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6 Mittendrin: kritische Analyse im Spannungsfeld von Machtverhältnissen der staatlichen Regulierung von Trans* in Österreich Persson Perry Baumgartinger Zusammenfassung Dieses Kapitel thematisiert die Reflexion von Machtverhältnissen in der empi- rischen Forschung und die Erfüllung ethischer Ansprüche in der Forschungs- praxis. Als forschungsethische Herangehensweise wird eine Verbindung der Kritischen Diskursanalyse, Haraways Standpunktheorie und der Gesprächsana- lyse versucht vor dem Hintergrund einer Analyse des Trans*Dispositivs rund um staatliche Regulierung von Geschlecht als Zweigeschlechterkonstrukt. Was kritische Forschung als forschungsethische Praxis konkret bedeuten kann, wird am Beispiel von Informiertem Einverständnis, Transkription und Anonymisie- rung als situierte, soziale und politische Praxis dargestellt. Der Beitrag setzt sich selbstreflexiv mit Forschung in einem heterogenen Forschungsfeld auseinander: Was bedeutet kritische Forschung? Wie kann eine verantwortungsvolle For- schungspraxis konkret aussehen? Welche Möglichkeiten eröffnet eine kritische Forschung als politisches Handeln und welche Grenzen sind ihr gesetzt? Schlüsselwörter Kritische Diskurs- und Dispositivanalyse · Transkription · Anonymisierung · Informiertes Einverständnis · politische Forschung P. P. Baumgartinger () Berlin, Deutschland E-Mail: [email protected] H. von Unger et al. (Hrsg.), Forschungsethik in der qualitativen Forschung, 97 DOI 10.1007/978-3-658-04289-9_6, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2014

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6Mittendrin: kritische Analyse imSpannungsfeld von Machtverhältnissen derstaatlichen Regulierung von Trans* inÖsterreich

Persson Perry Baumgartinger

Zusammenfassung

Dieses Kapitel thematisiert die Reflexion von Machtverhältnissen in der empi-rischen Forschung und die Erfüllung ethischer Ansprüche in der Forschungs-praxis. Als forschungsethische Herangehensweise wird eine Verbindung derKritischen Diskursanalyse, Haraways Standpunktheorie und der Gesprächsana-lyse versucht vor dem Hintergrund einer Analyse des Trans*Dispositivs rundum staatliche Regulierung von Geschlecht als Zweigeschlechterkonstrukt. Waskritische Forschung als forschungsethische Praxis konkret bedeuten kann, wirdam Beispiel von Informiertem Einverständnis, Transkription und Anonymisie-rung als situierte, soziale und politische Praxis dargestellt. Der Beitrag setzt sichselbstreflexiv mit Forschung in einem heterogenen Forschungsfeld auseinander:Was bedeutet kritische Forschung? Wie kann eine verantwortungsvolle For-schungspraxis konkret aussehen? Welche Möglichkeiten eröffnet eine kritischeForschung als politisches Handeln und welche Grenzen sind ihr gesetzt?

Schlüsselwörter

Kritische Diskurs- und Dispositivanalyse · Transkription · Anonymisierung ·Informiertes Einverständnis · politische Forschung

P. P. Baumgartinger (�)Berlin, DeutschlandE-Mail: [email protected]

H. von Unger et al. (Hrsg.), Forschungsethik in der qualitativen Forschung, 97DOI 10.1007/978-3-658-04289-9_6, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2014

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6.1 Einleitung

Ich wünsche mir eine feministische Theorie als einen neu erfundenen Kojote-Diskurs,der den Quellen, die ihn ermöglichen, in einer heterogenen Vielfalt von Darstellungender Welt verpflichtet ist (Haraway 1995, S. 95).

Dieses Kapitel fußt auf methodologischen Überlegungen zu meiner Dissertationzur staatlichen Regulierung von Geschlecht als Zweigeschlechterkonstrukt, in derich eine Wissen/Macht-Analyse der Entstehung und Verhandlung des so genannten„Transsexuellen-Erlasses“ (TS-Erlass) 1980–2010 in Österreich vornehme. Mit die-ser Analyse bewege ich mich in einem komplexen Spannungsfeld von Theorie undPraxis, Wissenschaft und Aktivismus, Hierarchieverhältnissen und Widerstand so-wie eigener Positionierung als Wissenschaftler und Aktivist. Bei der Auslotungdieses Feldes im Rahmen meiner Forschung stellten sich mir mehrere Fragen:Wie kann mein Anspruch einer kritischen, enthierarchisierten wissenschaftlichenForschung, die aktivistischen Forderungen nach sozialer Gerechtigkeit und ge-sellschaftlicher Partizipation dienen soll, in der Forschungspraxis erfüllt werden?Welche ethischen Kodizes sind in meinen Disziplinen (Wirtschafts- und Sozialge-schichte, Angewandte Sprachwissenschaft) präsent? Welches Interviewdesign wirdeiner komplexen Verflechtung von Machtstrukturen im untersuchten Dispositivgerecht? Welche Interviewtechnik unterstützt kritische Forschung und eine De-hierarchisierung des Forschungsprozesses? Welche Positionen nehme ich in den jeunterschiedlichen Konstellationen ein und wie kann ich diese kritisch reflektieren?Was bedeutet das wiederum für meine Forschung? Diese Fragen durchzogen mei-nen Datenerhebungsprozess. Ich begegnete ihnen auf mehreren Ebenen durch eineReflexion der

1. Analyse eines Dispositivs, in dem ich selbst in verschiedenen (Macht-)Positionen verortet bin (als Trans*, als Wissenschaftler, als Aktivist);

2. ausgewählten Methodologien und Methoden, die einer kritischen Forschunggerecht werden;

3. gesellschaftlichen Machtverhältnisse, die im Forschungsverlauf auf mich ein-wirken;

4. eigenen (Macht-)Position als Wissenschaftler gegenüber Personen(-gruppen)und Communities, die durch wissenschaftliche Praxen diskriminiert sind;

5. strukturell-formalen Ansprüche einer Dissertation als Verortung im wissen-schaftlichen Feld.

