Nomaden zwischen Asien, Europa und dem Mittleren Osten

24
wbg (20106) p. 187 / 9.12.09 Nomaden zwischen Asien, Europa und dem Mittleren Osten Felicitas Schmieder Im Rahmen einer Weltgeschichte, die sich ganz besonders auf die vernetzenden Fak- toren konzentrieren will und auf diejenigen Elemente, die das, was wir heute gerne Globalisierung nennen, schon in vormodernen Zeiten befördert haben, nehmen die zentralasiatischen Steppennomaden eine wichtige Stellung ein: mit ihren anscheinend ephemeren, im Einzelnen kaum greifbaren und normalerweise nur von außen, seitens von ihnen berührter sesshafter Schriftkulturen beschriebenen Reichsbildungen. Sie nämlich bildeten in ihrer Eigenschaft als besondere, weicheund zugleich expansive politische Gebilde zwischen abgegrenzteren Einheiten immer wieder Brücken zwi- schen den Kulturregionen Ost-, West- und Südasiens sowie des Mittelmeerraumes, sie stellten die Schnittstellen zur Verfügung, über die Wissen in einem weiten Sinne zwischen Kulturen vermittelt werden konnte bis hin zur Ausbildung überkultureller Phänomene. Vermittelt wurden Waren ebenso wie Menschen, Technologien ebenso wie Religionen, kulturelles ebenso wie politisches Wissen, Informationen und Insti- tute gesellschaftlichen wie ökonomischen oder militärischen Inhalts, gewandert sind Pflanzen und Tiere, Kaufleute, Missionare, Boten, Soldaten und Sklaven ebenso wie Ideen und Kenntnisse. Denn durch die Steppenregionen verliefen Fernhandelsrouten, auf denen wert- volle und Massengüter des transasiatischen Handels von einem Ende des Kontinents zum anderen transportiert wurden. Nur die berühmteste davon ist seit frühen Zeiten die Seidenstraße, ein Geflecht von transkontinentalen Wegen mit Anschluss an die wichtigsten Handelsregionen, das sich zwischen dem Schwarzen Meer, der Levante und dem Persischen Golf, sodann nördlich des Himalaya bis nach China und dem Pazifik erstreckte, im engere Sinne aber in den Steppengebieten zwischen Transoxa- nien (jenseits des Flusses Oxus, heute Amudarja, von Persien aus betrachtet, in etwa das heutige Usbekistan) und Xinjiang (Sinkiang, der heutigen chinesischen Provinz) verlief. Auf ihren Trassen wanderte nicht nur die Seide sowie das Wissen, wie man sie verarbeiten und sogar züchten konnte, sondern in West-Ost oder Ost-West-Richtung verschiedenste reale wie virtuelle Wissensschätze, von Reli- gionen wie Buddhismus, Manichäertum, Christentum und Islam, bis hin zu Krank- heiten wie der Großen Pest, die in der Mitte des 14. Jahrhunderts alles Land von China bis Westeuropa mehr oder weniger intensiv erfasste. Die Wege wurden beglei- tet, bewacht, manchmal bedroht von nomadischen Völkern man könnte sie und 179 Fernhandelsrouten Umbruchabzug

Transcript of Nomaden zwischen Asien, Europa und dem Mittleren Osten

wbg (20106) p. 187 / 9.12.09

Nomaden zwischen Asien, Europaund dem Mittleren Osten

Felicitas Schmieder

Im Rahmen einer Weltgeschichte, die sich ganz besonders auf die vernetzenden Fak-toren konzentrieren will und auf diejenigen Elemente, die das, was wir heute gerneGlobalisierung nennen, schon in vormodernen Zeiten befördert haben, nehmen diezentralasiatischen Steppennomaden eine wichtige Stellung ein: mit ihren anscheinendephemeren, im Einzelnen kaum greifbaren und normalerweise nur von außen, seitensvon ihnen berührter sesshafter Schriftkulturen beschriebenen Reichsbildungen. Sienämlich bildeten in ihrer Eigenschaft als besondere, „weiche“ und zugleich expansivepolitische Gebilde zwischen abgegrenzteren Einheiten immer wieder Brücken zwi-schen den Kulturregionen Ost-, West- und Südasiens sowie des Mittelmeerraumes,sie stellten die Schnittstellen zur Verfügung, über die Wissen in einem weiten Sinnezwischen Kulturen vermittelt werden konnte bis hin zur Ausbildung überkulturellerPhänomene. Vermittelt wurden Waren ebenso wie Menschen, Technologien ebensowie Religionen, kulturelles ebenso wie politisches Wissen, Informationen und Insti-tute gesellschaftlichen wie ökonomischen oder militärischen Inhalts, gewandert sindPflanzen und Tiere, Kaufleute, Missionare, Boten, Soldaten und Sklaven ebenso wieIdeen und Kenntnisse.

Denn durch die Steppenregionen verliefen Fernhandelsrouten, auf denen wert-volle und Massengüter des transasiatischen Handels von einem Ende des Kontinentszum anderen transportiert wurden. Nur die berühmteste davon ist seit frühen Zeitendie Seidenstraße, ein Geflecht von transkontinentalen Wegen mit Anschluss an diewichtigsten Handelsregionen, das sich zwischen dem Schwarzen Meer, der Levanteund dem Persischen Golf, sodann nördlich des Himalaya bis nach China und demPazifik erstreckte, im engere Sinne aber in den Steppengebieten zwischen Transoxa-nien (jenseits des Flusses Oxus, heute Amudarja, von Persien aus betrachtet, in etwadas heutige Usbekistan) und Xinjiang (Sinkiang, der heutigen chinesischen Provinz)verlief. Auf ihren Trassen wanderte nicht nur die Seide sowie das Wissen,wie man sie verarbeiten und sogar züchten konnte, sondern in West-Ostoder Ost-West-Richtung verschiedenste reale wie virtuelle Wissensschätze, von Reli-gionen wie Buddhismus, Manichäertum, Christentum und Islam, bis hin zu Krank-heiten wie der Großen Pest, die in der Mitte des 14. Jahrhunderts alles Land vonChina bis Westeuropa mehr oder weniger intensiv erfasste. Die Wege wurden beglei-tet, bewacht, manchmal bedroht von nomadischen Völkern – man könnte sie und

179

FernhandelsroutenUmbruch

abzu

g

wbg (20106) p. 188 / 9.12.09

ihre Reichsbildungen als Wächter dieser Wege bezeichnen, die ihnen für die Zeitihrer eigenen Existenz eine gewisse Stabilität und damit Sicherheit vermittelten. Um-gekehrt galt aber aus der Sicht der Nomaden und ihrer Reichsbildungen: „One of themajor sources of conflict in Eurasia was the question of control of the Silk Route“(Peter Golden). Konkurrenz um die Wege – auch wenn man meist um die sesshaftenGebiete an den Enden der Trasse rang – konnte Unsicherheit bedeuten, die denVerkehrsfluss gegen das Interesse der Nomaden abschwächen oder unterbrechenkonnte – ein schwankendes Gleichgewicht über die Jahrhunderte und wohl Jahrtau-sende, das die Geschichte Eurasiens maßgeblich mitbestimmte.

Bei alledem ist es nicht immer leicht zu definieren, was ein solches nomadischesReich ausmachte. Als weiches Gebilde wird es von den Loyalitäten zusammengehal-ten, die aus Clanstrukturen oder vasallitischen Verhältnissen fließen – man findet inder Literatur auch den Begriff des Stamms anstatt des Clans. Solche Clans warennormalerweise agnatisch konstituiert und militäraristokratisch organisiert. Untercharismatischen Anführern konnten sich die Loyalitäten weit über die normalen Ma-ße und Zusammenhänge der mit ihren Herden ziehenden (manchmal auch eherhalbnomadisch in Transhumanz wirtschaftenden) Clans ausdehnen, indem sich umeinen Kernclan andere gruppierten, also relativ lockere Großclan-Loyalitäten, Kon-

föderationen von Clans oder Stämmen, entstanden. Wie diese Gebilde zubenennen seien, ist oft eine Frage der Sprachkultur der beteiligten his-

torisch-sozialen Wissenschaften: Spricht die englische Literatur von state formation,würde man im Deutschen wohl von dem verfestigte, transpersonale Institutionensuggerierenden Begriff des „Staates“ oder der „Staatsbildung“ absehen und eher vonHerrschaftsbildung, Reichsbildung oder ähnlichem sprechen. Ein so einmal gebilde-tes Reich konnte – allerdings selten in sich stabil strukturiert – über mehrere Genera-tionen verdauern, wenn und solange meist blutsverwandte Erben des ReichsgründersErfolge besonders im Bereich von Beute vorzuweisen hatten. Diese Beute bestandunter anderem im Abschöpfen des durch die Steppenregionen abgewickelten Han-dels – je geregelter dieses Abschöpfen erfolgte, als desto sicherer wurden die Handels-wege von ihren Benutzern wahrgenommen.

In erster Linie aber wurde Beute auf sehr unterschiedliche Weise bei den benach-barten sesshaften Kulturen gemacht. Grundsätzlich konnte nomadisches Beutema-chen sich in einem Spektrum zwischen gelegentlichen Überfällen (in der Forschunggerne als Razzien oder engl. raids bezeichnet) und vertraglich geregelten, nomadischeHilfeleistungen belohnenden Beziehungen abspielen. Dabei dürfte die Stabilität einesNomadenreiches an der Regelmäßigkeit dieser Beziehungen ablesbar sein, seineMacht daran, ob die Belohnung seitens des sesshaften Nachbarn eher einem Sold fürmilitärische Unterstützung oder Grenzwächterdienste, einem Schutzgeld gegen Über-fälle oder aber einer Tributleistung an einen überlegenen und existentiell bedrohli-chen Gegner entsprach – wenn nicht sogar die Gebiete des sesshaften Nachbarn herr-schaftlich übernommen wurden. Innerhalb dieses Spektrums bewegte sich auch dieWahrnehmung in unseren Quellen: Wenn die sesshaften Reiche an die aufstrebenden

180

Die Ordnung der Welt

Clanstrukturen

Umbruch

abzu

g

wbg (20106) p. 189 / 9.12.09

nomadischen Großverbände Tribute leisteten, um die eigenen Grenzen zu schützen,wenn also die nomadischen Herrschaftsstrukturen zu einer Organisationsform ge-wachsen waren, die über gelegentliche Plündereien einzelner Trupps hi-nausgingen, erschienen diese Reiche beziehungsweise Völkerschaften re-gelhaft in den Quellen der angrenzenden Sesshaften. Die meisten der Steppebenachbarten sesshaften Kulturen wählten daneben auch andere Methoden der regu-lären (und in den Quellen daher meist registrierten) Einbeziehung von nomadischenHerren, darunter besonders die der Verheiratung von weiblichen Verwandten derHerrscherfamilie an die Steppenherren. Damit und mit stärker im symbolischen Be-reich anzusiedelnden Gesten – wie den Verleihungen von prestigeträchtigen Titelnoder Tributleistungen von Gegenständen oder Gütern, die die Empfänger als exklusivden sesshaften Herrschern vorbehalten wussten – ließ sich im Bereich der Repräsen-tation ein von allen Beteiligten verstandenes, stets aufs Neue sorgfältig auszutarieren-des Verhältnis zwischen zivilisatorischer Überlegenheit auf der einen und militäri-scher Überlegenheit auf der anderen Seite herstellen. Aus der Perspektive derNomadenreiche, die ihrerseits stets wohlinformiert die sesshaften Nachbarn gegen-einander auszuspielen imstande waren, zählten Beute ebenso wie symbolische Presti-gegewinne zu den Möglichkeiten, sich selbst als Steppenvormacht gegenüber anderenNomadenclans und -reichen zu etablieren.

