegen „ruhige“ Völker den zeitgenös-sischen ethischen Grundsätzen zum „gerechten Krieg“ widersprechen.35

32 Ob dieses „wir“ nur die Meinung des Indienrates oder auch Martyrs eigene Befür-wortung einschließt, bleibt in grammatikalisches Dunkel gehüllt.

33 Dec. 7,2,20-22: Ayllón war anläßlich seines Vorsprechens beim Indienrat persönli-cher Gast im Hause Martyrs.

34 Der Text ist syntaktisch unklar und vermutlich gestört.35 Nach der Lehre der Scholastiker sind im paradiesischen Urzustand alle Menschen frei

und gleich gewesen. Unfreiheit entsteht erst durch die Sünde. Heiden können nur als Ge-

297Petrus Martyr d'Anghiera über die Freiheit der Indios

Ohne merkliche Zäsur ist Martyr ab hier zur Behandlung des Themasgelangt, das er in Epist. 806 mit De Indorum libertate überschreibt. Er-wartungsgemäß, doch ebenso unmarkiert folgt die Entsprechung zumUrteil des ius imperiale in dieser Frage.

V

Die soeben konstatierte göttliche Rache besteht im vorzeitigen Tod allderer, die „als erste Aggressoren“ gekommen waren „und auf andereWeise vorgingen, als ihnen von den Königlichen Majestäten aufgetra-gen war“. Martyr beeilt sich zu versichern, daß der Wille der Krone,wie seine eigene Erfahrung im Indienrat bestätigen könne, ganz demhöheren Schiedsspruch entspreche. Er äußere sich in den königlichenGesetzen, die „derart nach dem Bild des Rechten und Billigen geformtsind, daß es nichts Gottgefälligeres geben kann“. Die Erlasse enthaltenu. a. die Bestimmung, den neuentdeckten Völkern „mit Wohlwollen,Milde und Friedensliebe“ zu begegnen und diejenigen, „die aus könig-licher Gnade einem jeden (Spanier) zugeteilt sind, nach Art der Tribut-pflichtigen und Botmäßigen, nicht (aber) nach Sklavenweise zu behan-deln“ (Dec. 7,4,14). 36 Die Abweichung oder „Unterscheidung“, die die-ses Kaiserrecht dennoch vom „Natur- und Pontifikalrecht“ abhebt,kommt nur nebenher zur Sprache. Man erkennt sie in der Definition derIndios als freie, aber abgabepflichtige Untertanen, die einem Spanier„zugeteilt“ sind.37 Die „Tributpflicht“ rechtfertigt für die Krone dieZwangsarbeit der Indios für die spanischen Kolonisten,38 doch über-geht Martyr diese Folgerung ebenso wie die Frage, ob es gut oder rich-tig sei, die Eingeborenen unter diesem Rechtstitel mit Zwangsarbeit zubelegen. Stattdessen betont er allein die Erlasse, die den freiheitlichenAspekt am Rechtsstatus der Indios betreffen, indem er eine lange Listevon Schutzmaßnahmen gegen allzu große Drangsalierung aufführt. KeinFreund der Indios könnte gegen diese protektiven Maßnahmen der Kro-ne, die im Konsens mit Rechtsgelehrten und Geistlichen getroffen wur-

fangene in einem gerechten Krieg zu Sklaven gemacht werden, für den wiederum schuld-haftes Vergehen der Bekriegten notwendige Voraussetzung ist; Höffner, Christentum (wieAnm. 10), S. 52-66, 271 f.; P. Castañeda Delgado, Die ethische Rechtfertigung der Erobe-rung Amerikas, in: K. Kohut (Hg.), Der eroberte Kontinent. Historische Realität, Rechtfer-tigung und literarische Darstellung der Kolonisation Amerikas, Frankfurt a. M. 1991, S.71-85, hier: S. 74-76.

36 Martyr spricht hier von bereits existierenden Gesetzen, also wohl den „Leyes deBurgos“ von 1512; vgl. E. Schäfer, El Consejo Real y Supremo de las Indias. Su historia,organización y labor administrativa hasta la terminación de la Casa de Austria, 2. Teil: Lalabor del Consejo de Indias en la administración colonial, Sevilla 1947, S. 249-253.

37 Das ius imperiale unterscheidet also nicht verschiedene Klassen von Menschen oderIndios, wie etwa Lunardi, Outline (wie Anm. 6), S. 404, meint.

38 In Form der Encomienda, bei welcher der König die ihm von den Unterworfenen alsArbeitsleistung zustehenden Tributansprüche an einen Conquistador abtritt; dieser mußim Gegenzug für Unterhalt und Christianisierung seiner Arbeitskräfte sorgen; Höffner,Christentum (wie Anm. 10), S. 135-137; H. Pietschmann, Die Conquista Amerikas: einhistorischer Abriß, in: Kohut (wie Anm. 35), S. 13-30, hier: S. 23 f.

298 UTE TISCHER

den (Dec. 7,4,14), etwas einwenden. Nur implizit erschließt sich ausder Notwendigkeit dieser Erlasse und ihrem Inhalt, daß die königlichverordnete Teilfreiheit für die Indios praktisch nichts anderes als Elendund Sklaverei bedeutete. Martyrs Urteil über die königlichen Gesetzeist damit demonstrativ affirmativ, doch eindeutig ist es nicht.

VI

Wie im Brief ruft er nun das Bild auf, das sich in der Praxis (usus) bietet,und wie dort ist es ein „Gegensatz“ (adversum aliquid) – zum Willen desKaisers, insofern dieser die Indios als Freie bezeichnet, und zum göttli-chen Willen, der sich ebenfalls gegen die Versklavung gerichtet hatte:

„Aber ach, fern von den Richtern und von blinder Goldgier ergriffen, ver-wandeln sie sich, obwohl sie sanfter als Lämmer von hier abreisten, nachihrer Landung in reißende Wölfe.“

Selbst Bestrafung nützt nichts, es gilt das Sprichwort „Ein Verbrechen, dasvon vielen begangen wird, bleibt ungesühnt“ (Dec. 7,4,15-16). Welche kon-krete Praxis die Metapher der „reißenden Wölfe“ beschreibt, bleibt unge-sagt. Der aufmerksame Leser kann aus dem Vorangegangenen folgern, daßdie unmenschliche Behandlung der eingeborenen Zwangsarbeiter gemeintist, welche durch die eben aufgezählten Gesetze abgemildert werden soll, erkann aber auch an die beiden kurz zuvor mit einem Himmelsgericht beende-ten Erzählungen von der spanischen Sklavenjägerpraxis denken und an de-ren königlich protegierte Exponenten vom Schlage des Ayllón. Kritik amusus ist deutlich, doch indem sie sich gegen ein unbestimmtes „sie“ richtet39

und das Kritisierte nur metaphorisch benennt, ist ihr die Brisanz genommen.

