Papapavlou, M. 2011. Zigeuner in Griechenland. Eine kritische Literaturübersicht

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8. Ausgabe, 2. Auflage 14. Ausgabe 8. Ausgabe, 2. Auflage 15. Juni 2011 Spezial zur Literatur über Zigeuner/Roma in Griechenland 1 Maria Papapavlou - Vorwort zur Spezialausgabe der Tsiganolo- gischen Mitteilungen „Zigeuner in Griechenland“ 3 2 Maria Papapavlou über Zigeuner in Griechenland - eine kritische Literaturübersicht 6 3 Anna Hoppe über Marginal Majority and disheveled otherness: debating Gypsyness on the Greek-Albanian Border (A. Theodosiou) 17 4 Jolantha Schenke über Political Clientelism and Social Exclu- sion. The Case of Gypsies in the Greek Town of Sofades (N. Marantzidis, G. Mavrommatis) 27 5 Magdalena Gärtner über „Foreigners Among Foreigners“: Social Organization Among The Roma Of Athens, Greece (K. A. Kozaitis) 35 6 Jana Aurig über Labour market restructering and employment pathways: The case of a mixed community (Roma, non-Roma) in north-west Greece (S. Themelis) 41 7 Nicole Boske über The Ababas: A Rom Ritual - Magie in der Zigeunerkultur? (Y. Hunt) 47 8 Stefan Festini Cucco über Bright Balkan Morning: Romani Lives and the Power of Music in Greek Macedonia (D. Blau, C. Keil, A. Vellou-Keil, S. Feld) 63 9 Meldungen 72

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8. Ausgabe, 2. Auflage 14. Ausgabe

8. Ausgabe, 2. Auflage 15. Juni 2011

Spezial zur Literatur über Zigeuner/Roma in Griechenland

1 Maria Papapavlou - Vorwort zur Spezialausgabe der Tsiganolo-gischen Mitteilungen „Zigeuner in Griechenland“ 3

2 Maria Papapavlou über Zigeuner in Griechenland - eine kritischeLiteraturübersicht 6

3 Anna Hoppe über Marginal Majority and disheveled otherness:debating Gypsyness on the Greek-Albanian Border (A. Theodosiou) 17

4 Jolantha Schenke über Political Clientelism and Social Exclu-sion. The Case of Gypsies in the Greek Town of Sofades (N.Marantzidis, G. Mavrommatis) 27

5 Magdalena Gärtner über „Foreigners Among Foreigners“: SocialOrganization Among The Roma Of Athens, Greece (K. A. Kozaitis) 35

6 Jana Aurig über Labour market restructering and employmentpathways: The case of a mixed community (Roma, non-Roma)in north-west Greece (S. Themelis) 41

7 Nicole Boske über The Ababas: A Rom Ritual - Magie in derZigeunerkultur? (Y. Hunt) 47

8 Stefan Festini Cucco über Bright Balkan Morning: Romani Livesand the Power of Music in Greek Macedonia (D. Blau, C. Keil,A. Vellou-Keil, S. Feld) 63

9 Meldungen 72

Lieber Leserinnen und Leser,

unsere vierzehnte Ausgabe widmet sich gezielt der wissenschaftlichen Literatur zuZigeunern/Roma in Griechenland. Maria Papapavlou, ihres Zeichens Anthropologinund derzeit in Athen/Griechenland lehrend, berichtet in ihrem Vorwort über dasZustandekommen dieser Spezialausgabe, die dem Seminar „Zigeuner in Griechen-land“ entsprungen ist. Das Seminar fand während ihrer Gastprofessur im letztenSemester am Institut für Ethnologie der Universität Leipzig unter ihrer Leitungstatt. Ihre Anwesenheit war eine Bereicherung in vielerlei Hinsicht: regional be-treffend der Zugewinne hinsichtlich der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mitRoma/Zigeunern in Griechenland und methodisch aufgrund ihrer reflexiven wissen-schaftlichen Herangehensweise. Diese Ausgabe ist daher auch als Dank an MariaPapapavlou zu verstehen.

Sechs von Papapavlou’s Seminarteilnehmern besprechen in der vorliegenden Aus-gabe ausgewählte, in Englisch erschienene Artikel, die sich mit Roma/Zigeunern inGriechenland befassen. Die Studierenden sind größtenteils aus dem ersten Semesterund haben sich mehrheitlich zum ersten Mal mit tsiganologischen Themen beschäf-tigt. Viele der Fragen, die die Seminarteilnehmer in ihren Beiträgen äußern, habenwir uns zu Beginn auch gestellt oder stellen sie uns noch immer. Andere Auseinan-dersetzungen lesen wir mit Verwunderung und haben eine differente Meinung dazu.Wir erachten ihre Beiträge aber nicht zuletzt auch deshalb als wertvoll, weil sie ersteZugänge zu tsiganologischen Themen widerspiegeln. Sie behandeln zudem eine Regi-on, deren soziale Umgebung Zigeuner historisch stark beeinflusst hat. Griechenlandmuss sich heute, wenn auch in einer anderen Dimension, mit Migrationen auseinan-dersetzen. (Historische) Einblicke in Migration und Profession von Zigeunern/Romaaus dem früheren Gebiet des Osmanischen Reiches und aufgezeigte Beziehungendieser zur Mehrheitsbevölkerung können auch für ein tieferes Verständnis heutigerpolitischer, wirtschaftlicher und sozialer Umstände von Erkenntnis sein.

Anna Hoppe setzt sich mit einem Artikel der Sozialanthropologin Aspasia Theodo-siou auseinander, die auf die Entstehung der Stigmatisierung der Zigeuner im Gebietvon Parakalamos an der griechisch-albanischen Grenze eingeht. Der Text geht derFrage nach, wie räumliche Ansiedlung in den Prozess des „othering“ verwickelt ist.

Jolantha Schwenke befasst sich mit einem Artikel von Nikos Marantzidis und Ge-orge Mavrommatis, in dem soziale Ausgrenzung von Minderheiten und damit ein-hergehende Klientel-Beziehungen in Sofades, einer Stadt im zentralen Griechenland,

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beschrieben werden.

Stefan Festini Cucco nimmt den Sammelband „Bright Balkan Morning: RomaniLives and the Power of Music in Greek Macedonia“ in den Fokus. Das Buch ist Er-gebnis der Zusammenarbeit vierer Autoren aus verschiedenen Wissenschafts- bzw.Kunstzweigen, die Jumaja (heute Iraklia), eine Stadt im Distrikt Serres an Grie-chenlands nördlicher Grenze zu Bulgarien, in den Blick nehmen.

Magdalena Gärtner beschäftigt sich mit dem Text der Anthropologin Kathryn Ko-zaitis, in dem ethnische Identität und Integration von sesshaften Zigeunern in Bezugauf ihre städtische, historisch gewachsene Umgebung in Aghia Varvara, einem nord-westlichen Stadtteil von Athen, thematisiert werden.

Jana Aurig stellt den Text des Soziologen Spyros Themelis vor, der eine Studie zuden Auswirkungen der beruflichen Lebensläufe von Männern und Frauen, Romaund Gadje in Griechenland in den letzten 60 Jahren darstellt. Themelis behandeltsowohl soziale Mobilität als auch Arbeitsmarktveränderungen. Interessant ist dieserArtikel allein schon, weil er nicht nur Roma in den Fokus nimmt, sondern auch diegelernten und ungelernten Professionen von Angehörigen der übrigen lokalen Bevöl-kerungsgruppen beleuchtet. Die Roma werden so nicht explizit geschrieben, sonderneingebettet in ihre Umgebung dargestellt – ein Aspekt, den sich „Tsiganologie“ – oftaber auch nur theoretisch – als Prämisse setzt.

Nicole Boske reflektiert über einen Beitrag der Tanzwissenschaftlerin Yvonne Hunt,die den Brauch namens „Ababas“ der Zigeuner aus der ehemaligen Präfektur Ser-res untersucht. Es wird versucht, Herkunft, Verbreitung, Anwendung und Funktiondes Rituals zu erörtern. Dabei wird speziell auf die Frauen und deren Rolle bei derAusübung diverser Zeremonien eingegangen.

Wir geben bekannt, dass aufgrund der verstärkten Auslastung der Redaktionsmit-glieder die Tsiganologischen Mitteilungen nur noch vierteljährig erscheinen werden.Unsere nächste Ausgabe wird also erst zum September zu erwarten sein.

Schöne Sommertage wünscht die Redaktion

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1 Maria Papapavlou - Vorwort zur Spezialausgabe der

Tsiganologischen Mitteilungen „Zigeuner in Griechenland“

Die Spezialausgabe „Zigeuner in Griechenland” entstand als ein Gemeinschaftspro-jekt mehrerer Studierender während meiner Gast-Dozentschaft in Leipzig im letztenSemester. Für das kontextuelle Verstehen der Leser erläutere ich im Folgenden diesituationelle und zwischenmenschliche Dimension während meines Sabbatikals amInstitut für Ethnologie der Universität Leipzig. Auf einen Vorschlag von Prof. Streckhin führte ich ein Seminar zum Thema „Zigeuner in Griechenland“ durch. Seine Ideeentsprang der Erkenntnis, dass im Hinblick auf Zigeuner in Griechenland eine Lückein der allgemeinen tsiganologischen Literatur existiert. Obwohl meine Hauptbeschäf-tigung den Gitanos in Andalusien gewidmet war1, fand ich seine Idee interessant undbegann mich intensiv mit der Literatur über Zigeuner in Griechenland zu befassen.Dabei entdeckte ich eine merkwürdige Diskrepanz zwischen Studien, die auf Grie-chisch, und Studien, die auf Englisch (teilweise Deutsch) veröffentlicht worden sind,besonders nach den 90er Jahren2. Ich sah meine Aufgabe für das Seminar darin, zugriechischer Literatur zu arbeiten, diese zu präsentieren und die TeilnehmerInnendes Seminars mit den englischsprachigen Studien vertraut zu machen. Nachdem ichProf. Streck den Inhalt des Seminars vorstellte, hatte er eine zweite Idee in peto. Dadas Seminar über Zigeuner in Griechenland am Institut für Ethnologie in Leipzig soeinmalig sei, wäre es schön, eine Spur des Seminars in den „Tsiganologischen Mittei-lungen“ zu hinterlassen. Im August 2010 war es für mich noch zu früh darüber zuentscheiden, wollte ich erst einmal sehen, wie das Seminar verlaufen würde, wie dieStudenten mit der Thematik umgehen würden, ob überhaupt eine Begeisterung da-für zu wecken wäre. Im Laufe des Wintersemesters habe ich, außerhalb des Seminarsund der Vorlesung3, auch manche – leider nicht alle – Mitglieder des FTFs kennengelernt. Deren Enthusiasmus und begeisterte Widmung für tsiganologische Themenbeeindruckte mich und füllte mich voller Stolz4 über meinen ehemaligen Doktorva-ter, Prof. Streck, der ein solches dynamisches Forum über tsiganologische Forschunginitiiert hat und trotz seines Ausscheidens in den Ruhestand so aktiv blieb. Beson-ders interessant fand ich unter den vielen Aktivitäten des FTFs das elektronischeJournal „Tsiganologische Mitteilungen“ mit seinem lebendigen und manchmal kon-troversen Charakter. Dieser offene Kommunikationsraum für alle Interessierten an

1 Papapavlou, M. 2000. Gitanos und Mehrheitsbevölkerung Westandalusiens in ethnologischerPerspektive, Göttingen: Cuvillier Verlag.

2 Siehe Literaturliste am Ende des Textes.3 Ich übernahm die Vorlesung „Einführung in die Tsiganologie” im WS 2010.4 Gleichzeitig machte es mich auch traurig, da während meiner Promotionszeit in Leipzig dieseInitiative noch nicht bestand.

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tsiganologischen Themen, der jedem die Möglichkeit der argumentativen Meinungs-äußerung bietet - egal ob StudentIn, DoktorandIn, DozentIn oder von außerhalbdes Universitätsmilieus, verfügt über wertvolles und kreatives Austauschpotenzial.Die ursprüngliche Idee von Prof. Streck, einen Teil des Seminarinhaltes „Zigeuner inGriechenland“ im Rahmen der „TM“ zu veröffentlichen, teilte ich den Mitgliederndes FTFs erst Ende November mit, nachdem ich die Dynamik der Seminargruppespüren konnte. Alle fanden die Idee sehr gut und die „TM“ dafür geeignet. Mit demgleichen Enthusiasmus reagierten im Nachhinein die TeilnehmerInnen des Seminarsund waren bereit eine kleine Literaturforschungsarbeit beizutragen.Diese Spezialausgabe ist also ein gemeinsames Projekt, an dem verschiedene Perso-nen in unterschiedlicher Art und Weise gewirkt haben. An dieser Stelle möchte icherst einmal der Seminargruppe herzlich für Ihre Kooperation und Pünktlichkeit beiallen Terminen danken. Herzlichen Dank also an: Anna Hoppe, Magisterstudentinder Ethnologie, die außerhalb ihres gut bearbeiteten Textes auch die Gestaltung dergriechischen Landkarte übernommen hat; an Jolantha Schenke, Soziologiestudentin,die unser Seminar mit ihrem klaren Denken und ihrer ausnahmslose Präsenz undZuverlässigkeit bereichert hat; an Nicole Boske, Germanistikstudentin, die mit ‚kri-tischem Geist‘ die Begeisterung für Magie bei den Zigeuner in Serres behandelt hat;an Magdalena Gärtner, die Deutsch als Fremdsprache studiert und das ‚fremde Landder Tsiganologie‘ mit vorsichtigem, aber zum Schluss gelungenem Schritt betretenhat; an Jana Aurig, unsere Linguistin, an die wir uns öfter wendeten – besonders imRahmen der sprachwissenschaftlichen Studien in der Tsiganologie - und die durchihr ruhiges und konstruktives Denken beigetragen hat; und an Stefan Festini Cuc-co, Masterstudent der Ethnologie und Musiker aus dem Mittelmeerraum, der übersehr gute Deutschkenntnisse verfügt und dessen non-verbales Verhalten mich wiezu Hause fühlen ließ. Es darf nicht übersehen werden, dass die Mehrheit der Se-minarteilnehmerInnen keine Ethnologiestudenten waren, sondern aus verschiedenenFachrichtungen kamen – etwas, dass Schwierigkeiten mit sich bringt, aber auch einenfrischeren Blick auf alles wirft, was innerhalb der Ethnologie als selbstverständlichgilt.Ohne die Dauerunterstützung der FTF-Mitglieder wäre aber nichts von diesem En-gagement realisiert worden. Besonderer Dank geht an Agustina Carrizo-Reimann,„meine“ Argentinierin, die ich erst 2010 in Leipzig kennen lernte, aber irgendwieschon immer zu kennen schien; Esther Nieft, die mich ständig mit ihrem Erzählta-lent beeindruckte und die Redaktion der Texte zusammen mit Maria Melms undHarika Dauth übernommen hat – herzlichen Dank! An Olaf Günther, der mich inmeiner gesamten Zeit in Leipzig unterstützte; Henning Schwanke, mit dem ich im-

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mer interessante Diskussionen im halbdunklen „Keller“ des FTFs über Zigeuner inAlbanien und Griechenland führte; Ida Sucké, deren leuchtende Augen mich immeran die Lebenskraft von Zwanzigjährigen erinnerten; und Tobias Marx, der die Ideeeine Spezialausgabe der „TM“ von Anfang an völlig interessant fand und unterstützthat. Zum Schluss möchte ich natürlich Prof. Streck danken, für seine positive Reak-tion auf meine Nachfrage ein Sabbatikal-Semester in Leipzig zu verbringen. Leiderlas sein ‚Gehen‘ vor meinem ‚Kommen‘, so dass sich unsere Wege nicht kreuzten. Sovielleicht aber doch virtuell durch diese Ausgabe der Tsiganologischen Mitteilungenüber die Zigeuner in Griechenland.

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2 Maria Papapavlou über Zigeuner in Griechenland - eine

kritische Literaturübersicht

Die wissenschaftliche Beschäftigung mit Zigeunern in Griechenland, die hauptsäch-lich als „Tsigganoi“, „Yiftoi“ und neuerdings auch als „Roma“ bezeichnet werden, istbis ins 19. Jahrhundert zurück zu verfolgen. Das Thema, das Historiker und Sprach-wissenschaftler am meisten beschäftigt hat, war die Frage nach der Herkunft derZigeuner – ein Thema, das im Rahmen der Nationenbildung des neugriechischenStaates zu verstehen ist. So wie in der Tsiganologie generell wurde der theoretischeund methodologische Blickwinkel auf griechische Zigeuner später, genau genommenseit 20001, von den Sozialwissenschaften beeinflusst. Im Folgenden habe ich versucht,die wichtigsten und repräsentativsten Veröffentlichungen über die Zigeuner in Grie-chenland anhand der Epistemologie und thematischer Schwerpunkte aufzuzeigen.Die Epistemologie fragt dabei, innerhalb welcher Disziplin sich die angesprochenenStudien von ihrem theoretischen und methodologischen Ansatz her anordnen lassen,während der thematische Schwerpunkt die Studien anhand ihrer Gegenstände kate-gorisiert.Unter Betrachtung dieser Kriterien lässt sich die Literatur über die ‚Tsigganoi‘oder/und ‚Yiftoi‘ in zwei historische Phasen unterteilen, die mit dem wissenschaftli-chen und dem politischen/sozialen Diskurs der jeweiligen Periode zusammenhängen.Die erste Phase2 (1850-1990) könnte man als ‚populärwissenschaftliche Phase‘ be-zeichnen, die Studien mit volkskundlichem Charakter beinhalteten, dabei aber auchden Bedarf eines breiteren Publikums decken. Diese Phase erkennt man hinsicht-lich ihrer theoretischen Perspektive an der historischen und sprachwissenschaftlichenOrientierung im Rahmen der griechischen Volkskunde des 20. Jahrhunderts3. Die dis-ziplinäre Formierung der griechischen Volkskunde (Ellhnik  LaografÐa) wurde vonder nationalistischen Ideologie stark beeinflusst4. Nach der Befreiung vom Osmani-schen Reich und der Etablierung des neuen griechischen Staates (1830) übernahmdie griechische Volkskunde die ideologische/politische Rolle, den panhellenistischen,neo-griechischen Volksgeist zu etablieren, indem sie die zeitgenössische Volkskul-tur mit dem Geist der Antike verbinden wollte. Die ununterbrochene Kontinuitätvon Geschichte und Sprache war ihr hauptsächlicher Verknüpfungspunkt und wur-

1 Wobei im englischsprachigen Raum der Wechsel schon seit den 80er Jahre präsent ist (siehe z.B.Sutherland 1975, Gmelsh 1977, Okely 1983), besonders nach dem Einfluss der Veröffentlichungvon Barth 1969.

2 Siehe kommentierte Literaturliste am Ende des Textes.3 Die ersten systematischen volkskundlichen Texte erschienen 1871 von Nikolaos Politis (sieheKyriakidou-Nestoros 1977), der als Gründer der griechischen Volkskunde gilt.

4 Für eine ausführliche und kritische Diskussion siehe Kyriakidou-Nestoros 1977.

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de grundlegend zur Argumentation herangezogen. Dieser ideologische und politischeDiskurs des jungen Nationalstaates beeinflusste auch die Studien über ‚Athigganoi‘‚Yiftoi‘ und ‚Tsigganoi‘. Paspatis (1857), Soulis (1929), Faltaits (1931, 1935), Biris(1942, 1954), Koutsoukos (1961) und Sinapidis (1977) beschäftigten sich hauptsäch-lich mit der Frage der Sprache und der Herkunft der Zigeuner in Griechenland5.Alle diese Werke wurden auf Griechisch geschrieben, außer eines von Soulis (1961),das auf English in den Durbarton Oaks Papers erschien. Es ist also kein Zufall,dass Soulis Herkunftstheorie große Anerkennung im Rahmen der traditionellen Tsi-ganologie bekommen hat und sehr oft zitiert wurde und wird6, obwohl auch andereHerkunftstheorien entworfen wurden7. Die sprachwissenschaftliche Orientierung imengeren Sinn der ersten Phase wird durch das Werk des amerikanischen Sprachwis-senschaftlers Gordon Messing repräsentiert. Eine Reihe englischer Artikel erschienseit 1977 in verschiedenen und bekannten Zeitschriften im Rahmen der Tsiganologiewie auch außerhalb.Die zweite Phase (1990-2010), die durch eine wissenschaftliche Pluralität der Stu-dien über Zigeuner in Griechenland charakterisiert werden kann8, lässt sich besserverstehen, wenn man den sozialen und politischen/ideologischen Kontext des Lan-des der letzten vierzig Jahren betrachtet. Anders als früher, und besonders nach derDemokratisierung (1974), befand sich Griechenland in einer extrovertierten Phase.Während dieser musste sich die Politik nicht mehr der nationalistischen Ideologiebedienen um sich als Nationalstaat zu etablieren und die notwendige Distanz zumehemaligen Osmanischen Reich zu sichern, sondern verfolgte ein westlich orientiertesEntwicklungsparadigma9. Seit 1991, nach dem Zerfall der sozialistischen Länder, gabes zahlreiche und unkontrollierte Migrationswellen aus Albanien, Rumänien, Bulga-rien und Ländern der ehemaligen UDSSR nach Griechenland. Der multiethnischeund multilinguale Charakter der osmanischen Zeiten fand wieder seinen Platz inder modernen griechischen Gesellschaft und brachte verschiedene Probleme (politi-sche, ökonomische, soziale, pädagogische usw.) mit sich. Die Studien über Zigeunerin Griechenland werden sowohl vom sozialen/politischen als auch vom disziplinären

5 Siehe Literaturliste mit den Originaltiteln der Veröffentlichungen (Deutsche Übersetzung anbei).6 Das bekannteste Zitat bzgl. seiner Herkunftstheorie (nach der die Zigeuner aus dem heutigenIndien kamen und das Byzantinische Reich Anfang des 11. Jahrhunderts über Konstantinopelerreichten) ist: „The name ‘Adsincani’ which is used in the Georgian text to designate theGypsies is undoubtedly the Georgian form of the Greek ’Ατζιγγανοι’ (Atziganoi) or ’Αθίγγανοι’(Athiganoi) the term commonly used by the Byzantines for Gypsies. It is well established thatthe Turkish Cingeneler,the Italian Zingari, the French Tsiganes, and the German Zigeuner alsoderived from this Byzantine name (Soulis 1961:145).

7 Siehe z.B. Faltaits (1931, 1935) und Sinapidis (1977).8 Siehe kommentierte Literaturliste am Ende des Textes.9 1981 wird Griechenland Mitglied der EU.