Wie bereits deutlich wurde, bemisst sich unsere Einschätzung der nomadischenReiche an deren Verhältnis zu ihren Nachbarn. Die Historiker neigen überhauptdazu, von einer Reichsbildung erst dann zu sprechen, wenn diese von schreibendenNachbarn wahrgenommen wurde. Denn das ist symptomatisch für alle Völker undReiche, von denen wir hier reden: Generell kann man sagen, dass diese nomadischenKulturen zwar nicht unbedingt schriftlos waren, denn Runeninschriften oder einerelativ frühe Übernahme von Schrift in einem funktional begrenzten Rahmen sindhie und da überliefert. Doch waren sie ohne eine Schriftkultur, die unseigene Nachrichten über die Entstehungsphasen der im Laufe der Jahrtau-sende immer wieder stattfindenden Reichsbildungen hinterlassen hätte.Mit ganz wenigen Ausnahmen wissen wir aus dieser Phase (wenn überhaupt) nichtsaus der eigenen Sicht der Völker, sondern wir kennen sie nur aus Berichten über sieseitens der angrenzenden, von ihnen berührten sesshaften, schreibenden Kulturen.Wir können sie also erst dann greifen, wenn sie von diesen Nachbarn regelmäßigwahrgenommen wurden: Das geschah erst bei hinreichender Dauerhaftigkeit undIntensität der Kontakte – sie blieben erst dann nicht mehr unbemerkt, wenn sie inirgendeiner, meist (aber nicht nur) bedrohlichen Weise wirksam wurden.

Je nach Intensität und Exaktheit der Wahrnehmung gestalten sich unser Wissenund die Möglichkeit des Historikers, die Reiche und ihre Geschichte nachzuvollzie-hen. Damit verbunden sind vor allem zwei grundsätzliche Probleme: Zum erstenstehen wir gerade bei den großen Reichen, die uns als Vermittler zwischen verschie-denen sesshaften Nachbarkulturen besonders interessieren, nicht selten vor derSchwierigkeit, die Nachrichten dieser verschiedenen benachbarten Schriftkulturen

181

Nomaden zwischen Asien, Europa und dem Mittleren Osten

Sesshafte Nachbarn

Problem derSchriftlosigkeit

Umbruch

abzu

g

wbg (20106) p. 190 / 9.12.09

miteinander in Übereinstimmung bringen zu müssen: Sprechen unsere Quellen sounterschiedlicher Provenienz tatsächlich von ein und demselben, großen Reich, gibtes also eine stabile festmachbare herrschaftliche Verbindung möglicherweise überganz Innerasien? Oder haben wir es mit unterschiedlichen Reichen nebeneinanderzu tun? Das eklatanteste Beispiel ist das der Hunnen im 4. Jahrhundert (also noch

vor unserem Betrachtungszeitraum), die in Europa sicher noch vor denMongolen bekanntesten, weil außerordentlich mächtigen und weitgreifendreichsbildenden Nomaden, denen es gelang, bis in den Westen des ge-

schwächten Römischen Reiches vorzudringen. Auf der anderen Seite des Kontinentssprechen im gleichen Zeitraum chinesische Quellen von dem Reich der Xiongnu(Hsiung-nu) als einem mächtigen Steppenreich, doch trotz aller Identifizierungsver-suche sieht sich heute kein ernsthafter Forscher in der Lage, beide Namen tatsächlichzusammenzubringen. Nicht immer gelingt es also – vor allem dann, wenn die angren-zenden sesshaften Kulturen entweder selbst noch nicht sehr umfangreiche Schriftkul-tur besitzen oder aber nicht über Abwehrmaßnahmen hinaus an den Geschehnissenjenseits ihrer eigenen Grenzen interessiert sind –, die Berichte von jenseits der ver-schiedenen Steppengrenzen dahingehend zu harmonisieren, dass wir sicher sein kön-nen, dass die unterschiedlichen Bezeichnungen ein und dasselbe Volk meinen – dasswir also wissen, wie weit sich das Herrschafts- oder vielleicht besser Dominanzgebieteines Steppenvolkes ausdehnte, und inwieweit hier also Brückenfunktionen erwartbarsein können.

Zum zweiten ist es nur bis zu einem gewissen Grade berechtigt anzunehmen, dasserst im Moment regelmäßiger Wahrnehmung von außen auch tatsächlich die Brü-ckenfunktion und kulturelle Überträgerschaft seitens des beschriebenen Nomaden-reiches einsetzte. Immerhin war es die Expansivität der Reiche, die ihre charakteristi-sche Befähigung, Überträgerkultur zu sein und die sesshaften Kulturen an ihrenRändern miteinander in Verbindung zu bringen, aktivierte und intensivierte. Wahr-scheinlich ist allerdings eher ein steter Fluss von Nachrichten auf den einmal gefun-denen Wegen und höchstens eine (allmähliche und von der Stärke und Größe derReichsbildung abhängige) Intensivierung der Austauschprozesse, wenn ein Reichmächtiger und damit wahrnehmbarer wurde. Damit in engem Zusammenhang steht,dass es beim Austausch, seiner Art und seinen Inhalten nicht nur auf die Kulturenankam, die vernetzt wurden. Denn nicht nur die Expansivität der Nomaden, sondern

auch deren eigenes kulturelles Wissen floss in ihre Vermittlung ein – unddies ist besonders deshalb zu betonen, weil unsere fast nur aus Fremdwahr-nehmung gewonnenen Informationen leicht das Bild verzerren könnten

und dazu führen, dass wir die Nomaden als schlichte Katalysatoren sehen, gar alsaustauschbare infrastrukturell notwendige Brückenbausteine auf dem Weg von einerSchrift- oder „Hochkultur“ zur anderen. Nicht nur das Wissen der Kulturen an denEnden der Straßen voneinander – und auch über noch weiter dahinterliegende Völ-ker, Reiche, Kulturen – konnte sich nämlich über riesige Bereiche der Kontinental-masse ausbreiten, sondern auch die spezifische Lebensform der Nomaden und spezi-

182

Die Ordnung der Welt

Schwierige Quellen-auswertung

Frage derÜberträgerschaftUmbru

chab

zug

wbg (20106) p. 191 / 9.12.09

fisch nomadisches kulturelles Wissen wurde eingebracht, das, wie wir sehen werden,essentiell sein konnte, um die Übertragung zu ermöglichen, aber auch die Inhalte derÜbertragung zu gestalten. Die Nomaden waren sich – nicht zuletzt im Vergleich undin Auseinandersetzung mit und in Abgrenzung zu den sesshaften Nachbarn – ihrerEigenheit durchaus stolz bewusst und hielten sie nicht selten explizit und selbst-bewusst hoch, mühten sich, sie zu bewahren.

Man könnte eine ganze Anzahl von Völkern (in unserer Betrachtungszeit vorallem offenbar von Turkvölkern) nennen, die in den Quellen der umliegenden sess-haften Völker auftauchen, weil sie eine gewisse zeitweilige und regionale Dominanzerwarben und damit als Herrschaftsträger hinter Plünderungszügen und Handels-kontakten gesehen wurden. Es hat allerdings wenig Sinn, in unserem Kontext all diegrößeren und kleineren Reichsbildungen und Stammesnamen aufzuzählen, die teil-weise von mehreren, teilweise wenigstens scheinbar nur von einer benachbartenSchriftkultur benannt wurden – zumal es nur einigen wenigen gelang, über längereZeit und überregional so zu dominieren, dass sie eine nachvollziehbare Wirkung aufVerbindungen der Kulturen über die Steppen hinweg beziehungsweise durch sie hin-durch gewannen. Die Geschichte der Nomadenreiche der innerasiatischen Steppesteckt voller „möglicherweise“ und „anscheinend“, deshalb sollen im Folgenden nureinige der wichtigeren Beispiele aus dem Betrachtungszeitraum dieses Bandes heraus-gegriffen werden, weil sie die bisher in allgemeiner Weise charakterisierten Verhält-nisse und insbesondere die spezifisch nomadische kulturvernetzende Kapazität näherbeleuchten können: Das Reich oder die Reiche der Göktürken um 600 (Blaue Türken,auch Kök-Türk(en) geschrieben, von anderen Nomaden schlicht als Türken bezeich-net), die Steppenreiche der Uiguren und Chasaren um 800 und schließlich – beson-ders ausführlich, weil qualitativ anders und in den Quellen deutlich besser greifbar –die mongolische Reichsbildung im 13. Jahrhundert. Die Reiche sollen dabei betrach-tet werden von ihrer für uns greifbaren Entstehung bis zu ihrem Untergang, das heißtihrem Zerfall und oft Aufgehen in neuen Reichsbildungen, oder aber bis zu ihrerEtablierung als sesshafte Reiche mit der umfassenden Nutzung von Schrift, also derÜbernahme von Schriftkultur, oder dem Übergang zu einer Hochreligion – wobeidiese Grenzen des Betrachtungszeitraumes grundsätzlich weit ausgelegt werden, weildie drei Faktoren selten alle gleichzeitig eintraten und teilweise genetisch sehr früh-zeitig auftreten konnten.

Früh- und hochmittelalterliche Steppenreiche

Schon früher haben nomadisch begründete Großreiche Vernetzungen wenigstensvon Teilen der Alten Welt erzeugt – Reiche mit unterschiedlichen geographischenSchwerpunkten und Ausdehnungen und verschiedenartigen konkreten Auswirkun-gen, aber vergleichbar in ihren Wirkungen. „The Steppe Highway“ (Nicola Di Cos-mo) führte seit lange vor der Zeitenwende immer wieder viehhaltende Hirtenvölker

183

Nomaden zwischen Asien, Europa und dem Mittleren Osten

Umbruch

abzu

g

wbg (20106) p. 192 / 9.12.09

auseinander und zusammen. Ihre Kerngebiete unterschieden sich, organisiert warensie meist als Kernclan, dem andere Clans zugeordnet waren. Nicht selten stiegen dieneuen Herren innerhalb solcher älterer und zerfallender Konföderationen auf.