VII

Bis hierher stellen sich die inhaltlichen Parallelen von Dec. 7,4 zurBriefstelle nicht wie im Brief als gegensätzliche Voten in einem Streit-gespräch dar, sondern sind als eigene Beobachtungen und Wertungendes Autors vorgetragen. Trotz Martyrs allgegenwärtiger Vorsicht istder Ton in dieser Argumentation spanierkritisch und indiofreundlich,und obwohl das Thema „Freiheit oder nicht“ bisher noch nicht zur Spra-che gekommen ist, wird doch deutlich, daß Martyr eine Verbesserungder gegenwärtigen Lage der Indios wünscht und befürwortet.

Erst das Pendant zur „langen Erfahrung“ des Briefes, das auch hierauf das Votum des usus folgt, präsentiert er als Gegenstand einer De-batte, die sich im Indienrat 1524 an gegensätzlichen Gutachten hin-sichtlich des Rechtsstatus der Indios entzündet haben soll. Dies bestä-tigt den Eindruck, der sich aus der Analyse der Argumente in Epist.806 ergeben hatte und der nahelegte, daß auch dort nach den ersten dreiMeinungen ein neuer Kontext aufgerufen ist. Im Brief hatte die Aus-

39 Seit dem Übergang von der Iukayer-Geschichte (Dec. 7,4,13) steht trotz mehrmali-gen Subjektwechsels nirgends ein nominales Subjekt, wenn es um „die Spanier“ geht.

299Petrus Martyr d'Anghiera über die Freiheit der Indios

führlichkeit, mit der Martyr auf diese Meinung einging, darauf hinge-deutet, daß er seinem Adressaten damit eine Neuigkeit mitteilt. DerVergleich mit Dec. 7,4 bestätigt auch dies. Nachdem Martyr vom Be-ginn der siebenten Dekade bis hierher nur älteres Material oder solchesohne konkrete zeitliche Lokalisierung gebracht hat, geht er hier, in Dec.7,4,17, ausdrücklich zur Tagespolitik über.40

Da es sich als unwirksam erwiesen hat, die Gesetzesübertretungen zubestrafen, so fährt der Historiker fort, stehen erneut Gegenmaßnahmen aufder Tagesordnung des Indienrates; man denkt dabei an neue Gesetze unddie Ersetzung der alten Verwaltungsbeamten. Wie das Schicksal der Über-lebenden sich gestalten wird, hängt von einer strittigen Entscheidung ab:41

„Wir sind (noch) im Zweifel, ob sie als Freie angesehen werden müssen undman von ihnen keinerlei Zwangsarbeit oder Arbeit ohne Lohn verlangen darf.“42

Da die Indios nach Ausweis der oben angeführten königlichen Gesetzekeine Sklaven sind, kann es hier nur um die Frage gehen, ob man ihnenin Zukunft, um ihr Überleben zu ermöglichen, eine „vollständige“ Frei-heit zusprechen sollte. Das würde nichts anderes bedeuten als ein Ver-bot der Zwangsarbeit und eine Aufhebung des kaiserlichen distinguit.Aus Martyrs Kritik an den Sklavenfängern heraus, aus seiner Anrufungdes Gottesgerichts und dem offensichtlichen Versagen der bisherigenRegelung des ius imperiale angesichts einer verabscheuungswürdigenPraxis fühlt sich der Leser beinahe genötigt, die Frage zu bejahen, under wähnt Petrus Martyr dabei auf seiner Seite.

Doch „zwischen verschiedenen Meinungen gewichtiger Männer über-kommt uns Ungewißheit“, bekennt dieser und führt im folgenden alsbesondere Ursache dieses Zweifels schriftliche Gutachten von Domini-kanern an, die sämtlich auf Versklavung lauten (Dec. 7,4,17). Die Ge-wißheit, die sie ins Wanken bringen, kann nur die Einsicht gewesensein, daß die Freiheit der Indios eine Notwendigkeit sei. Ob dies diebisherige Position des Indienrates war,43 bleibt dunkel; sehr wahrschein-

40 Die Expedition nach Chicora fand 1521 statt (Dec. 7,4,6-7), die Täuschung der Iukayerum 1510 (Dec. 7,1,21; Höffner, Christentum (wie Anm. 10), S. 146). Loaysa, den MartyrDec. 7,4,28 nennt, wurde im August 1524 Präsident des Indienrates; die letzte datierbareNachricht der Dekade in 7,6,16 bezieht sich auf September 1524.

41 Dec. 7,4,17: Novas nunc iterum constitutiones ordimur et novos mittere rectorescogitamus; experiemur quid fors velit in relictis: an ut liberi esse debeant nec ab invitislabor ullus aut sine precio exigatur, haesitamus.

42 Die von Martyr in diesem Satz gebrachten Vorschläge stellen keine Alternativendar, sondern ergeben sich als Folgerungen aus dem Status der „vollständigen Freiheit“;vgl. H. Menge (Verf.)/Th. Burkard/M. Schauer (Hg.), Lehrbuch der lateinischen Syntaxund Semantik, Darmstadt 2000, §§ 523,3 u. 5; 415,5. Zur Debatte steht also die Entlassungder Indios aus der Encomienda. Richtig übersetzt nur J. Torres Asensio in: ders. (Übers.)/R. Alba (Hg.), Pedro Mártir de Anglería, Décadas del Nuevo mundo, Madrid 1989, S. 439;nicht korrekt P. Gaffarel, De Orbe Novo de Pierre Martyr Anghiera. Les Huit Décadestraduites du Latin, avec notes et commentaires, Paris 1907, S. 600 f.; H. Klingelhöfer,Peter Martyr von Anghiera, Acht Dekaden über die Neue Welt, 2 Bde., Darmstadt 1972-73, 2. Bd., S. 197; Mazzacane/Magioncalda, De orbe novo (wie Anm. 19), 2. Bd., S. 775.