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Kontext beeinflusst. Wie wir schon gesehen haben, haben sich die Studien der ers-ten Phase hauptsächlich durch den theoretischen und methodologischen Ansatz derVolkskunde von ihren Schwesterdisziplinen, der Philologie (Linguistik) und Archäo-logie (Kyriakidou-Nestoros 1977), unterschieden. Die Sozialwissenschaften - Sozio-logie, Ethnologie (Social Anthropology), Politikwissenschaften usw. - haben ihrenPlatz an den griechischen Universitäten erst ca. 150 Jahre später als die Philologie,Archäologie und Volkskunde gefunden10. Der Paradigmenwechsel der Studien zu Zi-geunern, der im englischsprachigen Raum schon seit den 1970er Jahren zu spürenist, zeigte sich in Griechenland erst nach dem Jahr 2000. Wenn man die Literaturanalytischer betrachten möchte, kann man von verschiedenen Tendenzen innerhalbder zweiten Phase (1990-2010) sprechen:2.1 Die sprachwissenschaftliche Tendenz2.2 Die romantische/essentialistische Tendenz2.3 Die -nach EU Vorschriften- pädagogische/interventionistische Tendenz2.4 Die sozialwissenschaftliche Tendenz2.4.1 Soziologische Studien2.4.2 Ethnologische/Kulturanthropologische Studien2.4.2.1 Thematik: Zigeuner: soziale und kulturelle Identität2.4.2.2 Thematik: Musik, Tanz und Identität der Zigeuner2.4.3. Sozialpädagogische StudienNach wie vor entstehen sprachwissenschaftliche Studien über die Zigeuner in Grie-chenland, so z.B. von dem amerikanischen Linguisten Messing, aber auch anderenwie Igla (1996, auf Deutsch), Hunt (1999) oder Matras (2004) auf Englisch. Eineromantische/essentialistische Tendenz darf nicht unbeachtet bleiben, da diese die öf-fentliche Meinung der griechischen Gesellschaft über Zigeuner beeinflusst. Ich zitiereexemplarisch einen Absatz von Pavli-Korre, Spanouli, Kaloudi aus der Monographie„Tsigganes“ (Zigeunerinnen) (1991):

„Hier endet die Reise in die magische Welt der Roma, in das König-reich der Zigeunerin. Der Leser wurde eingeladen zu reisen. Zu reisenin die Zeltwelten, in die Klänge der improvisierten Orchester der Zigeu-ner, in das Fest der Farben und der Kinder, in die Liebe des Moments,der ein Jahrhundert dauern kann. Das nächste Mal, wenn der Leser dasrunzelige Gesicht einer alten Zigeunerin erblickt, wird er sie vielleichtmit weniger Verachtung oder Mitleid ansehen, durch das glänzende Wis-

10 Die erste griechische Universität wurde im Jahr 1837 in Athen gegründet, wobei die ersteUniversität mit sozialwissenschaftlichen Instituten im Jahr 1963 in Athen gegründet wurde,das erste Institut für Ethnologie der Ägäis Universität (Social Anthropology) vierzehn Jahrespäter (1987) auf der Insel Lesbos.

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sen des ‘Anderen’, die Wärme der Annahme, die Pfade des Traums. . . ”(Pavli, Korre, Spanouli 1991:147, freie Übersetzung der Autorin)

Eine weitere Tendenz, die sich im Rahmen der EU-(Vor-)Schriften über ethnischeMinderheiten formiert hat und einen klar interventionistischen Charakter aufweist,darf ebenso nicht übersehen werden. Seit Anfang 1990 wurden verschiedene Entwick-lungsprogramme für die Dokumentierung und Bekämpfung der sozialen Exklusion(social exclusion) der Zigeuner europaweit initiiert. Solche wurden von United Na-tions Development Programme (UNDP), der Europäischen Kommission und demdem Open Society Institute bzw. der Soros Foundation finanziert. Die Internatio-nale Bank und die Europäische Union haben das Jahrzehnt 2005-2015 zur „Decadeof Roma Inclusion” erklärt. All diese Initiativen haben in Griechenland zu einem‘ethno-business’ geführt, wovon verschiedene ‘Zigeunerexperten’ finanziell profitierenkonnten11. Bezüglich der Schulbildung ethnischer Minderheiten in Europa wurden inGriechenland verschiedene Programme aus der EU zur Bildung der Zigeunerkinderinitiiert, besonders seit 1995. Im Mai 1997, im Rahmen des 3. Unterstützungspro-gramms der Europäischen Kommission, wurden Bildungsprogramme in Kooperationmit einzelnen Universitäten (Ioannina, Athen, Thessalia) für Roma-Kinder in Re-gionen Griechenlands realisiert, die einen hohen Prozentsatz von Zigeunern in derBevölkerung aufwiesen. Unter diesem Einfluss wurden zahlreiche Studien über denZustand und die Verbesserungspotentiale hinsichtlich der Bildung bei Zigeunerkin-dern verfasst. Die Thematik der ‘Zigeunerkultur’ wurde dadurch erneut betrachtetund aus verschiedenen Blickwinkeln diskutiert (so wie z.B. interkulturelle Erzie-hung12, Soziologie, Kulturwissenschaften, Social Anthropology13 etc).Die sozialwissenschaftliche Literatur über Zigeuner in Griechenland lässt sich in zweiRichtungen unterteilen: einen eher soziologischen/politischen14 Ansatz und einenethnologischen Ansatz (social and cultural anthropology) 15. Obwohl ich keine aus-führliche Diskussion über die sozialwissenschaftliche Tendenz der Literatur führenmöchte, ist es sinnvoll, ein paar Bemerkungen in Bezug auf den Stand der englisch-/deutschsprachigen Literatur über Zigeuner innerhalb der derzeitigen Tsiganologiezu äußern. Nur wenige Studien zeigen Bereitschaft sich mit der Literatur des kon-

11 Darüber diskutiert ausführlich in ihrem Buch die Historikerin Vaxevanoglou (2000).12 Siehe die sozialpädagogischen Studien in der Literaturliste am Ende des Textes.13 Siehe z.B. Daskalaki 2007.14 Zu dieser Richtung gehören die Artikel von Marantzidis und Mavrommatis 1999 (diskutiert von

der Studentin Jolantha Schenke), Themelis 2008 (diskutiert von der Studentin Jana Aurig).15 Zu dieser Richtung gehören die Artikel von Theodosiou 2004 (diskutiert von der Studentin

Anna Hoppe), Kozaitis 1997 (diskutiert von der Studentin Magdalena Gärtner), Hunt 2002(diskutiert von der Studentin Nicole Boske) und Blau, Keil et al. (2002) (diskutiert von demStudenten Stefan Festini Cucco).

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struktivistischen/interaktionistischen Ansatzes16 der aktuellen Tsiganologie ausein-ander zu setzten17, wobei sich die meisten auf die Literatur der traditionellen Tsi-ganologie (essentialistischer Ansatz) stützen. Aus ethnologischer Sicht, gibt es keineEthnographie über eine Zigeunergruppe in Griechenland. Die einzigen Monographieninnerhalb der sozialwissenschaftlichen Tendenz, über eine bestimmte Zigeunergrup-pe sind:i) die Monographie von Vaxevanoglou (2000), eine historische Studie, keine rein eth-nologische, aber auf einer systematischen Feldforschung basierend (Agia Varvara,Athen), von der modernen Kritik der Tsiganologie beeinflusst;ii) die Monographie von Karathanasi (2000), einer Architektin, die langjährige Feld-forschung in Theben (Mittelgriechenland) betrieben hat, mit dem Ziel, das Raum-konzept der Zigeuner im Bezug zur sozialen Organisation18 zu erforschen,iii) der Sammelband von Blau, Keil, Vellou-Keil und Feld (2002), die einzige englische(das heißt nicht griechische) ethnographische Studie (keine Ethnographie im enge-ren Sinn) über die Yiftoi in Serres (Nord-Griechenland). Ein sehr spezielles Buch,mit vier Autoren, das von theoretischer Seite her leider eher der traditionellen Mu-sikethnologie gewidmet ist. Generell lässt sich sagen, dass die introvertierte Phaseder Studien über Zigeuner in Griechenland, im Sinne von griechischen Forschern,die in Griechenland forschen und ausschließlich auf Griechisch veröffentlichen, lang-sam vorüber zu gehen scheint. Jüngere griechische Wissenschaftler19, die an andereneuropäischen Universitäten ausgebildet wurden, eröffnen die Möglichkeit, mit ihrenausländischen Kollegen produktiv und kreativ zusammenzuarbeiten. Für die Seiteder derzeitigen Tsiganologen, die sich im englischen/deutschen oder französischenRaum bewegen, lädt das Thema Zigeuner in Griechenland zu interessanten Feld-forschungen ein. Mit der Hoffnung, dass diese Spezialausgabe der TsiganologischenMitteilungen zu einer Aktivierung dieses Austauschs beitragen könnte, möchte ichmeine Einleitung abschließen, und den LeserInnen viel Vergnügen bei der Lektürewünschen.

16 Siehe z.B. den Band Roma-/Zigeunerkulturen in neuen Perspektiven (Ries und Jacobs 2008)und deren Artikel in den Tsiganologischen Mitteilungen (2009), sowie den Text von Streck(2008).

17 Trumbeta (2010:1-76), Papakostas (2010), Theodosiou (2007), Daskalaki (2003), Kozaitis nurteilweise (1997), Papapavlou und Koppassi-Oikonomea (2002:9-24). Vaxevanoglou (2000) istdie einzige Ausnahme, weil ihre Studie eine systematische Monographie darstellt, die sich kon-struktiv mit der neuesten Literatur der aktuellen Tsiganologie befasst.

18 Es geht um eine sehr interessante Studie, die aber leider von ihrem theoretischen Ansatz hersehr wenig von den neueren Diskussionen innerhalb der modernen Tsiganologie beeinflusst istund sich fast ausschließlich auf das essentialistische Paradigma der traditionellen Tsiganologiestützt.

19 Wie z.B. Theodosiou, Daskalaki, Themelis,Trumbeta und Kozaitis aus der vorherigen Genera-tion.

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Dr. Maria Papapavlou, Assistant Prof. für Musikethnologie, Universität Athen, Grie-chenland

1. Populärwissenschaftliche Phase (1850-1990): Historische und sprach-wissenschaftliche StudienPaspatis, A. 1857. Melèth perÐ twn AtsÐgganwn kai thc gl¸sshc aut¸n, in Pandora(Studie über die ‚Athigganoi‘ und deren Sprache).Soulis, Ch. 1929. Ta Rìmka thc HpeÐrou,  toi perÐ thc sunjhmatik c gl¸sshc twn

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2. Phase: Pluralisierung der wissenschaftlichen Ansätze bei Studien zuZigeunern (1990-2010)2.1 Die sprachwissenschaftliche TendenzMessing, G. M. 1991. Greek Romany as a written Language: A Text in Greek Tran-scription, in Journal of Modern Greek Studies 9, 83-92.Messing, G. M. 1991. Some sample texts in greek Romani, in Journal of the GypsyLore Society, 5th Series 1, 67-83.Messing, G. M. 1994. A Biblical text in Greek Romani, in Journal of the Gypsy LoreSociety, 5th Series, 4(1): 1-6.Messing, G. M. 1995. A Gypsy Newspaper in Greece, in: Journal of the Gypsy LoreSociety, 5th Series, 5(2): 63-68.Igla, B. 1996. Das Romani von Ajia Varvara. Wiesbaden: Harrassowitz.Liapis, A. 1998. Glwss�rio thc RomanÐ. 'Opwc thn miloÔn oi mousoulm�noi Rom� thc

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2.4 Die sozialwissenschaftliche Tendenz2.4.1 Soziologische StudienVaxevanoglou, A. 2000. 'Ellhnec Tsigg�noi. PerijwriakoÐ kai Oikogenei�rqec.

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2.4.2 Ethnologische/Kulturwissenschaftliche Studien2.4.2.1 Die soziale und kulturelle Identität der ZigeunerKarathanasi, E. 2000. To katoikeÐn twn Tsigg�nwn. O Bioq¸roc kai o koinwnioq¸roc

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3 Anna Hoppe über Marginal Majority and disheveled

otherness: debating Gypsyness on the Greek-Albanian

Border (A. Theodosiou)

EinleitungViele der Zigeuner Griechenlands führen, wie etliche Minderheitsgruppen auf derganzen Welt, ein marginalisiertes Leben. Die griechische Sozialanthropologin As-pasia Theodosiou untersuchte Zigeuner im Vergleich zur Mehrheitsgesellschaft amBeispiel der Bewohner des griechischen Ortes Parakalamos. Zu den Faktoren der Ab-grenzung und des so genannten Anders-Seins der Zigeuner zählen laut Theodosiousowohl ihr Musiker-Sein als auch ihre nomadische Lebensweise.

Das ForschungsgebietDer Ort Parakalamos liegt im nord-west-griechischen Bundesstaat Epirus, 30 kmvor der Grenze zu Albanien. Das Dorf hat ca. 1000 Einwohner, von denen sich umdie 10% als Zigeuner definieren oder als solche bezeichnet werden. Parakalamos wirdvon den Menschen, die in der Region ansässig sind, als Musiker- und Zigeunerdorfbeschrieben (Theodosiou 2004:25). Nicht-Zigeuner, die in Parakalamos leben, gren-zen sich von den Zigeunern ab.Im Zusammenhang mit Theodosious‘ Feldforschungen in den Jahren 1998 bis 2000(vgl. Theodosiou 2007:31) in Parakalamos entstanden sowohl ihre Masterarbeit alsauch ihre Dissertationsschrift sowie mehrere Artikel in englischer Sprache zu ähn-lichen Themen.1 Ihr methodologischer Ansatz ist vor allem in der Ethnologie undKulturanthropologie zu finden. Sie selbst ist promovierte Sozialanthropologin undderzeit am Epirus Institute of Technology in Griechenland2 und der University ofManchester in Großbritannien tätig, an der sie promovierte.Theodosiou stellt in ihren Texten eine Verbindung zwischen den musikalischen Fä-higkeiten und Dienstleistungen auf der einen Seite und der Identität und Selbstsichtder Zigeuner auf der anderen Seite her. Bei ihren Feldforschungen in Parakalamoswar sie vor allem daran interessiert, wie die Dinge gemeint sind und weniger wassie bedeuten (Theodosiou 2008:13). Erkennbar ist zum einen eine Entwicklung ihrerArgumentation, zum anderen geht sie in jedem der Texte von einem geringfügig an-deren Blickwinkel auf ihre These ein, die jedoch im Grunde genommen gleich bleibt:

1 Informationen über Theodosious‘ Veröffentlichungen, sowie biografische Angaben ihres akade-mischen Werdegangs enstammen der Website: http://tlpm.teiep.gr/theodosiou/index.htm

2 Hier genauer an der Faculty of Music Technology im Department of Traditional Music.3 Da das mir vorliegende Exemplar dieses Artikels über keinerlei Seitenzahlen verfügt beginnt dieZählung mit der ersten Seite als S. 1.

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Raum und das Angesiedelt-Sein im Raum bestimmen den Prozess des Anders-Seinoder Anders-Werden (Theodosiou 2004:25) und sind somit ein bedeutender Aus-gangspunkt für das Entstehen einer gemeinsamen Identität bzw. von Ethnizität. Indiesem Zusammenhang versucht sie die Entstehung der Stigmatisierung der Zigeu-ner im Gebiet von Parakalamos durch die Erläuterung, wie Raum und Siedlung inden Prozess des „othering“4 verwickelt sind, darzustellen. Dabei stellt sie fest: dasZigeuner-Sein in Parakalamos ist hauptsächlich eine Frage des wo, im physischenund symbolischen Sinne, und nicht des wer.Zur Vervollständigung ihrer Argumentation verwendet Theodosiou neuere Literaturder modernen Tsiganologie und Ethnologie der letzten 10 bis 20 Jahre sowie einigewenige Klassiker bzw. Grundlagenanalysen wie Bourdieu (1986 [1979]) oder Fraser(1997). Ihre bisherigen Veröffentlichungen sind in ethnologischen und tsiganologi-schen Fachzeitschriften, wie der History and Anthropology, Critique of Anthropologyoder Romani Studies zu finden. Der dieser Hausarbeit zugrunde liegende Artikelvon 2008 ist im Sammelband der Herausgeber Petersson, B. und Tyler, K. mit demTitel: „Majority Cultures and the Everyday Politics of Ethnic Difference: WhoseHouse is This?“ erschienen.

Definition des EthnizitätsbegriffesUm den Prozess der aktiven und passiven Abgrenzung der Zigeuner in Parakalamosgenauer betrachten zu können, wird im Folgenden zunächst das Konzept der Eth-nizität analysiert, mit dem Identitätsbildungsprozesse und -zugehörigkeiten in derwissenschaftlichen Betrachtung erklärt werden.Der Begriff Ethnizität ist vom griechischen Wort ethnos abgeleitet, dessen Bedeu-tung sich im Laufe der Jahrhunderte mehrfach veränderte. Im 8. Jahrhundert vorChristus, bei Homer, bezeichnete ethnos eine große unstrukturierte Gruppe von Tie-ren oder Kriegern, die einem Schwarm ähnelte. Einige Jahrhunderte später verwen-deten die Griechen ethnos zusammenfassend für fremde oder barbarische Nationen.Die Römer gebrauchten den Begriff ebenfalls, um Provinzen zu beschreiben, die nichtihrem Imperium angehörten, also außenstehende Volksgruppen. Im neutestamenta-rischen Griechisch bezog sich ethnos auf Nicht-Christen und Nicht-Juden, auch hierwar ethnikos, in adjektivischem Gebrauch, Ausdruck für etwas Fremdes, Barbari-sches und Unzivilisiertes (Büttner 2005:7).Im 15. Jahrhundert wird der Begriff erstmals als Selbstbezeichnung verwendet.Während der Konsolidierung des Osmanischen Reiches gebrauchten ihn griechisch-

4 Ich benutze hier den von Theodosiou verwendeten englischen Begriff, der sich auf das Konzeptder aktiven Abgrenzung und Differenzierung der eigenen Gruppe von anderen bezieht

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orthodoxe Christen, um sich selbst zu benennen. Im Zuge der griechisch-nationalistischenBestrebungen im 19. Jahrhundert diente er ebenfalls als Wir -Gruppen-Begriff, umeine gemeinsame Kultur und Geschichte auszudrücken (ebd.). Der Begriff ethnos be-tont demzufolge schon seit seiner frühesten nachweisbaren Verwendung den Gegen-satz zwischen Wir und den Anderen (Lentz 1994:3), wenn auch sowohl aus emischerals auch aus etischer Perspektive.Seit Mitte des 19. Jahrhunderts veränderte sich die Bedeutung des Begriffs eth-nos. Die Gelehrten dieser Zeit bezogen ethnos auf eine Gruppe von Menschen mitgemeinsamen Merkmalen und nicht mehr nur allgemein auf Völker außerhalb deseigenen Gebiets. Im anglophonen intellektuellen Diskurs wurde der Begriff nichtaufgenommen. Es entwickelten sich hingegen Ableitungen, wie Ethnologie, Ethno-graphie, ethnozentrisch usw., die auch in der deutschen Sprache zu finden sind. DerBegriff Ethnizität ist also ein abstraktes Nomen, das infolge eines morphologischenProzesses von einem Wort abgeleitet wurde, welches es zumindest in der englischenund deutschen Sprache so nicht gab (Büttner 2005:7f).Ethnizität als Konzept ist folglich ebenso abstrakt wie vieldeutig. Der Begriff nimmtmittlerweile im täglichen Gebrauch von Sozialwissenschaftlern, Politikern oder Jour-nalisten einen hohen Stellenwert ein. Der Beginn einer regelrechten Ethnizitäts-Forschung kann auf die 1040er und 1950er Jahre festgelegt werden. Hauptsächlichbritische Sozialanthropologen begannen, sich mit dem sozialen Wandel in Afrikasowie anderen Teilen der Welt und vor allem mit der Arbeitsmigration und Urba-nisierung zu befassen (ebd.:9). In den nachfolgenden 1970er Jahren kam es dannzu einem Wandel der Betrachtungsweise von Ethnizität, die nun vermehrt als einemoderne politische Ressource von Eliten angesehen wurde (Cohen 1974). Im Zugedessen wurde die Bezeichnung einer Gruppe mit einem gemeinsamen Identitätsge-fühl als Ethnie üblich. Laut Lentz forderte erstmals Southall im Jahre 1970 dazuauf, anstatt der bis dahin üblichen Benennung dieser Gruppen mit Stamm, tribeoder gar Rasse, die Bezeichnung Ethnie oder ethnische Gruppe zu verwenden (Lentz1994:2, 14). Die zuvor gebrauchten Begriffe weckten zumeist eine negative Assoziati-on und vereinfachten die Strukturen der Gruppen. Auch ist es mittlerweile politischunkorrekt, ein Volk oder einen Teil dessen als Rasse zu betiteln.Bei der Definition der Ethnizität in Bezug auf die Entstehung dieses Identitäts-gefühls gibt es verschiedene Ansätze. In der Literatur wird hier sogar von einerEthnizitätsdebatte gesprochen. Zum einen gibt es primordialistische Theorien, diedavon ausgehen, dass Ethnizität unter Gruppen mit einem Wir -Gefühl, also einerbiologischen, sprachlichen oder kulturellen Gemeinsamkeit, schon immer vorhandenwar. Man stellte sich ethnische Gruppen als natürliche, reale, stabile und statische

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Einheiten vor, die schon immer da gewesen sind (Büttner 2005:8). Eine Bezeichnung,die dieser Definition nahe käme, wäre das Volk. Zum anderen gibt es den konstruk-tivistischen Ansatz Ethnizität zu erklären, bei dem davon ausgegangen wird, dassEthnizität eine in spezifischen historisch-politischen Konstellationen konstruierte so-ziale Identität ist. Ethnizität hat laut den Konstruktivisten eine rein instrumentelleBedeutung, als Mittel um soziale und politische Ziele zu erreichen, also eine gezielteStrategie gewisser Akteure, um politische Macht zu gewinnen. So wird auch im Falleder Zigeuner in Parakalamos deutlich werden, dass ihre ethnische Identität größten-teils nach ihrer aufgezwungenen Sesshaftigkeit entstanden ist.Allen Definitionsansätzen gemein ist, dass sie die Manipulierbarkeit, Flexibilitätund Strategiebezogenheit von Ethnizität betonen. Viele der diesbezüglichen Studienschließen keinen Ansatz aus, sondern erweitern oder integrieren diesen.In den 1990er Jahren wandte sich Ethnizitätsforschung mehr kulturellen Inhalten zu.So wurde Ethnizität nun mehr als eine dynamische Form des Bewusstseins erkannt.Die Kultur wird innerhalb einer Gesellschaft als Ursprung und als ein mobilisieren-der Faktor angesehen. Und in dieser Kultur, also gemeinsamer Sprache, Bräucheund Herkunft drückt sich die Ethnizität aus. Jedoch haben die einzelnen Mitgliedereiner Ethnie mitunter ein ungleiches Verständnis von Ethnizität. Zudem existiertethnische Identität nur in Beziehung eines wir zu Anderen, einer Abgrenzung vonFremden aufgrund anderer Lebensweise, Bräuche oder ähnlichem.5

Bezogen auf die Zigeuner Parakalamos‘ scheint es Unstimmigkeiten bezüglich ihrerZuordnung zu geben. Obwohl die Bezeichnung Roma in Griechenland als die po-litisch korrekte Alternative verbreitet wurde, werden sie von offizieller politischerSeite zumeist als Tsingani bezeichnet. Der Begriff Yiftoi, so die Selbst- (und Fremd-)bezeichnung der Zigeunergruppen in Paraklamos, scheint zwar nach wie vor alsabfällig angesehen zu werden, die Autorin Theodosiou hat jedoch während ihrerFeldforschungen diesen Begriff von Seiten der Zigeuner selbst häufig gehört, weshalbsie sich für die Verwendung des englischen Äquivalents gypsy entschied. Tatsächlichscheint es Unterschiede zwischen Gruppen zu geben, die sich als Tsingani, Yiftoioder Roma bezeichnen (Theodosiou 2008:9).

5 Die von mir in diesem Abschnitt verwendete Belegliteratur bezieht sich hauptsächlich auf Afri-ka. Dies liegt vor allem an meinen thematischen Vorkenntnissen, zum anderen an der größerenMenge an Literatur zum Thema Ethnizität in Bezug auf Afrika. Ein Grund hierfür war ver-mutlich die Kolonialzeit und die damit zusammenhängende Staatenbildung, Grenzziehung undEinteilung der verschiedenen Ethnien.