Wenn wir im Folgenden einen Blick auf solche Reiche und ihre vernetzendenWirkungen seit etwa dem Jahr 600 werfen, dann ist dieser zeitliche Einschnitt wiedereinmal vor allem den Entwicklungen der die Steppe umgebenden sesshaften Kulturengeschuldet, nicht so sehr der originären Entwicklung der Steppe selbst. Es lässt sichschwer just um diese Zeit eine grundsätzliche Veränderung im Auf und Ab von no-madischen Reichsbildungen, umfassenderen gemessen an der Anzahl der sesshaftenKulturen, die von ihnen berührt wurden, oder engeren feststellen – doch außerhalbder Steppe lebten in dieser Zeit Mohammed und Papst Gregor der Große, ging dasmittelmeerische Zeitalter des byzantinischen Kaisers Justinian (†565) zu Ende, blühtegerade noch das Reich der Sasaniden im Iran und Transoxanien und begann nach der

chinesischen Geschichtsschreibung die Tang-Dynastie (618–906). In derSteppe erlebte just um 600 das vereinigte Großkhanat der Göktürken den

Höhepunkt seiner Macht und sorgte für transkontinentale Verbindungen: „TheTürks were important middlemen in international trade. Their empire served as acommercial bridge across Eurasia, a means by which China and to a lesser extentIndia were brought into contact with the Eastern Mediterranean (Sâsânid Iran andByzantium).“ (Peter Golden) Das Reich der Göktürken war mit einiger Wahrschein-lichkeit ursprünglich im Gebiet der Mongolei entstanden – um 552, denn wir kennenes aus seiner Aufstiegszeit nur aus chinesischen Quellen. In einem zweiten Schritthaben die Göktürken dann wohl die Steppengebiete weiter im Westen in RichtungTransoxanien und weiter über den südlichen Wolgaraum hinaus in die Gebiete nörd-lich des Schwarzen Meeres erobert oder wenigstens dominiert.

Die Forschung spricht normalerweise von den beiden Göktürkischen Reichen,Ost undWest, machtvoll in Erscheinung getreten in der 2. Hälfte des 6. Jahrhunderts,in denen sich der West-Khagan (Großkhan) Tardu kurzzeitig (ca. 590–603) zumHerrn des Ganzen aufschwingen konnte, sowie von einem zweiten Reich (um 700)nach einer Phase des Niederganges. Weniger stark aus der gewohnten (und zudemvon modernen Staatsvorstellungen beeinflussten) „sesshaften Sichtweise“ betrachtet,haben wir vor uns eine riesige Konföderation von Stämmen im Gebiet zwischen derWolga, Transoxanien und der Mongolei, von einem charismatischen Clan zusam-mengebracht und -gehalten, deren direkter Einflussbereich sich so weiträumig gestal-

tete, dass verschiedene Clanangehörige in unterschiedlichen Himmelsrich-tungen dominierten. Innerhalb von Konföderation und vor allem Clan

herrschte stete Konkurrenz um Führungspositionen, und innerhalb dieser Atmo-sphäre steter Machtschwankungen wurde zeitweise ein besonders erfolgreiches Clan-oberhaupt als Khagan des Ganzen anerkannt oder eben nicht. Wichtig für die Ein-schätzung durch die Forschung sind die Außensicht der sesshaften Nachbarn, aberebenso die Selbststilisierung der Türk – von denen sehr früh Inschriften (in sog.Runenschrift vom Orchon) zu Ehren ihrer Khagane erhalten sind – und dann, nicht

184

Die Ordnung der Welt

Um das Jahr 600

Die GöktürkenUmbruch

abzu

g

wbg (20106) p. 193 / 9.12.09

zu vernachlässigen, die Stilisierung durch die Erben eines solchen großen Reiches, diesich in seiner Tradition verstanden und die die Erinnerung an die Vergangenheitmehr oder weniger absichtsvoll entsprechend konstruierten.

Dieses stark fluktuierende Gebilde trat in typischer und mit den Machtschwan-kungen wechselnder Weise mit den sesshaften (und auch den nomadischen) Nach-barreichen in Beziehung, indem es sie angriff, ihre Feinde gegen sie zu nutzen strebte,sie tributabhängig machte oder gar eroberte, oder aber umgekehrt von ihnen einge-setzt und abhängig gemacht wurde. So expandierten die Türk früh gegenüber dem imNiedergang befindlichen Reich der Hephthaliten (mit Kerngebiet im heutigen Afgha-nistan), wobei es zu einer der beschriebenen, ebenfalls typischen Kontaktsituationenzwischen Steppen- und sesshafter Kultur kam. Denn Verbündete der Türken gegendie Hephthaliten waren die persischen Sasanidenherrscher, die zur Befestigung desBündnisses eine Prinzessin an den Herrn der Göktürken verheirateten. Interesse derSasaniden war die Rückeroberung des von den Hephthaliten beherrschten,aber von den Sasaniden beanspruchten Gebietes: Es ging hierbei wie im-mer wieder an dieser besonderen Schnittstelle zwischen Steppe und sess-haftem Bereich um Transoxanien mit den reichen Handelsstädten Buchara, Samar-kand und Taschkent und damit nicht zuletzt um das Westende der Steppentrassen

185

Nomaden zwischen Asien, Europa und dem Mittleren Osten

& Karte folgt &Zentralasien

Beziehungen zuden Nachbarn

Umbruch

abzu

g

wbg (20106) p. 194 / 9.12.09

der Seidenstraße. Zugleich stärkten die Sasaniden mit ihrer Politik allerdings die neueSteppenmacht, derer sie sich anschließend erwehren mussten. In Reaktion daraufwandten sich die Türk, wohlinformiert, an die Gegner ihrer Gegner und damit anByzanz. Doch auch mit Byzanz, so weit dieses Reich auch scheinbar von den türki-schen Gebieten entfernt war, gab es Konfliktlinien, die in einer Herrschaftsanschau-ung begründet lagen, die wiederum typisch für die nomadischen Reiche war: DieAwaren in den Steppengebieten nördlich von Kaspischem und Schwarzem Meer(und weiter nach Europa hinein) waren vermutlich von den Türk nach Westen ver-drängt worden und wurden von ihnen als abgefallene Untertanen betrachtet, weshalbdie Byzantiner, von den Awaren bedrängt, nicht mit diesen hätten Frieden schließendürfen, ohne die Türk zu fragen. Letztendlich führten wechselnde Konstellationen zueiner Schwächung der Sasaniden, die daher den muslimischen Arabern 642 wenigentgegenzusetzen hatten – eine Entwicklung, die für alle Beteiligten nicht absehbaroder gar planbar gewesen war.

Zu dieser Zeit allerdings war das Göktürkenreich in beiden Teilen bereits unterge-gangen oder (je nach Sichtweise) vorübergehend unter die Herrschaft einer benach-barten sesshaften Kultur geraten. Hilfreich nämlich für den ursprünglichen Aufstiegder Göktürkenmacht war sicher das Fehlen einer starken, ganz China einigendenMacht im Osten gewesen. Doch seit 618 begann sich dort die Tang-Dynastie durch-zusetzen. Während in der chinesischen Geschichte oftmals Desinteresse an Vorgän-gen jenseits der Grenze zu verzeichnen ist, gelten die Tang in der Geschichtsschrei-

bung als steppennah, was vor allem bedeutet, dass sie sich um dieverschiedenen Kräfte in der Steppe bemühten, um sie gegeneinander ein-zusetzen. Den Tang gelang es nicht nur, weite Bereiche des östlichen Ver-

laufes der Seidenstraße (im Bereich des heutigen Xinjiang und nachWesten bis in denBereich des Balchaschsees) ihremHerrschaftsgebiet einzuverleiben, sondern sie konn-ten offenbar auch die östlichen Türk durch Elimination des Khagan ihrer direktenHerrschaft unterstellen (630/634). Fast gleichzeitig zerbrach auch das westliche Tür-kreich an den – in Steppenreichen mit Herrschaft über sesshafte Gebiete immer wie-der zu verzeichnenden –Differenzen zwischen nomadischem und sesshaftem Lebens-stil: Nomadische Revolten im Verein mit claninternen Machtkämpfen ließen auchdieses Reich in die Abhängigkeit der weit nach Westen ausgreifenden Tang fallen.

Ein erneutes Erstarken östlicher Göktürken führte zwischen 682 und 745 zueinem Zurückdrängen der Tang-Oberhoheit – eine Phase, die als zweites Göktürken-reich in die Geschichtsbücher eingegangen ist. Was immer es mit einer solchen zwei-ten Reichsbildung auf sich gehabt haben mag, sicher wurde Tang-China maßgeblichdurch den Aufstieg des Tibetischen Reiches an seinen südöstlichen Grenzen um 670geschwächt, was die Aufmerksamkeit von der Steppe abziehen musste und den dor-tigen Kräften deutlich mehr Spielraum als zuvor ließ. Die Göktürken fanden nicht zuralten dominierenden Stellung zurück (so sehr das Reich auch bei seinen Erben als dieGroßreichsvergangenheit schlechthin gesehen wurde), und zugleich sind aus dieserZeit die bedeutendsten Ehreninschriften für Khagane in Orchon-Runen erhalten ge-

186

Die Ordnung der Welt

Die Tang-Dynastiein China

Umbruch

abzu

g

wbg (20106) p. 195 / 9.12.09

blieben –möglicherweise geradezu ein Zeichen für eine nicht mehr ganz sosouveräne Stellung, die durch größere Pracht und verstärkte Propagandakompensiert wurde. Neben den Göktürken lassen sich jetzt konkurrieren-de Konföderationen feststellen, darunter besonders die Karluken (Qarluq, nördlichvon Transoxanien), die Kimek (Kimak, nordöstlich davon), und die Kirgisen (Kyrgyz,weit im Norden des Steppengebietes). Symptomatisch für die Schwäche des Tang-Reiches durch Expansion seiner Nachbarn sowie die Rolle der Nomaden dabei undzugleich berühmteste Konsequenz aus den daraus resultierenden politischen Mög-lichkeiten ist gewiss die Schlacht am Fluss Talas (heute in Nordwestkirgisistan naheder kasachischen Grenze) 751 zwischen Chinesen und Arabern letztendlich wiederum Beherrschung der Seidenstraße, die sich auf dem Höhepunkt der zudem religiösbestimmten arabischen Expansion dieses eine Mal in der Weltgeschichte in Zentral-asien begegneten. Die Araber siegten wohl vor allem, weil die Karluken gegen diechinesische Macht zu ihnen übergingen.

Zu dieser Zeit gab es aber im Göktürkenreich selbst bereits neue Herren, dieebenfalls nomadische Gruppe der wohl wenigstens größtenteils turksprachigen Uigu-ren, die innerhalb des Verbandes aufgestiegen waren und um 745 die Führer derGöktürken eliminierten. Auch dies ist typisch für das Ende und den Aufstieg vonNomadenreichen, dass sich bislang angebundene Clans und Stämme selbständigmachten oder eher, dass sie versuchten, die bisherigen Herren im Zentrum zu beer-ben. Die Kerngebiete dieser aufeinander folgenden Reiche konnten daher innerhalbder asiatischen Steppe variieren, neue Reichsbildungen bedeuteten meist Schwer-punktverschiebungen, doch zugleich sind auch die Kontinuitäten zwischen den Rei-chen festzuhalten, die strukturellen ebenso wie die möglichen personellen Übergänge,die nicht wenig zur kontinuierlichen Fähigkeit der Steppe, Brücken zu bilden, beitrug.

