Medienkultur und Experimentalpsychologie. Filme, Texte und Diagramme des Sozialpsychologen Kurt...

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suhrkamp taschenbuch wissenschaft 1936

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suhrkamp taschenbuchwissenschaft 1936

Koloniale Humanexperimente in Togo, medizinische Versuche in den NS-Konzentrationslagern, Drogenexperimente im Kalten Krieg: Menschenex-perimente sind ethisch brisant und kein beliebiges wissenschaftliches Ver-fahren unter anderen. In Menschenexperimenten fallen Subjekt und Objektdes Wissens zusammen und werden Forschungsinteressen nicht selten vonideologisch motivierten Interaktionsformen überlagert. Das betrifft die So-zialstrukturen innerhalb eines Labors ebenso wie die anthropologischenVorannahmen sowie die populärkulturellen Phantasmen, die die Geschichtedes Menschenversuchs prägen. Die Beiträge dieses Bandes befragen die viel-fältigen und nicht selten tödlichen Menschenversuche in Medizin, Psycho-logie und Gesellschaftswissenschaften des 20. Jahrhunderts auf solche kul-turellen Kontexte und beleuchten die fundamentale Bedeutung, die demexperimentellen Blick für das Menschenbild der Moderne zukommt.

Birgit Griesecke ist Philosophin und Japanologin und Lehrbeauftragte ander Freien Universität Berlin.

Marcus Krause ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Kulturwissenschaft-lichen Forschungskolleg »Medien und kulturelle Kommunikation« an derUniversität zu Köln.

Nicolas Pethes ist Professor für Europäische Literatur und Medienge-schichte an der FernUniversität in Hagen.

Katja Sabisch ist Juniorprofessorin für Gender Studies an der Ruhr-Uni-versität Bochum.

Im Suhrkamp Verlag haben sie herausgegeben: Menschenversuche. EineAnthologie 1750-2000 (stw 1850).

Kulturgeschichtedes Menschenversuchs

im 20. JahrhundertHerausgegeben von

Birgit Griesecke, Marcus Krause,Nicolas Pethes

und Katja Sabisch

Suhrkamp

Bibliografische Information der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation

in der Deutschen Nationalbibliografie;detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über

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suhrkamp taschenbuch wissenschaft 1936Erste Auflage 2009

© Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 2009Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung,

des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragungdurch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.

Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form(durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren)

ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziertoder unter Verwendung elektronischer Systemeverarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Umschlag nach Entwürfenvon Willy Fleckhaus und Rolf StaudtSatz: TypoForum GmbH, Seelbach

Druck: Druckhaus Nomos, SinzheimPrinted in Germany

ISBN 978-3-518-29536-6

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Inhalt

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7

Volker RoelckeTiermodell und Menschenbild. Konfigurationen derepistemologischen und ethischen Mensch-Tier-Grenzziehungin der Humanmedizin zwischen etwa1880 und 1945 . . . . . . . 16

Petra GehringBiologische Politik um 1900.Reform, Therapie, Experiment? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 48

Marcus KrauseMit Dr. Benn im »Laboratorium der Worte«.Zur Experimentalität moderner Subjekte . . . . . . . . . . . . . . . . 78

Margarete VöhringerExperimente zum Verhalten von Tier und Mensch.Ivan Pavlovs Reflexe im Kino . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 10

Christoph HoffmannGebilde des Protokollierens. Schreibverfahrenin Kurt Lewins Psychologie der Selbstbeobachtung . . . . . . . . 1 29

Ramon ReichertMedienkultur und Experimentalpsychologie. Filme,Diagramme und Texte des Sozialpsychologen Kurt Lewin . . . 1 56

Stefan Rieger›Bipersonalität‹.Menschenversuche an den Rändern des Sozialen . . . . . . . . . . 1 8 1

Wolfgang U. EckartDie Kolonie als Laboratorium.Schlafkrankheitsbekämpfung und Humanexperimente inden deutschen Kolonien Togo und Kamerun, 1908-1914 . . . . 199

Keiichi TsuneishiDie von der japanischen Armeedurchgeführten Menschenversuche (1932-1945) . . . . . . . . . . . 228

Birgit GrieseckeFolter ohne Schmerz?Am Beispiel von Anästhesie und Menschenexperiment inDeutschland und Japan während des Zweiten Weltkriegs . . . 269

Katja Sabisch»Die Katastrophe, krank zu werden«.Medizinische Experimente in den Krankenrevierender nationalsozialistischen Konzentrationslager . . . . . . . . . . . 297

Nicolas PethesDokumentationsversuche.Menschenexperimente in den Konzentrationslagernzwischen Archiv und Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 320

Jakob Tanner›Doors of perception‹ versus ›Mind control‹.Experimente mit Drogen zwischen Kaltem Krieg und 1968 . . 340

Christina Brandt»In his Image«. Klonexperimentezwischen Biowissenschaft und Science-Fiction . . . . . . . . . . . . 373

Hans-Jörg RheinbergerExperimentalsysteme, In-vitro-Kulturen,Modellorganismen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 394

Hinweise zu den Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . 405

Vorwort 1

1 Der vorliegende Sammelband geht auf eine Tagung der DFG-Forschungsgruppe»Kulturgeschichte des Menschenversuchs« im Mai 2006 an der Universität Bonnzurück. Er versteht sich als exemplarische Vertiefung und Fortführung der histori-schen Grundlegung, die die Herausgeber mit der an gleicher Stelle publiziertenQuellensammlung Menschenversuche. Eine Anthologie 1750-2000, vorgelegt haben.Hier, vor allem im ausführlichen Vorwort zu dieser Edition, finden sich auch zen-trale Nachweise und Forschungspositionen zur Geschichte des Humanexperiments.Die wichtigsten Vorarbeiten zur Wissenschaftsgeschichte des Menschenversuchs,die beiden Bänden zugrunde liegen, sind die Dokumentationen von Alexander Mit-scherlich/Fred Mielke (Hg.), Medizin ohne Menschlichkeit. Dokumente des Nürnber-ger Ärzteprozesses [1948], Frankfurt am Main 1978, und Jay Katz, Experimentationwith Human Beings. The Authority of the Investigator, Subject, Professions, and State inthe Human Experimentation Process, New York 1972; die Sammelbände von Han-fried Helmchen/Rolf Winau (Hg.), Versuche mit Menschen in Medizin, Humanwis-senschaften und Politik, Berlin, New York 1986, und Hans-Jörg Rheinberger/MichaelHagner (Hg.), Die Experimentalisierung des Lebens. Experimentalsysteme in den biolo-gischen Wissenschaften 1850/1950, Berlin 1993; die Monographien von Susan Lederer,Subjected to Science. Human Experimentation in America before the Second WorldWar, Baltimore, London 1995, und Barbara Elkeles, Der moralische Diskurs über dasmedizinische Menschenexperiment im 19. Jahrhundert, Stuttgart, Jena, New York1996; die Enthüllungen zur US-Forschung nach dem Zweiten Weltkrieg von Jona-than D. Moreno, Undue Risk. Secret State Experiments on Humans, New York, Lon-don 1999, und Andrew Goliszek, In the Name of Science. A History of Secret Programs,Medical Research, and Human Experimentation, New York 2003, sowie insgesamtJordann Goodman/Anthony McElligott/Lara Marks (Hg.), Useful Bodies. Humansin the Service of Medical Science in Twentieth Century, Baltimore, London 2003, au-ßerdem Volker Roelcke/Giovanni Maio (Hg.), Twentieth Century Ethics of HumanSubjects Research. Historical Perspectives on Values, Practices, and Regulations, Stutt-gart 2004.