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AmbivalenzSetzt man nun das Wissen um die Prozesse bei der Identitätsfindung voraus, neh-men die Yiftoi von Parakalamos keinen Sonderstatus ein, denn auch sie sind vonden restlichen Bewohnern des Ortes, welche als reine Griechen6 auftreten, aufgrundwahrgenommener Besonderheiten abgegrenzt. Diese Abgrenzung geschieht aktiv undpassiv durch eben jene ortsansässige Griechen, die Zigeuner selbst und den griechi-schen Nationalstaat. Im Folgenden soll dies nun näher erläutert werden.Die in Parakalamos lebenden Zigeuner werden zwar als Personen aus dem griechi-schen Territorium und somit Einheimische angesehen, angesichts ihrer Vergangen-heit als „wanderndes Volk“ aber nicht als Eingeborene. Ihr gesamtes Dasein scheintambivalent, denn überall lassen sich Doppeldeutigkeiten finden. Dies betrifft ihreMusik, denn sie identifizieren sich mit ihr und sehen sie als einen zentralen Teil ihrerkulturellen Praxis an, aber sie ist nicht ihre Musik. Als Musiker in der Position vonDienstleistenden spielen sie die traditionelle Musik des Ortes für die eigentlichenUreinwohner, nicht jedoch Musik, die sie als ihre eigene Tradition bezeichnen. IhreZuhörer sind dabei ebenfalls fast ausschließlich Nicht-Zigeuner. Weiterhin ist auchder Begriff Yiftos in der ehemaligen griechischen Präfektur Epirus7, indem sich Pa-raklamos befindet, ferner synonym für Musiker allgemein, auch wenn diese keineZigeuner sind. So sind sie also Musiker generell, aber doch zur gleichen Zeit auchdas wandernde Volk der Zigeuner. Auch das Dorf Parakalamos scheint ambivalentzu sein: einerseits ist es ein Musiker- oder Zigeunerdorf andererseits ein Dorf vonBauern.

Mehrheit am RandeBis zum Ende des Zweiten Weltkriegs waren die Zigeuner im Gebiet um Paraka-lamos Halbnomaden, die sich im Winter in gemieteten Hütten niederließen, sichim Dorf versorgten und im Sommer umherwanderten. Nach dem Zweiten Weltkriegsiedelten sie sich auf Befehl des Staates dauerhaft in Parakalamos an, konvertier-ten zum Christentum und wurden professionelle Musiker. Seither hat der Ort einenambivalenten Charakter als Bauern- und Zigeunerdorf. In der Zeit nach der Sess-haftwerdung der Zigeuner verlor Parakalamos an Ansehen und wurde fortan nichtmehr als anständiger Ort angesehen, in dem sich die Leute anpassten und Kulturund Bildung wichtige Werte der Gesellschaft sind. Aus Sicht der Bewohner der um-

6 Gemeint sind hier Personen, deren Vorfahren schon lange auf dem Territorium des heutigengriechischen Nationalstaates ansässig sind und die für sich beanspruchen, reine Griechen zusein

7 Die Einteilung der Regionen Griechenlands in 54 Präfekturen wurde 2010 abgeschafft. Dieentsprechenden Gebiete existieren weitgehend als Regionalbezirke fort.

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liegenden Ortschaften kam es in Parakalamos zu einem Werteverfall und der Statusunter den Nachbardörfern sank. Ein weiterer Auslöser für das geringere Ansehen desOrtes ist die vorwiegende Wirtschaftsform der Bewohner, denn aufgrund der geogra-fischen Gegebenheiten kann in Parakalamos nur Landwirtschaft betrieben werden.Viehzucht, wie es die Nachbarn betreiben, wird jedoch mit einem höheren Statusbedacht (Theodosiou 2008:2). Diese Tatsache, dass sie als Nomaden auf die Wa-ren der Bauern angewiesen sind, wird ebenfalls als Grund für die Niederlassung derZigeuner angesehen, was den Status von Parakalamos noch zusätzlich senkt. Ande-rerseits erhielten so die Zigeuner und die bäuerlichen Bewohner Parakalamos vonaußen betrachtet eine gemeinsame Identität.Hier wird nun erneut die Ambivalenz der Zigeuner deutlich. Theodosiou sah sichbei ihren Feldforschungen zwischen zwei Polen – den Zigeunern und den Bauern.Sie bemerkte dann jedoch, dass Parakalamos, wie sie es nennt, „doubly occupied“(ebd.) sei. Hiermit meint die Autorin den eigentlichen Widerspruch, dass die Zi-geuner gleichzeitig Insider (da Bewohner von Parakalamos) und Outsider (da keineUreinwohner) sind. Von außen gesehen bleiben sie entweder immer die Anderen,oder ihre Anwesenheit macht die Nicht-Zigeuner des Ortes ebenfalls zu Zigeunern(ebd.:2f).

Bewegung der Zigeuner – von der Osmanischen Vergangenheit bis zurEntstehung des NationalstaatesDie Bestimmung von Raum ist ein komplizierter Prozess, der immer Einbildungen,Politik und soziale Beziehungen mit einschließt und ein Zusammenspiel von diesendarstellt (Theodosiou 2008:3f). Theodosiou diskutiert im Folgenden die Bedeutungvon Raum in der Epirus Region im Allgemeinen und kommt zu dem Schluss, dass dieWahrnehmung von Mobilität durch Ansässige großen Einfluss auf die Konstruktionvon Raum, Landschaft, Umwelt und sozialen Beziehungen hat sowie auf die Interak-tionen der Bewohner in der politischen und wirtschaftlichen Welt über die Grenzenihrer Region hinaus. Verschiedenen Orten wird Macht, Status und auch Bedeutungin unterschiedlicher Größe angedacht. Diese Bedeutung bedingt die Mobilität zwi-schen den Orten und ist sozusagen ihr Auslöser als Zwang oder reine Möglichkeit.Mobilität ist also weniger als Praktik, denn als konzeptueller Startpunkt anzusehen.Theodosiou nimmt die Art wie Parakalamos und die dort lebenden Zigeuner in dengriechischen Nationalstaat integriert sind nicht als natürlich gegeben und somit un-sichtbar an, sondern sieht Parakalamos [. . . ] „as a symbolic microcosm of the wayin which wider nation-state ideologies are played out“ (ebd.:3). Eine wichtige Rollespielt hierbei die Einbettung von Parakalamos in die vor-nationale, osmanische Ge-

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schichte. Theodosiou will hierzu darstellen, wie Bewegung im Sinne von nomadischerLebensweise dazu benutzt wird, soziale und rassische Trennungen vorzunehmen.Zigeuner werden rückblickend als ikonische Symbole von Mobilität angesehen. DieseMobilität, das „wandernde Leben“ gewann zumindest zum Teil in der osmanischenVergangenheit an Bedeutung. Während der Entstehung des griechischen National-staates wurde diese mobile Lebensweise dann verboten. Stark bewachte Staatsgren-zen wurden durch das Wanderungsgebiet gezogen und ebenso stark bewacht wurdeauch die National-Identität.Nun sind die Zigeuner Parakalamos‘ vor ihrer Ansiedlung keineswegs heimatlos ge-wesen. Sie kommen tatsächlich aus der Grenzregion zwischen Albanien und Grie-chenland und ihr lokaler Status ist durch ihre Wanderungen in der Grenzregionentstanden. Sie waren nicht gezwungen umherzuziehen, weder weil sie als Fremdeangesehen wurden, oder es ihre Tradition ist, noch weil sie einen Herrschaftsanspruchüber das Land stellten. Ein richtiger Grund für ihre dauerhafte Niederlassung scheintbis jetzt jedoch noch nicht gefunden zu sein. Fest steht, dass Bewegung immer nochein wichtiger Aspekt des Lebens der Parakalamos Zigeuner, insbesondere für ihreMusikantenschaft. Durch die Ansiedlung der Zigeuner in Parakalamos verändertesich auch ihre Lebensweise, denn sie hörten auf zu reisen, konvertierten zum Islamund wurden professionelle Musiker. Sie wurden zwar nun sesshaft, aber wandertenimmer noch als Musiker umher (ebd.:4f).Die Völker des Osmanischen Reiches konnten aufgrund ihrer Organisation und ihrerUnterschiede schwer in einem Nationalstaat eingeteilt oder zusammengefasst wer-den. Die Personen waren aus einer bestimmten Region, aber gehörten nicht zu dieserRegion. Im Zuge der Great Idea der 1920er sollten alle griechisch bewohnten Gebietezusammengefasst und somit auch die Bewohner teilweise umgesiedelt und neu ange-siedelt werden. Die Zigeuner wurden im Zuge dieses Plans in Parakalamos als neueBewohner ansässig gemacht. Gleichfalls wurden ihnen neue, griechische Namen gege-ben und sie wurden kurz nach dem Zweiten Weltkrieg massenhaft christlich getauft.Ihnen wurde sogar eine gemeinsame Abstammung und schlussendlich der Beruf desMusikers zugewiesen, der von großer Bedeutung für die Darstellung des nationalenKulturerbes war (ebd.:6).Während der 1990er Jahre wurde ein spezielles Siedlungsprojekt des Staates undregionaler Administrativen gegründet, welches sich mit den Zigeunern und ihrenProblemen befasste. Im Jahre 2001 wurde das Projekt als Teil des Action Plansfür die soziale Integration der Zigeuner Griechenlands auch in Parakalamos ein-geführt. Mit dem Ziel der Beseitigung der sozialen Außenseiterrolle der Zigeunerwurde es vom griechischen Staat und der EU gefördert. Es wurde damit begonnen,

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einen regelrechten Zigeunerstadtteil etwas außerhalb des Ortes zu errichten. Hinzukamen Bildungsprogramme und eine Ausweitung der Tätigkeiten im Gesundheits-sektor (ebd.:8).

Doppeldeutigkeit und VerwirrtheitIm letzten Kapitel des Artikels versucht Theodosiou mehr oder weniger nachvoll-ziehbar die Doppeldeutigkeit des Zigeunerlebens in Parakalamos zu analysieren. Siekommt hier zurück auf ihre eingangs erwähnte These des „doubly occupied place“(Theodosiou 2008) und erklärt dies mit dem wirren Anderssein, dem „disheveledotherness“ (ebd.:7) der Zigeuner: einem Zustand des Verschieden- und Anders-Seins,denn einerseits sind sie einheimisch, aber keine ursprünglichen Bewohner; sie sindChristen, jedoch mit osmanischer bzw. islamischer Geschichte; sie sind Musiker aberauch Bauern. Sie werden nicht nur als die Anderen sondern auch als Wir angesehen.Theodosiou zieht ein vorläufiges Fazit: „In short, the discourse about their [gypsies]dishevel-ness is part of a reflection upon the way the nationalizing operation itselfprompted ambiguity and rendered the place marginal on the Greek-Albanian bor-der” (ebd.:8).Theodosiou vermutet weiterhin, dass durch das Siedlungsprojekt, welches Anfangder 1990er Jahre begann, die Verwirrung der Zigeuner-Identität nur noch zunahm,da es ihre Selbst-Identifizierung und Selbstsicht erschwerte. Die in diesem Zusam-menhang erlassenen staatlichen Regelungen, Gesetze und Programme wirkten unterden Zigeunern eher frustrierend (ebd.). Die Autorin ist der Meinung, dass früheroder später auch andere Zigeunergruppen, wie die Tsingani dort angesiedelt werdenwürden und dass es bald ein Ort der Kriminalität, Armut, Gewalt und des Analpha-betismus werden wird. Tatsächlich werden von Seiten des Staates alle Zigeunergrup-pen als ein und dieselbe angesehen, obwohl sie sehr unterschiedlich sind. Es entstehtallein bei der oberflächlichen Betrachtung dieses Siedlungsprojektes der Gedanke anGhettoisierung. Verteidiger von diskriminierten Minderheitsgruppen versuchen oftdie Bedeutung der kulturellen und ethnischen Identität dieser Gruppen zu stärkenund diese zum prinzipiellen Fokus des Kampfes um Anerkennung zu machen. Oftfehlt es jedoch an einer gesetzlichen Anerkennung der kulturell unterschiedlichenGruppen und sie werden verallgemeinert. Derartige Konzepte wie das Siedlungs-projekt wirken aber eher hemmend auf die politische Anerkennung und stärken dieMachtlosigkeit der Zigeuner. Ihre Identität wird hier sozusagen vom Staat einge-rahmt und vorgegeben anstatt sie sich entfalten zu lassen (ebd.: 9f).

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Zusammenfassung und KritikZusammenfassend kann also gesagt werden, dass für die Zigeuner Paramoklas’ Raumnur eine Frage der Konventionen ist, aber dieser nicht zu ihrem Verständnis des Selbstbeiträgt. In ihren Niederlassungen werden die Zigeuner durch ihre Interaktion mitder Mehrheitsgesellschaft und anderen benachbarten Zigeunergruppen definiert. Hierspielt das Konzept des Raumes im Hinblick auf Mobilität als zentrales organisatori-sches Prinzip eine wichtige Rolle. Theodosiou schließt ab mit der These: “If Gypsiesare the very products of the society they live in, their difference is constituted be-cause of their proximity to the non-Gypsy world, then it seems to me that processesthat go into the production of space, place and locality have also to be examinedin relation to Gypsies or even seen as constitutive of Gypsyness, and not simply besingled out as indicating a non-Gypsy way of being.”Obwohl Theodosiou während ihrer Feldforschungen in Parakalamos lange Zeit inengem Kontakt mit den dortigen Zigeunern gelebt hat, fehlt es ihren Ausführun-gen sehr an praktischen Details. Nur schwer kann ihrer sehr philosophischen, miteiner großen Menge an Wortspielereien gespickten, Argumentation gefolgt werden,da es an Veranschaulichung ihrer Argumente mangelt. Lediglich an wenigen Stel-len werden die direkten Aussagen von Informanten erwähnt und scheinen nur alsLückenfüller oder zur Einleitung eines Abschnitts zu dienen.Ihre These des doppelt bewohnten Raumes und der verwirrten Zigeuner, die eben-falls in ständig ambivalenter Umgebung leben, erscheint zwar nach ausführlicherBetrachtung als nachvollziehbar, wirkt jedoch selbstreferentiell, da auch das Wissenum diesen Zustand der Zigeuner ihren Status und ihre Lebensumstände in Grie-chenland (und vermutlich auch allen anderen von ihnen bewohnten Ländern) nichtverbessert. Im Gegenteil, je mehr ihr Sonderstatus auch von wissenschaftlicher Seitehervorgehoben und betont wird, desto weniger wird sich an ihrem marginalen Lebenändern.

BibliografieBüttner, Manuela 2005. Die Wahrnehmung und Herausbildung von Ethnizität inDeutsch- Ostafrika, ULPA Nr. 9: Leipzig.Hofmeier, R. und Mehler, A. (Hg.). 2004. Kleines Afrika Lexikon. Verlag C.H. Beck,Hamburg.Lentz, Carola 1994. ‘Tribalismus´ und Ethnizität in Afrika: ein Forschungsüberblick,in Sozialanthropologische Arbeitspapiere, Nr. 57. FU Berlin.Theodosiou, Aspasia 2008. Marginal majority and disheveled otherness: debatingGypsyness on the Greek-Albanian border, in Majority Cultures and the Everyday

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Politics of Ethnic Difference: Whose House is This? Peterson, B. (ed.). PalgraveMacmillan.Theodosiou, Aspasia 2007. Disorienting rhythms: Gypsyness, „authenticity“ andplace on the Greek-Albanian border, in History and Anthropology, 18(2): 153-175.Theodosiou, Aspasia 2004. ‘Be-longing‘ in a ‘doubly occupied place‘: The Parakala-mos Gypsy musicians, in Romani Studies, 14 (1): 25-58.

Internetquellen:TLPM (Technological Educational Institute of Epirus):http://tlpm.teiep.gr/theodosiou/index.htm (07.02.2011)

Zur Autorin des Textes, Anna Hope:

Ich bin in meinem letzten Semester des Magisterstudiums mit den Fächern Afrikanistik

und Ethnologie. Ich habe bereits einige Semester zuvor ein Seminar zur Tsiganologie, da-

mals noch bei Prof Streck, besucht und fand es sehr interessant, nun an einem speziell zu

den Zigeunern Griechenlands teilnehmen zu können. Für den Text von Theodosiuou habe

ich mich entschieden, weil er sich dem Thema der Zigeuneridentität u.a. aus der musiketh-

nologischen Betrachtungsweise nähert.

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4 Jolantha Schenke über Political Clientelism and Social

Exclusion. The Case of Gypsies in the Greek Town of

Sofades (N. Marantzidis, G. Mavrommatis)

I. EinleitungDie Untersuchung von sozialen Strukturen in einer Gesellschaft kann aus verschiede-nen Blickwinkeln erfolgen. Wie setzt sich eine Gesellschaft zusammen? Wer sind dieBeteiligten? Ist die Gesellschaft unterteilt in verschiedene Schichten? Sind Manchestärker integriert als Andere? Kommt es zur Interaktion zwischen ihnen? Wie läuftdiese ab? Wer hat wo seinen Platz? Wird dieser akzeptiert?Fragen, die für jeden zum Alltag gehören - man selbst ist Teil einer Gesellschaft,steht täglich in Kontakt zu Anderen, handelt aus diversen Positionen heraus. Dahermachen es sich die Sozialwissenschaften schon lange zur Aufgabe, Antworten aufdiese Fragen zu finden. Nikos Marantzidis und George Mavrommatis legen in ihremArtikel „Political Clientelism and Social Exclusion: The Case of Gypsies in the GreekTown of Sofades“, erschienen 1999 in der Zeitschrift International Sociology, den Fo-kus auf die soziale Ausgrenzung von Minderheiten und die damit einhergehendenKlientel-Beziehungen in Sofades, einer Stadt im zentralen Griechenland, in der zurZeit der Forschung mehr als 2000 Zigeuner lebten. Drei Fragen, die in der politischenSoziologie immer häufiger auftauchen, führten die beiden griechischen Sozialwissen-schaftler dorthin: Erstens, ob und inwieweit sozial ausgegrenzte Personen politischeKlientel-Beziehungen eingehen, zweitens, ob es in einer Gesellschaft mehrere ähnli-che Klientel-Beziehungen gibt und ob drittens politische Klientel-Beziehungen sozialausgegrenzten Menschen helfen, besser integriert zu werden, oder sich ihr Status derAusgegrenzten auf diese Weise eher verstärkt.Nikos Marantzidis, geboren 1966, lehrt Politikwissenschaften und politische Sozio-logie an der Universität Mazedonien in Thessaloniki und beschäftigt sich nebenbeimit verschiedenen ethnischen Gruppen und ihrem politischen Verhalten.George Mavrommatis, geboren 1965, ist als Forscher an der Universität Athen tätigund beschäftigt sich vor allem mit sozial ausgegrenzten Gruppen, insbesondere Zi-geunergruppen. Im Fall von Sofades liegt das Interesse der beiden Forscher besondersauf der sozialen Klasse der Klienten, hier vor allem der Zigeuner. Um einen ethnolo-gischen Ansatz im Sinne einer Feldforschung - wie im Kontext des Seminars „Zigeu-ner in Griechenland“ am Institut für Ethnologie vorerst erwartet - handelt es sichnicht, vielmehr ist der theoretische Ansatz ein soziologisch-politikwissenschaftlicher.Die einzelnen Forschungsabschnitte, beispielsweise die genaue Zeit, Dauer und In-tensität des Aufenthaltes, werden im Text nicht thematisiert. Dennoch kann der

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Leser durch die erwähnten teilnehmenden Beobachtungen und Interviews auf einesoziologisch-empirische, sowohl qualitative, als auch quantitative Forschungsmetho-de schließen. Als besonders zu betonen erachteten die Autoren vor allem Folgendes:„It is important to stress that people are more than happy to ‚talk’ (...) and wehave to admit that they were more informative and revealing than we expected“(Marantzidis und Mavrommatis 1999: 445).

II. Klientel-Beziehungen in Sofades1. Patron und KlientUm sich dem Thema der politischen Klientel-Beziehungen nähern zu können, mussman sich vor Augen führen, was Klientelismus eigentlich bedeutet: Es handelt sichum ein auf gegenseitigen Vorteil gerichtetes Machtverhältnis zwischen ranghöherund -niedriger gestellten Personen, zwischen Patron und Klient. Die höhere Instanzverschafft Vorteile und erwartet im Gegenzug besondere Unterstützung der niedrigerGestellten. Ergeben sich daraus politische Folgen, beispielsweise das Kaufen und Ver-kaufen von Wählerstimmen, spricht man von einer politischen Klientel-Beziehung.

2. Sofades und seine ZigeunerDieses Beispiel haben Marantzidis und Mavrommatis in Sofades beobachtet. DreißigProzent der Bevölkerung sind Zigeuner. Ihr Lager bedeckt zwölf Prozent des Stadt-gebietes, ist durch einen Fluss vom Rest der Stadt getrennt und durch fehlendeInfrastruktur gekennzeichnet. Die Zigeuner leben auf engem Raum, die Hälfte vonihnen in einfachen Behausungen. Im Jahr 1994 waren nur fünfunddreißig Prozentlegal mit dem Stromnetz verbunden. Die Hälfte der Kinder besucht die Grundschule,der Großteil allerdings nur bis zur zweiten Klasse. Kurzum: Die Zigeuner in Sofadessind arm, leben in erbärmlichen Zuständen und gehen keinem festen Beruf nach. Diemeisten von ihnen sind Analphabeten und kommen als Landarbeiter geradeso überdie Runden. Von der Mehrheitsbevölkerung werden sie nicht respektiert, geschweigedenn in das soziale Leben integriert.„To sum up, the Sofades Gypsies may be considered a typical example of a sociallyexcluded group“, meinen Marantzidis und Mavrommatis (1999: 446) und beschrei-ben damit noch lange kein spezifisches, für Sofades eigenes Phänomen. Worin liegtfür die beiden Wissenschaftler aber das Interesse an eben dieser Gruppe, den Zigeu-nern von Sofades?

3. „Gypsy-bargaining“„According to the inhabitants of Sofades, it is not clear why the city‘s Gypsies

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return from wherever they may be in Greece as soon as elections are called“ (Ma-rantzidis and Mavrommatis 1999: 447). Nicht nur die Angst vor Bestrafung beiVerletzung der Wahlpflicht sei Grund dafür, dass die Zigeuner sich umgehend aufden Weg nach Sofades machen, sobald dort Wahlen ausgerufen werden. Was Ma-rantzidis und Mavrommatis in Sofades beobachtet haben, sind jene angesprochenen(politischen) Klientel-Beziehungen, die die dort lebenden Zigeuner mit Personen derMehrheitsbevölkerung eingehen, welche ihnen bestimmte Vorteile verschaffen undsie auf anderen Ebenen binden. Der Prozess des „Gypsy-bargaining“ (Marantzidisund Mavrommatis 1999: 447) bei Parlaments- und Kommunalwahlen in Sofades,ein stark abwertender Begriff, welcher im Deutschen durch den „Kuhhandel“ ver-anschaulicht und mit „feilschen“ und „schachern“ übersetzt werden kann, ist lautder Autoren ein rein politischer Ausdruck und ausschlaggebend für diese Art vonBeziehungen. Es handelt sich um „buying of votes“ (Marantzidis und Mavrommatis1999: 447), ein Phänomen, welches zwar nicht allein in Griechenland üblich ist, dochin Sofades eine spezielle Form annimmt: „(...) the buying of votes almost exclusivelyconcerns the Gypsies“ (Marantzidis und Mavrommatis 1999: 447). Diese Tatsacheführt die Autoren zu der Annahme, dass nicht allein die Armut dazu verleitet, denWert der persönlichen Wählerstimme mit einer bestimmten Summe Geld gleichzu-setzen, sondern sozial ausgegrenzte Menschen zu solchen Mitteln greifen, da sie vompolitischen System aufgrund mangelnder Rechte faktisch sowieso nichts erwartenkönnen (vgl. Marantzidis und Mavrommatis 1999: 447). Welcher Partei man dabeiseine Stimme verkauft, ist völlig gleichgültig.