Mit dem endgültigen Untergang der göktürkischen Herrschaft und dem Aufstiegder Uiguren setzt die Zeit des zweiten Beispiels ein, das für unsere Fragestellungherangezogen werden soll. Hierbei haben wir es nicht mit einem einzigen Steppen-reich zu tun, sondern mit einem System von deren mehreren. Sie fügten sich in derZeit um 800, die jetzt im Zentrum stehen soll, ein in ein Weltsystem von wirtschaft-lichen, politischen, kulturellen Kontakten, das sich um das mächtige Kalifat in Bag-dad gruppierte, das in der populären Überlieferung oft mit dem Namen Harun ar-Raschids in Verbindung gebracht wird. Wirtschaftliche Kontakte lassen sich damalsnicht nur innerhalb des gesamten, noch weitgehend einigen islamischen Herrschafts-bereich feststellen, der von der Iberischen Halbinsel und Marokko übereinen breiten Streifen des Nordens Afrikas und den gesamten VorderenOrient bis zum Indus und nach Transoxanien reichte (womit einer der wichtigstenKnotenpunkte der Seidenstraße fest in der Hand des Kalifats war), sondern sie erfass-ten den gesamten Mittelmeerraum, besonders das Byzantinische Reich, und auf deranderen Seite zu Wasser, aber eben auch auf dem Steppenlandweg, Indonesien undden Osten Asiens mit den indischen Fürstentümern, den Großreichen der Khmer inIndochina und der Tibeter im Himalayagebiet sowie dem China der Tang-Dynastie,

187

Nomaden zwischen Asien, Europa und dem Mittleren Osten

Schwächung derTang-Oberhoheit

Wirtschaftliche KontakteUmbruch

abzu

g

wbg (20106) p. 196 / 9.12.09

für dessen Markt – ein wahres Globalisierungsphänomen – offenbar gezielt pro-duziert wurde. Zumindest der Hof des Kalifen trat auch in Kontakt mit jenem Karlsdes Großen (†814) – ökonomisch wesentlich wichtiger aber waren der nicht-christ-liche Norden und Osten des europäischen Kontinents, der wiederum über die zen-tralasiatische Steppenregion angebunden war.

Eines der beiden für diese Situation bestimmenden Steppenreiche war das geradegenannte der Uiguren, das um 800 seine Hochzeit erlebte, in der es vom Gebiet desBalchaschsees bis fast an den Pazifischen Ozean reichte. Ausgegangen war die Herr-schaft der Uiguren vom Gebiet der heutigen Mongolei, einen ihrer wichtigsten undden für ihre bemerkenswerte politische Macht bedeutsamsten Schwerpunkt fand sieebendort, am oberen Orchon mit dem Zentrum Qarabağasun („Schwarzstadt“). DerNiedergang Tang-Chinas führte dazu, dass es mehrfach das Uigurenreich bei Revol-ten im Inneren zu Hilfe rufen musste und sich seine dauerhafte Unterstützung nicht

zuletzt auch gegen das Tibetische Reiche durch mehrfache Heiratsver-bündnisse zu sichern suchte: Tang-China war damals eher der Vasall des

Erben des Göktürkenreiches als umgekehrt. Die enge Verbindung nach China brach-te 762 den Khagan in Verbindung mit Manichäern, deren Glaubengemeinschaft ersich anschloss – doch gab es auch Christen, Muslime und vor allem starke buddhis-tische Gruppen unter den Uiguren. Folge war unter anderem, dass sein Hof zu einemFluchtpunkt vonManichäern wurde, aus denen eine antichinesische Partei und damitdas Reich schwächende politische Richtungsstreitigkeiten zwischen den uigurischenAnführern hervorgingen. Im Jahre 840 war auch für dieses Reich sein Ende mit einerRevolte mit Hilfe der Kirgisen gekommen.

Was sich von den Uiguren erhalten hat, entstammt vor allem ihrer Spätzeit, inder sie sich an die vorher im Herrschaftsbereich Tang-Chinas gelegenen Ränder derTaklamakan-Wüste im Tarimbecken (einem wichtigen Nadelöhr der Seidenstraße)zurückzogen. In Oasenstädten wie Turpan (Turfan) ist eine reichhaltige Produktionuigurischer Schriftkultur ebenso erhalten geblieben wie reiche Freskenmalerei (da-runter wahrscheinlich eine Darstellung Manis, des Stifters der manichäischen Religi-

on), die vor allem von deutschen Expeditionen zu Beginn des 20. Jahrhun-derts entdeckt, großenteils abgenommen und nach Berlin verbracht wurde,

wo sie bis heute ausgestellt wird. Die uigurische Schrift selbst lebte vor allem deshalbweiter, weil späte Uiguren sie dereinst den Mongolen des Clans Dschingis Khansbeibringen sollten. Aus solchen Gründen, aus der über die Existenz ihres Reiches weithinausgehenden Langlebigkeit der kulturellen Wirkung der Uiguren, leitete sich, soPeter Golden, die um 900 überlieferte arabische Redensart ab, wonach die Uigurendie Araber der Türken seien.

Die anscheinend ganz besondere Konstellation transkontinentaler Brückenschlä-ge aber, die das 8. und 9. Jahrhundert auszeichnete, verdankte sich der Tatsache, dassweiter im Westen ein weiterer nomadischer Erbe früherer Reiche seinerseits einmachtvolles Herrschaftsgebilde zu errichten imstande war. Das Turkvolk der Chasa-ren taucht in unseren Quellen sehr viel früher auf als die Uiguren, dürfte bereits Teil

188

Die Ordnung der Welt

Das Uigurenreich

„Nachlass“ der Uiguren

Umbruch

abzu

g

wbg (20106) p. 197 / 9.12.09

des Hephthalitenreiches gewesen sein und war dann – im Einvernehmen mit denSasaniden nach Westen, vor allem in den Nordkaukasus verschoben – abhängigvom westlichen Bereich der Göktürken. Die Chasaren traten im 7. Jahrhundert derenErbe westlich der Wolga an; ihre Khagane waren möglicherweise sogar mit denen derGöktürken verwandt. Dort konnten sie im Ringen mit Byzanz (mehrfach sind Hei-ratsverbindungen belegt) und in Abwehr der arabischen Expansionsbemühungen inden Kaukasus (vor allem der ersten Hälfte des 8. Jh.s) auf der Krim, um die Wolga-Zentrale Itil (Adil, von türk. edil, Fluss, dem nomadischen Namen für die Wolga) undspäter um Sarkel am Don ein Großreich errichten. Im Laufe des 9. und besonders des10. Jahrhunderts wurde dies immer schwächer, vor allem gegen die imWesten aufstrebende Rus (nach 965). Auch die Chasaren scheinen einereligiöse Besonderheit dargestellt zu haben: Stärker als andere Nomadenreiche denMissionsbemühungen seitens byzantinischer Christen und der Muslime des Kalifatsausgesetzt, scheint sich die Oberschicht um 800 dem auf der Krim und im Kaukasusansässigen Judentum zugewandt zu haben – man hat dies als bewusste Entscheidungund demonstrativen Akt des dritten Großreiches der Region interpretiert. Diese Kon-stellation führte nicht nur dazu, dass die Rhadaniten, jüdische Fernhändler, die in derfraglichen Zeit offenbar buchstäblich die ganze wirtschaftlich interessante Welt vonWestafrika bis China und Indien bereisten, die Steppengebiete nördlich des Schwar-zen Meeres in ihren Welthandel mit einbezogen, sondern das Chasarenreich bildetezugleich den entscheidenden Brückenstein zwischen dem (noch „heidnischen“) wei-teren Ostseeraum der wikingischen oder warägischen Händler, die unter anderen dasReich der Rus begründeten, und der damaligen Zentrale des Welthandels in Bagdadsowie zugleich der Seidenstraße. Die Hochblüte dieser transkontinentalen Handels-route ging dementsprechend auch zu Ende, als das Chasarenreich im 10. Jahrhundertunterging. Zugleich ist allerdings gerade diese wichtige Episode weiträumigster öko-nomischer Vernetzung beispielhaft dafür, dass auch ein bereits stark geschwächtesSteppenreich, wie es dasjenige der Chasaren schon seit dem beginnenden 9. Jahrhun-dert immer mehr war, noch lange stark genug sein konnte, um dieWegesicherheit derHandelsstraßen zu garantieren.

Im beschriebenen Weltsystem des 9. Jahrhunderts waren die Lateineuropäer undwar Europa überhaupt reine Peripherie gewesen – und dasselbe galt für den Osten mitJapan). Das änderte sich in den folgenden Jahrhunderten maßgeblich, was auch anden Europäern, zu einem erheblichen Teil aber an dem besonderen Steppenreich lag,das sich im 13. Jahrhundert von Zentralasien aus ausbreiten sollte.

Die Reichsbildung der Mongolen(ca. 1200 bis Mitte 14. Jahrhundert)

Dschingis Khan ist ein Name, mit dem in Europa und weit darüber hinaus noch heutesehr viele Menschen etwas anzufangen wissen, nicht zuletzt dank der in Filmen und

189

Nomaden zwischen Asien, Europa und dem Mittleren Osten

Die Chasaren

Umbruch

abzu

g

wbg (20106) p. 198 / 9.12.09

populären Schlagern gepflegten Erinnerungskultur. Der historische Dschingis Khanwar, soweit wir ihn als Person tatsächlich greifen können, der welthistorisch wohlwichtigste unter den nomadischen Reichsgründern. Denn das riesige Reich, das erund seine Erben seit dem Anfang des 13. Jahrhunderts über weite Teile Asiens aus-breiteten, ist in der langen Geschichte zentralasiatischer Steppenreiche und ihrer Fä-higkeit zur Brückenbildung zwischen den sesshaften (Schrift-)Kulturen etwas Beson-deres und von neuer Qualität gewesen: Niemals war ein Reich, seit es Schriftkulturenan seinen Rändern gab, die uns über seine Existenz Zeugnis hinterlassen konnten, soausgedehnt. Es umfasste nicht nur den gesamten Steppenraum von Ost nach West –

das können wir bei den Vorgänger-Reichsbildungen entweder ausschlie-ßen oder wegen der geschilderten uneinheitlichen Quellenlage oft nichtsicher sagen. Zusätzlich gelang es, mehrere der angrenzenden Schriftkultu-

ren – die sich samt und sonders in einer schwachen Phase ihrer eigenen Entwicklungbefanden – über die Tributabhängigkeit hinaus zu unterwerfen und andere in wei-terem Maße als frühere derartige Reiche zu berühren. Dass unter den betroffenenSchriftkulturen zum ersten Mal auch das lateinische Europa gewesen ist, das sichgerade an der Schwelle zum Beginn der „europäischen Expansion“ befand, die mehrals nur die eurasisch-nordafrikanische Welt vernetzen sollte, macht das „Mongolen-reich“ zusätzlich zu einem außergewöhnlich interessanten Faktor in einer unter demEindruck der neuzeitlichen europäischen Weltdominanz und von Europa aus kon-zipierten Weltgeschichte.