Das 20. Jahrhundert ist neben allen anderen Superlativen, die es her-vorgebracht hat, auch das Jahrhundert der Perfektion und Perver-sion wissenschaftlicher Versuche am lebenden Menschen gewesen.Zwar stützten sich Medizin und Psychologie bereits seit der zweitenHälfte des 19. Jahrhunderts auf experimentelle Beobachtungen, unddiese werden auch schon von Debatten über die Legitimität undGrenzen derartiger Eingriffe begleitet. Was hier aber noch Erfolgs-oder Skandalgeschichte einzelner wissenschaftlicher Pionierleistun-gen war, etabliert sich um die Jahrhundertwende als breite klinischePraxis, die nicht nur im quantitativen Sinne alltäglich, sondern auchim epistemologischen Sinne normal geworden ist: Das Wissen über

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Organismus und Psyche des Menschen muß nun, will es wissen-schaftlichen Anspruch erheben, experimentell begründet sein. Dieethischen Probleme, die mit derartigen ›Vivisektionen‹ einhergehen,sind zwar ebenfalls schon seit den 1860er Jahren Anlaß wütenderProteste, werden aber ihrerseits in die geordneten Bahnen von Ver-waltungsvorschriften gelenkt: Wenn das Ministerium der geistlichen,Unterrichts- und Medizinalangelegenheiten 1901 im Centralblatt fürdie gesamte Unterrichts-Verwaltung in Preußen die erste »Anweisung andie Vorsteher der Kliniken und sonstigen Krankenanstalten« zurRegelung »medicinische[r] Eingriffe zu anderen als diagnostischen,Heil- und Immunisierungszwecken« vorlegt – eine Anweisung, derin den folgenden Jahrzehnten noch viele Richtlinien und Deklara-tionen folgen werden –, so läutet es das 20. Jahrhundert auch als das-jenige des regulierten Menschenexperiments ein.

Neben dieser – sowohl klinischen wie rechtlichen – ›Normalisie-rung‹ ist das 20. Jahrhundert zugleich Schauplatz vielfältiger Exzessedes Menschenversuchs. Auch hierfür – für grausame Versuchsanord-nungen und letale Versuchsverläufe – kennt das 19. Jahrhunderteinschlägige Vorgeschichten, die Gegenstand der erwähnten Vivi-sektionsdebatte sind. Aber erst in den Laboren und vor allem denLagern des 20. Jahrhunderts werden Menschenversuche zu demjeni-gen Instrument der Demütigung, Instrumentalisierung und Ver-nichtung von Menschen, das im Rückblick als zentrales Symbol fürdie Abgründe totaler Herrschaft einzustehen vermag.

Diese Radikalisierung von Menschenversuchen, die aus ihrer Nor-malisierung eher erwächst als im Gegensatz zu ihr steht, hat dazugeführt, daß seither stets eine fehlgehende, monströse sowie phy-sisch wie psychisch gewaltsame Wissenschaft assoziiert wird, wennvon Humanexperimenten die Rede ist. Gerade in Deutschland, woder Herrschaftsapparat der Nationalsozialisten es ermöglichte, inden Konzentrations- und Vernichtungslagern Menschen in einemunfaßbaren Ausmaß zu experimentellem Material herabzuwürdi-gen, kann man von Menschenversuchen nicht sprechen, ohne auchvon Folterungen und Morden zu reden, die im Zeichen wissenschaft-licher Versuchsanordnungen verübt worden sind. Die Frage, ob dieGeschichte des Menschenversuchs vor 1933 in Kontinuität zu diesenim Namen der Medizin vollzogenen Verbrechen steht oder nichtund ob man die andernorts ebenfalls nachweisbaren humanexpe-rimentellen Grausamkeiten mit den Geschehnissen in Auschwitz

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oder Ravensbrück vergleichen könne, ist dabei eine wissenschafts-historisch, politisch und ethisch gleichermaßen offene Frage.

Wenn der vorliegende Band beansprucht, eine Kulturgeschichtedes Menschenversuchs im 20. Jahrhundert zu rekonstruieren, so gehtes um solche und weitere Kontexte von Experimentalanordnungen.Von einer Kulturgeschichte des Menschenversuchs zu sprechen be-deutet, die Tatsache ernst zu nehmen, daß die fragliche Wissen-schaftspraxis seit der Vivisektionsdebatte des 19. Jahrhunderts nichtals wissenschaftsimmanente Frage allein diskutiert wurde. Ebenso-wenig kann eine historische Rekonstruktion aber von vornhereindie ethische Dimension in den Vordergrund stellen: Gerade weildie ethische Verurteilung der Instrumentalisierung von Menschenso fraglos ist (bzw. sein müßte), fragt eine Kulturgeschichte desMenschenversuchs nach der trotzdem allenthalben zu beobachten-den Konjunktur humanexperimentellen Denkens und Handelns im20. Jahrhundert. Die Genealogie dieser Konjunktur erschließt sicherst einer interdisziplinären Aufdeckung sämtlicher Voraussetzun-gen und Kontexte, die den Menschenversuch als Normalität undExzeß der Wissenschaften vom Leben im 20. Jahrhundert ermög-licht haben.

Das bedeutet, daß das Augenmerk nicht auf die Archive der Me-dizin- und Psychologiegeschichte beschränkt ist, sondern der gene-rellen Aufwertung einer spezifischen – explorativen, spielerischen,kreativen – Semantik des Experimentierens auf dem Feld anthropo-logischen Wissens gilt. Möglicherweise beginnt das 20. Jahrhundertmit jenem frivol-ambigen Aphorismus 501 aus Friedrich NietzschesMorgenröthe, in dessen »Wir dürfen mit uns selbst experimentieren.Die grössten Opfer sind der Erkenntniss noch nicht gebracht wor-den« die immensen Möglichkeitsräume modernen Wissens ebensoanklingen wie die Katastrophen, die im Verlauf des 20.Jahrhundertsden Menschenversuch von einer tollkühnen epistemologischen Pra-xis zu einem kriminellen Tatbestand haben werden lassen.