Früh am Morgen des Wahltages schicken die aufgestellten Kandidaten sogenannte„intermediaries“ oder „brokers“ (Marantzidis und Mavrommatis 1999: 448), also ei-gens dafür vorgesehene Vermittler oder Makler, zu der Brücke, die das Zigeunerlagermit dem Rest der Stadt verbindet. Die Zigeuner warten dort bereits in Familien-gruppen, ausgestattet mit vorher erhaltenem und schon ausgefülltem Stimmzettel,und sind auf dem Weg zum Wahllokal. Die Vermittler nähern sich den Zigeunernund verteilen 5000-drachma Scheine unter ihnen (entsprachen 1999 ungefähr US$16, Marantzidis und Mavrommatis 1999: 448). Anschließend schickt jeder Vermittlereinen sogenannten „henchman“ (Marantzidis und Mavrommatis 1999: 448), dessenAufgabe es ist, die Zigeuner zum Wahllokal zu begleiten. Auf diese Weise soll ver-hindert werden, dass die Zigeuner auf ihrem Weg in die Wahlkabine mit einempolitischen Gegner ein anderes Abkommen eingehen. Im Wahllokal angekommen,muss der ausgefüllte Stimmzettel nur noch in die Wahlurne geworfen werden.Bei Kommunalwahlen, wo nur zwei Personen für ein Amt kandidieren, ist der Ein-

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fluss der Zigeunerstimmen auf den Ausgang der Wahl noch größer. Das Sichern ihrerStimmen ist demzufolge umso wichtiger. Um dies zu gewährleisten, ziehen die Mak-ler bereits eine Woche vor der eigentlichen Wahl ins Zigeunerlager und leben dortmit den Familien zusammen. Sie nehmen deren „voting booklets“ an sich, welche denZigeunern das Wählen überhaupt erst ermöglichen. Interessant ist an dieser Stelle,dass 1979, als die Zigeuner in Sofades eingebürgert wurden, nur wenige ein solches„booklet“ besaßen. Da es aber die Voraussetzung für den Erhalt der Fahrerlaubnisdarstellt, war sein Besitz für die meisten Zigeuner schon nach kurzer Zeit unabding-bar (Marantzidis und Mavrommatis 1999: 447).Das Einsammeln der „booklets“ durch die Makler hat also eine sowohl symbolischeals auch praktische Funktion (Marantzidis und Mavrommatis 1999: 449) - symbo-lisch für das Worthalten der Zigeuner, praktisch für den Wahlmechanismus: DerMakler behält den Überblick über bereits aufgekaufte Stimmen und kann notieren,wer für seinen Kandidaten gestimmt hat. Denn uneigennützig ist die ganze Proze-dur für ihn natürlich nicht: Das Geld, welches er dabei verdient, ist proportional zurMenge der gesammelten Stimmen.

4. Vermittler beim „buying-off process“Eine entscheidende Rolle bei dem Prozess des „Gypsy-bargaining“ spielen demzu-folge die Makler, die Vermittler zwischen Kandidat und Zigeunergruppe. Sie sindmeist männlich und werden nicht zufällig gewählt, sondern je nach Menge an Be-kannten im Zigeunerlager. Diese sind oft zu einem gewissen Grad von ihm abhän-gig - schließlich stellen uns Marantzidis und Mavrommatis hier einige Beispiele fürKlientel-Beziehungen vor. Viele Zigeuner sind als Arbeiter auf der Farm eines Ver-mittlers angestellt und dürfen in besonderen Fällen Geld von ihm leihen.Vor allem sind also die qualitativen Eigenschaften des Vermittlers entscheidend.Er organisiert den Kaufprozess („buying-off mechanism“, Marantzidis und Mavrom-matis 1999: 448) und ist für das Finden und Bezahlen angemessener „henchmen“zuständig. Noch wichtiger wird seine Rolle, wenn es bei Parlamentswahlen um Kan-didaten geht, die nicht aus Sofades stammen: Sie haben zu den Zigeunern keinerleiBeziehung, sind aber auf deren Stimmen angewiesen.Je nach Professionalität der Vermittler wird zwischen „first-rate broker“ und „second-rate broker“ unterschieden (Marantzidis und Mavrommatis 1999: 448f.), wobei einAufstieg auf der Karriereleiter angestrebt wird. Um sich weitere Zigeunerstimmenzu sichern, greifen die politischen Gruppen bei Kommunalwahlen laut der Autorenauch noch zu anderen Mitteln. So stellt erstens jede Partei auch Kandidaten aus denReihen der Zigeuner für die Wahl zum Stadtrat auf (Marantzidis und Mavromma-

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tis 1999: 450). Zweitens werden beim „vote-buying process“ auch Zigeuner als Ver-mittler eingesetzt, die durch ihren nahen Bekanntenkreis dazu verpflichtet sind, diegrößtmögliche Menge an Stimmen zu sammeln. Die Autoren nennen sie „third-ratebroker“ (Marantzidis und Mavrommatis 1999: 450). Zu ihren Eigenschaften zählenein eingeschränktes Maß an Einfluss (auf Familie und Bekannte) und die Tatsache,dass sie innerhalb eines Klientel-Netzwerkes nur die Interessen jener repräsentieren.Außerdem streben sie einen Aufstieg in der Makler-Karriere für gewöhnlich nicht an.

Durch die entscheidende Rolle der Vermittler beim „buying-off process“, wie es dieAutoren selbst nennen, denn von einem Wahlprozess kann ja kaum die Rede sein,wird die Intensität der Beziehung zwischen Vermittler und Zigeuner deutlich. Ma-rantzidis und Mavrommatis zitieren an dieser Stelle treffend R. Lemarchand und K.Legg: „(...) the clientage relationship is a temporary and weak relationship“ (Marant-zidis und Mavrommatis 1999: 450 nach Lemarchand und Legg 1972: 152). Um zuverdeutlichen, wie diese Beziehung stabilisiert werden soll, führen Marantzidis undMavrommatis noch zwei weitere Elemente innerhalb der Klientelismus-Struktur an:das Eingehen von Patenschaften (koumbaria) und die Ausübung von Druck und Er-pressung.

5. koumbaria und ErpressungLaut der Autoren sei es im Mittelmeerraum allgemein üblich, dass zwischen Personender Mehrheitsbevölkerung und Zigeunerkindern Patenschaften, gennant koumbaria,eingegangen werden. Dieses Phänomen haben sie auch in Sofades beobachtet (Ma-rantzidis und Mavrommatis 1999: 451). Gründe dafür können einerseits moralischeund durch Tradition geprägte Aspekte sein, andererseits wird auch hierbei das Zieldes gegenseitigen Vorteils verfolgt: Durch die Verbindung der Familie mit einer inSofades ansässigen Person wird den Zigeunern Sicherheit gewährleistet, die ganzeFamilie darf den Paten um Gefallen bitten. Im Gegenzug ist das Patenkind zu Leis-tungen wie Arbeit auf dem Feld oder Stimmverkauf im Falle einer Wahl verpflichtet(denn selbstverständlich können auch Patenschaften zwischen Zigeunerkindern undVermittlern oder gar Kandidaten zustande kommen). Auch hierbei kann es sich alsoum eine Klientel-Beziehung handeln, die meist jedoch verlässlicher und intensiver ist,als eine temporäre Beziehung zwischen Vermittler und Zigeuner im Fall von Wahlen.

Das zweite Element, die Ausübung von Druck und Erpressung, kommt vor allemdann ins Spiel, wenn Zigeuner als Angestellte auf dem Hof einer in Sofades ansäs-sigen Person arbeiten. „Any Gypsy who looks like being disobedient or is suspected

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of doing deals with two candidates at once is threatened with losing his job, andneither he nor his family will be offered another“ (Marantzidis und Mavrommatis1999: 452). Dieses Zitat spricht für sich und bedarf keiner weiteren Anmerkungen.

6. Gegenseitiger Vorteil und sofortige Belohnung„The whole process of buying Gypsy votes in Sofades illustrates the qualitative cha-racteristica of a clientage system that is based on the logic of immediate recompen-se“ meinen Marantzidis und Mavrommatis (1999: 451) und treffen damit den Nagelauf den Kopf: Der Prozess des „Zigeunerstimmen-Kaufens“ macht die Merkmale ei-nes (politischen) Klientel-Systems deutlich und verfolgt das Ziel des gegenseitigenVorteils und der sofortigen Belohnung. Diese wird den Zigeunern für ihre Stimme inForm von Geld ausgezahlt. Damit dürfen sie an das politische System keine weiterenAnsprüche stellen. Den Autoren zufolge sind die Zigeuner vor allem daran interes-siert, ihre Existenz zu sichern und Schutz durch den Staat und das Rechtssystemzu erlangen und scheinen nicht vordergründig sozialen Aufstieg anzustreben (vgl.Marantzidis und Mavrommatis 1999: 451 in Bezug auf Abercrombie und Hill). IhreStimmabgabe hat vordergründig also keine politischen, sondern finanzielle Gründeund stellt nach Meinung der Autoren einen Nachteil für die Zigeuner dar: Ihre Stim-men kosten die Kandidaten und Vermittler viel weniger, als es die der Nicht-Zigeunertun würden. Obwohl bei Klientel-Beziehungen eigentlich ein Gleichgewicht zwischendem Geben und Nehmen der beiden Beteiligten herrschen sollte, ist dies in Sofadesnicht der Fall.Vielmehr hat man den Eindruck, die Zigeuner würden von der Mehrheitsbevölkerungausgenutzt: Während sie Klientel-Beziehungen zu einflussreicheren und sozial höhergestellten Personen eingehen, um ihren sozialen Status zu verteidigen („defensiveclientelism“) und nicht weiter zu sinken, zielen die sozial Integrierten mit „aggressi-ve clientage relations“ laut Marantzidis und Mavrommatis auf sozialen Aufstieg ab(1999: 453).

7. Überwindung der sozialen Ausgrenzung?Während die Klientel-Beziehungen in Sofades (und sicher nicht nur dort) zwar Kon-flikte zwischen Zigeunern und Nicht-Zigeunern verringern und sie zur Stabilität imstädtischen Sozialraum beitragen, verstärken sie, wie von den Autoren richtig undwichtig angemerkt wird, aber gleichzeitig auch die Unterschiede zwischen den Ein-zelnen und besiegeln die Position der dominierenden Gruppe: „(...) they maintain oreven widen the gap between the two groups“ (Marantzidis und Mavrommatis 1999:454).

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Marantzidis und Mavrommatis merken an, dass das Beispiel von Sofades allein nichtausreicht, um den gesamten Einfluss von Klientelismus-Strukturen auf soziale Aus-grenzung messen zu können. Sicher aber ist, dass in Sofades sowohl politische alsauch andere Formen von Klientel-Beziehungen zwischen sozial Ausgegrenzten undIntegrierten eingegangen werden, welche die Ausgrenzung nicht minimieren, son-dern ihr Bestehen fördern. „Only through collective action (...) can socially excludedgroups transform clientage relations from a defensive mechanism to an aggressiveone and thereby achieve social integration. But that is another story“ (Marantzidisund Mavrommatis 1999: 455).

III. Fazit und Bedeutung des ArtikelsMit der Betrachtung einer Form von politischem Klientelismus im Zusammenhangmit sozialer Ausgrenzung liefern Marantzidis und Mavrommatis meiner Meinungnach einen äußerst interessanten Blick auf die Interaktion verschiedener Akteureeiner Gesellschaft. Man sollte diese in Sofades beobachteten Phänomene nicht ineinen globalen Bezug setzen und als Schablone für jegliche Form von Klientelismus-Strukturen verwenden, doch durch die Wahl vorangegangener Zitate sollte deutlichwerden, dass dies keineswegs die Absicht der beiden Forscher war. Sowieso kann sichwohl kaum eine Forschungsarbeit, sei sie ethnologisch, soziologisch, politikwissen-schaftlich oder anders angelegt, ein solches Ziel setzen.Positiv anzumerken ist, dass es sich hier um einen äußerst gut strukturierten Aufsatzhandelt, der die Form von Klientel-Beziehungen in Sofades kaum werten will. Diesist meiner Meinung nach ein wichtiger Aspekt, da bestehende Strukturen schließlichnicht grundlos über die Jahre hinweg existieren. Eine Beziehung besteht immer ausmindestens zwei Beteiligten, welche die Art und Intensität ihres Zusammenwirkensbeeinflussen können.Wer bei der Lektüre die Präsentation einer ethnologischen Feldforschung über einebestimme Zigeunergruppe erwartet, wird bei dem Artikel von Marantzidis und Ma-vrommatis wohl enttäuscht werden. Im Seminar diente die Arbeit als ein Beispielfür das Phänomen des Klientelismus in einer strukturierten Gesellschaft in Zentral-griechenland. Und eben deswegen ist sie auch für die Sichtweise der zeitgenössischenTsiganologie interessant. Denn die Tatsache, dass eine Minderheit nie ohne die sieumgebenden Gruppen und die Form ihrer Beziehungen untereinander betrachtetwerden kann, ist spätestens seit den 1970er Jahren nichts Neues mehr. Neben Theo-rien wie der Grenztheorie von Fredrik Barth und der Kontrastkultur des deutschenEthnologen Bernhard Streck ist die Vorstellung von Klientelismus-Strukturen einwichtiger Aspekt, um das Zusammenspiel von verschiedenen Akteuren und Grup-

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pen von Akteuren, von Minderheit und Mehrheit in einer Gesellschaft zu verstehen.

Verwendete LiteraturAbercrombie, N., Hill, S.T. 1976. Paternalism and Patronage, in British Journal ofSociology, 27(4): 413-429.Barth, F. (Hg.) 1969. Ethnic Groups and Boundaries. The Social Organization ofCulture Difference, Oslo: Universitetsforlaget.Marantzidis, N., Mavrommatis, G. 1999. Political Clientelism and Social Exclusion.The Case of Gypsies in the Greek Town of Sofades, in International Sociology, 14(4):443-456.Streck, B. 2003. La cultura del contraste. Sobre la diferencia y el sentido de perte-nencia. El caso de los gitanos, in Revista de Antropología Social, 143(12): 159-179.

Zur Autorin des Textes:

1.Wer? Jolantha Schenke, 20 Jahre

2.Woher? Nach einem Semester Kulturwissenschaften studiere ich nun im 1. Fachsemester

Soziologie an der Universität Leipzig.

3. Warum? Vorlesung und Seminar zur Einführung in die Tsiganlogie, mit Schwerpunkt

Griechenland im Seminar, habe ich im Wahlbereich belegt, vordergründig aus Interesse am

Unbekannten - schon die mir bis dahin völlig unbekannte Bezeichnung „Tsiganologie“ klang

interessant. Den Text von Marantzidis und Mavrommatis habe ich gewählt, weil mich der

soziologisch-politikwissenschaftliche Ansatz besonders interessierte.

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5 Magdalena Gärtner über „Foreigners Among Foreigners“:

Social Organization Among The Roma Of Athens, Greece

(K. A. Kozaitis)

Im Rahmen des Seminars ’Zigeuner in Griechenland’ im WS 2010/2011 an der Uni-versität Leipzig haben wir uns mit verschiedenen Texten über Zigeunergruppen inGriechenland beschäftigt. Ziel war es, nicht nur etwas über die jeweilige Feldfor-schung und die Menschen zu erfahren, sondern auch die Herangehensweisen undArgumentationslinien der Autoren herauszuarbeiten und zu vergleichen. Wir be-trachten Zigeuner aus der sozialwissenschaftlichen Perspektive. Der 1997 von Ko-zaitis veröffentlichte Text handelt von Identitätsbildung im Allgemeinen und imSpeziellen im Bezug zu Zigeunergruppen.Zunächst einige Worte über die Autorin: Kathryn Kozaitis ist eine griechische An-thropologin, die in Gorgia an der State University doziert. Ihre Interessen in Lehreund Forschung sind Themen wie soziokulturelle Theorie und Praxis, Ethnographie(urbane Prozesse), angewandte Anthropologie, kultureller Wandel, globale Migra-tion, Anpassung und Abstammung. Sie veröffentlichte zwei Texte zu ihrer Feldfor-schung über Zigeuner in Athen, wobei der hier präsentierte als Grundlage für den2002 veröffentlichten Text (Embrace of Shelter: The Cultural Hybridism of AthenianRoma) angesehen werden kann. Weitere Veröffentlichungen von Kozaitis beschäfti-gen sich unter anderem mit Anthropologie, Ausbildung und Multikulturalität.Der Text „Foreigners Among Foreigners: Social Organization Among The Roma OfAthens, Greece“ wurde in der Zeitschrift Urban Anthropology (26:2) veröffentlichtund berichtet von ihrer Feldforschung in Aghia Varvara, einem nordwestlichen Stadt-teil von Athen, wo sich Kozaitis zwischen Juni 1987 und Juli 1988 sowie von Augustbis September 1989 aufhielt. Kozaitis wählte die ethnische Identität und Integrationvon sesshaften Zigeunern, in Bezug auf ihre städtische Umgebung, zum Thema ihrerFeldforschung. Als Methoden gibt sie teilnehmende Beobachtung, Interviews in undaußerhalb der Zigeunergruppe, Biographiearbeit, Netzwerk- und Quellenanalyse an.

Zum Inhalt des Textes :Bei der betrachteten Zigeunergruppe handelt es sich um ca. 500 Zigeunerfamilien,die heute in Aghia Varvara leben. Viele von ihnen flohen zu Beginn des letztenJahrhunderts als Flüchtlinge während der Kriegswirren des Griechisch-TürkischenKrieges aus der Türkei nach Griechenland. Bedingt durch einen Vertrag, den diegriechische und die türkische Regierung in Lausanne abschloss, wurden im Jahre1923 ungefähr 1,5 Millionen Anhänger des griechisch-orthodoxen Glaubens aus der

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Türkei (Thrakien und Anatolien) und rund eine halbe Million Muslime aus Grie-chenland in die Türkei „versetzt“ bzw. vertrieben. In ebenjenen Zeitraum fällt dertürkische Unabhängigkeitskrieg, die Lossagung von den Alliierten, die Anatolienund Thrakien nach dem Zerfall des Osmanischen Reiches unter sich aufgeteilt hat-ten, und die Gründung der heutigen türkischen Republik innerhalb ihrer heutigennational-staatlichen Grenzen.Die rund 1.5 Millionen Flüchtlinge dieser Zeit wurden vom griechischen Staat in ver-schiedene Kategorien eingeteilt. Viele der Zigeuner unter den Flüchtlingen aus derTürkei wurden vom griechischen Staat unter der Kategorie ‚unbestimmte Fremde’zusammengefasst. Das politische und wirtschaftliche Griechenland der 1920er-1930erJahre war instabil und der Staat war überfordert mit den vielen Flüchtlingen. EinNotprogramm wurde ins Leben gerufen, doch nicht alle profitierten davon. Zigeunerbesaßen, im Gegensatz zu der übrigen Bevölkerung, keine Dokumente, unterschie-den sich äußerlich durch andere Kleidung und Schmuck. Zudem sprachen sie keinGriechisch und waren keine Christen.Nach der Zwangsumsiedlung, waren die Zigeuner zunächst traumatisiert, besitz-,mittel- und obdachlos. Schutz, Nahrungsmittel und medizinische Versorgung warfür alle Flüchtlinge knapp, aber für die Zigeuner blieb meistens nichts übrig. Dieeinzelnen Familienmitglieder waren ständig auf der Suche nach anderen vermiss-ten Mitgliedern und Freunden und zogen von Ort zu Ort. Im Sommer des Jahres1930 zogen ca. 50 Zigeunerfamilien nach Aghia Varvara und bauten sich dort ein-fache Zelte auf. Zu der Zeit war der Stadtteil, mit Ausnahme eines Krankenhauses,noch unbewohnt und glich einem Feld bewachsen mit wenig Gestrüpp. Später zogenmehr Zigeunerfamilien nach Aghia Varvara, begannen Hütten zu errichten und sichdort einen Lebensraum zu schaffen. Sie begannen ihre Kultur zu ’modifizieren’ undbezeichneten sich als ’christliche Flüchtlinge’, um sich von den nomadischen Zigeu-nern zu unterscheiden. Diese Unterscheidung war sehr wichtig, denn so bekamen siepolitische Aufmerksamkeit. Mit der Zeit entwickelten sie weitere verschiedene ’Iden-titäten’, bzw. wechselten selbst ihre Bezeichnungen. Sie nannten sich ’Flüchtlinge’,’Athigani’, ’Tsigani’, ’Roma’, oder ’Xeni’ (’Fremde’) und variierten so ihre Identitätje nach Bedarf. Mit dem Namen ’Athigani’ distanzierten sie sich von indigenen no-madischen Zigeunergruppen, denn den Griechen war diese Bezeichnung eher fremd.Auch der Begriff ’Tsigani’ wurde zur Abgrenzung von den ’Yiftoi’ (griech. Bez. fürZigeuner) benutzt, denn die ’Yiftoi’ wurden mit Attributen wie ’schmutzig’ und’unzivilisiert’ bedacht, während den ’Athigani’ eher solche wie ’leidenschaftlich’ und’temperamentvoll’ zugeschrieben wurden. Diese Unterscheidung von ’wir’ und ’dieanderen Zigeuner’ verhalf den Zigeunern in Aghia Varvara zur Überwindung so-

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ziokultureller Barrieren. Indem sie die ’Yiftoi’ öffentlich als ihnen untergeordnetbezeichneten (privat allerdings als ’Bruder/ Schwester’), schützten sie sich selbstvor sozialer Benachteiligung. Auch die Griechen selbst unterscheiden zwischen denreichen Zigeunern in A.V. und nomadischen Zigeunern.1937 wurden die Zigeuner offiziell als Minderheit anerkannt. Heute haben alle Zi-geuner in Aghia Varvara die griechische Staatsbürgerschaft und sind ein fester Be-standteil der griechischen Gesellschaft. Ihr sozialer Status sowie der Lebensstandardsind im Verhältnis zu den Anfängen enorm gestiegen. Obwohl viele unterschiedlicheZigeunergruppen dort leben, definieren sie sich als eine Gruppe.Die Zigeuner von A.V. konstruierten mehr als nur ihre Selbstbezeichnungen, dennsie entwickelten komplette Identitäten um ihren Status als Händler zu sichern. C.Silverman Prägte dazu 1977 in seinem Text ’Gypsy Ethnicity: Folklore or Fakelo-re?’, den Begriff ’Fakelore’, der eine Zusammensetzung aus den Wörtern ’fake’ und’Folklore’ darstellt. Um ihre Existenz zu sichern entwickelten die Zigeuner eine Ver-kaufsstrategie. Sie gaben also „chamäleonartig“ vor, dass sie von der Insel Zypernkämen, adoptierten den Akzent, wussten Namen und Orte zu nennen und berühr-ten damit die Herzen tausender wohltätiger Griechen. Diese fühlten sich an das Jahr1974 erinnert, in welchem die türkische Macht 200.000 Menschen aus Zypern ver-trieben hatte. Ihren Kunden wurden seltene, wertvolle, handgemachte Wandbehängegezeigt. Hatte nun der potentielle Kunde „angebissen“, wurden billige, maschinen-gefertigte, aus China importierte Wandbehänge teuer verkauft. Die Kunden kauftenalso in erster Linie die Worte. Mit dieser List stärkten die Zigeuner die soziokultu-relle Solidarität und festigten ihren Platz in der griechischen Gemeinschaft.Heute nehmen Zigeuner am öffentlichen Leben teil, gehen zur griechisch-orthodoxenKirche, zur Schule und zum Militär, wie alle anderen Griechen. Sie sprechen fließendGriechisch und Romanes. Und doch unterscheiden sie sich.Laut einiger Informanten sind sie „die schlauesten Menschen der Welt“, da sie über-all überleben können. Ihre Kultur beschreiben sie als „etwas nicht Statisches“, wasihnen immer und überall das Überleben sichert. Die Zigeuner von A.V. sehen nichtIndien als ihr Heimatland, aber wo es sein soll, darüber herrscht Unklarheit undVerwirrung. Einige betonen, dass jetzt Griechenland ihre Heimat sei und dass sienach vorne schauten und nicht zurück. Es geht auch eine Legende über den Turmzu Babel um, welche erzählt, dass die Zigeuner zu spät kamen, um den Turm vonBabel mitzubauen. Darüber soll Gott so verärgert gewesen sein, dass er ihnen keinHeimatland gab. Sie seien also verdammt zu leiden.Im Falle von A.V. haben die Zigeuner es geschafft einen Platz in der griechischenGesellschaft zu erlangen und haben als anerkannte Minderheit den höchsten Status

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aller Zigeuner in Griechenland inne. Dennoch sind die dortigen Zigeuner ständigauf der Suche nach einer Identität und entwickelten eine Art ’doppelte Persönlich-keit’, um in der Zigeunergruppe und auch außerhalb zu überleben. So berichteteein Zigeuner, der als Arzt arbeitet, dass er trotz seines Berufes immer noch von dergriechischen Bevölkerung als Dieb und Lügner bezeichnet wird. Die Zigeuner legenviel Wert darauf, genauso wie andere Griechen anerkannt zu werden mit dem wassie tun. Auch das Äußerlich betreffend verbringen vor allem junge Frauen viel Zeitdamit genauso wie andere Europäer auszusehen. Teilweise beglückwünschen sie sichgegenseitig zu ihrem griechischem, europäischen, oder amerikanischen Aussehen.Weiterhin berichtet Kozaitis, dass sie sich selbst als zivilisiert und fortgeschrittenbeschreiben, und im Vergleich zu anderen Zigeunern überlegen seien. Die Zigeuner inA.V. selbst unterteilen die Gesellschaft in drei Schichten, bei denen die nomadischenZigeuner den untersten Rang bilden, die Griechen den Obersten und die Zigeunervon A.V. sollen sich in der Mitte befinden, aber mehr in Richtung der Griechen, alsoim oberen Bereich der Mitte.Auf Fragen zu Themen wie „Wurzeln“, „Identität“ und „Status“ wussten die Zigeunermeist keine Antworten. Ein Informant bezeichnete ihren Status als „objektiv grie-chisch und essentiell Roma“.Als Fazit sieht Kozaitis, dass die „bewusste Adaption“ (conscious adaptation) die Zi-geuner von A. V. schützt und sie durch diese soziale Barrieren überwinden können.Mit „conscious“ meint sie dabei, die Fähigkeit zu lernen, zu interpretieren und dasAufnehmen von Informationen mit dem Ziel, gewünschte Ergebnisse zu erlangen.„Adaptation“ meint, die Anpassung des Verhaltens an die jeweilige Situation. DieZigeuner bemühen sich mit Bedacht und Kreativität das kulturelle Gleichgewichtherzustellen um stets ihre Bestimmung und Neigung anpassen zu können (vgl. Ko-zaitis, 1997: 171).