43 So Cantù, Ideologia (wie Anm. 7); anders Schäfer, Consejo (wie Anm. 36), S. 255.

300 UTE TISCHER

lich ist aus dem Vorangegangenen aber, daß Martyr selbst dieser nunangefochtenen Haltung nicht abgeneigt war oder ist. Zumindest einige„gewichtige Männer“ müssen die Forderung nach Freiheit in die De-batte eingebracht haben, denn sie bildet das eigentliche Thema derÜberlegungen, und man darf wohl auch vermuten, daß die Autoritätdieser Männer ebenso wie bei den dominikanischen Missionaren, die imfolgenden das Wort erhalten, auf ihrer praktischen Erfahrung mit denIndianern beruhte. „Verschiedene Meinungen“ räumt Martyr ein, dochwer im Indienrat dafür eintrat, den status quo hin zu vollständiger Frei-heit zu ändern, übergeht er mit tiefem Schweigen. Akzeptiert man dievon mir vorgeschlagene Konjektur, ergäbe sich auch im Brief das ent-sprechende Bild einer mit gegensätzlichen Erfahrungstatsachen argumen-tierenden Runde, bei der Martyr die Existenz der Freiheitsbefürworterzwar nicht leugnet, das Wort aber ausschließlich ihren Gegnern erteilt.

Das erste Votum, das Martyr referiert, stellt eine adäquate, wennauch paradoxe Antwort auf die Dec. 7,4,17 gestellte Zweifelsfrage dar,ob Freiheit für das Überleben der indianischen Rasse notwendig sei.Paradox ist sie, weil sie zeigt, daß die Befürworter des Sklavenstatusnicht gleichzeitig auch Indiofeinde sein müssen. Angesichts der Hilflo-sigkeit gegenüber der Goldgier der Spanier rät dieses erste Gutachtenvon libertas ab und schlägt vor, eine schonendere Behandlung der In-dios zu fördern, indem man die zeitlich befristete Zuteilung als Arbeits-kräfte durch eine „dauerhafte und erbliche Gehorsamspflicht“ ersetze.Die spanischen Besitzer würden die Eingeborenen dann nicht mehr quasials fremdes Gut ausbeuten, sondern die „armen Unglücklichen“ als ihrEigentum pfleglich behandeln und für ihre Reproduktion sorgen (Dec.7,4,17-20). Im Sinne der bisherigen kaiserlichen Gesetze setzt dieseMeinung die Berechtigung der Zwangsarbeit voraus, möchte zugleichaber die Indios geschützt sehen.

Ein zweites Argument ist weit kürzer behandelt. Es führt gegen dieFreilassung als Erfahrungstatsache die Gefährlichkeit „jener Barbaren“für die Christen ins Feld. Verschiedentliche Versuche hätten zudemgezeigt, daß die Freiheit für die Indios selbst nicht nur nutzlos, sondernauch gefährlich sei und sie alsbald zu Trägheit und Rückfall in heidni-sche Gewohnheiten verleite (Dec. 7,4,21).

Martyr gibt diese Meinungen ohne Kommentar wieder. Aus seinenvorangegangenen Ausführungen muß man folgern, daß ihre Faszinati-on für ihn darin bestand, daß sie Zweckmäßigkeit für die Indios be-haupten. Doch obwohl sie nach seiner Angabe beide von Dominika-nern stammen, beruhen ihre Nützlichkeitserwägungen auf einem sehrunterschiedlichen Bild von den Eingeborenen. Während das erste Ar-gument unschuldige Opfer beschreibt und den Spaniern ein ebensoschlechtes Zeugnis ausstellt wie der gesamte vorangegangene Bericht,zeichnet der zweite Beweisgang die Eingeborenen als durchaus nichtunschuldig, sondern notorisch christenfeindlich, faul, abergläubisch undinsgesamt unfähig zur Freiheit. Argument eins plädiert für eine Ände-

301Petrus Martyr d'Anghiera über die Freiheit der Indios

rung des status quo, Argument zwei möchte diesen beibehalten. Ob-wohl das pro servitute und das contra libertatem der beiden Voten kom-plementär sind, fällt es schwer, diese Haltungen ein und denselben Zeu-gen zuzuschreiben.

Die beiden Argumente entsprechen in chiastischer Ordnung den zweiBegründungen für das sklavereibefürwortende Votum der „Erfahrung“in Epist. 806.44 Dort sind, anders als in der Dekade, neben Dominika-nern auch Franziskaner als Erfahrungsgutachter genannt, und so liegtes nahe, die beiden schlecht zu vereinbarenden Begründungen auf die-se beiden Zeugengruppen zu verteilen. Über die Nützlichkeitserwägung,in der sich ihre Argumente treffen, hat Martyr beide im Brief zusam-mengefaßt und in der Dekade das franziskanische Votum ganz unterdasjenige der Dominikaner subsumiert. Daß ihre praktischen Forderun-gen in bezug auf die Änderung oder Beibehaltung des status quo diver-gieren und ihre Ausgangspunkte und Intentionen keineswegs dieselbensind, geht dabei unter.45

VIII

Mit den beiden eben besprochenen sententiae der Missionare enden inDec. 7,4 die Parallelen zur Freiheitsdebatte des Briefes, doch ist dasThema damit hier noch nicht abgeschlossen. Ohne äußerliche Zäsurkündigt Martyr einen „dritten, besonders schrecklichen Grund“ an, „mitdem man beweist, daß die Indios die Freiheit nicht verdienen“. Es folgtdie dramatische, rhetorisch ausgeschmückte Erzählung, wie die Zög-linge einer dominikanischen Klosterschule in Chiribichí (an der Nord-küste Venezuelas), die die Mönche in friedlicher Missionsarbeit untervielen Mühen schon zu guten Fortschritten im Glauben gebracht hat-ten, plötzlich, „wie Wölfe, die ihre alte Haut wieder anlegen“, mit ih-ren Stammesgenossen über ihre Wohltäter herfielen, diese töteten unddas Kloster zerstörten (Dec. 7,4,22-26).