Welche konkreten ›Kulturen‹ des Menschenversuchs entfalten vordiesem Hintergrund die Beiträge des vorliegenden Sammelbands ineinem historischen Durchgang durch das zurückliegende Jahrhun-dert? Eine einheitliche Definition des Kulturbegriffs kann hierweder vorausgesetzt noch geleistet werden. Wohl aber bietet die jün-gere Wissenschaftsgeschichtsschreibung, insbesondere der sogenann-te ›Neue Experimentalismus‹, für den Namen wie Peter Galison, Ian

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Hacking, Timothy Lenoir, Andrew Pickering und Hans-Jörg Rhein-berger einstehen, Vorschläge, was unter der ›Kultur‹ wissenschaft-licher Praktiken verstanden werden könnte.2

2 In diesem Sinne überträgt der vorliegende Band den Ansatz von Henning Schmid-gen/Peter Geimer/Sven Dierig (Hg.), Kultur im Experiment, Berlin 2004, auf denspeziellen Fall des Menschenversuchs.

Das betrifft zunächstdie materielle und institutionelle Dimension der Forschung, also alldasjenige, was das abstrakte und verallgemeinerbare Forschungser-gebnis unsichtbar machen soll, obwohl es ihm zugrunde liegt: appa-rative Messungen, Labortopographien, soziale Interaktion zwischenForschern sowie die Medien der Dokumentation, Auswertung undPublikation der Versuche. Es impliziert aber auch die Frage nach derRelevanz eines Begriffs von Kultur im engeren Sinne, desjenigenalso, der dem rationalistischen Weltbild der empirischen Wissen-schaften gemeinhin entgegengesetzt wird – sei es als Domäne desVerstehens in der Tradition der geistesgeschichtlichen Hermeneutik,sei es als Sphäre der Kunst in der expliziten Unterscheidung von TwoCultures. Gerade im Fall des Menschenversuchs, in dem Subjekt undObjekt des Experimentierens zusammenfallen und der Prozeß derempirischen Forschung unweigerlich vom Projekt der Selbstdeu-tung begleitet wird, stellt sich die Frage, ob das Experiment eineklare Demarkationslinie zwischen ›hartem‹ und ›weichem‹ Wissensein kann. Denn hypothetische Gedankenexperimente und spekta-kuläre Fallgeschichten prägen nicht nur die Literatur und Populär-kultur des 20. Jahrhunderts, sondern gleichermaßen die konkreteLaborpraxis und die Vermittlungsweisen anthropologischen Wis-sens.

Ausgehend von dieser Grundintuition, beschreiben die nachfol-genden Beiträge nicht nur markante oder wissenschaftshistorischeinschlägige Fallbeispiele humanexperimenteller Forschung der ver-gangenen einhundert Jahre. Sie beanspruchen vielmehr, am Gerüsteiner exemplarischen Entwicklungsgeschichte die Interaktion vonWissenschaftstheorie und politischer Ideologie, Sozialstruktur undkommunikativer Kultur, Medientechnik und anthropologischer Se-mantik sowie Gesellschaftsutopie und ästhetischen Formbildungenaufzuzeigen, wie sie sich anhand der Voraussetzungen, Durchfüh-rungen und Vermittlungsformen konkreter Versuchsanordnungenin ihrer Vernetztheit nachweisen läßt.

Mit Blick auf die Epistemologie ist dabei zu fragen, inwieweit im

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Fall eines Menschenversuchs die Vorstellung vom Modellcharakterexperimenteller Simulationen aufrechterhalten werden kann: Wäh-rend Chemiker und Physiker natürliche Prozesse nachstellen, umderen Gesetzmäßigkeit in der Wirklichkeit außerhalb der Laborestudieren zu können, bringt jede menschliche Versuchsperson ihreLebenswirklichkeit mit in das Labor hinein und lebt unter Versuchs-bedingungen keineswegs nur eine revidierbare Version ihrer je ei-genen Existenz. Daran schließt hinsichtlich der Sozialdimension dieFrage an, ob die Absonderung bestimmter Versuchsanordnungennicht verschleiert, daß man den gesamten Evolutionsprozeß bzw.historische Gesellschaften oder politische Ordnungen als Realexpe-rimente begreifen kann, innerhalb deren Variationen erprobt undReaktionen provoziert werden? Aus der Perspektive der Anthropo-logie fragt sich entsprechend, ob überhaupt von Isolation des einzel-nen Menschen als Versuchsobjekt die Rede sein kann, wenn jedesExperiment zumindest die Kommunikation zwischen Versuchslei-ter und Versuchsperson voraussetzt und mithin niemals so isoliertund objektiv vonstatten geht, wie Versuchsprotokolle dies zu sugge-rieren versuchen. Ebenso fraglich ist das komplementäre Problem,ob angesichts der faktischen Partikularisierung der Versuchsperso-nen in ihre jeweils der experimentellen Untersuchung unterliegen-den physiologischen Bestandteile bzw. psychologischen Vermögenüberhaupt je der Mensch als Ganzes in den Blick einer experimen-tellen Untersuchung gerät? Die Rede vom Blick einer experimen-tellen Untersuchung verweist zugleich auf den Einsatz von Medienin Versuchsanordnungen, die eine Vielzahl wissenschaftlicher Beob-achtungen allererst technisch ermöglichen und durch die Entschei-dung über die Speicherform der Versuchsdaten die – sprachliche,visuelle, akustische – Erscheinungs- und Rezeptionsform der Expe-rimente (sowie das ihnen zugrundeliegende bzw. von ihnen begrün-dete Menschenbild) prägen. Auf der Ebene einer solchen medialenFormgebung erhellt die Dimension der Ästhetik die Funktion spezi-fischer Topoi für das Bild der Wissenschaft, Annahmen über ihrezukünftige Entwicklung sowie den Stellenwert fiktionaler Szenarienin ihrer Relation zur Dokumentation empirischer Fakten.

Diese wissenschafts-, gesellschafts-, anthropologie-, medien- undkunsttheoretischen Kontexte fügen sich dabei keineswegs zu einerSystematik einer Kulturgeschichte des Menschenversuchs, sondernillustrieren lediglich die Vielfalt ihrer Kontexte. Aus diesem Grund

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verzichtet der vorliegende Band auch auf eine Einteilung in Sektio-nen und ordnet die Analysen der verschiedenen Versuchsanordnun-gen und -umstände entlang ihrer chronologischen Abfolge innerhalbdes titelgebenden 20. Jahrhunderts an.3

3 Den Vorschlag für eine solche, nicht mit Disziplinengrenzen zusammenfallende,sondern experimentelle Basisoperationen unterscheidende Systematik haben dieHerausgeber in der oben genannten Anthologie unterbreitet. Im Unterschied dazubzw. als exemplarische Vertiefung dieses Vorschlags verfolgt der vorliegende Bandeine historische Entwicklungslinie. Um dabei aktuellen ForschungsperspektivenRaum zu geben, wurden bei den Beispielstudien nicht sämtliche ›klassischen‹ Hu-manexperimente des 20.Jahrhunderts – etwa Watson/Raynors Konditionierung des»Infant Albert«, die Syphilis-Studie von Tuskegee oder Stanley Milgrams Obedience-Expriment – berücksichtigt. Alle diese Versuche finden sich jedoch in der Antholo-gie Menschenversuche abgedruckt und kommentiert.