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Mein Dissertationsprojekt beschäftigt sich mit der staatlichen Regulierung vonGeschlecht als Zweigeschlechterkonstrukt. Damit befinde ich mich in einemhochkomplexen und dynamischen Forschungsfeld rund um den so genannten„Transsexuellen-Erlass“. In diesem Feld beziehe ich selbst auf verschiedenen Ebe-nen unterschiedliche Positionen, sie werden mir aber auch zugeordnet – u. a. alsTrans*Person, Wissenschaftler und Aktivist. In Archiven und Bibliotheken, inPrivatpraxen, Kanzleien, Besprechungszimmern von Universitäten, in diversenBürozimmern, in meinen eigenen Arbeitsräumen etc. bin ich Teil des Dispositivs,das ich untersuche. Auch bin ich in einem wissenschaftlichen Kanon verortet, derspezifische strukturelle Bedingungen vorgibt (eine Promotion kann z. B. nur abge-schlossen werden, wenn ein Buch eingereicht wird, ein Online-Archiv reicht nichtaus). Ich befinde mich im Laufe des Forschungsprojektes immer wieder an ande-ren Punkten des Wissen/Macht-Netzes mit Wechselwirkungen zwischen mir undder Umgebung. Das wiederum hat Einfluss auf die Interview- und Forschungs-situation und damit auch auf deren Inhalte. Dies spiegelt sich auch in meinemDatenmaterial wieder. Um ein umfangreiches Bild des Dispositivs nachvollziehenzu können, ist mein Datenmaterial sehr komplex und heterogen. Community-und Fachzeitschriften gehören ebenso dazu wie Materialien der Trans*- und ande-rer sozialer Bewegungen in Österreich, Erlässe und Gesetze, Egodokumente sowieparteipolitische und aktivistische Korrespondenz. Daneben rekonstruiere ich dis-kursive und nichtdiskursive Handlungen, Gegenstände und Verhandlungsprozessedes Dispositivs auch über Interviews mit Vertretenden aus den verschiedenen kom-plex verwobenen Dispositivfeldern wie Medizin, staatliche Verwaltung und sozialeBewegung.

6.2 Wissen Macht Kritik – Kritische Forschung alsforschungsethischer Ansatz

Forschungsethik erfordert eine kritische Herangehensweise; ich schlage hier dieAnsätze der Wiener Kritischen Diskursanalyse und der Standpunkttheorie nachHaraway vor. Ethik wird einerseits als „Leitprinzip in Wissenschaft und Forschung“(Goebl 2005, S. 947; vgl. auch Haraway 1995) postuliert, andererseits stellt es in derwissenschaftlichen Lehre und in Methodenbüchern meiner Disziplinen ein Randt-hema dar. Hopf (1991) definiert Forschungsethik in der Soziologie als „all jeneethischen Regeln oder Normen [. . . ], die in verschiedenen humanwissenschaftli-chen Disziplinen mehr oder minder verbindlich und mehr oder minder konsensuellbestimmen, in welcher Weise die Beziehungen zwischen Forschenden auf der einen

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Seite und den in die Untersuchung einbezogenen Personen auf der anderen Seitezu gestalten sind“ (S. 174).

Wissenschaftsethik umfasst drei Bereiche: wissenschaftliche Praxis (Regeln,nach denen Wissenschaftler*innen handeln), Forschung an/über Menschen (Ver-hältnis von Nutzen für Wissenschaft zu Kosten bzw. Schaden für Beforschte) sowieallgemeine ethisch-moralische Fragen wie etwa jene der Genforschung (Goebl2005, S. 947). Typische konkrete Fragen im Rahmen der Forschungsethik sinddie nach Freiwilligkeit, Anonymität, Vertraulichkeit, Absicherung, Schadensbe-grenzung und Täuschung (vgl. Hopf 1991; Bischof et al. 2009; Unger und Narimani2012 u. v. m.). Ethische Richtlinien betreffen den gesamten Forschungsprozess,beginnend bei der Planung über die Durchführung bis hin zur Dokumentierungdes Forschungsprojektes; sie gelten für Primärforschende, Archive und Sekun-därforschende – für Einzelforscher*innen ebenso wie für Forschungsteams (inkl.Projektleitung, Interviewer*innen, Transkribierende etc.) – gleichermaßen1.

Bei öffentlichen Diskussionen zur Ethik stehen meistens die Naturwissenschaf-ten im Fokus, wie etwa die Genforschung und andere „größere“ Fragen. Es wirddiskutiert, welche Auswirkungen wissenschaftliches Handeln auf Gesellschaft oderMenschen hat und welche Grenzen gesetzt werden (müssen). Diese Themen findensich auch in Diskussionen zu den Auswirkungen (nationalistischer) Sprachpoli-tiken.2 Wie aber schaut es auf der Mikroebene, also im konkreten empirischenwissenschaftlichen Setting aus, wenn es etwa um Fragen des Informierten Ein-verständnisses der Teilnehmenden oder um Anonymisierung geht? Wie könnendie komplexen Machtverhältnisse, in denen sich Forschende bewegen, mitgedachtwerden? In den Sozialwissenschaften gibt es einen klaren Kanon – wie ist das inmeinen Disziplinen Sprachwissenschaft und Wirtschafts- und Sozialgeschichte?