44 Dies zeigen neben inhaltlichen auch sprachliche Übereinstimmungen: Argument 1im Brief (quod ... revertuntur) entspricht Argument 2 in der Dekade, vgl. in abominabiliavitia proclives; ad obscoenos errores […] revertuntur (Epist. 806) und ad veteresque suosritus et foeda facinora revertuntur (Dec. 7,4,21); Argument 2 im Brief (Accitos ... relin-quantur) entspricht Argument 1 in der Dekade, vgl. quid fore putent satius (Epist. 806)und multo satius fore illisque securius (Dec. 7,4,17). Aus der Beobachtung, daß die Be-gründung der experientia in ep. 806 diesen beiden Argumenten in Dec. 7,4 entspricht,resultiert offenbar die Konjektur von Magioncalda/Mazzacane ut servi sint (= Argument1), ne liberi sint (= Argument 2) (Discovery (wie Anm. 1); vgl. aber Salas, Tres cronistas(wie Anm. 8), S. 55, für den Epist. 806 durch die Ortiz-Rede (s. u. S.) inspiriert ist.

45 Das erste, eher indiofreundliche Argument in Dec. 7,4 geht mit Wahrscheinlichkeittatsächlich auf Dominikaner zurück, denn Versklavung ist für eine etwas spätere Zeit auchanderweitig als dominikanischer Versuch bezeugt, die Ausrottung der indianischen Be-völkerung zu verhindern; vgl. Höffner, Christentum (wie Anm. 10), S. 155 f.; das zweite,eher indiokritische wäre dann den Franziskanern zuzuteilen; daß es der von diesen vertre-tenen Haltung zur Indiofrage entspricht, wurde schon früher beobachtet; vgl. ebd., S. 155;216; 280 f. u. Anm. 57.

302 UTE TISCHER

Obwohl dieses dritte Argument das negative Indianerbild des voran-gegangenen Votums als ränkevolle Christenfeinde aufgreift, unterschei-det es sich von den beiden ersten Meinungen in mehrerer Hinsicht. Eshandelt sich nicht um eine allgemeine Einschätzung, sondern um eineAnekdote, die sich auf ein ganz bestimmtes Ereignis und ganz bestimmteIndios bezieht. Diese werden in Martyrs Zeichnung zu Exempeln füreinen quasi angeborenen Undank und die Neigung zum Rückfall in einetierisch-wilde Natur. Offensichtlich aber sind diese Indios nicht iden-tisch mit denjenigen, die die Vertreter der ersten beiden Voten vor Au-gen hatten, denn sie sind nicht zur Arbeit verpflichtet, haben „eine gro-ße Schar bewaffneter Stammesgenossen“ im Rücken und weilen als Freiebei den Missionaren. Die Verweigerung der Freiheit bedeutet für siealso nicht das Abweichen vom kaiserlichen status quo, sondern, ähn-lich wie im Falle der Iukayer und Chicoraner, die Versklavung bis dahinnoch nicht unterworfener Menschen. Zudem beantwortet dieser „dritteGrund“ nicht wie die beiden anderen die Frage, was für die Indios nütz-lich wäre, sondern diejenige, wie man sie bestrafen und in Zucht haltensollte. Auf welcher Seite Recht und Unrecht in dem Falle stehen, zeigtMartyr sehr deutlich, indem er dem negativen Wesen dieser Indios dieausgesprochen positive Erscheinung der aufopferungsvollen Missiona-re entgegenstellt und das grausame Geschehen auch explizit verurteilt(Dec. 7,4,25). Doch die Verallgemeinerung dieses Einzelfalles und dieSchlußfolgerungen für die zur Diskussion stehende Frage nach demRechtsstatus, den man den Indios zuweisen sollte, überläßt er dem Le-ser. Seine Geschichte könnte beweisen, daß „sie die Freiheit nicht ver-dienen“, doch Martyr führt den Beweis nicht und vermeidet wiederumgeschickt eine eigene Entscheidung.

IX

Obwohl es nach dem Mord an den Missionaren so scheint, als sei dietertia causa pro servitute damit abgehandelt, findet diese Argumentationin der Rede des Dominikanerpaters Tomás Ortiz etwas später eine spek-takuläre Fortsetzung. Dieser Geistliche, der beim Attentat in Chiribichíentkommen war, tritt in eigener Person mit einer längeren Tirade auf, dieMartyr, singulär in den Dekaden und für Historiographie in antiker Tradi-tion allgemein ungewöhnlich, in der Originalsprache Spanisch wiedergibt.46

Darin zeichnet er die Eingeborenen unter zum Teil lächerlichen Anschul-digungen als boshafte Fratzen, die den schlimmsten Klischees kultur- undsittenloser Barbaren entsprechen, und votiert gegen ihren freiheitlichenStatus, „weil sie die Freiheit nicht verdienen“ (Dec. 7,4,29-31).

46 Er übergeht damit das rhetorische Gebot der Einheitlichkeit des Stils, welches dazunötigt, auch „fremde“ Texte dem eigenen stilistisch anzupassen. Die Folgerung daraussind Umformulierungen fremder wörtlicher Rede und die Übersetzung von Implementen,die von der Basissprache abweichen; vgl. E. Norden, Die antike Kunstprosa, 2 Bde., Leip-zig, Berlin 1909, 1. Bd., S. 89 f.