Den Weg der medizinischen Experimentalpraxis in dieses Jahr-hundert rekonstruiert dabei Volker Roelcke anhand einer verglei-chenden Analyse von Robert Kochs Suche nach einem Tuberkulose-Impfstoff und den Sulfonamid-Versuchen der NS-Medizin. BeideVersuchsreihen zeigen, wie die Mißachtung basaler ethischer Stan-dards in Humanexperimenten anhand der Übertragung des in derexperimentellen Physiologie etablierten Tiermodells auf mensch-liche Versuchspersonen möglich war und in der Folge auch und ge-rade die sadistischen Praktiken in den Konzentrationslagern in dermethodischen Tradition der Vorkriegsmedizin verortet werden kön-nen. Deren diskursiven Gesamtrahmen umreißt im Anschluß PetraGehring anhand der verschiedenen Modelle einer an biologischerRegelung orientierten Politik um 1900, in der sich die Auswirkun-gen der Darwinschen Deszendenztheorie auf konkrete Projekte derBevölkerungsplanung nachweisen lassen. Ob dies allerdings aus-reicht, um die sozialdarwinistische Biopolitik selbst als Großexperi-ment am gesamten Gesellschaftskörper zu betrachten, wird dabeiaufgrund der eher ökonomisch-statistischen als naturgesetzlich ar-gumentierenden biopolitischen Positionen bezweifelt.

Komplementär zu diesem medizinischen Versuchsfeld ist die ex-perimentelle Psychologie positioniert, die trotz ihres emphatischenBekenntnisses zu empirischen Methoden die geistesgeschichtlicheTradition des philosophischen und literarischen Subjektdenkensnicht ablegen kann. So fragt Marcus Krause danach, in welchem Ver-hältnis der ›Menschenversuch‹ und die Experimentalität modernerLiteratur stehen. In der Auseinandersetzung mit programmatischen

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Schriften Gottfried Benns und der Rönne-Novelle »Gehirne« wird er-kennbar, wie Literatur auf physiologische Erkenntnisse und psycho-logische Versuchsanordnungen nicht nur inhaltlich Bezug nimmt,sondern diese auch für das Experimentieren mit neuen Schreibwei-sen nutzt und auf diese Weise selbst Funktions- und Ausdruckswei-sen der menschliche Psyche erforscht.

Dieser engen Verknüpfung zwischen experimenteller Psychologieund Aufschreibesystemen gehen die folgenden Beiträge mit Blickauf weitere Medientechnologien nach: Margarete Vöhringer zeigt,wie die Theorie des physiologischen Reflexes, die Pavlovs Kondi-tionierungsstudien zugrunde lag, als Bindeglied zwischen Tieren undMenschen, Dokumentarfilm und Labor sowie Gesellschaftstheorieund Kino betrachtet werden kann: Filme über die ›Mechanik desGehirns‹ bilden letztere in Gestalt ihrer eigenen Montagetechnikselbst ab und verstehen sich im Rahmen der jungen Sowjetunionüberdies als unmittelbar volkspädagogische Aufklärung. Komple-mentär dazu identifiziert Christoph Hoffmann die schriftlichen Pro-tokolle Kurt Lewins nicht nur als Dokumentation von Forschungs-ergebnissen, sondern selbst als unmittelbare Forschungspraxis. DerAkt der Aufzeichnung ist dabei Teil von Lewins interventionisti-schem Objektivitätsmodell, insofern es als Teil des Prozesses einertätigen Beobachtung stets mit Blick auf seinen künftigen Gebrauchals Dokument erstellt wird. Wie Ramon Reichert im unmittelbarenAnschluß ausführt, wird das Protokoll aber auch bei Lewin zuneh-mend durch die Kamera ersetzt, da nur das filmische Protokoll demAnspruch einer ganzheitlichen Beobachtung des Menschen gerechtzu werden scheint. Gerade dieser Anspruch, im Rahmen eines ›Le-bensexperiments‹ im offenen Milieu die unverstellte Wirklichkeitsichtbar zu machen, produziert aber auffällige theatrale Effekte. Daßschließlich die Versuchspersonen selbst zu Medien füreinander wer-den können, belegt Stefan Rieger anhand seiner Analyse der psycho-physischen Arbeitsforschung zu kooperativen Handlungen: Psycho-technische Experimente schlagen hier zwangsläufig in Sozialtheorieum, und die Dyade der Versuchspersonen verschmilzt in den zeitge-nössischen Theorien zu einer organischen Einheit.

Solchen Gesellschaftsentwürfen der psychologischen Experimen-talpraxis stehen die Versuchsanordnungen der Kolonial- und Kriegs-medizin gegenüber: Im neuerlichen Rückgriff auf die Immunisie-rungsforschung von Robert Koch rekonstruiert Wolfgang U. Eckart

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die Medikamentenerprobung in den Internierungslagern der Kolo-nialgebiete, innerhalb deren die Schlafkrankheit als Problem iden-tifiziert und unter Heranziehung der indigenen Bevölkerung be-kämpft werden sollte. Das Humanexperiment wird auf diese Weiseals unmittelbarer Bestandteil einer instrumentalisierenden kolonia-len Praxis kenntlich. Keiichi Tsuneishi beschreibt die experimentel-len Netzwerke der berüchtigten japanischen Einheit 731, in der An-gehörige bzw. Beauftragte der Armee auf dem chinesischen FestlandMenschenversuche u.a. zur Erprobung der Möglichkeiten biologi-scher Kriegführung durchführten – Arbeiten, mit denen – nach un-aufwendiger Umschreibung der Versuchspersonen von Menschenin Affen – nicht nur im Nachkriegsjapan akademische Karrierengemacht werden konnten, sondern deren Ergebnisse auch sofort dieBegehrlichkeiten der amerikanischen Besatzungsmacht weckten. An-hand von Materialien zu japanischen und deutschen Menschenex-perimenten vor und während des Zweiten Weltkrieges befragt Bir-git Griesecke den üblicherweise enggeknüpften Zusammenhang vonFolter und Schmerz und zeigt, wie problematisch es ist, den Verlet-zungen, die unter Anästhesie in medizinischer Kontrolle zugefügtwurden, aufgrund des (mutmaßlich) fehlenden Schmerzkriteriumsdie Bezeichnung der Folter abzuerkennen. Sie plädiert in Auseinan-dersetzung mit dem Konzept der crimes against humanity dafür, dasKriterium des Schmerzes im Rahmen einer Legaldefinition von Fol-ter dahingehend zu revisionieren, daß die kontrollierte Systematizi-tät der Gewaltakte, denen Menschen, z.B. in Menschenexperimen-ten, ausgesetzt sind, als begriffskonstitutiver Aspekt gilt, dem dieFrage nach aktualem Schmerz untergeordnet ist.