Zur Perspektive und dem theoretischen Ansatz:Der theoretische Ansatz von Kozaitis ist sozialanthropologisch orientiert. Die Zi-geuner werden in Interaktion mit der Mehrheitsgesellschaft betrachtet und es wirdversucht, die emische und die etische Perspektive aufzuzeigen. Dies weist auf eineninteraktionistischen Ansatz hin.Als Quellen gibt die Autorin Anthropologen wie F. Barth, J. Okely oder A. Suther-land an. Daher sollte davon ausgegangen werden, dass der theoretische Ansatz inder aktuellen Tsiganologie zu finden ist.Der Aufbau des Textes weist keine klare Argumentationslinie auf. Der zentraleSchlüsselbegriff conscious adaptation wird von Anfang an verwendet und erläutert,

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könnte jedoch mehr Raum einnehmen, bzw. eventuell als Leitmotiv erkennbar ge-macht werden und durch den Text führen.Insgesamt wird die Spannung zwischen der Zigeuner-Identität und der griechischenIdentität sehr deutlich, aber nicht-wertend herausgestellt.Kritisch zu betrachten ist ihre Verwendung des Begriffes „Diaspora“. Dieser Be-griff wird von der Autorin häufig verwendet. Dieser wird eigentlich auf ethnischeMinderheiten angewandt, die ihre Heimat durch Krieg, politische oder rassistischeVerfolgung verlassen haben. Dies setzt allerdings voraus, dass diese ethnischen Min-derheiten eine Heimat hatten. Aber genau diese Tatsache ist bei den Zigeunern inA. V., laut Kozaitis’ Feldforschung, nicht der Fall.Des Weiteren ist sie sich scheinbar selbst unsicher, welche Bezeichnung für die Zi-geuner verwendet werden soll, denn sie wechselt willkürlich zwischen den Begriffen„Gypsies“ und „Roma“. Ein anderer Grund dafür könnte sein, dass Kozaitis absicht-lich mit den Begriffen „gespielt“ hat, so wie es auch die Zigeuner in A. V. taten.Widersprüchlichkeit findet sich auch in der Verwendung der Zitate. Durch die Wahlder Zitate wird ein eher romantisiertes Zigeunerbild dargestellt und das Ziel, dieemische Perspektive aufzuzeigen, gerät dabei ins Abseits. Die Kapitel sind über-schrieben mit Aussagen wie: „Like Boats Without Oars“, „We Didn’t Possess DestinyIn The Sun“ oder „Chased and Lost Like No Other“. Ob die Informanten tatsäch-lich nur solche Aussagen getroffen haben, oder ob, und warum, Kozaitis gerade dieseübertrieben poetischen Aussagen verwendet hat, bleibt unklar. Oft sind ihre eigenenFormulierungen nicht sachlich. Eben dargelegte Widersprüchlichkeiten weisen daraufhin, dass Kozaitis’ Ansatz nicht klar der aktuellen Tsiganologie zugeordnet werdenkann. Da es sich um einen wissenschaftlichen Text handelt, sollte meiner Meinungnach, der Textaufbau sowie die Begriffsverwendung etwas klarer und strukturiertersein.Insgesamt wird das Thema „Identität und Integration von sesshaften Zigeunern inBezug auf die städtische Umgebung“ in dem Text von Kozaitis bearbeitet und nichtnur Fachexperten können sich ein Bild von den Zigeunern in A.V. machen. Das selbstgesetzte Ziel wurde erreicht, auch wenn dies in der Schlussfolgerung leider kaum aus-formuliert wird. Die Formulierungen sind, wie bereits erwähnt, teilweise übertriebenpoetisch und gleichen an manchen Stellen eher einer Geschichte, als dem Berichteiner Feldforschung. Dies verleiht dem Leser zuweilen eine eingefärbte Brille.Statt die Lage zu verdeutlichen, wirft der Text dort für mich mehr Fragen auf:Sind die Zigeuner zu bemitleiden? Haben sie ein hartes Schicksal? Wer ist ’Schuld’und wer kann eine Veränderung herbeiführen? Sind die Zigeuner glücklich? Und vorallem: Können wir als Außenstehende diese Fragen überhaupt beantworten? Diese

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Fragen bleiben in diesem Text unbeantwortet und sind vielleicht auch nicht zu be-antworten.Auch ein Text von Vaxevanoglou („Griechische Zigeuner: Randgruppen und Famili-enmenschen“, 2000, Original auf Griechisch) berichtet auf der Grundlage einer Feld-forschung über die Zigeuner in Aghia Varvara. Vaxevanoglou ist Historikerin undihre Feldforschung fand 1997 im Rahmen des dritten Unterstützungsprogramms derEuropäischen Kommission statt. Die wichtigsten Themen von Vaxevanoglou warendabei „Arbeit und Familie“ und sie hat versucht, das romantisierte Zigeunerbild dertraditionellen Tsiganologie über griechische Zigeuner zu entkräften. Sie beschreibtverschiedene Verkaufsmethoden der Zigeuner, sowie die Beziehung zwischen Arbeit-und Familiennetzwerken. Die Ergebnisse ihrer Analyse hätten für Kozaitis’ zweitenText interessant sein können, zumal die Themen „Arbeit und Familie“ auch engmit Identitätsbildung verknüpft sind. Und dies hatte sich ja Kozaitis auch in ihremzweiten Text zum Thema gemacht. Leider taucht Vaxevanoglou nicht im Literatur-verzeichnis von Kozaitis auf.Insgesamt sind beide Texte von Kozaitis, wenn sie sich auch teilweise doppeln, imVerbund interessant und aufschlussreich und leisten einen wichtigen Beitrag in derForschung über griechische Zigeuner.

Literatur:Kozaitis, Kathryn A., 1997. „‘Foreigners Among Foreigners’: Social OrganizationAmong The Roma of Athens, Greece”, in Urban Anthropology, 26 (2): 165-199.Kozaitis, Kathryn A., 2002. „Embrace of shelter: The Cultural Hybridism of Athe-nian Roma. Ethnologia.“ Ethnological Society of Greece, Athens;http://www.cas.gsu.edu/anthropology/2252.html, letzter Zugriff 01.03.2011.Vaxevanoglou, Aliki, 2000. „Griechische Zigeuner: Randgruppen und Familien-menschen.“ (Original auf Griechisch, hier übersetzt von M. Papapavlou) Athen:Alexandreia.

Zur Autorin des Textes

Ich studiere Deutsch als Fremdsprache im Kernfach, bin im ersten Semester und habe in

meinem Wahlbereich Tsiganologie gewählt. Der Text von Kozaitis hat mich besonders inter-

essiert, weil es um Identität und Identitätsbildung geht. Diese Themen finde ich grundsätz-

lich interessant, weil sie einerseits jeden betreffen, andererseits aber für jeden unterschied-

lich sind. Im Falle der Zigeuner von Aghia Varvara wird vor allem das Zusammenspiel von

sozialer Umwelt und Individuum, bzw. der speziellen Gruppe, deutlich.

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6 Jana Aurig über Labour market restructering and

employment pathways: The case of a mixed community

(Roma, non-Roma) in north-west Greece (S. Themelis)

1. EinleitungInnerhalb des Seminars „Zigeuner in Griechenland“ bei Frau Dr. Papapavlou behan-delten wir Texte über verschiedene Zigeunergruppen in Griechenland. Die Herkunftder Texte, der Ort ihrer Publikationen, sowie der Schwerpunktbereich der jeweili-gen Verfasser waren dabei höchst unterschiedlich. Diskussionen über diese Diversitätund die Auseinandersetzung mit den verschiedenen Zigeunergruppen waren Semi-narinhalt.Der Artikel, welchen ich vorstellen möchte, behandelt eine Studie zu den Auswirkun-gen der beruflichen Lebensläufe von Männern und Frauen, Roma und Nicht-Roma,in Griechenland der letzten 60 Jahre. Der Artikel des Soziologen S. Themlis basiertauf einer Feldforschungsstudie. Der Artikel (erschienen: 21.10.2008) stellt beruflicheEinzelbiographien vor, deren Verlauf in Abhängigkeit von ökonomischen und histori-schen Zusammenhängen aufgezeichnet wird. Thematisiert werden soziale Mobilitätsowie die Bildung von Roma- und Nicht-Roma-Bevölkerung, eingebettet in die Ar-beitsmarktveränderungen, beginnend in den Nachkriegsjahren bis heute.Themelis’ „unkonventioneller“ Ansatz umfasst es nicht, wie in der Sozial- und Kul-turwissenschaft oft üblich, Roma-Gruppen isoliert zu beschreiben und deren Le-bensweisen in einen Wertekontrast zur „normalen“ Mehrheitsbevölkerung zu stellen,sondern vielmehr beide Gruppen gleichermaßen anhand ihrer beruflichen Biogra-phien gemeinsam aufzuzeigen.Die individuellen beruflichen Werdegänge begründet Themelis weniger durch kultu-relle, ethnische Gründe, sondern bettet sie in einen gemeinsamen sozio-historischenKontext.

2. Die Studie2.1 Aufbau der StudieThemelis führte die Studie anhand von Interviews (zum Teil mehrmaligen) mit 40Personen in einer Provinzstadt im nordwestlichen Griechenland durch. In der Pro-vinzstadt Protopi (geänderter Name) wurden vor wenigen Jahren ca. 15 % der Bevöl-kerung zur Gruppe der Roma gezählt, früher waren es etwas mehr. Zum Zeitpunktder Befragungen gab es keine Evidenz dafür, dass die Roma oder ihre Vorfahrenhinzugezogen seien. Im Stadtbild tauchen sie häufig am Stadtrand auf. Roma undGadje leben in der Regel in separaten Viertel. Eine leichte Tendenz zu einer stärker

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durchmischten Nachbarschaft ist dennoch in den letzten Jahren zu beobachten.Die Personen wurden ausgewählt und in drei Generationen, in Frauen und Männerund in Roma und Gadje (Nicht-Roma) eingeteilt. Die Studie wurde in Form vonhalb- oder, in einigen Fällen, wenig strukturierten Interviews mit 28 Einzelpersonenund sechs Paaren durchgeführt. Die Verteilung der verschiedenen Kategorien (Ge-schlecht, Ethnizität und Alter) war nicht gleichmäßig.

Alter Geschlecht Roma GadjeJung männlich 1 7

weiblich 0 3Mittleres Alter männlich 2 8

weiblich 1 3Alt männlich 2 6

weiblich 3 4

Innerhalb des Artikels von Themelis werden beispielhaft für jede Gruppe einzelneberufliche Werdegänge beschrieben und in Verbindung mit der allgemeinen Entwick-lung Protopi´s sowie der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung Griechenlands darge-stellt.

2.2 1948 – late 1960: from petty commodity production to free-marketcapitalismIn der Vorkriegszeit lebten in Griechenland die meisten Menschen in Dörfern oderkleinen Provinzstädten, wobei der Großteil der Bevölkerung auch später, zu Nach-kriegszeiten, in der Landwirtschaft tätig war.In Protopi arbeiteten quasi alle Einwohner in irgendeiner Form in der Landwirt-schaft. Die relativ geringen Erträge wurden überwiegend für den Eigenbedarf ge-nutzt, auch wenn Verkauf und Tausch nicht vollkommen abwesend waren. Das Ar-beitsleben als Bauer war von körperlichen Strapazen, permanentem, hartem Arbei-ten und der Abhängigkeit an das Wetter geprägt, so dass die meisten Menschen einealternative Einkommensmöglichkeit wünschten und suchten.Bacchus beispielsweise, ein Rom, arbeitete sein ganzes Leben als Bauer und warweithin als Bacchus der Klarinetten-Spieler bekannt. Der Musiker-Beruf wurde ge-nerell als ein typischer Roma-Beruf wahrgenommen und genoss wenig Ansehen. Alssekundäre Einkommensquelle war er wichtig, jedoch nie ausreichend, um sich vonder Landwirtschaft lossagen zu können. In Folge dessen kam es häufig dazu, dasssowohl Roma als auch Gadje ihr Land verkauften und stattdessen einer Lohnarbeitnachgingen.

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Für Gadje schien es nichtsdestotrotz in der Nachkriegszeit einfacher auch in andereBerufsfelder vorzudringen. Solon, ein Gadje, hatte ähnliche Startbedingungen wieBacchus, konnte jedoch auf seinem Land Leute anstellen und dadurch die Produk-tion in den Jahren des wirtschaftlichen Aufschwungs steigern. Er eröffnete spätereine Bäckerei, welche in den Folgejahren seine Haupt-Erwerbsquelle wurde und dielandwirtschaftliche Arbeit lediglich eine zusätzliche Einkommensquelle darstellte.Die Frauen waren in der Nachkriegszeit alle Bäuerinnen und gleichzeitig für Haus-halt und Kindererziehung verantwortlich. Ihre Beschäftigungsmöglichkeiten warenabhängig von der Familie bzw. von der Familie des Ehemannes. Themelis merktan, dass sich dieser Umstand weniger durch ökonomisch-motivierte Gründe be-gründet, als durch eine kulturelle und historisch gewachsene Geschlechterrollen-Arbeitsteilung. Es war auch üblich, dass die Frau in das Haus der Familie des Manneseinzog, also ein patrilokales System dominierte.Ähnlich abhängig von ihren Familien waren die Romnija. Nur, dass für sie eineVerbesserung des Lebensstandards aufgrund von Heirat unmöglich oder sehr un-wahrscheinlich war.Die Romni Calliope war ihr ganzes Leben auf der Farm tätig und in ihrer „Freizeit“arbeitete sie zum Zuverdienst als Friseurin. Zusätzlich hatte die Familie ihres Man-nes ein Ziegel- und Steingeschäft, in welchem sie ebenfalls für einige Jahre arbeitete.Dieses (in Besitz von Roma-Bewohnern untypische) Geschäft hielt sich jedoch nichtlange. Themelis nimmt an, dass das Geschäft aufgrund von Meidung, er nennt esauch Diskriminierung durch die Mehrheitsbevölkerung, keinen Erfolg hatte. Eine si-chere Evidenz für diese Vermutung hat er allerdings nicht. Auf Nachfrage erklärtCalliope, dass sie sich eine Alternative zu der vielen und harten Arbeit in ihremLeben gewünscht hat.

2.3 Early 1970s – mid 1990s: economic restructuring and ´education spon-sored´ mobilityIn der Zeit des Kapitalismus wurden neue Beschäftigungen möglich, in Protopiboomten vor allem alle Geschäftsmöglichkeiten, die mit Hausbau verbunden wa-ren. Außerdem war, sowohl zum Teil aufgrund von Geldüberweisungen durch Emi-granten, als auch durch einen generellen wirtschaftlichen Aufschwung wieder mehrfinanzielles Kapital im Land vorhanden. Gleichzeitig wurde durch die entstandenenveränderten Marktbedingungen der Dienstleistungssektor ausgebaut, die Landwirt-schaft wurde modernisiert und die Produktion konnte gesteigert werden. Das zusätz-liche Geld wurde in Protopi viel in den Hausbau reinvestiert und half insbesondereder lokalen Wirtschaft. Daraufhin wurden, insbesondere fachspezifische Arbeitskräf-

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te, wie Maurer gesucht.Die berufliche Biographie des Gadje Demosthenes weist sich durch eine in dieser Zeitmögliche Erfolgsgeschichte aus. Auch er begann als Bauer, nahm dann das Risikoauf sich und eröffnete zusätzlich ein Geschäft. Da dieses Erfolg hatte, eröffnete erspäter noch eine Tankstelle, dann ein Restaurant, immer auf der Suche nach mehrSicherheit und besseren Lebensbedingungen. Heute arbeitet die gesamte Familie,inklusive der Söhne und Enkel, in seinen Betrieben.Grundsätzlich galten zwischen den Roma und Gadje soziale Grenzen und die Mög-lichkeit zur Verbesserung des Lebensstandards für Roma wäre am ehesten durchAuswanderung möglich gewesen. Zum Überleben war dies in Protopi (im Gegensatzzu anderen Gebieten) allerdings nicht die einzige Option, da immer noch Land undLandwirtschaft als Arbeitsmöglichkeit vorhanden war. So arbeitete Theophilos, einRom, auch auf dem eigenen Feld und begann später mit kleinen Angestelltenar-beiten. Nach der Hochzeit arbeitete er als Maurer, verlor seine Arbeit wieder undglaubte, dass Immigranten (insbesondere Albaner) seine Angestelltenarbeiten über-nahmen.Die Arbeit der Frauen war stark von der der Männer abhängig, weswegen es, lautThemelis, schwierig einzuordnen ist, inwiefern sie ihre Arbeit selbst ausgewählt ha-ben. Auch sie begannen Angestelltenverhältnisse zu suchen, konnten dies aber mithöherer Flexibilität (im Sinne kurzfristiger Arbeit) tun, da der Mann eher als Haupt-verdiener galt. So bekamen sie fast nur Arbeiten in der Landwirtschaft oder befristeteArbeiten für Ungelernte.Die möglichen Arbeitsalternativen hingen außerdem von Bildungsgrad und Ausbil-dung ab. Bis zum Krieg war es üblich die Schule nur bis zur Grundschule zu besuchen,nur sehr privilegierte Familien konnten ihre Kinder auf weiterführende Schulen schi-cken. Inzwischen erforderte der Arbeitsmarkt aber immer speziellere Arbeitskräfteund somit stiegen auch die Bildungsanforderungen. Frauen wurden gleichzeitig un-entbehrlicher auf dem Arbeitsmarkt.

2.4 From the mid–1990s: modernisation, globalisation and market rigidi-tiesIn dieser von Themelis dritten beschriebenen Epoche wurde der Arbeitsmarkt immerwettbewerbslastiger während die Arbeitslosenrate anstieg. Arbeiten für Ungelerntewurden vermehrt von Immigranten übernommen.Bildung bzw. Ausbildung spezieller Fähigkeiten wurde immer wichtiger, auch wenndas gleichzeitig keine Erfolgsgarantie für das Finden einer geeigneten Arbeit war.Phaedon, ein Gadje konnte jedoch trotz spezieller Ausbildung keine entsprechende

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Arbeit finden. Nach dem Studium nahm er fünf Jahre lang diverse Jobs an, arbeitetespäter als Verkäufer und eröffnete später eine Firma für Waren und Dienstleistun-gen. Auch zu dieser Zeit gestalteten sich die Möglichkeiten für die Roma, die inProtopi lebten, tendenziell schwieriger.Pericles, ein Rom begann bei seinem Vater als Elektriker, arbeitete dann in einerFabrik als ungelernter Arbeiter. Da er nur die Grundschule besuchte, sah er für sichkeine Chancen auf dem Arbeitsmarkt. Auch später besetzte er weiterhin Stellen fürungelernte Arbeiter, abwechselnd in Deutschland und in Griechenland.Die Frauen waren mittlerweile unabdingbar auf dem Arbeitsmarkt. Nichtsdestotrotzwar es für Roma-Frauen grundsätzlich schwieriger Arbeit zu finden, auch wenn sieetwas mobiler und unabhängiger durch die steigenden Bildungsqualifikationen wur-den. Die Qualifikationen schienen dementsprechend bei grassierender Arbeitslosig-keit nicht Ausschlag gebend für das Finden einer Stelle zu sein.Heliad, eine Romni, suchte vergeblich Arbeit nach ihrem Studium, studierte dannweiter (machte fünf Diploma), zog später nach Athen, wo sie einige schlecht bezahl-te, befristete Jobs fand und später als Sekretärin arbeitete.Aspasia, eine Gadji meint, dass Frauen immer unabhängiger in der Berufswahl wer-den können und die Arbeit auch zum Teil zur Selbstverwirklichung beiträgt. IhrGehalt werde für ein zweites Einkommen im Haushalt benötigt.Dennoch sind Frauen häufiger in befristeten Arbeitsverträgen tätig und unterbre-chen ihren beruflichen Werdegang um sich Kindern und Haushalt zu widmen.