Forschungsethik ist gesetzlich geregelt, etwa über das österreichische Daten-schutzgesetz (Bundesgesetz über den Schutz personenbezogener Daten 2000),das Informiertes Einverständnis, Selbstbestimmung und Schadensminimierung(Anonymisierung u. a.) beschreibt (§ 46). Zugleich gelten die Urheberrechtsbe-stimmungen (ebd.). Rechtliche Regelungen machen jedoch nur einen kleinen Teilethischer Überlegungen aus. Hopf betont bereits 1991, dass eine Wissenschaft nichtnur passiv auf Gesetze reagieren, sondern sich selbst aktiv mit Wissenschafts- und

1 Bischof et al. (2009) geben einen Überblick zum Umgang mit quantitativen Daten, zu Ar-chivierung und Zweitgebrauch von Daten, einen detaillierten Einblick in die Bandbreite einesForschungsprojektes incl. Vor- und Nachbereitung von Daten sowie einen internationalenÜberblick zu Datenschutz und ethischen Kodizes.2 Vgl. u. a. Goebl 2005; er zeigt die (spärliche) Diskussion zu Ethik und Forschung in der(Sozio-)Linguistik auf.

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Forschungsethik auseinandersetzen und eigene verantwortungsvolle Herangehens-weisen überlegen sollte. In den natur- und sozialwissenschaftlichen Disziplinen gibtes insbesondere im angloamerikanischen Raum eine lange und intensive Auseinan-dersetzung zu ethischen Kodizes. Zu nennen wären hier z. B. die Ethical Guidelinesder Social Research Association (2003), UK, der Code of Ethics der AmericanSociological Association (ASA 1993), USA, und die Empfehlungen der British As-sociation for Applied Linguistics (2006). Diese Kodizes werden derzeit z. B. in Bezugauf Anonymisierung wieder heftig diskutiert (vgl. Hopf 2004; Kennedy 2005; Tilleyund Woodthorpe 2011; Thomson et al. 2005). Die meisten Ethikkodizes, ebensowie die Datenschutzgesetze, sind national3 und disziplinenspezifisch angelegt. Daswirft für internationale und/oder transdisziplinär angelegte Forschungsprojekte,wie etwa meines, neue Fragen auf (vgl. Bischof et al. 2009).

Aufgrund meiner verschiedenen Rollen und Zuschreibungen werde ich im-mer wieder unterschiedlich im Forschungsfeld verortet oder verorte mich selbstunterschiedlich – auf allen Ebenen des Forschungsprozesses. Die Wahl meiner Me-thodologie und Methoden wie auch deren kritischer und gesellschaftspolitischerAnspruch verstärken meine Auseinandersetzung mit ethischen Fragen in der Wis-senschaft, im Besonderen in meinem Forschungsvorhaben. Dabei beziehe ich michu. a. auf das Kritik-Konzept von Wodak und Reisigl im Rahmen der Kritischen Dis-kursanalyse (Critical Discourse Analysis; CDA). Ein forschungsethischer Zugangbedeutet vor allem eine kritische Haltung. Mit der CDA verstehe ich eine kriti-sche Herangehensweise als „not taking things for granted, opening up complexity,challenging reductionism, dogmatism and dichotomies, being self-reflective in myresearch, and through these processes, making opaque structures of power relationsand ideologies manifest. ,Critical‘, thus, does not imply the common sense meaningof ,being negative‘—rather ,skeptical‘. Proposing alternatives is also part of being,critical‘ “ (Wodak in: Kendall 2007, Absatz 17; s. a. Reisigl und Wodak 2001). Wirddiese kritische Herangehensweise ernst genommen, ist sie dem Forschungsprozessinhärent: Wissenschaftliches Arbeiten wird zu einem ständigen Prozess kritischerReflexion. Diese Reflexion umfasst sowohl die eigene Situiertheit und die Tätigkei-ten als Forscher*in als auch das Material, die Ergebnisse und deren Effekte auf einhierarchisch strukturiertes Gesellschaftssystem. Die kritische Herangehensweise

3 Innerhalb der EU wurde zwar 1995 eine Richtlinie zum Datenschutz vorgelegt (Richtlinie95/46/EG des europäischen Parlaments und des Rates vom 24. Oktober 1995 zum Schutznatürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten und zum freien Da-tenverkehr, kurz: Datenschutzrichtlinie 95/46/EC). Jedes Mitgliedsland kann diese jedochnational unterschiedlich implementieren, daher divergieren die nationalen Gesetzgebungen(für eine Übersicht vgl. Bischof et al. 2009, insbes. S. 69–70).

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impliziert, wissenschaftliche Arbeit als gesellschaftsverändernden Auftrag zu ver-stehen, und kann zur Veränderung hierarchischer Gesellschaftsstrukturen hin zusozialer Gerechtigkeit und größerer Teilhabe aller Gesellschaftsmitglieder beitragen(vgl. Reisigl und Wodak 2001). Goebl (2005) wertet die CDA aufgrund ihrer politi-schen Herangehensweise und des Fokus auf rassistische, xenophobe und sexistischeDiskurse als wichtigen Beitrag auf dem Weg zu einer ethischen wissenschaftlichenPraxis. Er gibt jedoch zu bedenken, dass die (selbst-)kritische Auseinandersetzunginnerhalb der CDA fehlt; das betont auch Reisigl (2011), und meine Recherchebestätigt dies.