Wie andere reiternomadische, viehzüchtende Völker lebten die altaisprachigenMongolen in den Steppen Zentralasiens – genauer in ihrem Kerngebiet (dem derUiguren vergleichbar) in der heutigen Republik Mongolei zwischen den Flüssen Ke-rulen und Onon – in für sesshafte Lebensführung wenig geeigneten ökologischen undklimatischen Bedingungen. Sozial organisiert waren sie in jenen Clans, in denen sicheine charismatische Persönlichkeit durch militärische Leistungen zum Anführer auf-schwingen konnte. Nach Anfängen, die sich in legendenhaftem Dämmerlicht verlie-ren, von denen aber immerhin in mehreren Weltsprachen fast zeitgenössisch erzähltworden ist, begann um 1200 der Mongole Temüdschin, sich als erfolgreicher Anfüh-rer zu etablieren, die Clans der heutigen Mongolei und der angrenzenden Steppen-

gebiete zu einigen oder zu unterwerfen und sie durch erfolgreiche Beute-züge nicht zuletzt in benachbarte Gebiete sesshafter Völker auf sich

einzuschwören, so wie das die Anführer von Nomadenhorden zu allen Zeiten immerwieder getan haben. Die nicht allzu viel spätere Geschichtsschreibung von außen, dieetwa um die Mitte des 13. Jahrhunderts und damit mehr als eine Generation spätereinsetzte, gibt das Jahr 1206 als Datum des großen Kurultai (Quriltai), auf dem Te-müdschin zum Khagan oder Großkhan unter dem Namen Dschingis Khan erhobenwurde. Einen solchen Kurultai, die Versammlung zahlloser mongolischer Anführerund Tribut sowie Geschenke bringender Abgesandter zahlloser Völker in einer wei-ten Ebene mit Erhebung eines Großkhans schildert uns der Franziskaner Johannes dePlano Carpini, der als Bote des Papstes 1245/1247 zu den Mongolen reiste und dessen

190

Die Ordnung der Welt

Bedeutung des„Mongolenreichs“

Dschingis Khan

Umbruch

abzu

g

wbg (20106) p. 199 / 9.12.09

Bericht als einer der ältesten und systematischsten heute der Wissenschaft als guteQuelle für mongolische Lebensverhältnisse zu Beginn der Großreichszeit gilt.

Die spätere Geschichtserzählung unterstellt dem Dschingis Khan die weitausgrei-fende Motivation, dass er den ganzen (eurasischen) Kontinent von einem Meer biszum anderen erobern wollte. Immerhin scheint die Vorstellung, unbegrenzte Herr-schaft anzustreben, ein Motiv zu sein, das von Nomadenreichen immer wieder er-zählt wurde. Viele der Episoden und Anekdoten allerdings, die in unseren wiederumder Außensicht verdankten Quellen über die mongolische Frühzeit erzählt werden,sind leicht als Wanderlegenden auszumachen (die in der Literatur der berichtendenKultur oder sogar in mehreren Kulturen nachweisbar sind), die, selbst wenn sie denüberliefernden Autoren von Mongolen erzählt worden sein sollten, den-noch nicht aus deren eigener Vorstellungswelt stammen müssen und nochviel weniger auf das Selbstverständnis der Anfangszeit zurückschließen lassen. Dochkönnte jene Anekdote, die uns ein Kenner der Mongolen, der kleinarmenische PrinzHethum (Haython), um 1300 überliefert, wenigstens recht gut charakterisieren, wiedie Mongolen ihre eigenen Erfolge ins Nachhinein interpretierten. Danach habeDschingis Khan seine Söhne auf Einigkeit eingeschworen, indem er einen Pfeil indie Hand nahm, der sich leicht zerbrechen ließ, während das Bündel Pfeile, das erdann ergriff, sich als unzerbrechlich erwies.

Was immer der charismatische Anführer selbst über die Weiten, die sein Reichumfassen sollten, gewusst und welche Vorstellungen er auch mit seinen Eroberungs-zügen wirklich verbunden haben mag, er ging offenbar tatsächlich äußerst systema-tisch vor. In diesem Sinne wird er als Gesetzgeber erinnert, denn die große Gesetzes-sammlung »Jassa« (»Yasa«) ist in der Tradition mit Dschingis Khans Namenverbunden. Vor allem aber organisierte er seine Horden zu schlagkräftigen, gehor-samen und gefährlichen Kampftruppen. Innerhalb kürzester Zeit gelang es dieserOrganisation, immer weitere Gebiete zu erobern und vor allem, immer weitere Clansund Nomadentrupps zu integrieren – nicht mehr in nach überkommenen Strukturenlebenden und konföderiert zusammengekommenen Horden, sondern in seine reor-ganisierten „Mongolen“, aufgeteilt in Zehner- bis hin zu Zehntausender-gruppen (tümen), gemischt nach Herkunft, aber aufeinander in existentiel-ler Loyalität eingeschworen. Zumindest erzählt wurde, dass eine ganze Zehnerschaftexekutiert worden sei, wenn nur einer aus ihr im Kampf aus der Reihe zu tanzenwagte: „Wenn die Truppen im Kampf liegen und einer oder zwei oder drei oder auchmehrere von den zehn Leuten fliehen, dann werden alle zehn getötet; und wenn allezehn fliehen, dann werden, auch wenn von den anderen hundert keiner flieht, dochdiese alle getötet –mit einemWort, wenn sie nicht zusammenhalten, werden im Falleder Flucht alle getötet. Genauso töten sie, wenn einer oder zwei oder mehr mutig indie Schlacht voranstürmen und die anderen der Zehnerschaft nicht folgen, dieseauch; und wenn einer der Zehnerschaft oder mehrere in Gefangenschaft geraten,werden ihre übrigen Kameraden getötet, falls sie sie nicht befreien.“ (Johannes dePlano Carpini)

191

Nomaden zwischen Asien, Europa und dem Mittleren Osten

Motivation und Erfolg

Organisation der Krieger

Umbruch

abzu

g

wbg (20106) p. 200 / 9.12.09

Wenn dementsprechend hier von Mongolen die Rede ist – oder auch von Tarta-ren, wie sie nicht nur in Europa, sondern auch im Vorderen Orient oft genanntwurden – dann ist damit keine ethnisch geschlossene Gruppe gemeint (was es unterNomaden wahrscheinlich ohnehin nie gegeben hat), sondern ein riesiges, aber wohldurchorganisiertes Gemisch ethnisch und sprachlich ganz unterschiedlicher Grup-pen, deren Führungsschicht in ihrem Selbstverständnis mongolisch war, sich mongo-lisch verhielt und mongolisch sprach. Unter Einsatz der extrem beweglichen Kamp-fesweise leichtbewaffneter Reitertrupps (deren Scheinflucht besser bewaffneteTruppen zur ungeordneten Verfolgung veranlassen und damit der Vernichtung zu-führen konnte, sobald die Mongolen wendeten) und der Adaptation von Belage-rungs- und anderen Militärtechniken, wo sie nötig waren, gelang es Dschingis undseinen Nachfolgern innerhalb weniger Jahrzehnte, Gebiete zwischen dem chinesi-schen Meer und der Oder, dem Persischen Golf und dem Mittelmeer zu erreichenund teilweise dauerhaft zu unterwerfen. Nicht zuletzt kam gezielter Terror zum Ein-

satz: So sorgten die Mongolen dafür, dass ihnen der Ruf voraneilte, dassVerrat oder das Töten von Gesandten sofortige Gegenschläge provoziere,

die im Abschlachten ganzer Bevölkerungen gipfelten. Boten, die verletzt wurden,Aufnahme von Völkergruppen, die die Mongolen als bereits unterworfen betrachte-ten, wurden – das haben wir in der Tendenz schon bei früheren Steppenreichenbeobachten können – streng bestraft. So war der ausgesprochene Anlass, Ungarnanzugreifen, die Aufnahme fliehender Angehöriger des westeurasischen Steppenvol-kes der Kyptschaken (Kumanen) – ebenfalls einer nomadischen Konföderation –durch den ungarischen König. Und dem päpstlichen Boten Johannes de Plano Car-pini wurde im Zuge der Thronerhebung des Güyük Khan (Enkel des Dschingis)ebenso deutlich wie bedrohlich vor Augen geführt, was die Mongolen die ihn Aus-sendenden wissen lassen wollten: „Dieser […] erwähnte Güyük Khan richtete zusam-men mit allen seinen Fürsten das Banner gegen die Kirche Gottes und das RömischeReich, gegen alle christlichen Reiche und die Völker des Westens auf – für den Fall,dass sie nicht doch noch täten, was er dem Herrn Papst, den Mächtigen und allenanderen christlichen Völkern des Westens befiehlt.“ (Johannes de Plano Carpini)

Die weitgreifenden Eroberungen der Mongolen fanden zu einem großen Teilnoch zu Lebzeiten des Dschingis statt (†1227): Zunächst schloss er seiner Herrschaftkleinere Steppenreiche an, die teilweise die Reste älterer größerer waren oder sichwenigstens als solche verstanden, wie die der Uiguren, Karluken und Tanguten. Dannbegannen er selbst oder aber seine Truppenführer um 1215 die Eroberung Nordchi-nas mit Peking. 1219 wurde Korea tributabhängig gemacht und um 1220 das einststarke muslimische Reich der Choresmier (Chwarezm) in Transoxanien und Persien(grob gesprochen im weiteren Gebiet des heutigen Usbekistan und Iran) zerschlagen:Das heißt, Dschingis hatte wieder auf die uns schon bekannten Endpunkte der Sei-denstraße zugegriffen, wie das schon zahllose nomadische Reichsgründer vor ihmgetan oder wenigstens versucht hatten. Von Süden über den Kaukasus kommenddrangen die Mongolen in die Kyptschaksteppe nördlich von Schwarzem und Kaspi-

192

Die Ordnung der Welt

Gezielter Terror

Umbruch

abzu

g

wbg (20106) p. 201 / 9.12.09

schem Meer vor, und ein erstes mongolisches Expeditionscorps schlug 1223 an derKalka (nahe dem Nordufer des Asowschen Meeres) ein Heer aus Kyptschaken undLeuten aus der Rus. Bereits zu diesem Zeitpunkt hatten die Mongolen alsoFühlung mit allen benachbarten Schriftkulturen aufgenommen. Nachrich-ten über die Ausbreitung des Reiches waren dementsprechend überall hingelangt, überall aufgezeichnet worden, denn China ebenso wie die muslimische unddie christliche Welt (in der Rus, aber auch in Georgien und Armenien) waren direktbetroffen. Zugleich lässt sich auf der Seite der Verteidiger eine Kooperation zwischender sesshaften Rus und ihren nomadischen Nachbarn beobachten, die von ersterer alsHelfer bei der Grenzwacht eingesetzt waren, eine Konstellation, die wir ebenfallsbereits bei früheren Beispielen beobachten konnten. Ebenso wie die Rus umfasstenauch Nordchina und vor allem das Choresmierreich nomadische Steppengebiete,deren Bewohner entweder mit ihnen gegen die Mongolen kämpften oder aber zudiesen abfielen.