Den Menschenversuchen in den deutschen Konzentrationslagernwidmen sich die folgenden beiden Beiträge: Katja Sabisch sieht inder Konzeption des Lagersystems selbst als Experiment einen meta-phorischen Diskurs am Werk und stellt diesem in ihrem BeitragÜberlebendenautobiographien und deren Referenz auf konkrete ex-perimentelle Fakten gegenüber. Analog hierzu untersucht NicolasPethes, wie die Problematik des fehlenden Zeugnisses der ermorde-ten Opfer in der deutschsprachigen Nachkriegsliteratur zur Tendenzeines dokumentarischen Realismus führte, der bei Peter Weiss undAlexander Kluge auch ausdrücklich die Menschenversuche in denLagern zum Gegenstand machte. Insbesondere Kluges »Liebesver-such« weist dabei auf die prekäre Verschmelzung der Positionen des

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Versuchsbeobachters und des Lesers einer Versuchsdokumentationhin und problematisiert anhand dieses strukturellen Voyeurismusdie Möglichkeit einer nicht instrumentalisierenden Erzählung überMenschenversuche überhaupt.

Die Forschungen deutscher Ärzte fanden nach dem Zweiten Welt-krieg unter gänzlich veränderten Vorzeichen ihre Fortsetzung in denUSA. Jakob Tanner untersucht die LSD-Experimente amerikanischerGeheimdienste und Forschungsinstitutionen im Kontext des KaltenKrieges einerseits, der New-Age-Bewegung andererseits. Dabei wirddeutlich, daß die militärischen und die gesellschaftskritischen Ver-suchsanordnungen trotz ihrer diametral entgegengesetzten ideologi-schen Standorte vom identischen Modell eines in seinen Möglich-keiten erweiterbaren Bewußtseins geprägt sind. Ein vergleichbaresPhantasma stellt der Diskurs über das Klonen von Menschen dar, denChristina Brandt als fiktives Experimentierfeld für biotechnologischeZukunftsszenarien rekonstruiert. Hierfür ist die Science-Fiction-Lite-ratur der 1970er Jahre ebenso zuständig wie die Biowissenschaften,wenngleich die Literatur eher ein vortechnisches Humanum affir-miert, als daß sie das posthumane Zeitalter vorwegnähme. Den Ab-schluß des Bandes bilden Hans-Jörg Rheinbergers Überlegungen zurAnwendung seines Theorems der Experimentalsysteme auf die Kul-turgeschichte des Menschenversuchs: Nicht zuletzt deswegen, weilauch in der biologischen Forschung von experimentellen ›Kultu-ren‹ die Rede ist, zeigen gegenwärtige Manipulationen menschlicherZellen im Reagenzglas, wie der Begriff des Menschen auch und ge-rade in der Mikrobiologie immer wieder aufs neue zur Dispositiongestellt und zur Rekonfiguration aufgegeben wird – einer Rekonfi-guration, die angesichts der Erforschung von Phänomenen des Le-bens unter Bedingungen des Labors stets gleichbedeutend mit einerNeujustierung der Grenze zwischen Natur und Kultur ist.

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Volker RoelckeTiermodell und Menschenbild

Konfigurationen der epistemologischen undethischen Mensch-Tier-Grenzziehung in der Humanmedizin

zwischen etwa 1880 und 1945

In der Humanmedizin wird in vielfacher Weise Wissen nutzbar ge-macht, was im Tierexperiment gewonnen wurde. Zwar lassen sichBeispiele dafür finden, daß seit der Antike Beobachtungen undTheorien über Bau und Funktion des Körpers und auch über die»Natur« von Krankheitsprozessen vom Tier auf den Menschen über-tragen wurden, jedoch wird erst mit der Experimentalisierung vonBiologie und Medizin seit der Mitte des 19. Jahrhunderts das Tier-modell zu einem zentralen, systematisch genutzten und privilegier-ten Bestandteil der Erforschung von Krankheiten und Heilmetho-den.1

1 Zur Experimentalisierung von Biologie und Medizin seit der Mitte des 19. Jahrhun-derts vgl. exemplarisch Andrew Cunningham/Perry Williams (Hg.), The LaboratoryRevolution in Medicine, Cambridge 1992; Hans-Jörg Rheinberger/Michael Hagner(Hg.), Die Experimentalisierung des Lebens. Experimentalsysteme in den biologischenWissenschaften 1850/1950, Berlin 1993; einen eher skizzenhaften Überblick über dieVerwendung von Tiermodellen in der Medizin bietet William F. Bynum, »›C’estun malade‹: Animal Models and Concepts of Human Diseases«, in: Journal of theHistory of Medicine and Allied Sciences 45 (1990), S. 397-413; zur veränderten Ein-stellung gegenüber dem Tierversuch seit etwa der Mitte des 19. Jahrhunderts vgl.Gerda Opitz, Tierversuche und Versuchstiere in der Geschichte der Biologie und Medi-zin, Jena 1968.

Ein anschaulicher Indikator hierfür ist der rasante Anstieg desVerbrauchs von Tieren in den diversen medizinischen Disziplinen:In Großbritannien findet sich für den Zeitraum von 1887 bis 1907 inder Physiologie eine Zunahme von ca. 250 auf etwa 2000 Versuchs-tiere im Jahr, in der Pharmakologie von etwa 300 auf 7500 Tiere,und in der Pathologie (die zu dieser Zeit noch die Bakteriologie undImmunologie umfaßte) von etwa 700 auf 64 000 Tiere.2

2 Seit Einführung des Cruelty to Animals Act im Jahr 1876 mußten alle Forscher, dieTierversuche durchführten, lizenzsiert werden und einen jährlichen Bericht an dasbritische Innenministerium abliefern; vgl. dazu Roger French, Antivivisection andMedical Science in Victorian Society, Princeton 1975, S. 392-399.

In jeder der genannten medizinischen Disziplinen stellte sich beiVerwendung des Tiermodells allerdings regelmäßig eine fundamen-

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tale Frage: Ist das im Tierexperiment gewonnene neue Wissen tat-sächlich und ohne Einschränkungen auf den Menschen übertrag-bar, oder muß dieses Wissen in einem zweiten Schritt im Hinblickauf seine Geltung überdies am Menschen überprüft und bestätigtwerden? Und wenn letzteres der Fall sein sollte, wann genau ist imProzeß der Forschung derjenige Punkt erreicht, an dem der Schrittvom Tier zum Menschen stattfinden sollte? Für den Historiker stelltsich die Frage so: Wo und mit welchen Argumenten wurde und wirdin der biomedizinischen Forschung die Grenze zwischen Tier undMensch gezogen? Welche Bedingungen mußten für historische Ak-teure erfüllt sein, um neu gewonnenes Wissen vom Tier auf denMenschen transferieren zu können?3

3 Der vorliegende Aufsatz ist Teil eines umfassenderen Projekts zur Geschichte derGrenzziehungen zwischen Tier und Mensch in der Humanmedizin des späten 19.und des 20. Jahrhunderts. Dieses Projekt fügt sich in breitere Debatten zum Ver-hältnis zwischen Tier und Mensch, und der Bestimmung des Menschen über dasTier in der Kultur der Moderne ein; vgl. dazu etwa Hartmut Böhme/Franz-TheoGottwald/Christian Holtorf/Thomas Macho u.a. (Hg.), Tiere. Eine andere Anthro-pologie, Köln 2004; darin insbesondere Thomas Macho, »Ordnung, Wissen, Ler-nen. Wie hängt das Weltbild der Menschen von den Tieren ab? Einführung«,S.73-78.