Grundlage meiner Wissen/Macht-Analyse ist das Dispositiv um den sogenannten „Transsexuellen-Erlass“ zwischen 1980 und 2010 in Österreich. DerErlass richtete sich an Trans*Personen und regelte die Personenstandsänderung,d. h. die Änderung von Vornamen und Geschlechtseintrag im Geburtenbuch undweiterführend in allen amtlichen Dokumenten wie Reisepass, Fahrerlaubnis, Zeug-nissen etc. Der Erlass war ein mit homophoben und transphoben Wissensständendurchzogener Akt, der weitreichende Folgen für einzelne Personen, Personengrup-pen, verschiedene Berufsstände und soziale Bewegungen hatte. Er wurde rigidegehandhabt und forderte für eine Personenstandsänderung eine psychiatrischeDiagnose „Transsexualismus“, 50 h (selbst bezahlte) psychotherapeutische Be-handlung, bis zu 9 psychotherapeutische, psychiatrische und psychodiagnostische(selbst bezahlte) Gutachten, Hormoneinnahme sowie operative Eingriffe u. a. zurHerstellung der Zeugungsunfähigkeit (vgl. Frketic und Baumgartinger 2008; Fels2001). Bis 1996 wurden Ehen automatisch geschieden, bis 2006 galt eine Scheidungals Voraussetzung für die Änderung des Geschlechtseintrages. Spätestens seit Mitteder 1990er-Jahre, als sich die damals noch junge Trans*Bewegung gegen diesemenschenrechtswidrigen Forderungen wehrte, war öffentlich bekannt, dass dieseEingriffe von vielen Trans*Personen abgelehnt wurden. Einzelne Trans*Personengingen gerichtlich gegen den Erlass vor, wodurch er 2010 abgesetzt wurde.

Um dieses komplexe Feld zu analysieren, ziehe ich neben der kritischenHerangehensweise der CDA die Standpunkttheorie hinzu.

Wissenschaft und wissenschaftlichem Wissen wird gesellschaftlich ein hoherWert zugesprochen. Dadurch besitzen Forschende eine (relativ) hohe Macht,sowohl im allgemeinen Sinne einer Deutungsmacht wie auch in konkreten Situatio-nen, etwa in einem Interview. Kritische Forschung und Wissenschaft fragen danach,wie diese Macht mit Verantwortung getragen, wie damit umgegangen und wieletztendlich Hierarchien verkleinert und Ressourcen umverteilt werden können.Haraway schlägt hierfür das Modell der feministischen Standpunkttheorie vor, imBesonderen die Positionierung, denn „Positionierung impliziert Verantwortlich-keit für Praktiken, die uns Macht verleihen“ (1995, S. 87). Laut Standpunkttheorie

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ist jede Person im hierarchisch geordneten, machtvoll wirksamen gesellschaftli-chen Gefüge verortet; eine Person handelt aus dieser Position heraus und ist vonihr beeinflusst. Objektivität im positivistischen Sinne, d. h. sich aus dem Untersu-chungsfeld herauszunehmen und unabhängig von eigener Verortetheit zu forschen,ist nach Haraway eine Illusion („god trick“).

Wissen ist eine Machtform. Es wird in einem kontinuierlichen Prozess immerwieder neu konstruiert (vgl. Haraway 1995, S. 75). Es ist historisch gewachsen undzugleich konstitutiv und eng mit gesellschaftlichen Machtverhältnissen verwoben.Innerhalb gesellschaftlicher Hierarchien nehmen Menschen situativ unterschied-liche Positionen ein. Dabei findet eine ständige Situierung in unterschiedliche(gesellschaftlich mehr oder weniger anerkannte) Positionen statt, die aufgrund hi-storisch gewachsener Hierarchien mit verschiedenen Privilegien, Ressourcen undanerkanntem Wissen aufgeladen sind. Auch Wissen – und damit Forschende undBeforschte – ist also situiert und Teil der hierarchischen Gesellschaftsordnung.Für Haraway (1995) ist Wissen „auf jeder Ebene seiner Artikulation eine situierteAuseinandersetzung“ (S. 95).

Dies mitzudenken und als Forschende*r die Verantwortung mitzutragen, istin einem Forschungsprozess wichtig, um „zur Rechenschaft gezogen werden zukönnen“ (ebd., S. 83). Wie kann eine verantwortungsvolle Wissenschaft aussehen?Wie können Forschende ihre Verantwortung im Forschungsprozess wahrnehmen?Haraway plädiert für eine kritische Wissenschaft zur Produktion von „Wissen, dasdie Konstruktion von Welten ermöglicht, die in geringerem Maße durch Achsender Herrschaft organisiert sind“ (ebd., S. 85). Dehierarchisierung wird damit zumzentralen Moment wissenschaftlicher Praxis.

Für mein Forschungsfeld bestätigt sich die These bisher nicht, dass es objek-tivere Positionen gäbe (vgl. u. a. Haraway 1995). Vielmehr zeigt sich ein hochkomplexes Netzwerk von Gegenständen, Personen, Institutionen und Handlun-gen, die die jeweiligen Situationen unterschiedlich beeinflussen und damit festigenoder verändern.

6.3 Forschungspraxis

Wie können diese theoretischen Ansätze in einer konkreten Forschungspraxis um-gesetzt werden? Was bedeutet es für das Informierte Einverständnis, „die Dingenicht für gegeben hin[zu]nehmen“ (Wodak zit. n. Kendall 2007, Absatz 17)? Wasbedeutet Anonymisierung, wenn der soziale Kontext, in der sie stattfindet, mitge-dacht wird? Was macht anonymisierende Praxis zur politischen Handlung? Diesen

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Fragen wird im Folgenden vor dem Hintergrund von CDA, Gesprächsanalyse4 undStandpunkttheorie nachgegangen.

6.3.1 Informiertes Einverständnis

Das Konzept des Informierten Einverständnisses entstand aus dem Kampf umSelbstbestimmung von Studienteilnehmenden in wissenschaftlichen Studien undsoll den Rechten der Studienteilnehmenden dienen. Die Teilnehmenden sollen soumfassend über das Forschungsvorhaben informiert werden, dass sie die Konse-quenzen einer Mitwirkung einschätzen und eine Entscheidung für oder gegen eineTeilnahme treffen können. Da ein zentrales Forschungsprinzip die wiederholteFreiwilligkeit der Teilnahme ist, kann die Einwilligung jederzeit zurückgezogenwerden. Teilnehmende sollten darauf vertrauen können, dass ihnen keine Nachteileentstehen (Schadensbegrenzung), auf Wunsch sollte ihnen Anonymität zugesichertwerden (Bischof et al. 2009, S. 72–74).