Jeder einzelne dieser an ihren Rändern betroffenen Kulturräume war allerdingszu dieser Zeit alles andere als in sich geeinigt: China war in zwei große Reiche zerfal-len, die Kalifen in Bagdad übten kaum mehr als nominelle Autorität über die ver-schiedenen muslimischen Herrschaftsgebiete aus, und wenngleich im Vorderen Ori-ent noch einigermaßen gefestigte Verhältnisse unter den Erben des AyyubidensultansSaladin (†1193) herrschten, so waren hier doch auch unabhängige Kräfte am Werk:So sollten 1250 in Ägypten die Mamluken die Herrschaft übernehmen, und auch ander Mittelmeerküste bestanden noch Reste der christlichen Kreuzfahrer-herrschaften. Eine einige christliche Welt bestand ohnehin nicht, aber al-lein schon ihr griechisch-slawischer Osten war geschwächt: Das Byzantinische Reich,seit langem im Niedergang begriffen, war zerfallen und 1204 teilweise vom lateini-schen Europa aus erobert worden, die Rus gehorchte nicht mehr der Autorität eineseinzigen Großfürsten. Aus der Rus drangen zwar Nachrichten weiter nach Westen,aber in Lateineuropa war man willens, das Schicksal dieser falschen Christen auf dieleichte Schulter zu nehmen: Eine Situation insgesamt und rund herum, die das weiteAusgreifen der Mongolen begünstigte.

Diese konzentrierten sich allerdings zunächst auf die Feldzüge gegen China undsetzten sich 1227 mit dem Tod ihres charismatischen Reichsgründers Dschingis Khanauseinander. Vier Söhne und deren Söhne erbten die Herrschaft des Vaters, einerunter ihnen wurde zum Großkhan mit Autorität über das Ganze – die Herden, dieHorden und das ganze weite Reichsgebiet –, und aller vier Namen wurden zu denwichtigsten Clannamen der weiteren mongolischen Geschichte: Jochi Khan (Dschöt-schi, †1227) und seinen Söhnen Batu (1229–1255) und Berke (1257–1267) fiel deräußerste Westen zu, das Gebiet der „Goldenen Horde“ – ein Name, der zwar erstspäter belegt ist, aber in der Literatur meist schon für die Anfänge des Reiches nörd-lich von Schwarzem und Kaspischem Meer verwendet wird. Batu drangdort seit der Mitte der 1230er Jahre wieder massiv vor, bis 1240 Kiew fielund die für den Westen vernichtenden Schlachten beim schlesischen Lieg-

193

Nomaden zwischen Asien, Europa und dem Mittleren Osten

Eroberungen derMongolen

Geschwächte Nachbarn

Vordringen vonDschingis Erben

Umbruch

abzu

g

wbg (20106) p. 202 / 9.12.09

nitz und in der ungarischen Theiß-Ebene am 9. und 11. April 1241 Lateineuropa inAngst und Schrecken versetzten. Unerklärlich zunächst für die Lateineuropäer, zogendie Mongolen sich wieder weit in die Steppe zurück, wo die Khane – ähnlich wie langevor ihnen diejenigen der Chasaren – an der unteren Wolga in Sarai einen Hauptsitzerrichteten. Von hier aus beherrschten sie weite Teile Zentralasiens – Khan Usbek(Özbek, 1313–1341) wurde namengebend für den heutigen Staat Usbekistan –, hiel-ten allerdings auch im Westen die Rus in Abhängigkeit und fielen vor allem in der2. Hälfte des 13. Jahrhunderts immer wieder einmal in Polen, Litauen oder Ungarnein. Seit dem 14. Jahrhundert verfiel die Macht aber immer mehr; die letzten Restkha-nate unterwarf der russische Zar Iwan IV. im 16. Jahrhundert.

Dschingis Khans zweiter Sohn Tschagatai (†1242) erbte die Weiten Zentral-asiens, wo sich der Herrschaftsbereich bald wieder in einzelne nomadische Clangebie-te abschwächte, bevor er mit dem machtvollen Eroberer Timur um 1400 noch eingroßes Nachleben haben sollte. Ögedei (Ögödei, 1229–1241) erhielt China, dessenNordteil er 1234 endgültig unterwarf, und die Würde des Großkhans, Tolui (†1232)als Jüngster das eigentliche mongolische Kerngebiet mit dem „Herdfeuer“. Güyük,von dessen Erhebung 1246 Johannes de Plano Carpini erzählte, war Sohn Ögedeis,nach Streitigkeiten nach seinem Tod übernahm 1251 mit Möngke (†1259) der ClanTolui die Großkhanwürde. Möngke sandte nun seine Brüder aus, Kublai (Kubilai,†1294) nach Südchina und Hülegü (Hülägü, †1265) in den Vorderen Orient. Kublai(seit 1260 Großkhan – er war der Großkhan, den Marco Polo erlebte) unterwarf bis1279 den Rest Chinas, wo man seither die Yuan-Dynastie zählte, und versuchte auchzweimal vergeblich, bis nach Japan vorzudringen. Bis 1368 hielt sich die militärischüberlegene mongolische Herrschaft in China, bis die neue Dynastie der Ming denletzten Großkhan in die Steppe zurücktrieb – wo im alten Stammland Khane ausdem Clan Tolui in ständiger Rivalität untereinander den Anspruch auf die Positiondes Großkhans aufrecht hielten.

Hülegü dagegen eroberte 1258 Bagdad, wobei der letzte Kalif den Tod fand, unddrang bis nach Syrien vor – Aleppo und Damaskus fielen 1260. Dort zerbrach jedochder Mythos von der Unbesiegbarkeit, der den Mongolen inzwischen in der ganzenbekannten Welt voraneilte, als sie sich 1260 an der Goliathsquelle bei Ain Djalut(dort, wo einst David den Goliath besiegt hatte) einem Heer der Mamluken ausÄgypten geschlagen geben mussten. Bis zum Ende des Jahrhunderts versuchten mon-

golische Trupps mehrfach, in teilweise großangelegten Unternehmungenweiter vorzustoßen, wobei sie wie schon frühere Steppenherrscher poli-tisch handelten sowie weiträumig und unabhängig von kulturellen Gren-

zen nach Gegnern der Gegner suchten. Da sich in diesem Fall das lateinische Europaanbot, gelangten Gesandte – nicht zuletzt orienterfahrene Europäer, aber auch Asia-ten – im mongolischen Dienst bis nach Frankreich. Doch das Ende der mongolischenExpansion war auch in dieser Weltgegend jetzt erreicht. Hülegü etablierte um dasaserbaidschanische Zentrum Täbris das Ilkhanat, das heißt das nach wie vor von

194

Die Ordnung der Welt

Ende derMogolenexpeditionUmbru

chab

zug

wbg (20106) p. 203 / 9.12.09

seinem Bruder Kublai in Khanbaliq (der Mongolenstadt im Bereich des heutigenPeking) als Großkhan abgeleitete Vizekhanat.

Noch lange holten sich gerade die Ilkhane – ganz anders als die der „GoldenenHorde“, die schon seit Berke darauf verzichteten – ihre Bestätigung in der Zentrale ab,ein Verhalten oder auch eine Illusion, die sicher die Zähigkeit beeinflusste, mit der dieAußensicht der Europäer und der vorderasiatischen Muslime den Eindruck von einerEinigkeit eines großen Reiches aufrechterhalten konnte, die bereits um 1260 wohlweitgehend Fiktion war. Erst Ilkhan Ghazan (1295–1304) ließ eigene Münzen prägenund verzichtete endgültig auf die Bestätigung aus Ostasien. Mit diesen Entwicklungenhängt die analytisch-historische Einschätzung zusammen, inwieweit man (wie schonbei den Göktürken, so auch bei den Mongolen) überhaupt zu irgendeinemZeitpunkt von einem einzigen großen Reich sprechen darf, was sehr starkvon den angelegten Definitionskriterien abhängt. Frühzeitig lassen sich,wenigstens in der historischen Betrachtung ex post, riesige Teilreiche feststellen, undwährend sich diese in unterschiedlicher Ausdauer noch als Teil eines Ganzen miteinem einzigen Großkhan an der Spitze verstanden, konnten sie doch schon sehr baldauch miteinander erbittert im Krieg liegen: Wenn die Khane der „Goldenen Horde“gegen die Ilkhane mit deren Erzfeinden (die zugleich das Haupthindernis gegen dieweitere Expansion „des“ Großreiches bildeten), den ägyptischen Mamluken nämlich,dauerhaft im Bunde waren, so kann man durchaus von getrennten politischen Mäch-ten und nicht mehr nur von bloßen inneren Kriegen sprechen.

Dies hat auch Auswirkungen auf die Einschätzung der Bedeutung von Großrei-chen für den Handelsfrieden und damit von wirtschaftlichen Blütezeiten auf der Sei-denstraße. Zu den wohl berühmtesten Reisen zwischen Europa und Asien gehörtdiejenige der venezianischen Kaufleute Niccolò und Maffeo Polo, der Vater und derOnkel des berühmteren Marco, um 1260 bis an den Hof des Großkhans. Sie reistenvon Konstantinopel aus in das Gebiet der „Goldenen Horde“ (in die Ge-gend von Sarai) und fanden, als sie heimkehren wollten, den Rückwegabgeschnitten, weil Krieg zwischen den mongolischen Teilbereichen nördlich undsüdlich des Kaukasus ausgebrochen war. Wie sie bereits zu den Mongolen den Hin-weisen auf gute Handelsmöglichkeiten gefolgt waren, ließen sie sich auch jetzt wei-terschicken – die Frage, ob Marco Polo tatsächlich in China war, wird in regelmäßi-gen Abständen gestellt. Da jedoch seine Informationen echt sind, muss das hier nichtinteressieren.

Es war also gerade nicht ein friedliches und stabiles Großreich, in dem sich der-artige Fernreisemöglichkeiten eröffneten – ähnlich wie bei den Chasaren. Immerwieder liest man von einer pax Mongolica, die hier geherrscht und die für 100 Jahredie Steppe reisesicher gemacht hätte, und auch von einer auf die Göktürken bezoge-nen pax Turcica wird gesprochen. Dieser Kunstbegriff ist in sich problematisch, da ermit der pax Romana, dem im römischen Kaiserreich laut Selbstdarstellung der kai-serlichen Spitze herrschenden Frieden, gerade das falsche Modell einessesshaften, für vormoderne Verhältnisse hochinstitutionalisierten Staats-

195

Nomaden zwischen Asien, Europa und dem Mittleren Osten

Ein einzigesgroßes Reich?

Die Reisen der Polos

Sicherheit der Wege?

Umbruch

abzu

g

wbg (20106) p. 204 / 9.12.09

wesens heranzieht. Gerade so aber funktionierte der „Frieden“ in der Steppe nicht: Esgab niemals die Art von Reich, die Sicherheit hätte garantieren können – und soungewöhnlich waren kaufmannsfreundliche Friedensphasen in der eurasischen Step-pe, wie wir sahen, auch wieder nicht. Solange nur die schützenden Clans davon aus-gehen konnten, dass sie profitierten, solange also hinreichend Interesse an der Sicher-heit der Wege gegeben war, scheint sie gewährleistet gewesen zu sein.