303Petrus Martyr d'Anghiera über die Freiheit der Indios

Unterbrochen wird der Zusammenhang zwischen Bericht und Rede durcheine umständliche Rechtfertigung, die Martyr durch Erklärungsbedarf ge-genüber seinem Adressaten motiviert: „Doch Umschweife beiseite, damitDu nach meinen heftigen Anklagen verstehst, daß die Spanier in gewisserHinsicht zu entschuldigen sind, wenn sie behaupten, man dürfe jenen dieFreiheit nicht gewähren, möge Deine Exzellenz eines der Schreiben lesen,die unserem Indienrat von Brüdern vorgelegt wurden, die entkommen sind“(Dec. 7,4,27). Bevor er diese Ankündigung in die Tat umsetzt, trifft ereinige Vorsichtsmaßnahmen, die für den Leser unfehlbar sicherstellen sol-len, daß er an dieser Rede keinerlei Anteil hat. Obwohl ihm das Votumgenau wie die anderen Vorschläge der Missionare schriftlich vorliegt, setzter dazu für den Leser die Sitzung des Indienrats in Szene, in der Ortizaufgetreten ist, und läßt ihn dort das Dokument viva voce als eigene direk-te Rede vortragen. Damit macht er sich zugleich die Ratsmitglieder zuZeugen, besonders aber ihren Präsidenten, den Dominikanergeneral Gar-cía de Loaysa, dessen auctoritas er ausführlich beglaubigt. „In dessen47

eigener Sprache Spanisch“ und ohne Übersetzung ins Lateinische präsen-tiert er das Dokument schließlich in voller Länge, „damit keiner mir vor-werfen kann, es sei am Sinn der Sache und an der Absicht des Überbrin-gers beim Übersetzen irgendetwas verändert worden.“

All dies demonstriert für den Leser, daß das unvorteilhafte Bild derIndios, das sich aus diesem Augenzeugenbericht ergibt, und die darausresultierende Folgerung, daß „sie die Freiheit nicht verdienen“, nichtMartyrs eigene Ansicht repräsentieren.48 Angesichts des Inhalts der Redekönnen sich diese Abgrenzungsmanöver nur gegen den Vorwurf rich-ten, er stelle die Indios zu negativ dar und vertrete damit dieselbe Posi-tion wie Ortiz. Er muß von Personen kommen, die positiver von denEingeborenen denken und ihre vollständige Freilassung befürworten.Die Vertreter dieser Position erscheinen hier wie in der ganzen Debattenur als großer Schatten. Für die Stärke ihrer Argumente spricht jedoch,daß Martyr sich genötigt fühlt, diesen nicht nur ausschließlich Votenpro servitute, sondern überdies noch die in jeder Hinsicht extreme Or-tizrede entgegenzusetzen – um zeigen zu können, daß auch die Befür-worter der Versklavung „in gewisser Hinsicht zu entschuldigen sind“.Ob er diese „Entschuldigung“ für stichhaltig oder allgemeingültig hält,verschweigt er mit großer Sorgfalt.

47 Dec. 7,4,28. Ein Bezug des Pronomens suomet auf den Brief („in seiner eigenenSprache“) liegt an sich nahe und findet sich in allen konsultierten Übersetzungen (Gaffa-rel, De orbe novo, S. 602 f.; Klingelhöfer, Dekaden, 2. Bd., S. 199; Torres Asensio, Déca-das, S. 440 (wie Anm. 42); Mazzacane/Magioncalda, De orbe novo (wie Anm. 19), 2. Bd.,S. 779). Diese ignorieren allerdings sämtlich den vorangehenden cum-Satz, den man nichttemporal („als wir unter Loaysa tagten“), sondern nur kausal verstehen kann („weil wirunter Loaysa tagten, i.e. als der Brief vorgetragen wurde, höre ihn nun in seiner, i.e. Loay-sas, eigenen Sprache Spanisch“). Zum Bezug des reflexiven Possessivpronomens auf ob-lique Kasus vgl. Menge, Lehrbuch (wie Anm. 42), § 84,2c.

48 Anders Cantù, Ideologia (wie Anm. 7), S. 238.

304 UTE TISCHER

Die Anklagen gegen die spanischen Sklavenfänger und Sklavenbe-sitzer49 jedoch, die durch Ortiz’ Ausführungen relativiert werden soll-ten, sind aus Martyrs eigenem Herzen gesprochen, und sobald der Do-minikaner seine Rede beendet hat, kehrt er zu ihnen zurück. Mit einemletzten Hinweis auf die „täglichen“ Kontroversen über dieses Themaverläßt er die Szene im Indienrat, um sich erneut den himmlischen Stra-fen zuzuwenden, die, „wenn auch verschiedentlich aufgeschoben“, „blu-tig auf die Häupter der Bedrücker niedergefallen sind“ (Dec. 7,4,32).Machtkämpfe untereinander, vor allem aber der Widerstand der Indioswurden – gerechterweise, wie man folgern muß – den spanischen Ag-gressoren zum Gottesgericht, sie enden als „leckere Mahlzeit“ der Kan-nibalen (Dec. 7,4,33). Mit diesem Bild beendet er das Thema der indi-anischen Freiheit ebenso unvermerkt, wie er es aufgenommen hatte,ohne ein endgültiges Fazit zu ziehen, und ohne Mitteilung über dieEntscheidung des Rates.50

Erst viel später in der Darstellung zeichnet sich ab, daß die Persondes Ortiz für Martyr ebenso heikel in der Behandlung war wie Ayllón,der Zeuge des Iukayerberichts. In der zweiten Hälfte der achten Deka-de begegnen er und die Dominikaner von Chiribichí dem Leser wiejener als persönliche Quellenzeugen einer langen ethnographischenBeschreibung der Indios auf dem Festland von Cumaná (Dec. 8,6,14-19,24, bes. 14-17). Hier, in einer von der Rede weit entfernten und de-zidiert wertungsfreien Schilderung, finden sich einige der teilweise lä-cherlichen Vorwürfe, die Ortiz den Indios gemacht hatte, völlig neutralund objektiv als Sitten und Bräuche eines fremden Volkes beschrieben,andere sind ohne Kommentar widerlegt.51 Von einer etwaigen negati-ven Einstellung Martyrs zu den Indios von Chiribichí ist an dieser Stel-le nichts mehr zu spüren.