Um darzustellen, wie kritische Wissenschaft im Sinne der CDA bereits for-schungsethische Handlungsweisen impliziert, gehe ich hier auf einen Nebeneffekteiner Studie zu medizinischer Kommunikation näher ein. Eine Aussage zeigtdie Auswirkungen des Kontextes einer Situation auf die Beforschten und derenZustimmung bzw. Zustimmungsmöglichkeit: „Da sich während der medizini-schen Untersuchungen außer den PatientInnen im Schnitt 3–6 Personen imAmbulanzzimmer aufhielten, war für viele PatientInnen das Wissen um dieTonbandaufnahme lediglich ein weiterer Bestandteil einer ohnehin als öffent-lich erlebten ,privaten‘ Situation und keine besondere zusätzliche Belastung –ein für unseren institutionenkritischen Forschungsansatz übrigens nicht uninter-essanter Befund“ (Lalouschek und Menz 2002, S. 50). Hier wird deutlich, dassethische Ansprüche und Informiertes Einverständnis nicht so einfach umzusetzensind, sondern vom Kontext, der Forschungsfrage, den Machtverhältnissen, derEntscheidungszeit etc. abhängen. Darf ich solche Situationen ausnutzen? Ist esethische Wissenschaftlichkeit, wenn ich eine strukturelle Gegebenheit, die meinemForschungsvorhaben dient („Patient*innen sagen sowieso Ja“), für meine wissen-schaftlichen Zwecke nutze? Oder wäre es angebracht, in diesen Situationen eineandere Methode zu wählen?

4 Die Gesprächsanalyse befasst sich mit der Analyse gesprochener Sprache und untersuchtu. a. Sprechendenwechsel, Eröffnung und Beendigung von Gesprächen, Reparaturmechanis-men etc. Da es sich um „natürliche“ Gespräche handelt, ist die Transkription der untersuchenSprechhandlungen zentral (vgl. u. a. Brinker und Sager 2001; Deppermann 2008).

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Narimani (in diesem Band) diskutiert Informiertes Einverständnis als wieder-holtes Informieren der Protagonist*innen und Absichern der Forschenden. Inmeinem Forschungsprojekt drehen sich die Fragen um Informiertes Einverständ-nis vor allem um die unterschiedliche Situiertheit und die jeweiligen Wissens-,Ressourcen- und Machtverhältnisse in einer hierarchisch strukturierten Gesell-schaft. Im Rahmen des Informierten Einverständnisses teilte ich allen mit, dass siejederzeit von der Teilnahme an den Interviews und der Studie zurücktreten können.Dies fiel mir besonders schwer, weil ich bei den meisten Interviewten keine anderePerson für eine Befragung gehabt hätte. Dieses Beharren auf völliger Freiwilligkeitwar daher ein ziemliches Risiko für mein Forschungsprojekt. Zudem kamen imFalle eines Rücktritts neue Fragen auf mich zu: Kann ich die Aussagen inhaltlichin die Dissertation einbringen, ohne auf das Interview zu verweisen oder zu zitie-ren? Wo ist die Grenze zwischen meinen Gedanken und denen der Interviewten?Schließlich haben sich unsere Gedanken und Ideen bereits während des Interviewsgegenseitig beeinflusst und sind nun nicht mehr klar trennbar.

Das Informierte Einverständnis geht in meinem Dissertationsprojekt über dieInterviews hinaus, da ich die Interviewten mit der Zusendung der Audioaufnahmeund/oder des Transkripts auch über mein weiteres Analysevorgehen informiere.An diesem Punkt, wie auch bereits im Interview, versichere ich den Interviewten,dass ich nicht sie als Person analysieren werde, sondern ihr Expertisewissen unddie verschiedenen Ambivalenzen und Dynamiken des untersuchten Dispositivs.Damit drücke ich aus, dass ich das wiederholte Informierte Einverständnis über denInterviewkontakt hinaus ernst nehme. Gleichzeitig gehe ich mit der Zusendung desTranskripts und einer Erklärung der weiteren Vorgehensweise auch ein erneutesRisiko ein, dass die Interviewten ihre Teilnahme zurückziehen. Das ist ein gutesBeispiel dafür, wie sehr das Informierte Einverständnis nach wie vor mehr denForschenden als den Beforschten dient.

6.3.2 Anonymisierung als politische Praxis

Anyone who transcribes is working with language in the social world (Roberts 1997,S. 167).

Anonymisieren meint das Entfernen von (privaten) Informationen, die Rück-schlüsse auf bestimmte Personen, Institutionen oder Gruppen zulassen (vgl. u. a.Thomson et al. 2005; Datenschutzgesetz – DS. 2000). Als identifizierende Datenwerden meist Name und Adresse, teilweise Berufs- und Ortsangaben gesehen, aber

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auch sprachliche Eigenheiten (Schulze 2004, S. 63). Bischof et al. unterscheidenzwischen Pseudonymisieren, abstraktem Kodierungssystem und einfachem Ent-fernen von Text (2009, S. 75). Anonymisierung ist Gesetz, eine etablierte Norm,die jedoch mittlerweile (wieder) zur Diskussion steht (vgl. u. a. Thomson et al.2005; Bischof et al. 2009; Tilley und Woodthorpe 2011; von Unger und Narimani2012). Ich konzentriere mich an dieser Stelle auf einen in den Sozialwissenschaftennoch wenig beachteten Aspekt der Anonymisierung: Anonymisierung als situierte,soziale und politische Praxis.