1. Die Tier-Mensch-Grenze bei Canguilhem

Zur vorläufigen Strukturierung des Themenfeldes seien hier zu-nächst einige Sondierungen des Wissenschaftstheoretikers GeorgesCanguilhem vorangestellt. Canguilhem thematisierte im Kontextseiner theoretischen Überlegungen zum Experimentieren in der Bio-logie die Tier-Mensch-Grenze in zweierlei Hinsicht: Einerseits inbezug auf »methodologische Vorsichtsmaßnahmen« im experimen-tellen Vorgehen, andererseits in bezug auf »humanistische Vorbe-halte«.4

4 Die Ausführungen von Canguilhem zum Experimentieren in der Biologie findensich in Georges Canguilhem, La connaissance de la vie, 2., verbesserte und erweiter-te Ausgabe, 9. Aufl. Paris 1992, S. 17-39; deutsche Übersetzung durch HenningSchmidgen als: Das Experimentieren in der Tierbiologie, Berlin 2001, Zitate S. 10,S. 19.

Bei den methodologischen Vorsichtsmaßnahmen sei auf dieSpezifität der lebenden Formen, die Diversität der Individuen, dieTotalität des Organismus und die Irreversibilität der lebendigen Er-

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scheinungen zu achten. Die Spezifität des Experimentalobjekts hatnun nach Canguilhem zur Folge, daß »keine Erkenntnis experimen-tellen Charakters [. . .] ohne ausdrückliche Vorbehalte von einerVarietät auf eine andere innerhalb derselben Art, von einer Art aufeine andere oder vom Tier auf den Menschen verallgemeinert wer-den kann«.5

5 Ebd., S. 10 f.

Der Erkenntnisgewinn aus dem Tierexperiment mußalso auf seine Geltung am Menschen hin nochmals überprüft wer-den. Dies geschieht durch die probeweise Übertragung der im Tier-experiment gewonnenen Ergebnisse in eine Versuchsanordnung amMenschen.6

6 Canguilhem illustriert dies am Beispiel der Heilung des Knochenbruchs, wo dieErgebnisse vom Hund gerade nicht auf den Menschen übertragen werden können:ebd., S. 11.

Die von Canguilhem in diesem Sinne angesprocheneFrage nach der Zulässigkeit des Übergangs vom Tier zum Menschensoll im folgenden als epistemologische Dimension der Tier-Mensch-Grenzziehung bezeichnet werden.

Die »humanistischen Vorbehalte« erörtert Canguilhem in Ab-grenzung zu der Position, die der Physiologe Claude Bernard in sei-ner Einführung in das Studium der experimentellen Medizin (1865)formuliert hatte – über Jahrzehnte ein ›Klassiker‹ und Referenzwerkzur Theorie und Methode des Experimentierens in der Medizin.Bernard hielt medizinische Versuche am Menschen für erlaubt, so-lange nach dem Urteil des Forschers das Experiment wissenschaft-lich sinnvoll ist und der Versuchsperson kein Leid zugefügt wird.7

7 Claude Bernard, Einführung in das Studium der experimentellen Medizin (1865), insDeutsche übertragen von Paul Szendrö, Leipzig 1961, S. 146-148.

Dem hielt Canguilhem entgegen, daß diese Rechtfertigung ganzvon der sehr variablen Definition des Leides bzw. seines Gegenbe-griffs, des Guten, abhängig sei – »und von der Kraft, mit der manglaubt, es [das Gute] durchsetzen zu dürfen«.8

8 Canguilhem, La connaissance de la vie (wie Anm. 4), S. 19 f.

Extreme Formen solchunangemessen positiver Überzeugung der Forscher vom eigenenHandeln sieht Canguilhem in den »massiven Beispielen aus der jün-geren Vergangenheit« – gemeint sind Humanexperimente im Kon-text des Nationalsozialismus.9

9 Ebd., S. 20. Diese etwas vage Formulierung wird in ihrem Bezug zum Nationalso-zialismus klarer, wenn Canguilhem auf Situationen hinweist, »in denen mensch-liche Wesen, die durch den Gesetzgeber sozial deklassiert oder als physiologischminderwertig eingestuft werden, als experimentelles Material Verwendung finden«.

Als mögliches Korrektiv gelte »übli-

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Solche »schrecklichen Praktiken« würden »vielleicht zu ausschließlich der Techno-kratie oder dem rassistischen Wahn zugeschrieben« (ebd., S.21, dort im Haupttextsowie in Anmerkung 42).

cherweise« die Einwilligung des Patienten, zur Versuchsperson zuwerden.10

10 Ebd., S. 20 f. Auch der Wert einer solchen Einwilligung wird von Canguilhem andieser Stelle kritisch diskutiert.

– Für Canguilhem gilt es also, beim Überschreiten derGrenze vom Tier- zum Humanexperiment nicht nur die epistemo-logische, sondern noch eine zweite Dimension zu beachten: Nebendie Frage nach der wissenschaftlichen Sinnhaftigkeit stellt er die nacheiner außerwissenschaftlichen Bewertung, die unabhängig von denwissenschaftlichen Maßstäben des Forschers möglichst unter Betei-ligung der Versuchsperson getroffen werden sollte. Dieser Aspektsoll im weiteren als ethische Dimension der Tier-Mensch-Grenzzie-hung bezeichnet werden.

Bei der Frage, wo bei einem konkreten medizinischen Forschungs-vorhaben der genaue Zeitpunkt des Übergangs vom Tier- zum Hu-manexperiment liegen sollte, und mit welchen Argumenten dieserPunkt als legitimer Übergang begründet werden kann, erscheint unsheute die von Canguilhem vorgenommene Differenzierung zwi-schen einer epistemologischen und einer ethischen Dimension alsevident und selbstverständlich. Im folgenden soll demgegenübergezeigt werden, daß diese Unterscheidung keineswegs immer soselbstverständlich war, sondern daß sie vielmehr das Resultat histori-scher Prozesse ist, genauer: das Resultat von Irritationen und Debat-ten über Ziele, Wert und Grenzen von medizinischer Forschung amMenschen sowie vor allem über den angemessenen Weg von derInnovation im Reagenzglas zur Anwendung am Menschen.