X

Nur der Vergleich mit anderen Zeugnissen beantwortet die Frage nachder verschwiegenen Gegenseite in diesem Streitfall. Hinter den variaeopiniones der controversia verbirgt Martyr die seit 1511 einsetzendenBemühungen vor allem der Dominikaner um die Verbesserung der Lageder Indios, besonders aber die Person des Bartholomé de Las Casas, derseit 1515 einen hartnäckigen Kampf um die Rettung der Indios undihre Rechte führte.52 Zum Gegner hatte er dabei nicht nur die spani-schen Kolonisten, sondern auch mächtige Männer im Indienrat, u. a.Juan Rodríguez de Fonseca, der bis 1524 die westindische Kolonial-

49 Vgl. Dec. 7,4,6-7; 13; 15-16.50 Anders Cantù, Ideologia (wie Anm. 7), S. 238; Lunardi, Outline (wie Anm. 6), S. 404.51 Bes. Dec. 8,6,18-25: Kannibalismus, Nacktheit, Trägheit, Bartlosigkeit, Betäubungs-

mittel; 8,8,1-30; 45: Aberglaube, Völlerei, Hexerei, Unversöhnlichkeit, Ehebruch.52 Zu den Aktivitäten des Las Casas und der Dominikaner vgl. Höffner, Christentum

(wie Anm. 10), S. 145-159; Schäfer, Consejo (wie Anm. 36), S. 249-254; Hanke, Aristotle(wie Anm. 10), S. 12-27; Castañeda Delgado, Rechtfertigung (wie Anm. 35), S. 73 f.

305Petrus Martyr d'Anghiera über die Freiheit der Indios

verwaltung im Namen der Krone geleitet hatte.53 Die Anstrengungender Kleriker zeigten Erfolg: Hatten noch die Leyes de Burgos von 1512die Encomienda bestätigt, deklarierten die Erlasse von La Coruña 1520die vollständige Freiheit der Indios.54 1521 erhielt Las Casas die Be-willigung für ein Projekt der friedlichen Missionierung in Chiribichí/Cumaná, wo Dominikaner schon seit 1513 an der gewaltlosen Evange-lisierung der dort noch nicht „unterworfenen“ Ureinwohner arbeiteten.Kurz vor seinem Eintreffen wurde sein Vorhaben durch den Überfallauf die dominikanischen Missionare vereitelt, von dem Martyr in Dec.7,4 berichtet.55 Anders als dort erfährt man in der Darstellung des LasCasas,56 daß der Auslöser für diese Eskalation eine skrupellose Skla-venjägerexpedition gewesen ist, deren Vergeltung die Missionare durchein Mißverständnis traf. Aus diesem Einzelfall persönlicher Betroffen-heit heraus motiviert Las Casas auch die indiofeindliche Haltung desOrtiz, die der sonstigen Position der Dominikaner in der Indiofrageentgegengesetzt ist. Mit dem Zwischenfall begründeten die spanischenSklavenjäger massenhafte Beutezüge auf dem südamerikanischen Fest-land, was wiederum die Gegner der Versklavung mobilisierte. Nach derdadurch angestoßenen Prüfung des Problems durch García de Loaysa57

erklärte Karl V. mit Zustimmung des Indienrates die Indios des Fest-landes 1525 zu „rechtmäßigen“ Sklaven.58 Zugleich betonten jedochdie Ordenanzas von 1526 wiederum die rechtliche Freiheit der übrigenEingeborenen, insbesondere der Einwohner von Española und den An-tillen, ohne daß am System der Encomienda etwas verändert wurde.59

XI

Die Zusammenschau der beiden Texte läßt Parallelen in Informations-gehalt und Argumentationsgang erkennen, die bis zur Übereinstimmungin der Formulierung reichen. Das Fragment aus Epist. 806 stellt sichbei diesem Vergleich als eine rhetorisch zugespitzte und vereinfachteZusammenfassung der Darstellung in Dec. 7,4 dar. Die dort zusammen-gestellten Überlegungen und Informationen sind im Brief schärfer ge-

53 E. Schäfer, Der Königl. Spanische Oberste Indienrat. Consejo Real y Supremo de lasIndias, 1. Teil: Geschichte und Organisation des Indienrats und der Casa de la Contrata-ción im 16. Jahrhundert, Hamburg 1936, S. 44-53.

54 Schäfer, Consejo (wie Anm. 36), S. 251-253.55 Zu den Ereignissen in Chiribichí vgl. F. MacNutt, Bartholomew de Las Casas. His life,

apostolate, and writings, Cleveland 1909, S. 127 f.; Hanke, Aristotle (wie Anm. 10), S. 18.56 Apologética historia sumaria 3,246 (eine explizite Richtigstellung zu Dec. 7,4); His-

toria de las Indias 3,156.57 Zu dessen Person und Amtstätigkeit vgl. Schäfer, Indienrat (wie Anm. 53), S. 59-62;

J. Pérez de Tudela, El presidente Loaysa, la Real provisión de Granada y las Leyes Nue-vas, in: L. Suárez Fernández (Hg.), El consejo de las Indias en el siglo XVI, Valladolid1970, S. 49-60, hier: S. 51-54.

58 López de Gómara, Historia General de las Indias 217; Herrera, Historia general 3,7,10.59 Herrera, Historia general 3,9,2; Schäfer, Consejo (wie Anm. 36), S. 258-262; Pérez

de Tudela, El presidente (wie Anm. 57), S. 54 f.; Cantù, Ideologia (wie Anm. 7), S. 237 f.

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faßt in Form voneinander abgegrenzter Positionen, die jeglicher per-sönlicher Note entkleidet wurden. Bis auf eine Ausnahme, die Nen-nung der Franziskaner als Erfahrungsgutachter, fügt die Briefnotiz demBericht der Dekade keine unabhängigen Informationen hinzu. Ihre Funk-tion für den Adressaten ist die knappe Vorabmeldung vor Eintreffendes ausführlicheren Manuskripts. Dieses ergänzt den Brief vor allem inHinblick auf die Bewertung der einzelnen Standpunkte, und genau da-rin dürfte die Absicht des Verweises auf die Dekade an dieser Stelleund zu diesem Thema liegen.