Wird anonymisiert, so wird Text verändert. Text wiederum ist gesellschaft-lich geformt und formt Gesellschaft (Fairclough 1993). Als Forschende bewegenwir uns in einer sozialen Welt und nutzen die Sprache dieser sozialen Welt. Sieist geprägt von unserer Situierung, wissenschaftlichen Kodizes, institutionellenRahmenbedingungen u. Ä.

In den Sprachwissenschaften wird Transkription spätestens seit einem wegwei-senden Artikel von Elinor Ochs 1979 als erster Interpretationsschritt gesehen (s. a.Bucholtz 2000). Dies zeigt sich u. a. an folgenden Aspekten.

Sprache ist eine soziale Praxis, Transkripte sind verschriftlichte Sprache Inder CDA wird davon ausgegangen, dass sprachliche Handlungen innerhalb ge-sellschaftlicher Normen und Hierarchien stattfinden. Beim Transkribieren etwawird entschieden, welche dialektale Lautung beibehalten und welche standardi-siert wird (meist wird „machn“ zu „machen“ standardisiert, „icke“ jedoch nichtzu „ich“; vgl. Deppermann 2008). Dieser Prozess findet im Rahmen gesellschaft-licher Machtverhältnisse statt, denn „[a]uf dem sprachlichen Markt gibt es klareHierarchien, manchen Sprachen wird höheres, manchen geringeres Prestige zu-geschrieben“ (Busch und Busch 2008, S. 146). Da gemeinhin Dialekten oderMehrsprachigkeit etwa weniger Prestige zugesprochen wird als Standardspracheoder Einsprachigkeit (vgl. u. a. Busch 2013), kann eine Aussage durch solche ver-meintlich kleinen Entscheidungen beim Transkribieren bereits erheblich verändertwerden; das wiederum beeinflusst den Analyseprozess.

Transkription stellt den Transfer von mündlicher in schriftliche Sprachedar Zur Übertragung des gesprochenen Wortes in niedergeschriebenen Text wer-den Regeln aufgestellt, so genannte Transkriptionsnotationen. Diesen unterliegenverschiedenen Theorien und Annahmen über schriftliche und mündliche Sprache,die ihrerseits gefärbt sind von gesellschaftlichen Wertungen sowie institutionellenAnforderungen. Für die Schriftsprache wird angenommen, Wörter seien einzelne,

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klar voneinander trennbare Einheiten. In der mündlichen Sprache werden hinge-gen in der Regel mehrere Wörter „ohne Punkt und Komma“ als ein Wort realisiert;Wörter werden oft nicht vollständig ausgesprochen. Dadurch geht weder der Sinnverloren noch wird die Kommunikation gestört. Transkriptionskonventionen ori-entieren sich jedoch an grammatikalisch und orthographisch auf Standardsprachegerichtete Normen, die in der gesprochenen Sprache nicht gegeben sind. Sie reprä-sentieren disziplinäre Wissensstände und damit soziales Wissen. Transkribierenist also nicht nur ein Transfer von akustischen in graphische Medien, sondernbeinhaltet bereits linguistische und soziale Interpretationen.

Audio- oder audiovisuelle Aufnahmen bilden immer nur einen Ausschnitteines Gespräches ab und nicht die gesamte Gesprächssituation Eine Ge-sprächssituation ist von vielen Faktoren beeinflusst, dazu gehören neben verbalenoder gebärdenden Handlungen u. a. auch räumliche Gegebenheiten, Umge-bungsgeräusche, Blickkontakte, Nähe-/Distanzverhalten oder Körperhaltung derBeteiligten. Ein Großteil dieser Faktoren ist auf Audio- und audiovisuellem Daten-material entweder nicht erkennbar oder wird beim Transkribieren nicht beachtet.Dazu zählt auch die emotionale Konstruktionsarbeit von Personen, die nicht inihrer Hauptsprache sprechen (Roberts 1997, S. 169–170) oder parallel zum Spre-chen eine diskriminierende Äußerung verarbeiten (das kann sich u. a. in Pausenzeigen). Mit der Entscheidung, welche der für die Gesprächssituation wesentli-chen Gesprächselemente schriftlich festgehalten werden, findet also bereits einAuswahlverfahren statt, das Daten interpretiert.

Damit stellen Transkripte Repräsentationen von Ereignissen dar. Sie sind kei-neswegs ein Abbild des „realen Gesprächs“, sondern konstruieren eine neueGesprächssituation (vgl. Green et al. 1997). Dieser Konstruktionsprozess ist ei-ne soziale Handlung, eingebettet in einen wissenschaftlichen Rahmen, geprägtvon „conceptual ecology of discipline“ (Green et al. 1997, S. 172) und damit einepolitische Handlung, die disziplinäre Konventionen widerspiegelt (ebd.).

Diese Überlegungen können auf Anonymisierungsprozesse übertragen wer-den. Anonymisieren lässt sich daher sowohl als erste Interpretation als auch alspolitisches Handeln begreifen. In zwei in den Sprachwissenschaften üblichen Tran-skriptionsnotationen – Halbinterpretative Arbeitstranskriptionen (HIAT; Rehbeinet al. 2004) und Gesprächsanalytisches Transkriptionssystem (GAT; Selting et al.1998) – werden verschiedene Anonymisierungsstrategien angeboten, die nahelegenbereits Anonymisieren als Interpretationsschritt zu verstehen. Vorgeschlagen wirdu. a. bei den Pseudonymen und Sprechendensiglen die (interpretierten) Beziehun-gen abzubilden (z. B. Vorname beim Duzen, Nachname beim Siezen; vgl. Selting

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et al 1998, S. 95) oder als Alias Vor- und Nachnamen aus der Hauptsprache zuwählen (Rehbein et al. 2004, S. 13–14).

Werden die Annahmen zu Transkription auf das Anonymisieren übertragen,stellt es sich folgendermaßen dar.