3. TextrezensionDer Artikel von Themelis wurde im Dezember 2008 in der renommierten ZeitschriftRomani Studies veröffentlicht. In dieser Zeitschrift werden Artikel, die sich mit tsi-ganologischer Forschung aber auch mit anderen Disziplinen beschäftigen, publiziert.Überwiegend sind es Arbeiten über ethnologische Feldforschungen, aber auch ausanderen Bereichen wie Linguistik, Soziologie, Politikwissenschaft. 1

Im Artikel von Themelis liegt der theoretische Ansatz eher auf der politisch-wirtschaft-lichen und daraus folgend sozialen Beschreibung des Unterschiedes von Roma undGadje. Er betrachtet die gegebenen wirtschaftlichen Verhältnisse des ganzen Landesim Verlauf der letzten Jahrzehnte, beschreibt sie anhand des kleinen Beispieldorfesund baut diese Beschreibung auf Interviews auf. Methodisch ist die Forschung qua-litativ ausgerichtet und wird in einen historischen Kontext eingebettet.In seiner Bibliographie sind hauptsächlich Bücher genannt, die entweder mit dem

1 Quelle: http://de.wikipedia.org/wiki/Tsiganologie#Internationale_Forschung_-_Romani_Studies

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antiquiertem, romantisch-homogenen „Zigeunerbild“ arbeiten oder es sind politischeoder wirtschaftliche Quellen zur Beschreibung der wirtschaftlichen Lage und Ent-wicklung in Griechenland. Er listet auffällig wenige Bücher, die zeitgenössische Tsi-ganologie behandeln.Da in der Auseinandersetzung von Roma und Gadje die wirtschaftlichen Beziehun-gen mit- und zueinander zum Mittelpunkt der Betrachtung werden, ist der Artikeldennoch als Beitrag zur kontemporären Tsiganologie zu zählen.

LiteraturThemelis, S. „Labour market restructuring and employment pathways: The case of amixed community (Roma, non-Roma) in north-west Greece”, 2008.

Zur Autorin des Textes:

Mein Name ist Jana Aurig, ich studiere Linguistik in Leipzig und besuchte zum ersten Mal

Veranstaltungen in der Ethnologie. Interessant an dem Text von Themelis finde ich den

Zusammenhang von ökonomisch bedingter Ungleichverteilung von Roma und Gadje.

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7 Nicole Boske über The Ababas: A Rom Ritual - Magie in

der Zigeunerkultur? (Y. Hunt)

1. Yvonne HuntYvonne Hunt1 ist Tänzerin und Tanzwissenschaftlerin. Sie ist Mitglied in verschie-densten griechischen wie auch internationalen Musik- und Tanzgesellschaften undführt seit 1975 Feldforschungen zum Thema Volkstanz in Griechenland durch. Seit1978 unterrichtet sie amerikanische Studenten in griechischen Tänzen und lehrtebzw. lehrt zahlreichen Hochschulen und Universitäten in den USA. Seit 1981 bietetHunt auch Sommerseminare in Griechenland an, in denen sie die verschiedenstengriechischen Volkstänze unterrichtet. Dabei legt sie ein besonderes Augenmerk aufdie Region Serres in der griechischen Region Zentralmakedonien.Obwohl sie selbst keine Griechin ist, spricht sie die Sprache fließend, was die besteVoraussetzung für ihre Feldforschungen ist. Mittlerweile lebt sie seit ca. 14 Jahrenin Griechenland und arbeitete sechs Jahre davon als Assistentin des Direktors der„Society of the Dissemination of National Music“. Außerdem unterrichtete Hunt inGriechenland bereits an der „Hellenic American Union“ und dem „Athens Center“.Kurzzeitig tanzte sie auch mit dem „Lyceum Club of Greek Women“ in Athen.Was den Volkstanz und die Volksmusik in Griechenland betrifft, wird Hunt als eineder ersten und bedeutensten Autoritäten auf dem Gebiet angesehen und geschätzt.Als solche wurde sie Jurorin eines griechischen Volkstanzwettbewerbs, der jedes Jahrim Rahmen eines Festivals in Kalifornien, USA, stattfindet. Dort bietet sie jährlichein zehntägiges Seminar an, indem sie Volkstänze aus Serres unterrichtet.Außerdem war sie bereits in diversen griechischen Fernsehproduktionen zum The-ma traditionelle Musik und Tanz zu sehen. Mit Neal Sandler und Christos Govetashat sie eine CD produziert, auf der verschiedene Musiker aus Flambouro zu hörensind, eine Region in Serres (Regionalbezirk Griechenlands) in Zentralmakedonien.Der Titel der CD lautet „Zourna Masters of Flambouro“. Neben verschiedensten An-merkungen für CD’s und Artikel unterschiedlichster Veröffentlichungen, hat Huntauch das Buch „Traditional Dance in Greek Culture“ geschrieben, welches 1996 ver-öffentlicht wurde.2002 veröffentlichte Hunt dann den Artikel „The Ababas: A Rom Ritual“ in demSammelband

”Oi Rom� sthn Ell�da“ (Die Roma in Griechenland). Dieser Text

sticht im Vergleich zu ihren übrigen Arbeiten heraus, da er sich nur indirekt mitdem griechischen Volkstanz beschäftigt. Hunt betrachtet darin vornehmlich einenbestimmten Brauch der Zigeuner aus der ehemaligen Präfektur Serres namens „Aba-

1 Abbildungen von Y. Hunt sind im Anhang zu finden unter Abb.: 1-2.

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bas“, für den die Musik und der Tanz von großer Bedeutung sind. Auch im Vergleichzu den übrigen Texten des Sammelbandes, indem der Artikel erschienen ist, stellter als einziger englischsprachiger Artikel eine Besonderheit dar. Im Folgenden wirddieser 2002 erschienene Artikel und Hunts Arbeit näher betrachtet.

2. “The Ababas: A Rom Ritual”2.1 Das FeldIn ihrer Arbeit „The Ababas: A Rom Ritual“ betrachtet Hunt sesshafte Roma ausder ehemaligen Serres Präfektur in Zentralmakedonien2. Dieses Gebiet umfasst annä-hernd 4000 km2 und ist damit eines der größten Verwaltungsgebiete Griechenlands.Es wird umschlossen von Bulgarien (im Norden), dem Strymonikos Golf (im Sü-den), Thessaloniki (im Süden und Westen), Kilkis (im Westen) und Dhrama undKavala (im Osten). Hunt beschreibt das Gebiet Serres als ausgesprochen fruchtbaresLand. Schon die Türken bezeichneten es als „nest of gold“ (Hunt 2002:253) und auchheute noch betrachten viele das Gebiet als die beste Region, um Landwirtschaft zubetreiben: „Today many consider this to be the best farmland of the region.“ (Hunt2002:253)Ungefähr 14 % der Bevölkerung von Serres seien Zigeuner und in den meisten Fällenhandle es sich bei ihnen um diejenigen, die das Gebiet schon am längsten besiedeln.Daher werden die Zigeuner der ehemaligen Serres Präfektur von der Mehrheitsbe-völkerung vielerorts auch als Eingeborene bezeichnet.Für Hunts Arbeit ist allerdings nicht die gesamte ehemalige Serres Präfektur von Be-deutung, sondern sie betrachtet nur ein paar Vororte der gleichnamigen Hauptstadtvon Serres und einige südöstlich liegende Dörfer: Alibekioi, Anthi, Valtotopi, Mavro-thalassa, Neohori, Paralimnio und Flambouro. Die Roma aus diesen Orten weisengewisse Gemeinsamkeiten in ihren Romadialekten auf und arbeiten hauptsächlichals Farmer oder führen Tavernen oder andere kleine Geschäfte. Auch Musiker sindunter ihnen zu finden.

2.2 Thema und Ziel der ArbeitHunt behandelt in ihrer Arbeit „The Ababas: A Rom Ritual“ vor allem das Themader Bräuche und Riten und die damit verbundene Magie im Leben der Zigeuner.Sie geht dabei speziell auf die Frauen und deren Rolle bei der Ausübung diverser

2 Eine Abbildung dazu ist im Anhang zu finden unter Abb.: 3. Bis 2010 zählte Serres zu einerder sieben Präfekturen Zentralmakedoniens in Griechenland. Dies änderte sich mit der Verwal-tungsreform von 2010, in der die Kompetenzen der Präfektur an die Region Zentralmakedonienübertragen wurden. Das Gebiet der Präfektur Serres existiert als „Regionalbezirk Serres“ wei-ter. Obwohl es sich zu Zeiten Hunts Forschung noch um die Präfektur Serres handelte, wird imFolgenden das Gebiet als Regionalbezirk bezeichnet werden.

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Zeremonien ein. Im Vordergrund der Arbeit steht ein bestimmtes Ritual, welchesden Namen „Ababas“ trägt und in all den unter 2.1 genannten Orten praktiziertwird.Schon im Vorwort erläutert Hunt, was sie mit ihrer Abhandlung über dieses Ritualerreichen möchte. Sie fordert Verständnis und Respekt für die Bräuche der Zigeu-ner. Hunt bemängelt, dass Roma seit jeher Vorurteilen ausgesetzt waren. Da dieMenschen ihre Riten nicht verstehen können, würden diese oft verhöhnt und als Fol-ge mit der Magie in Verbindung gebracht: „Many of their customs have often beenmisunderstood and derided. They, as a people, are often looked on as mysterious ordifferent.” (Hunt 2002:251)Am Ende der Arbeit geht Hunt nochmals auf ihr eingangs erwähntes Anliegen ein.Sie bittet die Rezipienten ihrer Arbeit nicht vorschnell über die Zigeuner und dasThema der Magie in ihrem Leben zu urteilen und fordert von der Gesellschaft mehrRespekt für die Bräuche der Zigeuner. Ihr Anliegen stützt sie mittels des Arguments,dass man doch nicht genau wissen könne, ob und wie die Frauen mit gewissen Kräf-ten in Verbindung stehen.

„We are constantly being told in modern society that we should tap moreoften into our inner strengths, our spiritual side; that we do not use allthe powers we possess. Is it possible these women have already done so?”(Hunt 2002:267)

Hunt bekräftigt ihren Einwand zusätzlich mittels eines Verweises auf E. Trigg.3 Nachihm kann man in der heutigen Gesellschaft nicht wissen, ob nicht vielleicht wirklichMenschen mit besonderen Gaben ausgestattet sind:

„At a time when scientists are questioning the bounds of reality, whenparapsychology and extrasensory perception are causing us to questionthe long-established assumption that man has but five senses, we cannotrule out the possibility that a people close to the natural world [. . . ] mayvery well possess strange gifts”. (Trigg in Hunt 2002:267)

2.3 Themenfindung und Schwierigkeiten bei der ForschungNachdem Hunt in dem Kapitel The Ababas (ab Seite 254) erneut darauf eingeht,dass die Frauen seit ewigen Zeiten mit Magie, Hexerei und mystischen Kräften in

3 Auf Trigg wie auch auf Block und Megel stützt sich Hunt sehr oft, um ihre Aussagen zubekräftigen. Drei Forscher, die der traditionellen Tsiganologie anhängen. Hunt bezieht sich inihrer Arbeit auf die folgenden Werke der drei Autoren: Martin Block – Gypsies. Their Lifeand Their Customs. (1939); John Megel – Gypsy Religion. (1986) Elwood B. Trigg – GypsyDeamons and Divinities. The Magic and the Religion of the Gypsies. (1973).

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Verbindung gebracht werden, erläutert sie in diesem Kapitel, wie sie zu der Erfor-schung des in der Arbeit behandelten Rituals gekommen ist.Hunt hatte bereits viele Nachforschungen zu Tänzen und Bräuchen, die in der ehe-maligen Serres Präfektur zu finden sind, durchgeführt. Als sie eines Tages ein Ra-diointerview zu diesem Thema gab, hörte dies eine Nicht-Romni aus Anthi. Jenesetzte sich mit Hunt in Verbindung und berichtete ihr von einem Ritual mit demNamen Ababas, das von den Romni ihres Dorfes durchgeführt wurde. Der Grund fürdie Ausübung des Rituals war, dass der Bruder der besagten Frau aus Anthi krankgewesen war. Hunt wurde von dem Ritual berichtet, da Tanz eine wichtige Rolledarin spielt.4 Mit dieser Information war der Grundstein für ihre Forschung bezüg-lich dieses Brauches in der Zigeunerwelt gelegt. Im Laufe der Zeit wurden allerdingszwei große Problemfelder deutlich, die sich stark auf ihre Forschung auswirkten.Erstens: Zu dem Ritual war in der Literatur kaum etwas zu finden. Insgesamt hatHunt nur drei Referenzen ausfindig machen können: „Thus far I have found onlythree references to it (. . . )“. (Hunt 2002:257) Interessant dabei ist, dass alle Refe-renzen die Durchführung des Rituals in Flambouro behandeln, wobei eine zusätzlichauf Anthi verweist. Die Beschreibungen des Ritus weisen jedoch Ähnlichkeiten miteinem anderen Ritual auf, über das es recht viel Literatur gibt. Es handelt sich dabeium das Ritual Anastenarides.5 Dennoch kann das nicht die offensichtliche Informa-tionslücke zu dem Ababas-Brauch aufwiegen.Die zweite Schwierigkeit, die sich bei Hunts Forschung ergab, war, dass sich in kei-nem Fall Interviewpartner finden ließen, die direkt über Ababas sprechen wollten:„In no instance were informants gathered specifically for the purpose of discussingthis event.“ (Hunt 2002:254) Als Grund dafür gab Hunt die besondere Art des hierbehandelten Brauches an. Die Roma sind überaus sensibel was das Vorurteil derMagie angeht und da mittels des Rituals unter anderem böse Geister ausgetriebenwerden, wollte keiner direkt über das Thema sprechen. In manchen Dörfern gehtdiese Sensibilisierung sogar so weit, dass die junge Generation bemüht ist, sämtlicheVerbindungen zu ihren Riten und ihrer Kultur abzubrechen, da sie davon überzeugtsind, dass durch diese Bräuche Roma in einer Minderheit gehalten werden.Um dennoch mehr über das Ritual zu erfahren, musste Hunt die Fragen dazu in eineumfassende Befragung zu der traditionellen Tanztradition der einheimischen Gesell-schaft der Umgebung von Serres einbauen. Zu dieser Gesellschaft gehören Roma wieNicht-Roma, wodurch sie beide Parteien über Umwege auch zu dem speziellen, hier

4 Nähere Informationen zu dem Ritual folgen unter 3.4 Das Ritual.5 Informationen über die Ähnlichkeiten zwischen beiden Ritualen sind ebenfalls unter 3.4 zufinden.

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behandelten Ritual befragen konnte. Dennoch bleiben die Informanten in der Arbeitoft anonym.

„Because of the nature of the ritual (event) presented here, informantswill often remain anonymous in order to respect their identities and posi-tions in their own village society, especially in those villages where someinhabitants are concerned about the prejudice that surrounds the manystereotypes associated with Roma in general.” (Hunt 2002:254)

2.4 Das RitualDie ersten Informationen zu dem Ritual erhält Hunt von einer Nicht-Romni aus An-thi, durch die sie überhaupt erst zur Erforschung des Brauchs gelangte. Diese Frauberichtete Hunt, dass das Ritual zur Vertreibung von bösen Geistern bei Krankeneingesetzt wurde: „a custom that she had seen performed when her own brother wasvery ill; (. . . ) a ritual to cast out the evil spirits which were thought to be causing hisillness.“ (Hunt 2002:255) Das Ritual wurde von einigen der älteren Romni des Dor-fes durchgeführt. Die Frau aus Anthi erklärte Hunt, wie diese Frauen tanzten, aßen,tranken und im Chor rhythmisch sprachen oder sangen. Die „Patienten“ würden beider Zeremonie teilweise ins Freie, „outside in[to] the moonlight“ (Hunt 2002:255),getragen, damit der böse Geist den Körper verlassen könne.Das Ritual selbst trägt den Namen Ababas und die Frauen, die es durchführen wer-den Ababines genannt. Die Informantin aus Anthi berichtete Hunt auch, dass sichdie Frauen bei der Prozedur teilweise entkleiden und in eine Art Trancezustand fal-len, indem sie tanzen, als ob sie auf glühenden Kohlen tanzen würden. Die wenigenLiteraturhinweise, die Hunt fand, beschrieben alle, wie Ababas in Flambouro durch-geführt wird, bis auf eines, welches zusätzlich auf Anthi verwies (wie bereits obenerwähnt). In Flambouro wird das Ritual an Orten durchgeführt an denen Krankhei-ten vorherrschen bzw. vorherrschten oder sich andere bedauerliche Ereignisse undMissgeschicke ereignet hatten. Es dient ebenfalls dazu die Orte von bösen Geisternzu befreien. Das Ritual wird in den Manuskripten des Archivs des „Folklore Centerof the Athens Academy“ als religiöse Zeremonie beschrieben, die regelmäßig einmaldie Woche durchgeführt wird: „it is a religious ceremony which takes place everyThursday evening until Friday sunrise (. . . )“ (Hunt 2002:257)Entsprechend der Beschreibung muss der Hausbesitzer, bei dem das Ritual durch-geführt wird, einige Vorbereitungen treffen. Dazu gehören Vorräte an ausgewähltenSpeisen, süßen und alkoholischen Getränken, sowie besonders große Vorräte an Zi-garetten. Die Zeremonie setzt sich zusammen aus ausladendem Feiern, Rauchen undTanzen, wobei die Anführerin der Ababines nach einer gewissen Zeit in Ekstase ge-rät, in eine Art Trance. Nachdem sie ihren ursprünglich klaren Zustand dann wieder

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erreicht hat, segnet sie die Umstehenden und besprenkelt den Kranken mit Wasser,um diesen so zu heilen.

„Their leader (a holy women) (. . . ) [reach a]fter a passage of time (. . . ) astate of ecstasy. (. . . ) [A]s soon as her crisis passes and she returns to herlogical state, takes a glass of water, blesses [the surroundings] with thismethod and begins to sprinkle the sick person, who with the sprinkling,they believe, is cured.” (Hunt 2002:258)

In den Manuskripten des Archivs des „Folklore Center of the Athens Academy“ wirddas Ritual Ababas mit einem anderen Ritual verglichen. Es handelt sich dabei umden Ritus Anastenaria, ein Brauch der östlich thrakischen, orthodoxen Christen, derzweimal jährlich, im Januar und im Mai, stattfindet. Auch die Informantin aus Anthihat beide Rituale miteinander in Verbindung gesetzt, da während des „Anastenaria“Brauches die Teilnehmer in ihrem Trancezustand wirklich auf glühenden Kohlentanzen, wohingegen der Tanz während des „Ababas“ Brauches nur so anmutet alsob die Teilnehmer auf Kohlen tanzten. Ababas wird nicht nur genutzt um zu Heilenund böse Geister zu vertreiben, sondern auch oft bei Hochzeiten durchgeführt. DasRitual soll dabei das Hochzeitspaar vorbeugend vor bösen Geistern beschützen. Die-se Art der Nutzung des Ritus ist häufig in Alibekioi anzufinden.6 Einer von HuntsInformanten, Mr. G. aus Alibekioi, berichtete, dass die Frauen, die das Ritual durch-führen, am Samstagabend erst im Haus der Braut und später separat im Haus desBräutigams tanzen und das zu Musik, die sie auf selbst mitgebrachten Instrumentenspielen. Dort erzählen sie dann Witze und tanzen. Anschließend gehen sie zu demPlatz, wo die Musiker musizieren und tanzen dort weiter.Nikos Maindarlis, ein Zurna-Spieler, der häufig auf Hochzeiten in Alibekioi spiel-te, erzählte Hunt davon, dass die Frauen auch bei der Durchführung des Ritualsanlässlich einer Hochzeit in eine Art Trance fallen.

„The women were inside one room, dizzy (not from drink). They danced(. . . ) for 15-20 minutes. (. . . ) They danced, became tired and fell downfrom their dizziness into the arms of the others. Only women.” (Hunt2002:258)

Die Beschreibungen der unterschiedlichen Ausführungen des Rituals haben alle et-was gemein: Der Tanz spielt eine besondere Rolle und trägt das Merkmal, dass dieFrauen auf die Knie fallen.7 In einigen Dörfern hat dieser Tanz einen besonderen Na-men, er heißt Ali Kots oder Ali Kots Havasi. Er wurde von einem der Informanten

6 Die Fotos einer solchen Hochzeit in Alibekioi, die Hunt ihrem Artikel beigefügt hat, sind imAnhang dieser Arbeit unter Abb.: 4-6 zu finden.

7 Dazu gibt es ein Foto im Anhang unter Abb.: 4-6 (Abb.: 6).

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von Hunt auch Ali Koch Havasi genannt. Diesen Namen hat sie schon während ihrenfrüheren Untersuchungen der Tänze in der ehemaligen Serres Präfektur gehört. Eshandelte sich dabei um einen Tanz, der sowohl bei Nicht-Roma, als auch bei Romaals ein typischer lokaler Tanz bekannt war und vornehmlich von Männern, auf ihrenKnien tanzend, praktiziert wurde. Im Vergleich zu den Ababines sollen die Männerdiesen Tanz lebhafter, geradezu fanatisch tanzen: „[T]he dance of the men (. . . ) islivelier, more frenetic.“ (Hunt 2002:261)Für die Ababines (Sing.: Ababina) gibt es an den unterschiedlichen Orten, an denendas Ritual praktiziert wird, verschiedene Namen. Wobei eine Bezeichnung manchmalauch in mehr als einer Gemeinde bekannt und gebräuchlich sein kann. Der geläu-figste Name für die Frauen ist Abajihdes (Sing.: Abaji). Er wurde von Informantenin Alibekioi, Flambouro und Neohori verwendet. Ababines heißen die Frauen nur inAnthi und Flambouro, wobei in Flambouro sogar noch eine dritte Bezeichnung fürdie Frauen bekannt ist: Bajikes (Sing.: Bajika Sing). Dieser Name wurde teils auchvon Informanten aus Neohori genutzt.Im Verlauf ihrer Arbeit führt Hunt zahlreiche und unterschiedlichste Beschreibun-gen des Rituals an. Wie der Name derer, die das Ritual ausführen von Dorf zu Dorfschwankt, verändert sich auch die Funktion des Brauches, genauso wie die zeremo-nielle Umsetzung. Die gröbsten Merkmale seien hier zusammengefasst:Ababas kann genutzt werden, um jemanden zu heilen. Außerdem kann es auf Hoch-zeiten genutzt werden, um das Hochzeitspaar vor bösen Geistern in der Zukunft zuschützen. Gemein haben alle Varianten, dass sie zur Abwehr böser Geister dienen.Auch die Beschreibungen des Zigarettenkonsums während des Rituals schwanken.Mal wird kaum bis gar nicht geraucht, dann wieder sehr viel. Die Beschreibung derBewegung zur Musik variiert ebenfalls. Mal handelt es sich dabei um eine ausgelassenForm des Tanzens, mal nur um eine Art Zittern. Allerdings haben alle Beschreibun-gen gemein, dass die Frauen bei dem Tanz in eine Art Trance geraten und im Zugedessen auf ihren Knien tanzen. Die verwendeten Musikinstrumente wurden haupt-sächlich als Tamburine und Daoulias (Davul) beschrieben.Teils nehmen die Teilnehmer während des Rituals keinerlei Speisen oder Getränke,außer Tee und Kaffee, zu sich, teils wird bei der Zeremonie sehr viel gegessen undvor allem getrunken (einschließlich alkoholischer Getränke). Mal stimmen die Aba-bines bzw. Abajihdes einen Gesang an und mal handelt es sich nur um eine ArtSprechchorus. Dieser „Gesang“ war oft weder auf Griechisch noch auf Romanes. Ei-nige Informanten Hunts vermuteten er wäre auf Türkisch gewesen. Die Sprache inder gesungen wurde, war in den meisten Fällen jedoch unbekannt.Alle Beschreibungen stimmen aber darin überein, dass das Ritual von Frauen aus-

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geführt wird. Auch der Hintergrund, unter dem das Ritual praktiziert wird, variiert.Einige glauben an die bösen Geister, die es zu vertreiben gilt und die mystischeMacht des Rituals. Andere Zigeunergemeinden nutzen das Ritual mittlerweile eherals eine Möglichkeit ein regelmäßiges Zusammensein in großer Runde zu pflegen, wiezum Beispiel in Flambouro, wo das Ritual einmal wöchentlich im Zuge eines Festesstattfindet.Die Anführerin der Ababines in dem speziellen Fall der Anthi, deren Bruder erkranktwar, erzählte der Informantin, dass es sich um ein satanisches Ritual handle und dasAbabas 1000 Meter unter der Erde zu finden sei. Der Name Ababas steht also fürmehr als das Ritual. Er ist gleichzeitig der Name für einen Geist. Was genau für einGeist ist aber unklar. Zum einen wurde er von Hunts Informanten als Dämon oderböser Geist beschrieben, zum anderen sollte mit seiner Hilfe der böse Geist, sogarSatan selbst, ausgetrieben werden. Auch in den Schriften des Folklorearchivs der„Athens Academy“ ist nur zu finden, dass darüber, was über Ababas als Geist oderPerson geglaubt wird, nichts bekannt ist: „Exactly what they believe for the person ofthe Ababas is unknown“ (Hunt 2002: 263). Hunt hat letztlich versucht den Ursprungdes Wortes in den unterschiedlichsten Sprachen zu finden. Er scheint weder Grie-chisch, noch Türkisch zu sein. Hunt glaubt die Wurzeln des Wortes im Indischenentdeckt zu haben, wo es soviel bedeutet wie „Wow“ im Englischen. Ob das aberwirklich die richtige Verbindung zu unserem Wort „Ababas“ ist, bleibt unklar.