Was die eigentlichen Argumente angeht, bietet Dec. 7,4 über die inEpist. 806 referierten Meinungen hinaus den als „dritten Grund“ be-richteten Überfall von Chiribichí und die damit zusammenhängendeRede des Tomás Ortiz. Beides ließe sich ohne Bruch aus der Erzählungherauslösen. So könnte die Tatsache, daß dieser Abschnitt im Brief nichterscheint, sein Sonderstatus in der Argumentation und die Auffällig-keiten seiner Behandlung darauf hinweisen, daß es sich hierbei um ei-nen Nachtrag handelt, den Martyr erst nach der Abfassung des Briefeseingefügt hat.60

In Dec. 7,4 ist es vor allem diese Passage, die als Zeugnis für Mar-tyrs ungünstige Meinung über die Indios angeführt wird. Der indioun-freundliche Eindruck dagegen, den der Brief hinterläßt, resultiert, wieder Vergleich mit der Dekade zeigt, in erster Linie aus der Knappheit,in der die verschiedenen Standpunkte abstrakt und gleichwertig neben-einander stehen. Die parallele Darstellung in Dec. 7,4 setzt dem eindurchaus helleres Bild entgegen. Erst hier erschließt sich, daß es Mar-tyr beim „Zweckmäßigen“ nicht in erster Linie um das Interesse derSpanier, sondern um dasjenige der Indios geht. Der Leser erfährt, daßauch die Exponenten der experientia dieses Ziel, den Nutzen für dieIndios und ihr Überleben als Volk, verfolgen. Zumindest deren erstesund zugleich am ausführlichsten besprochenes Votum offenbart sich alsindiofreundlich, obwohl es die Änderung des status quo zu wirklicherSklaverei befürwortet. Übergriffe gegen die Freiheit der Indios kritisiertMartyr, Gesetze, die die Indios schützen, lobt er. Die pro servitute votie-renden Erfahrungsgutachten trägt er unkommentiert und explizit als frem-de Meinung vor. Das Gottesgericht gegen die Spanier als Pendant zu deniura naturalia pontificiaque wird in Dec. 7,4 von allen Standpunkten amdeutlichsten von seiner Zustimmung begleitet und bildet den Rahmendes Themas insgesamt. Während sich in Epist. 806 ein Argument prolibertate (iura naturalia pontificiaque) vier Voten gegenüberfindet, diedie Freiheit ganz oder teilweise ablehnen, ist es in der Darstellung der De-

60 Der Brief ist datiert auf den 22.2.1525, möglicherweise ein falsches Datum (Bernays,Petrus Martyr (wie Anm. 7), S. 232); die Ereignisse in Dec. 7 reichen etwa bis September1524, doch Dec. 8, die in Epist. 806 zusammen mit Dec. 7 angekündigt ist, enthält nochdie Hochzeit Karls V. im März 1526 (Dec. 8,10,100). Herrera und Gómara (s. o. Anm. 58)datieren die Entscheidung des Rates nach der Ortizrede auf 1525.

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kade nur der usus der Sklavenfänger und Sklavenhalter, der allen anderenArgumenten entgegensteht, die im Brief eine Entsprechung finden.

Wo Martyrs eigene Position liegt, kann sich der Leser aus dem Texterschließen, wenn er den mehr oder weniger sorgfältig gelegten und ver-wischten Spuren folgt. Aus seiner Kritik an den Spaniern, aus der Interpre-tation der königlichen Gesetze, aus der Suche nach einer nicht näher be-zeichneten Lösung für die Überlebenden, aus der Befürchtung, daß seine„heftigen Anklagen“ nun auch den Adressaten und Leser zu sehr gegen dieSpanier eingenommen haben könnten, darf man folgern, daß der Histori-ker dem freiheitlichen Status der Indios mit Sympathie gegenübersteht.61

Doch ein hervorstechendes Charakteristikum der Dekade ist Vor-sicht. Positive Aussagen und eine explizite Positionierung sind, ebensowie im Brief, geschickt und konsequent vermieden. Gegen wen sichMartyr absichert, ist dabei nicht immer klar zu erkennen. Deutlich istsein Bemühen, Gewährsmänner nicht bloßzustellen, auch wenn derenVorgehen oder Einstellung ihm mißfällt. Ebenso erkennbar vermeideter direkte Kritik an der Indiopolitik der Krone.

Weniger leicht verständlich ist seine Absicherung gegenüber den„Indiofreunden“, deren Identität in vollständiges Dunkel gehüllt bleibt.Besonders aus den umständlichen Erklärungen, die der Ortiz-Rede vo-rangehen, gewinnt man den Eindruck, daß er selbst zu ihnen gehört undsich nun rechtfertigt, weil sein Bericht diesem Bild ausnahmsweise nichtzu entsprechen scheint.

Gerade unter diesen Umständen ist es schwer nachvollziehbar, daßMartyr die Rolle des Las Casas und dessen Bemühungen für die Indiosvollkommen unterschlägt. Dieselbe Beobachtung läßt sich jedoch fürden Rest der Dekaden machen, in denen der Name des Dominikanersebenfalls nirgends fällt, ebenso wie die schon seit 1512 heftig disku-tierte Frage nach der Behandlung der Indios nur dieses eine Mal einenspäten Niederschlag in Martyrs Werken findet. Der Grund für dieseFehlstelle ist sicherlich die politische Brisanz des Themas, aber wohlauch seine eigene Abhängigkeit und Nähe zu mächtigen Befürworterndes status quo im Indienrat und am Hof. Eine weitere Rolle mag dasschwierige Verhältnis zwischen der spanischen Krone und seinen Adres-saten und Korrespondenten in Italien und im Vatikan gespielt haben.62

Wirklich auffällig wird seine Zurückhaltung erst bei den eng mitLas Casas’ Person verknüpften Ereignissen in Chiribichí. Hier stellt ersich nicht nur selbst auf die Seite der zu Unrecht angegriffenen Missio-nare, sondern gibt deren durch Ortiz repräsentierte, subjektiv verständ-liche Perspektive ohne die zu erwartende Relativierung zugunsten derEingeborenen wieder, und dies, obwohl das tatsächliche Geschehen,

61 Vgl. Eatough, Selections (wie Anm. 6), S. 32.62 Cantù, Ideologia (wie Anm. 7), S. 237 f.; Eatough, ebd., S. XII; zu Martyrs Situation

allgemein vgl. E. Lunardi, Decades de Orbe Novo, in: Lunardi/Magioncalda/Mazzacane(wie Anm. 1), S. 437-448, hier: S. 447 f.; zu den Verhältnissen im Indienrat Pérez deTudela, El presidente (wie Anm. 57), S. 49-60.