Hierzu sollen zunächst zwei historische Konstellationen rekon-struiert werden, mit deren Hilfe Unterschiede im Verhältnis zwi-schen der epistemologischen und der ethischen Dimension dieserGrenzziehung sichtbar gemacht werden können: Im ersten Fall han-delt es sich um den Stellenwert des Tiermodells und den Übergangvom Tier- zum Menschenexperiment in der medizinischen Bakte-riologie zwischen etwa 1880 und 1900. Die zweite Konstellation isthistorisch im Zeitraum zwischen 1932 und 1945 situiert und betrifftdie Arbeitsfelder der Pharmakologie sowie diverser klinischer Diszi-plinen mit dem Schwerpunkt in der Chirurgie. In diesem Kontextwird auch die bisherige Interpretation der kriegschirurgischen Expe-

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rimente in verschiedenen Konzentrationslagern einer kritischenRevision unterzogen, die in eine neue Bewertung mündet.

2. Bakteriologie zwischen 1880 und 1900:Das Tuberkulin

Das im ausgehenden 19. Jahrhundert neue Arbeitsgebiet der Bakte-riologie bzw. Mikrobiologie wurde rasch zum Paradigma für die Ver-knüpfung von experimenteller Forschung im Labor und praktischerAnwendung in Klinik und Prävention.11

1 1 Vgl. dazu Bruno Latour, The Pasteurization of France, Cambridge, Mass. 1988;Gerald Geison, The Private Science of Louis Pasteur, Princeton 1995; ThomasSchlich, »Die Kontrolle notwendiger Krankheitsursachen als Strategie der Krank-heitsbeherrschung im 19. und 20.Jahrhundert«, in: Christoph Gradmann/ThomasSchlich (Hg.), Strategien der Kausalität. Konzepte der Krankheitsverursachung im19. und 20. Jahrhundert, Pfaffenweiler 1999, S. 3-28; Christoph Gradmann, Krank-heit im Labor. Robert Koch und die medizinische Bakteriologie, Göttingen 2005.

Die Gestalt Robert Kochsverkörpert – neben seinem französischen Rivalen Louis Pasteur –gewissermaßen die Essenz des bakteriologischen Krankheitsmodellsund der zugehörigen Methodik. Mit der Entscheidung, »nicht mitdem Menschen, sondern mit dem Parasiten für sich in seinen Rein-kulturen« zu experimentieren,12

12 Robert Koch, »Über bakteriologische Forschung« (1890), in: ders., GesammelteWerke, Bd. 1, hg. von Julius Schwalbe, Leipzig 1912, S. 650-660, hier S. 659.

war – wie Christoph Gradmann ge-zeigt hat – mehr als nur eine räumliche Umorientierung vom Kran-kenbett zum Labor verbunden: nämlich ein Wechsel des Untersu-chungsgegenstandes.13

13 Dies und das folgende in enger Anlehnung an Gradmann, Krankheit im Labor (wieAnm. 11), S. 171-211.

An die Stelle der Krankheitserscheinungenam Patienten traten die pathologischen Prozesse am Versuchstier.Die Krankheit wurde nun über die vom Bakterium im Versuchs-tier verursachten Abläufe und Symptome definiert. Auch wenn derKranke als Ausgangs- und Endpunkt solcher Forschung unverzicht-bar war, verschwand er doch für den zentralen Schritt der Forschungaus dem experimentellen Prozeß.

Dieses Krankheitsmodell ermöglichte Koch die Identifizierung desMilzbrand-Erregers in den 1870er Jahren und ebenso – das mach-te ihn berühmt – die Beschreibung des Tuberkelbazillus als Erregerder Tuberkulose. Koch bestätigte damit nicht nur die Verallgemei-

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nerungsfähigkeit des Konzepts der mikrobiellen Infektion. Er konn-te Hand in Hand hiermit auch den Erregernachweis (anstelle desklinischen Befundes) als zentrales Kriterium der Diagnose und dasAnlegen von Bakterienkulturen sowie das Experimentieren mit denErregern im Labor (und am Tier) als essentielle Methodik der neuenArbeitsrichtung Bakteriologie innerhalb der Hygiene etablieren.14

14 Thomas Schlich, »Ein Symbol medizinischer Fortschrittshoffnung. Robert Kochentdeckt den Erreger der Tuberkulose«, in: Heinz Schott (Hg.), Chronik der Medi-zin, Dortmund 1996, S. 368-374.

–Diese wissenschaftlichen Erfolge im engeren Sinne wurden vonpolitischer Seite und der breiteren Öffentlichkeit enthusiastisch auf-genommen und honoriert. Indikator hierfür ist Kochs geradezu ko-metenhafter beruflicher Aufstieg: Innerhalb weniger Jahre gelangteer von der Position eines Landarztes im entlegenen Wollstein, Pom-mern (1879/80), zu der des stellvertretenden Direktors des Kai-serlichen Gesundheitsamtes in Berlin und auf einen eigens für ihngeschaffenen Lehrstuhl für Hygiene an der Berliner Universität(1885).15

15 Thomas D. Brock/Robert Koch, A Life in Medicine and Bacteriology, Madison,Wisconsin 1988.

Das neue Wissen von den bakteriell verursachten Krankheitenwar konstitutiv geknüpft an die Laborarbeit mit dem Erreger und andie (Re-)Produktion von Krankheitsphänomenen sowie neuen In-terventionsstrategien im Tiermodell. So war schon der Nachweis,daß überhaupt Mikroben die Ursache und nicht nur eine zufälligeBegleiterscheinung von bestimmten Krankheiten waren, und auchder Nachweis von spezifischen Erregern für spezifische Krankheitenin Kochs Methodik unverzichtbar an das Experiment mit Tieren imLabor gebunden: Der postulierte Erreger mußte im kranken Gewebenachgewiesen, isoliert und in ein Versuchstier eingebracht (»inoku-liert«) werden, und infolge dieser Inokulation mußten im Versuchs-tier die identischen Krankheitszeichen nachgewiesen werden.

Auch bei der von vielen Seiten erwarteten Entwicklung eines spe-zifischen Heilmittels gegen Infektionskrankheiten war Koch durchseine Methodik zunächst auf die Arbeit am Tiermodell angewiesen.Da nach seinem Verständnis die Krankheit über die Äußerungen desErregers im Versuchstier kontrolliert sichtbar gemacht und studiertwerden konnte, war auch der Angriff auf die krankmachenden Kei-me zunächst im Tiermodell herbeizuführen und in seinem Erfolg zu

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überprüfen. Nachdem Koch selbst schon im Zusammenhang mitder Entdeckung des Tuberkelbazillus 1882 die Erwartung geweckthatte, nun sei auch eine effektive Therapie in Reichweite,16

16 Robert Koch, »Die Ätiologie der Tuberkulose« (1882), in: ders., Gesammelte Werke,Bd. 1 (wie Anm. 12), S. 428-445, hier S.444.

undnachdem sein wichtigster Konkurrent Pasteur Mitte der 1880erJahre in Paris einen offenbar effektiven Impfstoff gegen die Tollwutentwickelt hatte, bestand gegenüber der Berliner Arbeitsgruppe amEnde des Jahrzehnts ein erheblicher Erwartungsdruck.