3. Kritikpunkte an Hunts ArbeitZum einen ist zu bemängeln, dass Hunts Informationen zu dem Ritual hauptsäch-lich von Nicht-Roma stammen, wie auch die ihrer Arbeit beigefügten Fotos. Dadurchwird dem Rezipienten nicht ermöglicht etwas über die Binnensicht der Roma zu die-sem, ihrem, Ritual zu erfahren. Wie stehen die Roma zu ihrem Ritual? Inwiefernsprechen sie sich gegen eine Verbindung zur Magie aus und sprechen sie sich über-haupt gegen eine solche Verbindung, speziell das Ritual betreffend, aus? Diese undandere Fragen bleiben in Hunts Arbeit leider unbeantwortet.Zusätzlich ist zu bemängeln, dass Hunt nicht wenigstens ein Mal selbst an dem Ritu-al teilnehmen konnte. Dadurch stammen die von ihr geschilderten Eindrücke alle nuraus zweiter oder dritter Hand, wie auch die Fotos. Des Weiteren gelang es ihr nichtInformanten zu finden, die nicht nur die Ausführung der Zeremonie beobachteten,sondern selbst das Ritual praktiziert haben. Grund dafür ist möglicherweise, dass siekeine nähere Beziehung zu den verschiedenen Zigeunergruppen in Serres aufbauenkonnte, da sie die Menschen immer nur als Außenstehende befragt hat und sich nichtdie Zeit nahm, über einen längeren Zeitraum mit ihnen zu leben, um ihre Welt der

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Bräuche auf einer anderen Ebene kennen zu lernen. Dass es ihr nicht möglich wardem Ritual beizuwohnen, bedauert auch Hunt und wünscht sich: „Hopefully I shallhave the opportunity to interview practitioners in the near future.“ (Hunt 2002:254)Am kritischsten ist aber ihr Umgang mit dem Begriff der Magie im Leben der Zi-geuner zu beurteilen. Obwohl Hunt zwar immer wieder betont, dass die Zigeuner zuunrecht mit diversen Vorurteilen behaftet sind und auch die Stereotypisierung derRoma negativ zu beurteilen ist, bekommt man letztlich doch den Eindruck, dassHunt die These, dass die Magie und der Glaube an eine mystische, höhere Kraft es-sentieller Bestandteil der Kultur einer jeden Zigeunergruppe sei, stütze. Hunt scheintin ihrer Arbeit so sehr darum bemüht die Leser ihres Artikels davon zu überzeugendie Form des Glaubens an Magie der Zigeuner zu akzeptieren bzw. respektieren undnicht zu verurteilen, dass sie darüber hinaus versäumt zu verdeutlichen, dass Magieeben kein essentieller Bestandteil der Zigeunerkultur ist.Fraglich ist auch, ob der Begriff „Magie“ als solcher im Kontext zu den Riten undBräuchen der unterschiedlichen Zigeunergruppen nicht falsch gewählt ist. Dazu wäreeventuell eine Klärung zur Definition von Magie und Religion und deren Zusammen-hänge mit Trance und Besessenheit hilfreich. Schließlich erläutert Hunt ausführlich,dass das Ritual Ababas auch zum Austreiben böser Geister und Dämonen genutztwird und dessen Ursprung im Exorzismus zu finden ist. Dieser war lange Zeit einwesentlicher Bestandteil der christlichen Religion. Es ist also durchaus möglich, dassdas hier diskutierte Ritual ein Überbleibsel der christlichen Kultur und deren Bäu-che ist, wo es sich bei den Zigeunern des Regionalbezirks Serres nach Hunt umgriechisch-orthodoxe Christen handelt.

“All are Orthodox Christians, celebrating the same calendrical and ec-clesiastical occasions as all other Greek Orthodox Christians. In severalinstances the Rom population of the prefecture has kept more of the tra-ditions and often in older form than have others of the region.” (Hunt2002:251)

Die Möglichkeit, dass es sich bei dem Ritual nicht um einen mystischen, sonderneinen religiösen Ursprung handelt, findet bei Hunt keinerlei Beachtung.

4. Theoretischer und Methodologischer Ansatz4.1 Theoretischer AnsatzHunt beschäftigt sich in ihrem Artikel „The Ababas: A Rom Ritual“ hauptsächlichmit zwei Aspekten: den Bräuchen und der Kultur der Roma. Diese beiden Aspektesind unter anderem für zwei Wissenschaften relevant, für die Ethnologie und fürdie Völkerkunde. Obwohl beide Wissenschaften Ähnlichkeiten aufweisen, da sie die

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gleichen Themenfelder betrachten, unterscheiden sie sich doch deutlich in ihren An-sätzen. In der Völkerkunde werden die Kultur und die Bräuche bestimmter Bevölke-rungsgruppen als essentielle Bestandteile ihres Wesens angesehen. In der Ethnologieund speziell der Sub-Disziplin Tsiganologie geht es oft, zumindest nach dem Wandelvon der traditionellen zur modernen Ethnologie, genau um den Gegensatz, nämlichessentialistische Tendenzen und Analysen zu dekonstruieren. Welchen der beidenAnsätze verfolgt Hunt in ihrer Arbeit?Wie bereits erläutert zitiert Hunt häufig die Wissenschaftler Trigg, Megel und Block,welche alle Ethnologen sind, die der traditionellen Tsiganologie anhängen. Für sieund auch für Hunt sind die Bräuche und Riten der Zigeuner also essentialistischerBestandteil ihrer Kultur. Hunt selbst ist aber keine Ethnologin, sondern Tanzwis-senschaftlerin8. Das Ziel der Arbeit von Hunt im Allgemeinen ist es Tänze kennenzu lernen und diese über die Grenzen von Griechenland hinaus weiter zu tragen, sozum Beispiel in die USA, um die Tänze dort lehren zu können. Die Dokumentationvon Musik und Tanz stammt aus dem Bereich der Tanz- und Musikvölkerkunde undnicht aus dem Bereich der Musikethnologie. In der Musikethnologie geht es vielmehrdarum herauszufinden, welche Bedeutung der Tanz und die Musik für die einzelnenGruppen hat und wie sie sich mittels Musik und Tanz voneinander abgrenzen undauch miteinander interagieren. Der theoretische Ansatz von Hunt für ihren Artikelist also kein ethnologischer, sondern stammt aus der Völkerkunde, speziell der Tanz-völkerkunde.

4.2 Methodologischer AnsatzFür ihre Arbeit über die Bräuche der Zigeuner und speziell dem Ritual „Ababas“ hatHunt im Feld geforscht. Methodologisch ist ihre Forschung eine völkerkundlich em-pirische Feldforschung, die sich auf den Tanz konzentrierte und keine ethnologischeFeldforschung. Hunt kommt weder aus dem ethnologischen Bereich der Forschung,noch hat sie die Grundlagen einer ethnologischen Feldforschung eingehalten. Die-se zeichnen sich dadurch aus, dass der Forscher sich vor Ort begibt und dort dieMenschen nicht zu einem bestimmten Thema befragt, sondern versucht als Teil derbetrachteten Bevölkerungsgruppe, als Mitglied, unter ihnen zu leben und selbst anden Bräuchen und dem Leben der Menschen teilzunehmen. Als Tanzvölkerkundlerinhat Hunt, um nähere Informationen zu dem Ritus „Ababas“ zu erhalten, Roma wieNicht-Roma aus Serres zu den traditionellen Tänzen der Region befragt und dabeiauch Fragen, die das hier betrachtete Ritual betreffen mit einfließen lassen. Hunt hatdie verschiedensten Beschreibungen zur Ausführung und zum Nutzen des Brauches

8 Siehe 2. Yvonne Hunt.

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zusammengetragen und dann, mit Blick auf die Magie im Leben der Zigeuner, aus-gewertet. Der Großteil ihrer Informanten bestand dabei aus Nicht-Roma und auchbei ihrem „Gehilfen“ vor Ort, Stavros Vasdhekis, von dem unter anderem die Fotosstammen, die Hunt ihrer Arbeit beigefügt hat, handelt es sich nicht um einen Rom.Da Hunt also keinen längeren Zeitraum mit den Zigeunern aus (beispielsweise) An-thi, in Serres, zusammenlebte und ihre Informationen über das Ritual nur durchBeschreibungen Anderer erlangte, ohne die Möglichkeit, wenigstens ein Mal demRitual selbst beizuwohnen, handelt es sich bei ihrer Feldforschung nicht um eineethnologische, sondern um eine völkerkundliche. Diese ist als solche empirisch, daHunt im Feld Informationen sammelte, die auf den Erfahrungen der Befragten beruh-ten. Und auch ihr tänzerischer Hintergrund wird bei ihrer Betrachtung des Ritualsdeutlich, da sie sich stark mit den tänzerischen Elementen, die bei der Zeremoniepraktiziert werden, beschäftigt.

5. Moderne oder Traditionelle TsiganologieHunts Artikel „The Ababas: A Rom Ritual“ für den Sammelband

”Oi Rom� sthn

Ell�da“ (Die Roma in Griechenland) ist weder der modernen noch der traditionel-len Tsiganologie zuzuordenen. Hunt betreibt keine Quellenforschung, wie es für dietraditionelle Tsiganologie üblich wäre. Aber auch die ethnologische Feldforschung,welche ein Merkmal der modernen Tsiganologie ist, findet bei Hunt keine Anwen-dung.Dass sie aber trotzdem eine Feldforschung betreibt, wenn auch eine völkerkundliche,führt zumindest in die Richtung der modernen Tsiganologie. Dafür spricht auch,dass sie sich gegen Stereotype, die den Zigeunern anhaften, ausspricht, wenngleichsie selbst im Laufe ihrer Arbeit in das Muster der Essentialisierung zurückfällt. Au-ßerdem untersucht sie das Ritual auch auf seine Unterschiede in den verschiedenenZigeunergruppen in Serres hin, was ebenfalls für die Einordnung des Textes in diemoderne Tsiganologie spricht. Allerdings äußert sie sich nicht klar dazu, ob sie dieverschiedenen Zigeunergemeinden auch als solche betrachtet, oder sie nicht doch alsTeil eines großen Ganzen, eines Zigeunervolkes, versteht.Andererseits deuten einige Teile in ihrer Arbeit darauf hin, dass Hunt eher die tra-ditionellen Tsiganologie favorisiert. So werden in ihrer Arbeit Themen wie Herkunftund Sprache der Zigeuner angesprochen, was zu den Grundpfeilern der traditionellenTsiganologie zählt. Hunt verweist beispielsweise darauf, dass ähnliche Rituale auchin Spanien und Indien zu finden sind und dass der Ursprung der Zigeuner mittelsihrer Sprache auf Indien zurückzuführen sei. Außerdem verweist sie zur Unterma-lung ihrer Erkenntnisse auf traditionelle tsiganologische Literatur, wie die Werke

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von Trigg, Block und Megel. Insgesamt sind in ihrer Bibliographie sehr viele tradi-tionelle Werke zu finden, wie schon an deren Titeln zu erkennen ist: „Gypsies. TheirLife and their Customs“ von M. Block, „The Gypsies“ von A. Fraser, „Gypsies andTravellers“ von J.-P. Liegeois, „Gypsy Religion” von J. Megel, „Gypsy Demons andDivinities“ von E. Trigg usw.Letztlich ist Hunt eben keine Wissenschaftlerin, sondern eine Tänzerin und in die-ser Funktion war es ihr Ziel das Ritual darzustellen. Sie wollte die Realität abbil-den. Da ihr Artikel aber in einem wissenschaftlichen Buch, das von Ethnologen inGriechenland herausgegeben wurde, veröffentlicht wurde, musste sie, um dem wis-senschaftlichen Anspruch gerecht zu werden, auf Literatur verweisen. Es ist schade,dass diese der traditionellen Tsiganologie entspringt. Trotzdem reicht das nicht, umihren Artikel dieser tsiganologischen Richtung zuzuordnen. Auch die modernen tsi-ganologischen Ansätze in ihrem Artikel reichen nicht aus, um ihn dieser Richtungzuzuordnen. Daher steht Hunts Arbeit zwischen beiden tsiganologischen Richtungenund ist keiner mehr zuzuordnen, als der anderen.

6. Quellen- und LiteraturverzeichnisHunt, Yvonne. 2002. „The Ababas: A Rom Ritual“. In Oi Rom� sthn Ell�da (DieRoma in Griechenland), Griechische Ethnologische Gesellschaft(ed.), Athen: EllinikiEtaireia Ethnologias: 251-270.

Yvonne Hunt – Biographie:http://www.phantomranch.net/folkdanc/teachers/hunt_y.htm, zuletzt abgerufen am14.02.11.

7. Nachweis der AbbildungenAbb. 1: http://www.phantomranch.net/folkdanc/teachers/hunt_y.htmAbb. 2: http://farm4.static.flickr.com/3617/3485286594_cae711f558.jpg?v=0Abb. 3: http://www.images.sapphotravel.com/greece/maps/Ma_main.gifAbb. 4-6: Hunt, Yvonne. 2002. „The Ababas: A Rom Ritual“. In Oi Rom� sthn El-

l�da (Die Roma in Griechenland), Griechische Ethnologische Gesellschaft(ed.), Athen:Elliniki Etaireia Ethnologias: 251-269.

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8. Anhang

Abb.1: Yvonne Hunt

Abb.2: Y. Hunt in der Mitte, rechts und links zwei Frauen aus Anthi (Serres)

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Abb.3: Karte Makedoniens mit dem Regionalbezirk Serres

Abb.4: Foto von Stavros Vasdhekis. Es zeigt Abajihdes beim Tanz während derDurchführung des Rituals Ababas anlässlich einer Hochzeit in Alibekioi.

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Abb.5: Foto von Stavros Vasdhekis. Es zeigt Abajihdes beim Tanz während derDurchführung des Rituals Ababas anlässlich einer Hochzeit in Alibekioi.

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Abb.6: Foto von Stavros Vasdhekis. Es zeigt Abajihdes beim Tanz auf den Knienwährend der Durchführung des Rituals Ababas anlässlich einer Hochzeit in

Alibekioi.

Zur Autorin des Textes:

Mein Name ist Nicole Boske und ich studiere Germanistik an der Universität Leipzig.

Ich habe im Wintersemester 2010/2011 an dem Wahlbereichsmodul „Spezielle Ethnologie

(Tsiganologie)“ und im Zuge dessen auch an dem Seminar „Zigeuner in Griechenland“

teilgenommen. Für das Seminar schreibe ich eine Arbeit zu dem Text „The Ababas: A Rom

Ritual“ von Yvonne Hunt. Ich habe mich für diesen Text entschieden, da er die Bräuche

der Zigeuner behandelt und diese in Bezug zur Magie setzt. Ich interessiere mich schon sehr

lange für Magie und die Auffassung der Menschen zu ihr, in der Vergangenheit wie auch

heutzutage. Besonderes Interesse habe ich dabei bisher an der Hexenverfolgung in Europa in

der frühen Neuzeit gehabt. Es hat mich an dem Text von Yvonne Hunt gereizt zu erfahren,

inwieweit die Zigeuner in Griechenland mit Magie in Verbindung stehen bzw. ihre Bräuche

als magische Rituale angesehen werden können.

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8 Stefan Festini Cucco über Bright Balkan Morning: Romani

Lives and the Power of Music in Greek Macedonia (D.

Blau, C. Keil, A. Vellou-Keil, S. Feld)

1. EinleitungDas im Jahr 2002 erschienene Buch ‚Bright Balkan Morning’1 wurde in unterschiedli-chen Rezensionen (s.u.) als sehr innovativ, wenn nicht gar als revolutionär, bezüglichseiner wissenschaftlichen Forschungsmethodik und angewandter Interdisziplinaritätgelobt. Es ist das Ergebnis der Zusammenarbeit von vier Autoren aus verschiede-nen Wissenschafts- bzw. Kunstzweigen: Musikethnologie, Anthropologie, Soziologie,Linguistik, Geschichte, Filmstudien und Fotografie. Durch die Zusammenarbeit derAutoren habe sich ein interessantes Gesamtwerk ergeben, das dem Leser einen gu-ten Einblick in die beschriebene Realität von Jumaja2 liefere. In der Rezension vonLozanka Peycheva und Ventisislav Dimov wird es als „[...] ein von neuen Ideen undForschungsstrategien charakterisiertes Ereignis, [. . . ] welches dem Leser viele Infor-mation und Analysen bereitstellt“3, bezeichnet. Das Buch stelle eine neuere Artder ethnografischen Arbeitsweise dar: „[eine] interessante anthropologische Studie,[welche] eine Mischung von verschiedenen Sichtpunkten, Ideen, Denkweisen, For-schungsobjekten und -feldern präsentiert“4. Das Buch beinhaltet neben verschrift-lichten Dialogen und Ergebnissen der Feldforschung eine große Anzahl an Fotografienund eine CD mit so genannten soundscapes, auf welche anschließend ausführlichereingegangen wird. Die folgenden Absätze werden sich auf das erste Kapitel konzen-trieren, wobei das gesamte Buch als Kontext dient.

2. Zum Buch und den AutorenWie schon zuvor angedeutet handelt es sich bei den vier Autoren um Wissenschaft-ler verschiedener, jedoch verbundener Wissenschaftszweige. Dick Blau, welcher denfotografisch-visuellen Teil des Buches ausgearbeitet hat, ist Fotograf und Profes-

1 Blau, D. Keil, C. Vellou-Keil, A. und Feld, S. Bright Balkan Morning: Romani Lives and thePower of Music in Greek Macedonia. Wesleyan University Press. 2002. Middletown, Connecti-cut, 326 pp., 165 photographs, audio CD, ISBN 0-8195-6488-5.

2 Jumaja (heute Iraklia) ist eine Stadt im Distrikt Serres, an Griechenlands nördlicher Grenzezu Bulgarien. Sie ist Heimatstadt von ca. 2000 Roma, welche schon seit einigen Generationendort leben. Die ersten Roma-Siedler waren Fischer und Erntehelfer, deren Arbeit im 19. Jahr-hundert wichtig für die Produktion landwirtschaftlicher Exportgüter war. Seit Anfang des 20.Jahrhundert sind Roma als Wanderarbeiter in der griechischen Region Mazedonien tätig. Heuteist die Stadt für ihre vielen Zigeuner-Musiker, die vorwiegend zurna und davul (hier auch dauligenannt) spielen.

3 Peycheva, L. und Dimov, V. 2005. ’Review about Bright Balkan Morning’ in Romani Studies5, Vol.15, N. 1, 83-89. Übersetzungen, sofern nicht anders angegeben, durch den Verfasser.

4 Idem.

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sor für Film an der Universität Wisconsin – Milwaukee. Seine Fotografien wurdenin verschiedenen Ausstellungen präsentiert und sind in den Büchern Polka Hap-piness (1992), Bright Balkan Morning (2002) und Living with his Camera (2003)enthalten.5 Angeliki Vellou-Keil ist Soziologin und Verfasserin der Biographie deslegendären griechischen Rebetiko6 -Musikers Markos Vamvakaris. Die Arbeit vonAngeliki Vellou-Keil war es unter anderem die Texte bzw. Dialoge vom Griechischenins Englische zu übersetzen. Charles Keil hingegen ist ein renommierter Musiketh-nologe und Autor von fünf Büchern, unter welchen Urban Blues und Tiv song diewohl Bekanntesten sind. Charles Keil ist der Hauptverfasser des schriftlichen Teilsin Bright Balkan Morning. Steven Feld ist Professor für Anthropologie und Musikan der Universität New Mexiko und ist durch die Entwicklung der so genannten so-undscapes bekannt, welche eine innovative Art der Aufzeichnung und Verarbeitungvon Tonmaterial darstellen.‚Bright Balkan Morning’ ist somit aus einem visuellen und einem akustischen Partzusammengestellt, wobei der Letzte wiederum aus einem verbalen bzw. schriftlichenund einem photographischen Part besteht.

3. Kapitel 1: ’The Most Important Instruments in the World’Wie man vom Titel ableiten kann, beschäftigt sich das erste Kapitel des Buchesmit Musikinstrumenten, oder besser gesagt mit jenen Musikinstrumenten die vonden Zigeunern in Jumaya vorwiegen gespielt wurden und werden. Gleich am Anfangdes Kapitels gehen die Autoren auf die Herkunft und Ähnlichkeiten von davul undzurna7 mit anderen Instrumenten der griechischen Antike (aulos) bis hin zur west-europäischen, nordafrikanischen und asiatischen Musikkultur ein und ersparen sichsomit einen herkunftsorientierten und diffusionistischen Ansatz nicht. Auf linguis-tischen Theorien beruhend sehen sie die Herkunft dieser beiden Musikinstrumente(davul und zurna) im Orient, oder irgendwo zwischen dem Balkan und Indien. Diegriechische Bezeichnung zurna wird vom indischen shahnai bzw. vom chinesischensona abgeleitet, welche alle drei der Instrumentenklasse der Doppelrohrblattinstru-mente angehören. Ein Doppelrohrblatt oder Englisch double reed ist „ein rundesBlatt, welches flachgedrückt und zurechtgeschnitten wird um zwei vibrierende Ele-mente zu erzeugen, anders als das einfache Rohrblatt eines Saxophons oder einerKlarinette. Doppelrohrblattinstrumente sind laut, penetrierend, schwer kontrollier-bar und können schrille Töne, Obertöne und Toneffekte produzieren, welche nicht

5 Über die Autoren: http://brightbalkanmorning.com/authors.html.6 Traditionelle Großstadtmusik Griechenlands; auch als hellenischer urban blues bezeichnet.7 davul und zurna sind typische Instrumente der Roma in Jumaja sowie in anderen Ländern desBalkans. Sie werden meist in Dreierformationen (2 zurnas und 1 davul) gespielt.