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wie der Parallelbericht bei Las Casas zeigt,63 seinem bisher entworfe-nen Bild von Indios und Spaniern durchaus entsprochen hätte. Warumer dies, im Widerspruch zu seiner aus dem Kontext ersichtlichen Pra-xis, hier tut, ist schwer zu sagen. Einen Hinweis könnte der Einschub-charakter der Passage geben: Möglicherweise waren die Nachrichtenvon der Katastrophe der Missionare in Chiribichí und das aktuelle Auf-treten des Ortiz im Indienrat so aufwühlend, daß zu diesem Zeitpunkteine relativierende Darstellung mit Abstand nicht möglich war.64 Denk-bar ist, daß Martyr unter Zeitdruck nicht mehr letzte Hand angelegt hat.Vielleicht ist die Episode aber auch Ausdruck derselben Verwirrungüber diese mit der Beweiskraft der experientia vorgetragene Haltungdes Dominikaners Ortiz, die auch den modernen Leser ergreift und fürdie indiofreundliche Politik dieses Ordens in der Neuen Welt so unty-pisch zu sein scheint.

XII

Fehlendes Mitgefühl für die Ureinwohner Amerikas, religiöse Unduld-samkeit, Kälte, Berechnung und politisches Taktieren65 – für Alexan-der von Humboldt ist Martyrs Brief 806 „in jenem Zögern, seine eigeneAnsicht offen auszusprechen, jenen Zweifeln, die man über die Schwie-rigkeiten einer geeigneten Wahl zwischen dem, was gerecht, und dem,was ungerecht ist, vorspiegelt, um seinen Geschmack für Sklaverei undMaßregeln der Härte besser zu bemänteln“, der Prototyp für die zu al-len Zeiten stattfindende ideologische Rechtfertigung von Verbrechen.66

Humboldt hat die Dekaden 7 und 8 nicht gekannt, und sein hartesUrteil gründet sich allein auf das Brieffragment.67 Wie es scheint, warsich auch Martyr der Verkürzungen bewußt, die seine Notiz vom jüngs-ten Stand einer langen Diskussion mit ihrer teils dem Briefstil, teilsdem Bemühen um rhetorischen Glanz geschuldeten Knappheit bewir-ken mußte, und möglicherweise fühlte er sich deshalb veranlaßt, demharschen Eindruck dieser Meldung durch seinen Verweis auf die parti-cularia ein Korrektiv beizufügen.68

63 Apologética historia sumaria 3,246; vgl. Cantù, Ideologia (wie Anm. 7), S. 238.64 Vgl. die von Salas, Tres cronistas (wie Anm. 8), S. 33 referierte Einschätzung Mar-

tyrs als „Sklave der Neuigkeiten“.65 Kritische Untersuchungen (wie Anm. 1), 1. Bd., S. 486.66 Ebd., 2. Bd., S. 218.67 Weder im Kosmos noch in den Kritischen Untersuchungen zitiert Humboldt Dec. 7

und 8, vermutlich, weil er Ausgaben benutzte, die nur die ersten drei Dekaden enthielten:De rebus Oceanicis et Orbe Novo Decades tres […], Basel 1533; vgl. Kritische Untersu-chungen, 2. Bd., S. 81, Anm. *; (dieselbe Ed. ist gemeint 1. Bd., S. 485-486, Anm. *; 426,Anm. *); Kosmos (wie Anm. 2), S. 161, Anm. 371; 524; De rebus Oceanicis et Novo Orbedecades tres […], Damiani a Goes […], Köln 1574; vgl. Kritische Untersuchungen, 2. Bd.,S. 134, Anm. **; 331, Anm. *; Kosmos, S. 173, Anm. 400. Folgerichtig läßt er MartyrsHinweis auf die particularia in seinem Zitat aus.

68 Beide Texte zielen auf eine Öffentlichkeit ab: Die Briefe des Opus epistolarum sindzwar privater Natur, die Verwendung des Lateins und Anzeichen von Überarbeitung deu-

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Geht man dem Verweis nach, wie es im Vorangegangenen versuchtwurde, und bezieht man dabei auch den weiteren Kontext ein, erweistsich der Historiker und Epistolograph in der Tat als umsichtiger Tak-tierer, dem es durch die raffinierte Disposition seines Materials, klugeStrategien der Absicherung und Relativierung und nicht zuletzt durchdie Flexibilität der lateinischen Sprache69 in erstaunlicher Weise ge-lingt, seine eigene Meinung zu zeigen und doch jedem konkreten Zu-griff zu entziehen. Mit etwas weniger moralischer Strenge als Hum-boldt schreibt man dies eher dem Konflikt zu, der aus den verschiede-nen Rollen resultierte, denen Martyr verpflichtet war: der Rolle desHofmannes, der in vielerlei Abhängigkeiten stand, des Gelehrten, der sichnicht als Teilnehmenden, sondern als Beobachter sah, und des Humanis-ten, an dessen Sympathie für die Indios, dessen Interesse gerade auch fürdie kulturellen Eigenarten der Eingeborenen und seiner Mißbilligung derKolonisationspraxis die Dekaden keinen Zweifel lassen.

ten aber auf eine Veröffentlichungsabsicht des Autors hin; die Dekaden sind formal ebenfallsBriefe und nicht zum Druck vorgesehen, doch Martyr rechnet damit, daß sie privat weiter-gegeben werden, läßt sie selbst mehreren Personen zukommen und hat deutlich einen grö-ßeren gelehrten Leserkreis im Blick.

69 Zu Martyrs Latein vgl. G. Ponte, Pietro Martire d’Anghiera scrittore, in: Pietro Mar-tire (wie Anm. 7), S. 151-174, hier: S. 168-174.