Anonymisieren ist eine soziale Praxis Anonymisieren ist keine neutrale, ob-jektive Handlung – diese Annahme ist ein Mythos (s. Green et al. 1997 fürTranskription). Analog zum Transkribieren folgt auch Anonymisieren bestimmtenRegeln, die jedoch selten reflektiert werden. Anonymisieren findet wie Transkri-bieren in einem sozialen Feld statt. Es ist beeinflusst von jeweils spezifischenWissensständen der Forschenden und dem wissenschaftlichen Rahmen, in demsich die Personen befinden. Disziplinäre Konventionen bestimmen die Regeln desAnonymisierens. Beim Anonymisieren sollten Fragen bedacht werden wie: WelcheStellen werden anonymisiert, welche nicht (Namen, Berufe, Institutionen etc.)?Wie werden bei Pseudonymisierungen Beziehungsformen dargestellt? Wie sindgeschlechtliche, rassifizierte, ethnisierte Konnotationen mitgedacht? Wie soll mitBerufen verfahren werden, einer soziologisch relevant gesetzten Kategorie, denenunterschiedliches Prestige, unterschiedlicher Status und Bildungsstand zugeschrie-ben werden? Diese Entscheidungen werden aufgrund eines kontextualisierten,sozialen Wissens gefällt, bei dem gesellschaftliche Wertungen und Hierarchisierun-gen eine wichtige Rolle spielen. Bereits die Wahl der anonymisierten Textstellenverändert das Transkript und somit das Gesprächsereignis.

Anonymisierte Textstellen repräsentieren damit nicht nur ein sprachlichesEreignis, sondern sind vor allem eine Interpretation und können die Analyseentscheidend verändern.

Anonymisieren ist politisch Namen etwa werden meistens anonymisiert, ohnedie Implikationen zu reflektieren. Namen stehen nicht in einem ahistorischen,wertfreien Raum, ihnen wird vielmehr nationale, geschlechtliche, religiöse etc.Bedeutung zugeschrieben, sie besitzen mehr oder weniger Prestige und sind mitstarken stereotypen Bildern aufgeladen. Namensänderungen sind keine neutralenHandlungen, sondern politische und teilweise gewaltvolle Akte, etwa die historischeZwangsumnennung jüdischer Nachnamen, um nur eine zu nennen. In meinemForschungsbereich ist die geschlechtliche Dimension von Namen zu bedenken, dierechtlich festgeschrieben ist. In Österreich muss lt. § 19 Abs. 2 Z. 3 Personen-standsgesetz (PStG) innerhalb einer Woche nach der Geburt der Personenstandeingetragen werden, dieser beinhaltet u. a. Angaben zu Vor- und Nachnamen, dabeimuss der erste Vorname dem bei der Geburt zugeordneten Geschlecht entspre-

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chen. Wie umstritten diese gesetzliche Regelung ist, zeigt u. a. die „Petition für einefreie Wahl des Vornamens“, die 2005 von Trans-Aktivist*innen ans österreichischeParlament übergeben wurde.

Wie also umgehen mit Namensänderungen als Anonymisierungspraxis? Einerster Schritt könnte sein, dass „Merkmale wie ethnische oder regionale Zugehö-rigkeit (z. B. türkische Namen), Kosenamen, Abkürzungen, ,telling names‘ [. . . ] indie Ersetzung übertragen werden“ (Deppermann 2008, S. 31), indem z. B. türkischeNamen nicht mit deutschen, sondern anderen türkischen Namen ersetzt werden(vgl. Rehbein et al. 2004, S. 13–14). M. E. ist das jedoch noch immer eine Fremd-zuschreibung, die als gewaltvoll erfahren werden kann und die Gefahr läuft, sich ineine Geschichte autoritärer Namensänderungen einzuschreiben.

In den Interviews meiner Dissertation entschied ich mich dafür, die Interviewtenselbst wählen zu lassen, ob und wie sie anonymisiert werden wollen. Meine Ent-scheidung resultiert aus Überlegungen zu den verschiedenen Machtpositionen, indenen sich die Interviewten in Bezug auf das Thema befinden. Eine Trans*Aktivistinz. B. zu anonymisieren ist nicht vergleichbar mit der Anonymisierung einer Mini-sterialbeamtin. Trans*Aktivismus ist eine harte, oft unsichtbare Arbeit, die wenigAnerkennung erfährt und oft hinter verschlossenen Türen stattfindet (Lobbying);die Anerkennung für die Erfolge der Arbeit erhalten oft Politiker*innen, nicht dieAktivist*innen. Deshalb fand ich es wichtig, die Arbeit von Trans*Aktivist*innendurch namentliche Nennung als Expert*innen sichtbar zu machen und öffentlichzu honorieren. Gleichzeitig erfahren Trans*Personen im öffentlichen wie priva-ten Raum noch immer Stigmatisierung und strukturelle Diskriminierung undwünschen vielleicht anonym zu bleiben. Die Option der Anonymisierung bzw.Pseudonymisierung sollte ihnen also offenstehen. Ministerialbeamt*innen verfügenüber größere Entscheidungsmacht und Ressourcen, sie sind im Trans*Dispositivanders situiert. In ihrer Funktion als öffentliche Entscheidungspersonen ist eineAnonymisierung schwer möglich, da z. B. im Zeitraum von 1980–2010 im In-nenministerium lediglich zwei Personen hauptverantwortlich waren, die leichtnachvollziehbar sind (z. B. durch ihre Unterschrift auf den Erlässen, von denenmittlerweile die meisten im Internet gefunden werden können; vgl. dazu auch Til-ley und Woodthorpe 2011; Bischof et al. 2009). Gleichzeitig unterliegen auch sie alsIndividuen in den jeweiligen Institutionen strukturellen Wissen/Macht-Gefügenund könnten eine Anonymisierung als Schutz wollen.