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in klassische Notenschrift umgesetzt werden können.“8 Diese Instrumente werdenin der Musikethnologie oft in Zusammenhang mit Trance-Ritualen erwähnt, wobeisich die Geister streiten, welche Funktion sie darin haben; für manche Anthropolo-gen sind sie Trance-induzierend, während für andere Trance-kontrollierend. Nicht zuverschweigen ist hier jedoch die Mannigfaltigkeit der verschiedenen rituellen Kon-texte, wo Musik je nach Kultur oder Kult verschiedene Stellenwerte und Funktioneneinnimmt.Ähnlich wie die Erläuterung zur zurna, wird auch für die beidseitig gespielte Trom-mel davul oder dauli, vorgegangen. Die Autoren beziehen sich hierbei auf die immerwiederkehrende Präsenz von solcher Art Trommeln in Ritualen bzw. sakralen Kon-texten und an deren indischer Herkunft (gr. dauli vom hind. davul). Die beidenInstrumente, zurna und dauli, verbindet das in beiden auftretende hohe Spektruman Obertönen.Diese Eigenart der Doppelrohrblattinstrumente und jener Art von Trommeln undderen auf verschiedenen regionalen Ebenen verbreitete Verwendung in rituellen Kon-texten und der angenommenen Herkunft und Verbreitung, verleiten die Autoren zueiner regelrechten Mystifizierung und Romantisierung der Instrumente und derenGebrauch. Die von den zurnas und dauli erzeugte Musik verkörpert die Stimme desDionysus9, welcher in der Antike als Gott des Weines und der Ekstase galt, mitder telestischen Manie10 in Verbindung gebracht wurde und als eine mysteriöse, ausKleinasien stammende und daher ‚fremde’ Gottheit galt. Von der Griechischen An-tike ausgehend greifen die Autoren auf eine größere regionale Ebene über, indemsie schreiben, dass aus Doppelrohrblattinstrumenten und Trommeln bestehende En-sembles „[. . . ] Menschen mit dem Urigen und Heiligen an jedem Ort verbinden. VonSchottland nach Tibet, von Tschetschenien bis ins Tivland in Nigeria, von Grie-chenland bis Korea, über Kulturen, Regionen und Kontinente hinwegschauend, trittetwas tief verwurzelt Magisches und Mysteriöses in Doppelrohrblattinstrumentenund Perkussionsinstrumenten auf. Etwas sehr Altes wird von diesen Klängen, dentanzenden, ringenden und prozessierenden Körpern getragen, welche im griechischen

8 Orig.: ’a round reed is flattened and trimmed to form two vibrating elements, unlike the singlereed of a saxophone or clarinet. Double reeds are loud, penetrating, and hard to control, andthey are capable of producing pitches, overtones, sound effects that can’t be notated.’ In: Blau,D. Keil, C. Vellou-Keil, A. und Feld, S. 2002. Bright Balkan Morning: Romani Lives and thePower of Music in Greek Macedonia. Wesleyan University Press. S. 23.

9 Ibidem, S. 24.10 Bei ‚Telestischer Manie’ bzw. ‚’Telestischer Trance’ handelt es sich um eine Form ritualisierter

Trancezustände, die während Zeremonien in den dionysischen Kulten der griechischen Antikeauftraten. vgl. Rouget, G. Music and Trance – a Theory of the Relations between Music andPossession. The University of Chicago Press. Chicago (USA). 1985. S. 192-202.

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Mazedonien von diesen Tönen inspiriert und bekräftigt werden.“11 Selbst, wenn diesder Fall sein sollte, tragen Aussagen wie diese weniger zu einem Verständnis der ein-zelnen Musikkulturen bei, als zu einer Generalisierung und Exotisierung derselben.In einem folgenden Absatz gehen die Autoren auf eine mögliche Relevanz der Mu-sikinstrumente ein, um ihre These der most important instruments of the worldzu untermauern. Dabei wird als urzeitlichstes ‚Instrument’ der Klangerzeugung diemenschliche Stimme erwähnt und gleich darauf die Trommel, da sich Manifestatio-nen von trommlerischen Bewegungen auch bei Primaten wieder finden lassen, wiezum Beispiel bei „Gorillas, die sich auf den Thorax pochen, oder beim rhythmischenKlopfen von Schimpansen.“12 Als dritte Kategorie in der Evolution der Musikin-strumente sind Blasinstrumente entstanden, da sie als eine Art ‚Verlängerung’ dermenschlichen Stimme gesehen werden können. Diese Argumentation von der Her-kunft des Musikinstrumentes ist zwar nachvollziehbar, wird jedoch von den Autorenleider nicht weiter ausgeführt und erscheint somit als hypothetische Behauptung.Der erste Teil dieses Kapitel ist vom Versuch gekennzeichnet, der zurna und derdauli und den aus beiden Instrumenten bestehenden Musikformationen etwas Mys-tisches, Völker- und Länderübergreifendes und doch Autochthones zuzuschreiben,wobei eine Reihe von Beispielen verschiedener Herkunft zur Hand genommen wer-den.Gegen Ende hin werden jedoch die diffusionistischen und evolutionistischen Theo-rien anhand einer Selbstkritik wieder in Frage gestellt: „Ob Roma oder Gypsies dieInstrumente aus Indien mitgebracht, sie von Türken, Persern oder Griechen im un-tergehenden Byzantinischen Reich oder im entstehenden Osmanischen Reich über-nommen haben oder aber ob sie diese Instrumente einem preexistierenden hundert-oder tausendjährigen Stil und dem sozialen Kontext in Mazedonien angepasst habenoder nicht, sind Fragen, welche wahrscheinlich nie zur Gänze beantwortet werdenkönnen.“13

Das folgende Unterkapitel könnte als der am meisten ethnologische Teil definiert

11 Orig.: ’they connect people to something very old and to the sacred in each locality. FromScotland to Tibet, from Cechnya to Tivland in Nigeria, from Greece to Korea, crossing cultures,regions, and continents, there is some kind of deeply rooted magic and mystery in double reedsand percussion. Something very old is carried in these sounds and in the dancing bodies, thewrestling bodies, and the processioning bodies that these sounds inspire and support in GreekMacedonia.’ in Blau, D. Keil, C. Vellou-Keil, A. und Feld, S. 2002. Bright Balkan Morning:Romani Lives and the Power of Music in Greek Macedonia.Wesleyan University Press. S. 23.

12 Orig.: ’gorillas pounding their chests and chimpanzees beating logs tell us that.’ in idem, S. 26.13 Orig.: ’whether or not the Roma or Gypsies brought the instruments with them from India,

whether or not they picked them up from Turks or Persians or Greeks in the declining Byzantineor ascending Ottoman empires, whether or not they adapted the instruments to a preexistingcenturies- or millennia- old style and social contexts in Macedonia are all questions that maynever be fully answered.’ in idem, S. 33/4.

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werden. Es handelt sich hierbei um die Beschreibung von drei Arten von Feierlich-keit oder rites de passage in der griechischen Region Mazedonien: eine Taufe naheThessaloniki, eine Hochzeit in Efkarpia und einem Fest zu Ehren eines Heiligen inPhiladelphia. Bei allen drei Begebenheiten waren die Autoren vor Ort und haben ihreDaten anhand von teilnehmender Beobachtung, Interviews, Audio-Aufnahmen undFotografien gesammelt. Neben den akkuraten Beschreibungen bezüglich des Ablaufsder Feste und deren Vorbereitungen kann man im Text immer wieder gut nachvoll-ziehbare Erklärungen zur Bedeutung von Musik bzw. Zigeuner-Musikern innerhalbder verschiedenen Kontexte finden. Die Funktion der „Instrumentalisten“, wie siesich selbst nennen (s.u.), ist nicht homogen, sondern kann sich den Umständen ent-sprechend ändern. „Basisfunktion ist [jedoch] immer die glendi (Party) aufzuwertenund durch kontinuierliches Musizieren und Tanzen das kefi (tiefe Zufriedenheit) derTeilnehmenden zu erhöhen.“14 Performance und Entertainment sind in der Regelnicht dem Aufgabenbereich der „Instrumentalisten“ zuzuordnen.15 Das Publikumbzw. die Teilnehmer konzentrieren sich daher weniger auf die „Instrumentalisten“als auf die Tänzer, welche kontinuierlich im Mittelpunkt des Festes stehen. Auchwas das Repertoire anbelangt, kann man nicht von einer Homogenität in verschie-denen Situationen sprechen: die Wahl der zu spielenden Stücke hängt von Faktorenwie Herkunft, Identität, Sprache, politischer Einstellung und Geschmack des Publi-kums und Förderers ab. Es wird dabei oft auf einen Stilmix zurückgegriffen, wobeidie Musizierenden „[...] alte Schlager einschließlich Mikis Theodorakis Lieder, inter-nationale Standards wie la paloma und pan-hellenische Volkslieder [. . . ] spielen.“16

Durch das Fördern des kefi17 und das Spielen von verschiedenen Musikgenres, leistendie musizierenden Zigeuner von Jumaja einen wichtigen Beitrag zur interkulturellenMediation in der der Stadt. Eigenziel der Musizierenden sei es, die Wünsche desGastgebers und der Teilnehmer des Festes so gut wie möglich zu erfüllen, um sicheinerseits Respekt zu verdienen und andererseits Kontakte für weitere Engagementszu knüpfen. Dazu befolgen die meisten Trios (bestehend aus zwei zurnas und einerdauli) bestimmte Berufsregeln bzw. einen Ehrenkodex: „Zufriedenstellen des Förde-rers. Der Kunde hat immer Recht. Man bemüht sich, das gewünschte Musikstückzu spielen oder zumindest die Musikrichtung des Stücks einzuhalten. Die Förderer

14 Orig.: ’Their basic function is to enhance the glendi (party) and, through continuous music anddance, to enhance the kefi (deep satisfaction) of the participants.’ in idem, S. 36.

15 Idem, S. 41.16 Orig.: ’old favorites, including Mikis Theodorakis songs, international standards like ‚La Palo-

ma’, and pan-Hellenic folk songs’ in idem, S. 48.17 ’Kefi, a joyful or ecstatic state of conviviality’ in Kavouras, P. ’Review: Bright Balkan morning:

Romani lives and the power of music in Greek Macedonia, text by Angeliki Keil and CharlesKeil, photographs by Dick Blau, soundscapes by Steven Feld, 2002, Middletown: WesleyanUniversity Press’ in Ethnomusicology 50(1): 154-157.

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wechseln. Die Anfragen sollten in ihrer Reihenfolge beachtet werden. Verliere nie-mals diese Reihenfolge und ändere sie nicht zugunsten eines höheren Trinkgelds,indem du dem Wunsch eines gütigeren Förderers Vorrang gibst. Gleiche Anteile.Die drei „Instrumentalisten“ legen ihr Trinkgeld nach der Arbeit zusammen undteilen es sich gleichmäßig auf. Auswechselbare Elemente. Wenn ein Mitglied einesregulären Trios abwesend ist, kann ein anderer „Instrumentalist“ die Arbeit auf sichnehmen, da alle erfahrenen „Instrumentalisten“ das Kernrepertoire der Lieder, Tänzeund Rhythmen kennen. Andere anwesende zurna- und dauli-Spieler können jederzeitteilnehmen. Der erste (protos) und der zweite (passadoros) zurna- Spieler könnenein paar Mal während einer abendlichen Performance wechseln. FreundschaftlicheKonkurrenz. Wer auch immer als erster einen Förderer am Platz (platea) ausfindigmacht, kann als erster sein Glück versuchen. Beeinträchtige nicht die Verhandlungeneiner anderen Gruppe [...]“18

Auch Dank der steigenden Professionalität einzelner zurna- und dauli -Bands hatsich ihr Bild in den Augen der Bevölkerung ständig verbessert. Von den Autorenbefragte Musizierende berichten von harten Arbeitsverhältnissen und der schlech-ten Behandlung in früheren Jahren, wo angeheuerte Musiker als temporärer Besitzdes Förderers wahrgenommen und teilweise degradierend behandelt wurden. EinÜberbleibsel dieser Zeiten ist der Begriff ta organa, zu griechisch ‚die Instrumente’.„Instrumentalisten“ wurden nicht als ‚Musiker’ bezeichnet, sondern als ‚Instrumen-te’, wobei dieser Begriff heute auch von den „Instrumentalisten“ selbst angewendetwird um sich von anderen Musikern zu differenzieren und der Gebrauch nicht zwin-gend negative Konnotationen enthalten muss.Weitere Faktoren für die Verbesserung der Arbeitsverhältnisse sind die Anpassungs-fähigkeit der „Instrumentalisten“ an die soziale Umgebung und auch ein neues In-teresse am Traditionellen, wie es zum Beispiel beim jährlichen paniyiri19 in Jumajader Fall ist, wo die Musik der zurna und dauli ein ständiger Begleiter der Festbe-suchenden und vereinendes und kulturübergreifendes Element ist. Trotz des immer

18 Orig.: ’Please the patron.The customer is always right. Every effort must be made to playthe tune requested, or at least the dance genre the tune represents. Patrons take turns. Keeprequests in proper series. Neverlose the sequence or respond to a bigger tip by putting the bigspender’s choice ahead of tunes requested earlier. Equal shares. The three players pool theirtips after work and divide the total equally. Interchangeable parts. If one member of a regulartrio is absent, another player can step right in because all experienced players know the corerepertoire of songs, dances, and rhythms. Other zurna and dauli players present can easily sitin. First (protos) and second (passadoros) zurna players can switch parts a few times duringan evening’s performance. Friendly competition. Whoever spots a patron first in the square(platea) gets first crack at him. And do not infringe on another group’s negotiations.[...]’ inBlau, D. Keil, C. Vellou-Keil, A. und Feld, S. 2002. Bright Balkan Morning: Romani Lives andthe Power of Music in Greek Macedonia. Wesleyan University Press. S. 69.

19 Panyiri = Festtag zu Ehren eines Heiligen.

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häufigeren Auftretens moderner Musikgruppierungen wie den so genannten techno-clarino20 Bands, werden traditionelle zurna und dauli Trios, vor allem im Frühlingund Sommer, aber auch in der Weihnachts- und Faschingszeit, kontinuierlich an-geheuert. Abgesehen davon, dass sie bei traditionsgeprägten Feierlichkeiten selbstzur Tradition gehören, sind sie im Gegensatz zu den lauteren, da elektronisch ver-stärkten techno-clarino Bands, mobiler und daher vor allem für Prozessionen undUmzüge geeigneter. Diese letztere wird als die Eigenschaft gesehen, die es auch inZukunft möglich machen wird, dass zurnas und dauli Trios fortbestehen werden.

4. Zum methodischen und theoretischen AnsatzWie schon in der Einleitung erwähnt handelt es sich bei Bright Balkan Morningum ein interdisziplinäres Werk. Dies macht es für den Leser möglich einen gutenEinblick in die Lebenswelt Jumayas zu erhalten. Die Kombination von Erzählungen,Interviews, Fotos und vor allem die so genannten soundscapes machen dies möglich.Steve Feld gilt als der Vater der soundscapes, zu Deutsch: Klanglandschaften. Eshandelt sich hierbei um eine innovative Art der Klangdokumentation, bei welchermit einem hochwertigen und von hohem Aufnahmeradius geprägtem Mikrophon dieKlangkulisse der Umwelt aufgenommen wird. Besonders ist nicht nur die Art undWeise der Aufnahme, sondern auch die der Verarbeitung des Tonmaterials, welchesvor Ort und mit Hilfe von den bei der Aufnahme anwesenden Personen erfolgt.Dies erleichtert das Einbringen der emischen Perspektive und ist ein exzellenter Ab-wehrmechanismus gegen die Verkünstlichung der auditiven Landschaft. Die im Buchenthaltene CD beinhaltet verschiedene Spuren zu „Musikern auf Festen, gemischt mitsoundscape Montagen von Märkten, Nachbarschaften, Behausungen, Partys, Cafés,Radiosendungen und anderen bedeutenden Klängen des Alltagslebens.“21 Eine ande-re Besonderheit dieser Arbeitsweise ist, dass bei mobilen Klangquellen, nicht statischan einem Ort verweilt wird, sondern dass man den Klangquellen folgt. Ergebnis die-ser Technik der mobilen Aufnahme sind nur gering modifizierte Umstände währendder Feldarbeit; die Menschen bereiten sich nicht auf die Aufnahme vor, da sie dazunicht die Zeit haben, wie es bei einem Konzert oder einem anderem ortsgebundenEreignis der Fall sein kann.Zur Erfassung der schriftlichen Daten wurden kontinuierliche Feldforschungsperi-

20 Techno-clarino Bands sind in Jumaja eine neuere Erscheinung. Meist kommen darin eine Klari-nette, ein Synthesizer mit Multieffektkonsole, ein voll ausgestattetes Schlagzeug, ein Doumbekund immer öfter auch ein E-Bass vor, wobei alle Instrumente elektronisch verstärkt werden.

21 Orig.: ’instrumentalists at parties, layered with my soundscape editing of the market, neighbor-hood, homes, parties, cafes, broadcasts, and other prominent sounds of everyday life.’ in Feld,S. und Brenneis, D. 2004. ’Doing anthropology in sound’. American Ethnologist, Vol. 31, Nr. 4,S. 468.

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oden in einem Zeitraum von über 10 Jahren durchgeführt. Es wurden dabei Inter-views geführt, welche zum Teil originalgetreu im Buch wiedergegeben werden undsomit ein weiterer wichtiger Beitrag zur Darstellung der emischen Perspektive sind.Auch Lebensgeschichten einzelner „Instrumentalisten“ werden ausführlich beschrie-ben und tragen somit dazu bei, auch ein historisches Bild der Umstände in Jumajaund der dort ansässigen Bevölkerungsgruppen zu erhalten. Teilnehmende Beobach-tung wurde ausschließlich von den Eheleuten Keil durchgeführt, wobei es fraglich istob man hier von teilnehmender Beobachtung sensu stricto sprechen kann. Auch diebeiden Autoren selber „sind aufrecht, indem sie bestätigen, dass es sich beim Buchnicht um das Ergebnis einer typischen musikethnologischen Feldforschung handelt,[da] kurze Besuche und einige Interviews oder Lebensgeschichten nicht die Komple-xität einer gesamten Kultur darzustellen vermögen.“22

Bezüglich des theoretischen Ansatzes beruht das Buch, oder zumindest das ersteKapitel, auf einer eher traditionellen Art. Es wird mehrmals auf die evolutionis-tischen und diffusionistischen Theorien der Herkunft und Verbreitung, vor allemin Verbindung mit Musikinstrumenten, eingegangen und damit die Romantisierungund Mystifizierung der behandelten Thematik verstärkt. Ein weiterer Beitrag zurRomantisierung sind die Fotografien, welche auf künstlerischer Ebene zwar hervorra-gend sind, aber auch deshalb eine vielleicht etwas einseitige Darstellung der Umstän-de in und um Jumaja wiedergeben. Ähnliches geschieht bei der Analyse der Musik:Charles Keil ist Jazz-Musiker und hat somit einen Zugang zur Musik, welcher sichdurch eine verstärkte Emotionalität von der Wahrnehmung eines Nichtmusikers un-terscheidet und dies teils zur Folge hat, dass er seine Erfahrungen auf lyrische Weisebeschreibt.

5. SchlusswortDas Buch könnte als eine Art postmoderne, narrative und interdisziplinäre Ethno-grafie bezeichnet werden, welche zwar teils auf innovative methodische Forschungs-weisen zurückgreift, jedoch andere ‚klassisch-ethnologische’ Methoden, sprich teil-nehmende Beobachtung und theoretische Argumentation nur ansatzweise integriert.Es ist mit Sicherheit ein wichtiges und viel umfassendes Werk zur sozialen Mu-siklandschaft von Jumaja und könnte somit die Grundlage einer tiefgründigeren(musik-)ethnologischen Feldforschung sein.

22 Orig.: ’are honest in saying that the book is not the result of a typical ethnomusicologicalfieldwork. Brief visits and some interviews of life-stories cannot account for the complexity of awhole culture.’ in Kavouras, P., ’Review: Bright Balkan morning: Romani lives and the power ofmusic in Greek Macedonia, text by Angeliki Keil and Charles Keil, photographs by Dick Blau,soundscapes by Steven Feld, 2002, Middletown: Wesleyan University Press’ in Ethnomusicology50(1): 154-157.

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BibliografieBlau, D.; Keil, C.; Vellou-Keil, A.; und Feld, S.; Bright Balkan Morning: Roma-ni Lives and the Power of Music in Greek Macedonia. Wesleyan University Press.Middletown, Connecticut. 2002.Rouget, G.. Music and Trance – a Theory of the Relations between Music and Pos-session. The University of Chicago Press. Chicago (USA). 1985.Schneider, M. Il significato della Musica – simboli, forme, valori del linguaggio mu-sicale. Rusconi. Milano. 1992.Feld, S.; Brenneis, D. ’Doing anthropology in sound’ in American Ethnologist, Vol.31, N. 4, 2004.Kavouras, P., ’Review: Bright Balkan morning: Romani lives and the power of musicin Greek Macedonia, text by Angeliki Keil and Charles Keil, photographs by DickBlau, soundscapes by Steven Feld, 2002, Middletown: Wesleyan University Press’ inEthnomusicology 50(1): 154-157.Peycheva, L.; Dimov, V. ’o.T.’ in Romani Studies 5, Vol.15, Nr. 1, 2005.Reed, S. ’The politics and poetics of dance’ in Annual Review of Anthropology. Vol.27, 1998.

Zum Autor:

Stefan Festini Cucco hat im Jahr 2009 sein B.A. Studium der Internationalen und Di-

plomatischen Wissenschaften an der Universität Triest (Italien) abgeschlossen und ist seit

Oktober 2010 am Institut für Ethnologie in Leipzig, um sein M.A. Studium zu absolvieren.

Während seiner schulischen bzw. universitären Laufbahn hat er sich kontinuierlich mit

Musik in Theorie und Praxis beschäftigt und dabei auch mit so genannter Zigeunermusik.

Daher die Wahl dieses Buches, welches die Rolle der Musik bzw. der Musikinstrumente und

deren Spieler im sozialen Kontext von Jumaja als zentrales Forschungsobjekt aufgreift.

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9 Meldungen

Ausstellung

Franz Liszt und die „Zigeunermusik“, März bis August 2011, Budapest, Ethnogra-phisches Museum.Ausgangspunkt ist das Buch von Franz Liszt „Über die Zigeuner und die Zigeuner-musik“ (in Ungarn erschienen 1861).

Neuerscheinungen

Ian Law & Sarah Swann (2011): Ethnicity and education in England and Europe:gangstas, geeks and gorjas. Ashgate Pub.: Farnham, Surrey, Burlington.Inhalt u.a.: Gypsies and travellers: perceptions and experiences of secondary educa-tion.

Gagnieux, Alain (2011): Chronique des jours immobiles: les nomades internés à Arc-et-Senans, 1941-1943. Harmattan: Paris.

Bohumila Doleželová/Jana Horváthová (2011): Plátna pro velká erné oči: cikáni vdíle Míly Doleželové: katalog ze stejnojmenné výstavy Muzea romské kultury 9.4.-15.8.2010 [Canvas for big black eyes: gypsies in the work by Míla Doleželová: cata-logue from the exhibition of the same title, Museum of Romani Culture, April 9th- August 15th, 2010].

Ursula Glaeser & Astrid Kury (Hrsg.) (2011): Romale!: Persönliches über Aufbruch,Kunst und Aktivismus ; [aus dem Festival und Kulturnetzwerk Romale!10 (10.6. -17.7.2010) in Graz hervorgegangen]. Drava: Klagenfurt; Wien.

Lektorat/Regie: Antje Hinz (2011): Sinti und Roma hören [CD, 80min]: das Hör-buch/Sprecher: Rolf Becker; Anne Moll. Ms.: Anja Tuckermann. Silberfuchs-Verlag:Tüschow.

Behemoth. A Journal on Civilisation. Hrsg.: U. Bröckling, W. Fach, R. Pates.Autoren: Bernhard Streck, Paloma Gay y Blasco, Judith Okeley, Patrick Williams,Leonardo Piasere, Elena Marushiakova, Veselin PopovInhaltsverzeichnis/Download: http://www.reference-global.com/toc/behemoth/4/1

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