Die Schwierigkeiten, ein einiges Reich zu erkennen, haben auch mit der Tatsachezu tun, dass das mongolische Reich längst weit über die Steppe und über die üblichenDimensionen eines Nomadenreiches hinausgewachsen war. Ein großer, vielleicht dergrößere Teil der beherrschten Gebiete war jetzt altes Kulturland, und immer wiederentzündete sich innerer Widerstand im Nomadenreich gerade daran. Kublai, der denSitz des Großkhans 1260 aus der Steppe nach Khanbaliq verlegte, fand einen Kon-kurrenten um die Position des Großkhans in seinem Bruder Arigh Böke (†1266), derdas nomadische Leben der Steppe der chinesischen Kultur vorzog – ein Phänomen,das wir grundsätzlich schon im Reich der Göktürken haben beobachten können.Dieser Gegensatz, in diesem Fall innerhalb des gleichen Clans aufgebrochen, tratdauerhaft zu dem älteren innermongolischen Problem hinzu, dem Streit um die De-szendentenlinie, aus der der Herrscher stammen sollte – solcher Konkurrenz inner-

halb des führenden Clans sind wir ebenfalls bereits bei früheren Nomaden-reichen begegnet. Die Linie Ögedeis, aus der ursprünglich der Großkhanentstammte, stand für die Steppentradition, die auch immer wieder vom

Clan Tschagatai unterstützt wurde; die Ilkhane im Iran und der Großkhan in Pekingbevorzugten das Kulturland. Die polemische Formulierung des Gegensatzes bedeute-te zwar nicht die sofortige Entnomadisierung der Mongolen in den Kulturländern,doch das langsame Aufgehen in der einheimischen Bevölkerung – in China sprichtman von „Sinisierung“ der Mongolen. Noch der letzte selbsterklärte Abkömmling derDschingisiden oder genauer des Clans Tschagatai, Timur (†1405, den man nicht nurin Europa als Tamerlan – von Timur lenk, Timur der Lahme – kennen lernte), lebtein seinem Stammland Transoxanien demonstrativ als Exponent der Steppe, mit derenHilfe er zur Macht gekommen war und deren Hilfe er benötigte, um die Macht zubehalten, Teile des Jahres in Zelten vor den Toren seiner Stadt Samarkand – die ergleichwohl prachtvoll ausstattete.

Die sehr unterschiedlichen Weltgegenden, Lebensweisen und Gastkulturen sorg-ten dafür, dass sich die Mongolen auch religiös ausdifferenzierten. Waren sie alsAnhänger von Schamanenkulten eher indifferent (und auch hier der nomadischenTradition verhaftet) gewesen, wenn es um die Absolutheitsansprüche von Hochreli-gionen ging, so änderte sich das Schritt für Schritt. So wurden die Khane des Jochi-Clans in der „Goldenen Horde“ frühzeitig Muslime, was den Gegensatz zu den Ilk-hanen zusätzlich anheizte, weil diese trotz oder vielleicht auch gerade wegen ihrer

muslimischen Umgebung im Iran und Irak ebenso wie die clanverwandtenGroßkhane lange Zeit zumeist Buddhisten waren, bevor auch sie um 1300

allmählich zum Islam übergingen. Noch Ilkhan Öldscheitü (1304–1316) machte den

196

Die Ordnung der Welt

Berührung mitKulturland

Religion und Kultur

Umbruch

abzu

g

wbg (20106) p. 205 / 9.12.09

Quellen zufolge eine für diesen Zweig der Dschingisiden typische religiöse Karriere,denn er gehörte im Laufe seines Lebens zahlreichen Religionen oder Lehren des Vor-deren Orients an, war wohl auch einmal getauft worden. Mehr als alles andereschließlich spiegeln die mongolischen Übergänge in die Schriftkultur(en) ihre noma-dische Herkunft ebenso wie die kulturelle Weite ihres Reiches wieder; und geradehieran lässt sich die (kultur)vernetzende Funktion, die solche Reiche in Zentralasienübernehmen konnten, besonders deutlich aufzeigen.

Das Mongolenreich als kulturvernetzender Faktor derWeltgeschichte

Eine ausgesprochene Befähigung zur Übernahme von sesshaften Technologien ver-schiedenster Art vereinigt mit nomadischen Verhaltensweisen und Wissen führtendazu, dass die Mongolen in den etwa drei bis vier Generationen, in denen sie tatsäch-lich ein weitgreifender politischer Faktor waren, ganz eigene Spuren in allen irgend-wie betroffenen Kulturen hinterließen – Spuren, die als alles andere als zivilisations-vernichtend anzusehen sind. All diese betroffenen Völker und Kulturen machten ihre„mongolische Erfahrung“ (Thomas Allsen), die manch ein kulturelles Phänomen ersthervorbrachte. Betroffen aber war und eine „mongolische Erfahrung“ machte im

197

Nomaden zwischen Asien, Europa und dem Mittleren Osten

Fahrende Städte der Mongolen. Ausschnitt aus der Velletri-Borgia-Karte (15. Jh.).

Umbruch

abzu

g

wbg (20106) p. 206 / 9.12.09

Grunde die gesamte damals zusammenhängend bekannte Welt, das heißt Europaund Asien sowie zumindest die nördliche Hälfte des afrikanischen Kontinents – auchhierin wird die Besonderheit gerade dieses Steppenreiches deutlich.

Ein besonders symptomatisches Beispiel hierfür entstammt einem kulturellenBereich, in dem man gerade Nomaden am wenigstens als produktiv erwarten würde,nämlich in dem der Schriftkultur. Zwar hatten die Mongolen bereits relativ frühzeitigdie uigurische Schrift übernommen, um ihre eigene Sprache zu schreiben, doch nutz-ten sie intensiv die in den eroberten schriftkulturellen Gebieten benutzten Sprachenund Schriften und vor allem die in diesen Kulturen dafür vorhandenen Spezialisten,in erster Linie für das Chinesische und das Persische. Besonders geschätzt zu habenscheinen sie jedoch solche Experten, die mehrere Sprachen (und Schriften) be-herrschten. Hier ist Marco Polo der Zeuge: „Und es geschah, dass Marco, der SohnMesser Nicolaos, so gut die Sitten der Tartaren [= Mongolen] erlernte und ihre Spra-

chen und ihre Alphabete […] Als er an den Hof des Großkhans kam,kannte er vier Sprachen und auch vier Alphabete und Schriften“. Selbstoder gerade wenn dies ein wenig übertrieben sein sollte: Es gibt das Wissen

darum wieder, was erstrebenswert erschien, um in China im Dienst des Großkhanserfolgreich zu sein. Denn der nomadischen Lebenserfahrung entsprach es, dass Men-schen unterschiedlicher Sprachen oder doch Dialekte immer wieder miteinander inKontakt kamen. Der Erfahrung nomadischer Reichsbildung und hier vor allem derdes weitausgedehnten Mongolenreiches entsprach es, dass man mit Menschen unter-schiedlicher Schriftsprachen in den angrenzenden Reichen zu tun hatte. Die Mongo-len haben gerne mit den Völkern, die sie als nächste anzugreifen gedachten, Kontaktaufgenommen, um wenn möglich deren friedliche Unterwerfung zu erreichen, undsie haben das immer wieder schriftlich getan. Dabei hielten sie es offenbar für einenVorteil, dass der Gegenüber den Brief tatsächlich lesen konnte: Im Jahre 1267 ent-schuldigte sich Ilkhan Abaqa bei Papst Clemens IV., dass er einen Brief nur in Mon-golisch und nicht (wie üblich) auch in Latein übersandt habe, doch sei sein lateini-scher Schreiber gerade abwesend. Der Papst umgekehrt will ausdrücklich nichtantworten, weil er den Brief nicht verstanden habe. Also bemühte sich der Ilkhandarum, Übersetzer in den (vielen) relevanten Sprachen zur Verfügung zu haben,während der Papst es für selbstverständlich hielt, dass man ihm in seiner eigenenSprache entgegenkam. Auch in China scheinen die alten Eliten wenig erfreut gewesenzu sein, dass ihnen mehrsprachige Emporkömmlinge vorgezogen wurden, auch hierwar es also eher selbstverständlich, dass, wer mit Chinesen in Kontakt treten wollte,das auf Chinesisch tat. Während es in manch einer sesshaften Kultur (so im Europader Zeit) geradezu zum Ausweis des eigenen höheren Ranges oder aber zum Ausweisder eigenen Macht werden konnte, dass der andere gezwungen war, sich der für ihnselbst fremden Sprache zu bedienen, war es bei diesen Mongolen genau umgekehrt:Sie zogen bi- oder polylingualen Kräfte an sich und haben offenbar als Ausweis ihrerMacht das „Beherrschen“ der Sprache und Schrift des anderen betrachtet.

Diese ganze Disposition muss es gewesen sein, die beim Übergang zur Schriftkul-

198

Die Ordnung der Welt

Bedeutung derSchriftkultur

Umbruch

abzu

g

wbg (20106) p. 207 / 9.12.09

tur zu einer sehr spezifischen Lexikonkultur im mongolischen Kulturraum führte –wobei Kulturraum hier zu verstehen ist als der Zusammenhang aller möglichen Kul-turen inner-, aber aus außerhalb des Gebietes des oder der Reiche, soweit sie von dermongolischen Reichsbildung berührt worden waren, also soweit sie, um mit ThomasAllsen zu sprechen, „a given society’s ‚Mongol experience‘, an experience that oftenprovided both reason and opportunities to pursue studies of languages of others“machten. Das beeindruckendste Produkt dieser Lexikonkultur stammt denn auchnicht aus China oder Persien oder einem anderen von den Mongolen unterworfenenSchriftkulturraum oder gar aus dem mongolischen Kerngebiet, sondern aus dem Je-men. Hier entstand um die Mitte des 14. Jahrhunderts das sogenannte »Rasûlid He-xaglot« seitens eines hochgelehrten Herrschers der Rasuliden-Dynastie, ein sechs-sprachiges Lexikon nämlich, das in sechs Spalten neben dem Arabischenauch Persisch, Türkisch und Mongolisch sowie Armenisch und Griechischnebeneinander stellte: „The Languages of the Rasûlid Hexaglot represent the majorpolitical and cultural tongues of the Eastern Mediterranean world of the Mongol era.“(Peter Golden) Ebenfalls aus dem erweiterten Mittelmeerraum, aber viel enger mitdem mongolischen Kulturraum ebenso wie mit dem Leben in der Steppe verbunden,entstand nur wenig früher der »Codex Cumanicus«. Er besteht aus einem dreispra-chigen Lexikon, das wieder das Persische (als lingua franca der westlichen Hälfte desMongolenreiches) mit einer von der Forschung als Kumanisch bezeichneten, imwestlichen Eurasien gesprochenen Turksprache vereinigte sowie schließlich Latein.Weitere Texte in der uns überlieferten Sammelhandschrift enthalten aber auchdeutsch-kumanische Passagen, dazu religiöse Texte in kumanischer Übersetzungund mehr. Geschrieben ist all das in lateinischen Buchstaben, und damit ist eineSprach- und Schriftregion an die mongolische angeschlossen, die aus guten Gründenbeim »Rasûlid Hexaglot« unbeachtet blieb, nämlich diejenige „Lateineuropas“. Trotzder Kreuzzüge waren Schrift und Sprache(n) des äußersten Westens Eurasiens fürdessen Kulturen bis dahin nie wirklich bedeutsam gewesen, weil beiderseits das Inte-resse fehlte. Jetzt aber wirkte die „mongolische Erfahrung“ auch hier, und Latein-europäer nahmen das aus dem Steppenreich kommende lexikalisch-mehrsprachigeKultur- (und zugleich politische) Angebot wahr und setzten es zur eigenen Nutzung,für Kaufleute ebenso wie für Missionare, in ihre eigene Schrift um.