Da Namen, wie ich oben zeigen konnte, vergeschlechtlicht sind, fragte ich auchdanach, wie sie geschlechtlich referiert werden wollen (er, sie, ersie, es, nin. . . 5),

5 Für einen Überblick zu verschiedenen Alternativen geschlechter- bzw. queergerechterSprache s. Baumgartinger 2008 und 2010 sowie Hornscheidt 2012.

110 P. P. Baumgartinger

um das größtmögliche Maß an Selbstbestimmung für die Protagonist*innen zugewährleisten. Ein weiterführender Schritt wäre, die Protagonist*innen anonymi-sierte Selbstbeschreibungen anfertigen zu lassen und diese in die Forschungsarbeiteinzufügen (s. Balzer 2008).

In diesem Sinne ist Anonymisieren ein weiterer Interpretationsschritt undTeil der Analyse. Anonymisierung sollte daher als bewusster Prozess anerkanntund selbstreflexiv und sorgfältig gehandhabt werden. In einer kritischen Wissen-schaftspraxis könnte das bedeuten, dass die Beforschten selbst entscheiden, ob sieanonymisiert werden oder nicht, dass sie sich ihre Pseudonyme selbst aussuchen,ihre eigenen pseudonymisierten Biographien schreiben, dass sie noch einmal dieTranskripte bzw. die Teile der Arbeit, in denen sie repräsentiert werden, gegenle-sen können etc. Es bedeutet allerdings nicht, dass sie entscheiden, wie mit den vonihnen genannten Personen und Orten verfahren wird, diese werden durchgehendanonymisiert. Diese Verantwortung tragen die Forschenden. Ein solches Verfahrenmag mehr Arbeit für die Forschenden und ein höheres Risiko für das Forschungs-projekt bedeuten, aber auch mehr Mitbestimmungsmöglichkeit und eine möglichstumfassende Gewährleistung der Rechte der Teilnehmenden.

6.4 Fazit

Forschungsethik ist ein fortwährender Prozess (selbst-)kritischen Denkens undHandelns. Überlegungen zu Wissenschafts- und Forschungsethik können ein For-schungsvorhaben grundlegend verändern. Kritisches Hinterfragen der eigenenTätigkeiten als Wissenschaftler*in und dezidiertes Eintreten für Partizipient*innenscheint für viele Forschungsprojekte noch immer selten zu sein. Wenn dieseÜberlegungen jedoch von der Konzeptionsphase des Projektes bis zum Schluss– Abschlussbericht oder Übergabe der Daten an ein Archiv – einbezogen werden,kann die Machtelite Wissenschaft einen Beitrag leisten zu einer „bessere[n] Dar-stellung der Welt“, wie Haraway (1995, S. 90) das Ziel einer kritischen Wissenschaftformuliert.

Die meisten Ethikkodizes sind national und disziplinenspezifisch, durch glo-balisierende Tendenzen werden aber auch immer mehr internationale Richtliniendiskutiert. Zusätzlich zu den Bemühungen um transdisziplinäre und internationaleLösungen stellt sich die Frage, wie mit verschiedenen Positionierungen innerhalb ei-nes Forschungsfeldes umgegangen werden kann. Deshalb bringe ich einen weiterenAspekt ein, der wenig Beachtung findet: ethische Fragen innerhalb hochkomple-xer Wissen/Macht-Felder, wie es das Dispositiv zur staatlichen Regulierung von

6 Mittendrin: kritische Analyse im Spannungsfeld . . . 111

Geschlecht als Zweigeschlechterkonstrukt in Österreich zwischen 1980 und 2010darstellt. Dafür greife ich auf das feministische Konzept der Situierung zurück.Dabei verstehe ich Situierung nicht als fixe Positionierung aufgrund unveränderba-rer Identitäten bzw. Identitätsmerkmale, sondern mit Haraway (1995) als ständigenProzess verschiedener Positionierungen in einer heterogenen Gesellschaftsstruktur,die stark über Wissen und Macht strukturiert ist.

Mit der Critical Discourse Analysis (CDA) schlage ich vor, kritisches Handelnzu verstehen als „die Dinge nicht für gegeben hinnehmen“. Kritik soll nicht nurim Sinne einer Negation begriffen werden, sondern konstruktive Alternativen ein-schließen. Weiters ist es wichtig, konkrete Überlegungen zu forschungsethischerPraxis vom Kontext abhängig zu machen; dies gilt insbesondere bei einer Dispo-stivanalyse, wo der Untersuchungsgegenstand gleichzeitig das Feld ist, in dem sichdie Forschenden selbst bewegen und situiert werden.

Wie die Praxisbeispiele des Informierten Einverständnisses und der Anonymi-sierung zeigen, sind ethische Fragen keine Privatangelegenheit, sondern sozialeHandlungen in heterogenen, komplexen, historisch gewachsenen und institutio-nell geformten Feldern – sie sind politische Praxis. Um das zu exemplifizieren, habeich auf die CDA zurückgegriffen und sie gemeinsam mit der Standpunkttheorienach Haraway und der Gesprächsanalyse als wichtigen Beitrag zu Forschungsethikvorgeschlagen. Insbesondere in meinen Disziplinen steht eine selbstkritische Aus-einandersetzung auf der Metaebene durch eine explizite ethische Begründung derwissenschaftlichen Tätigkeiten jedoch noch aus. Dies könnte gerade durch eineverstärkte Einbeziehung in die Lehre – etwa in einer eigenen Lehrveranstaltung zukritischer, politischer Forschung mit Fokus auf wissenschafts- und forschungsethi-schen Fragen – und mehr gezielter Auseinandersetzung auf themenspezifischenTagungen sowie in Veröffentlichungen stattfinden.

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