Beide, das »Rasûlid Hexaglot« und der »Codex Cumanicus«, sind sprechendeBeispiele für die Art, wie die nomadische Reichsbildung der Mongolen Brücken zubauen imstande war: Kulturprodukte, die in ihrer grundsätzlichen Anlage den ur-sprünglichen, nomadischen Trägern des Reiches selbst zu verdanken sind und diewegen der großen Reichweite des nomadischen Reiches an sehr entfernten Ortender Welt entstanden, die aber von den berührten Kulturen zu den jeweils eigenenZwecken adaptiert wurden. Auch auf anderen Feldern lässt sich zeigen, wie aktiv dieMongolen bei der Zusammenführung von kulturellem Wissen aus unterschiedlichenWeltgegenden wurden. Nicht dass dies, so formuliert, in ihrer Absicht gelegen hätte –sie hatten den eigenen Nutzen ihres Reiches im Sinn. Doch sie waren Offenheit ge-

199

Nomaden zwischen Asien, Europa und dem Mittleren Osten

Lexikonkultur

Umbruch

abzu

g

wbg (20106) p. 208 / 9.12.09

wöhnt – ebenso wenig sprachlich festgelegt wie religiös, weil ihre eigenemobile Lebensweise sie offenbar auch geistig-kulturell in bestimmterWeise

beweglich oder auch indifferenter machte. So wenig sie in ihrem zerbrechenden, ver-schwindenden Reich eine Hochkultur begründet haben, so sehr ein Großteil der For-schung, von sesshaften Zivilisationen aus denkend, stets dazu neigte, nur zu sehen,was die Mongolen an bestimmten Orten von den eroberten Kulturen übernahmen(oder gar zerstörten), so deutlich lässt sich in der Zusammenschau doch zeigen, dasssie nicht bloß Brücken waren, über die andere gingen, bloße Katalysatoren, die nichtsvon sich selbst gaben oder annahmen, sondern dass sie die kulturellen Errungen-schaften der Hochkulturen und diese selbst zusammenführten, dass sie eigene Spurenhinterließen: Der »Codex Cumanicus« und das »Rasûlid Hexaglot« sind wegen derMongolen außerhalb oder am Rande von deren Reichsgebiet entstanden, unter Ver-wendung von originär Mongolischem.

Wenngleich so direkte Beeinflussungen oder gar Übertragung selten im Einzel-nen nachweisbar sind, lassen sich noch andere Beispiele anführen, die den weitrei-chenden Blick der nomadischen Reichsgründer belegen und Ansätze für Austausch-prozesse nahe legen können. Weitergehend als die Übernahme und Nutzung vonSchrift und die Parallelisierung von Sprachen ist die Aufzeichnung der eigenen Ge-schichte und ihre Integration oder gar Deutung im Kontext derjenigen anderer, be-nachbarter Völker und Kulturen. Hierfür bedienten sich die Mongolen der sesshaf-ten, schon länger schriftkulturell entwickelten eroberten Kulturen. Besonders ein amHof der Ilkhane entstandenes Werk zeigt hier die angesprochene Weite des Blicks.Um 1300 schrieb hier Raschīd ad-Dīn, möglicherweise ursprünglich ein Jude, derzum Islam konvertiert war, eine Weltgeschichte für die Mongolen. Ihre Teile betref-

fen neben den Mongolen selbst die Geschichte der für diese und ihr Reichhistorisch wie politisch wichtigen Völker und Reiche der Oghusen (Ogu-zen, einem weiteren nomadischen Turkvolk, dessen Reichsbildung zwi-

schen jenen der Uiguren und Chasaren einer- und der Mongolen andererseits anzu-setzen ist), Chinas, Indiens, der Franken, das heißt der Lateineuropäer, sowie dieGeschichte der Kinder Israels. Zu diesem Zweck wusste sich der Autor Texte deranderen Kulturen zu verschaffen. Aus Europa kam offenbar die Papst-Kaiser-Chro-nik des Dominikaners Martin von Troppau, vermittelt wohl durch seine Ordensbrü-der, deren Mission sich um 1300 in Persien etablierte. Es ist wohl kein Zufall, dasseine großangelegte Chronik aus der Hand eines anderen Bettelmönchs, des Franzis-kaners Paulinus von Venedig, nur wenig später und erstmals in Europa im Gegenzugebenfalls auf zahlreiche, wenn nicht alle erreichbaren oder wenigstens für politischrelevant gehaltenen (nämlich bis zu 26) Kulturen der Welt parallel blickte – Kulturen,so kann der Historiker sagen, die von den Mongolen zusammengeführt worden wa-ren.

Auf der anderen Seite der riesigen eurasischen Landmasse, in Korea oder in Ja-pan, also wieder am Rand oder außerhalb des mongolischen Reiches, entstand wohlim 14. Jahrhundert eine Weltkarte in ostasiatischer Tradition, aber weit darüber hi-

200

Die Ordnung der Welt

„Brückenbauer“

Aufzeichnung dereigenen Geschichte

Umbruch

abzu

g

wbg (20106) p. 209 / 9.12.09

nausgreifend („Gesamtkarte der Entfernungen sowie der historischen Hauptstädte“,jap. Kon’itsu kyōri rehidai kokuto no zu). Sie zeigt nicht nur alle mongolischen Herr-schaftsgebiete mit ihren Hauptstädten, sondern rezipiert deutlich arabisches karto-graphisches Wissen von westlichen Bereichen der Welt, das wiederum durch diemongolische Reichsbildung überhaupt erst in Bewegung gesetzt und übertragen wur-de: wahrscheinlich wieder zum Zwecke der Aufzeichnung von Wissen über die ganzeWelt zum Nutzen des mongolischen Reiches, aber mit Wirksamkeit weit über dieseAbsicht hinaus – und weit über die Reichsgrenzen hinaus: Weder Japan noch Latein-europa wurden von den Mongolen erobert oder ernsthaft herrschaftlich erfasst, etwadurch Tributzahlungen. Beide haben aber ihren „Mongolensturm“ gehabt– in Japan heißt er (oder besser der Sturm, der die mongolische Landungscheitern ließ) Kamikaze, göttlicher Wind –, dessen sie sich bis heute in-tensiv erinnern. Das Bild ist das der Rettung vor alles zerschlagenden barbarischenHorden; und nicht nur in Europa und Japan erinnert man die Mongolen in ersterLinie als barbarische Zerstörer: Russland gedenkt seiner Zeit unter dem Tartarenjoch,im Vorderen Orient weiß man nicht zuletzt von der Zerstörung Bagdads und derErmordung des letzten Kalifen, und Entsprechendes gilt für die Erinnerungskulturdes chinesischen „Reiches der Mitte“ den Nomaden generell und den Mongolen imBesonderen gegenüber. Doch haben wir an den wenigen Beispielen sehen können,dass es sich auch der ganz konkreten zivilisatorischen Einflüsse der Mongolen aufdiese ganze Welt zu erinnern lohnt. Sie öffneten auf ihre Weise und mit ihrem spezi-fisch nomadischen kulturellen Wissen zu einem günstigen Zeitpunkt für kurze Zeitein Fenster weit, und damit veränderten sie die Welt. Als Kolumbus aufbrach, umIndien zu erreichen, das Marco Polo als von den Mongolen dominiert beschriebenhatte, führte er einen Brief des spanischen Königspaares an den Großkhan mit sich.

Das Mongolenreich zerbrach letztendlich in sehr unterschiedliche Teile. In derSteppe entstanden in einer wiederum sehr typischen Weise zahlreiche kleinere, nachden Namen der Clanchefs (die sich zu Recht oder zu Unrecht meist auf DschingisKhan rückbezogen) benannte Gebiete. Einer dieser Clanchefs war der schon zitierteTimur, der um 1400 noch einmal Teile des ehemaligen Großreiches erobern konnte –allerdings weniger jene Teile, die in der Steppe lagen. Immerhin konntedank seiner sogar ein ursprünglich nicht von den Mongolen erobertesReich deren Namen weitertragen: Das Mongolenreich lebte weiter im „Mongol-Mo-gulreich“ (in Indien). Als weitgreifendes Steppenreich war das Mongolenreich dasbislang letzte der eurasischen Geschichte, denn die Steppen gerieten seit der FrühenNeuzeit unter die Herrschaft der sesshaften Rus, nun Russland; die nomadische Kul-tur fiel weitgehend der modernen Zivilisation zum Opfer.

Inwieweit es berechtigt ist, bei den Aufgaben, die die nomadischen Steppenreichefür die politische, wirtschaftliche und kulturelle Vernetzung der Welt übernahmen,von Globalisierungsphänomenen zu sprechen, hängt sehr stark von einer weiten oderengen Definition dieses eigentlich zur Beschreibung von Entwicklungen des 20. Jahr-hunderts gefundenen Begriffs ab. Elemente einer Vorgeschichte von Globalisierung

201

Nomaden zwischen Asien, Europa und dem Mittleren Osten

Erinnerung andie Mongolen

Ende des Mongolenreichs

Umbruch

abzu

g

wbg (20106) p. 210 / 9.12.09

lassen sich aber ganz sicher festhalten: Handel wurde über die Steppenwege unddurch die besonderen Reiche, die diese bewachten, in einem für vormoderne Verhält-nisse außerordentlich weiten Ausgriff ermöglicht. Informationen im weitesten Sinnewanderten, nicht zuletzt dank kultureller Offenheit der Nomaden als Überträger, aberauch dank deren spezifisch nomadischem kulturellen Wissen, auch wenn die Ge-schwindigkeit gewiss mit nichts zu vergleichen ist, was wir heute oder auch nur seitetwa 150 Jahren gewöhnt sind. Gerade im Bereich der Geschwindigkeit dürfte zudemdie heutzutage nur noch selten oder als exotisches Phänomen in unsere Welt passen-de Nomadenkultur ein Element der Beschleunigung gegenüber den Übertragungs-möglichkeiten sesshafter Kulturen dargestellt haben, weil die sich ständig mit ihrenHerden unterwegs befindlichen Hirten mobiler waren und mit dem Wissen, denNachrichten, den Gegenständen wanderten, die sie zu vermitteln hatten.

202

Die Ordnung der Welt

Umbruch

abzu

g