Koch überprüfte am Meerschweinchen verschiedene Methodender »inneren Desinfektion« und stieß dabei im Frühjahr 1890 aufeine Substanz, die nach seiner Einschätzung »nicht allein im Reagenz-glas, sondern auch im Tierkörper« das Wachstum der Erreger aufhal-ten könne. Im August des gleichen Jahres teilte er mit, »dass Meer-schweinchen, welche bekanntlich für Tuberkulose außerordentlichempfänglich sind«, nach Gabe dieser Substanz auf eine Infektion mitdem Tuberkelbazillus nicht mehr mit einer Krankheit reagierten »unddass bei Meerschweinchen, welche [. . .] erkrankt sind, der Krank-heitsprozess vollständig zum Stillstand gebracht werden kann«.17

17 Koch, »Über bakteriologische Forschung« (wie Anm. 12), S. 659.

Die verwendete Substanz – bei der öffentlichen Vorstellung dannTuberkulin genannt – war ein in Glyzerin gelöster Extrakt aus Tu-berkulosebazillenkulturen. Die genaue Zusammensetzung dieserSubstanz gab Koch nicht preis. Wie sich einige Monate später her-ausstellte, war sie ihm auch gar nicht bekannt – er kannte lediglichden Herstellungsprozeß des Mittels.18

18 Gradmann, Krankheit im Labor (wie Anm. 11), S. 144 f.

Fachkollegen und die interes-sierte breitere Öffentlichkeit bis hin zur Wissenschaftsbürokratieerklärten sich die »Geheimhaltung« zunächst damit, daß Koch sichhierdurch – wie in der Zeit durchaus üblich – die ökonomische Ver-wertungsmöglichkeit für das neue Arzneimittel sichern wollte.19

19 Ebd., S. 151-153.

Koch selbst hatte allerdings eine Erklärung für die Wirksamkeit: Fürihn entstand die Wirkung durch Bestandteile der Bazillen oder de-ren Stoffwechselprodukte – jedenfalls meinte er, diese Wirksubstan-zen auch bei Extrakten abgetöteter Erregerkulturen nachweisen zukönnen.20

20 Robert Koch, »Weitere Mitteilungen über ein Heilmittel gegen Tuberkulose«(1890), in: ders., Gesammelte Werke, Bd. 1 (wie Anm. 12), S. 661-668.

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Kochs Erklärung stimmte mit seiner reduktionistischen, aber bis-her sehr erfolgreichen Theorie der Infektionskrankheiten überein:Demnach war die Krankheit das Resultat der Erregerwirkung iminfizierten Organismus, der Weg zu ihrer Darstellung für Zweckeder Forschung und Manipulation das Tierexperiment. Ausgeblen-det blieb in dieser Theorie und der mit ihr assoziierten Methodik dieDimension der Disposition und Reaktion des infizierten Organis-mus – dieser wurde vielmehr von Koch quasi als passives Kulturme-dium für den Erreger eingeordnet und sowohl aus dem Fokus derexperimentellen Arbeiten als auch aus seinen Überlegungen zumWesen der Krankheit ausgeblendet.21

21 Vgl. dazu Gradmann, Krankheit im Labor (wie Anm. 11), S. 164. Genau dieses Defi-zit der frühen bakteriologischen Krankheitslehre rückte u.a. durch den Fehlschlagvon Kochs Tuberkulin als Therapeutikum ins Zentrum sowohl bakteriologiekriti-scher, als auch medizintheoretischer Debatten der 1890er Jahre: Vgl. dazu Dietrichvon Engelhardt, »Kausalität und Konditionalität in der modernen Medizin«, in:Heinrich Schipperges (Hg.), Pathogenese. Grundzüge und Perspektiven einer theore-tischen Pathologie, Berlin 1985, S. 32-58.

Für Koch war nach den erfolgreichen Experimenten im Tiermo-dell klar, daß nun rasch der Schritt hin zur Erprobung am Menschenerfolgen mußte. Der Handlungsdruck ergab sich einerseits aus denvon Koch selbst erzeugten hohen Erwartungen an die Bakteriolo-gie (und den ersten praxisrelevanten Erfolgen des Konkurrenten Pa-steur) und andererseits daraus, daß die Tuberkulose als die am mei-sten verbreitete schwere Infektionskrankheit der Zeit galt, welcherdie Medizin ebenso wie die staatliche Gesundheitspolitik bis dahinweitgehend ohnmächtig gegenüberstand.

Koch führte zunächst einen einmaligen Selbstversuch durch underprobte das neue Mittel dann ab Juni 1890 an fünf gesunden Perso-nen aus seinem unmittelbarem Umfeld (seiner Freundin und vierKollegen); hierbei ging es offenbar um die Ungefährlichkeit der An-wendung, die Regelhaftigkeit der direkten Reaktion auf die Medi-kamenten-Injektion und die Feststellung einer Minimaldosis.22

22 Gradmann, Krankheit im Labor (wie Anm. 11), S. 180 f.

AbMitte September erfolgte dann eine erste klinische Erprobung antuberkulösen Patienten, zunächst in zwei Berliner Krankenhäusern,in den folgenden Wochen an weiteren Kliniken und offenbar auchin Privatpraxen. Die unmittelbare Reaktion auf die Injektion mitMattigkeit, Gliederschmerzen und rasch ansteigendem, aber bald

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wieder abklingendem Fieber entsprach hier weitgehend dem zuvorvon Koch im Tiermodell und an den gesunden Probanden Beobach-teten. Koch interpretierte diese Zeichen als Bestätigung für das vonihm postulierte Einsetzen des Wirkprozesses. Eine genaue Übersichtüber die längerfristigen Effekte in dieser frühen experimentellenAnwendung am Menschen läßt sich nicht mehr rekonstruieren, zu-mal kein von vorneherein definiertes Dokumentationsschema exi-stierte. Das beobachtete Abklingen der unmittelbaren Reaktion beiwiederholter Gabe interpretierte Koch – in Analogie zu seinen Be-funden im Tierversuch – als Teil des Rückbildungsprozesses derKrankheit. Hinzu kam eine Reihe von klinisch beobachteten Besse-rungen, allerdings auch bei schon fortgeschrittenen Krankheitszu-ständen die Beobachtung von weiter progredienten Verläufen bishin zum Tod.

Mitte November legte Koch eine erste Veröffentlichung vor, in derin allgemeiner Form über die Ungefährlichkeit und die aus KochsSicht insgesamt positiven Wirkungen des neuen Präparats berichtetwurde.23

23 Koch, »Weitere Mitteilungen« (wie Anm. 20).

Diese Veröffentlichung erschien zusammen mit den posi-tiven Erfahrungsberichten derjenigen Ärzte, welche die behandel-ten Patienten betreuten, in einem Sonderheft der Deutschen Medizi-nischen Wochenschrift.24

24 Deutsche Medizinische Wochenschrift 47 (1890).

Insgesamt gingen in diese Publikation dieBeobachtungen an etwa fünfzig Versuchspersonen ein. Eine eher kri-tische Stellungnahme von einem der beteiligten Klinikleiter, Herr-mann Senator, wurde allerdings nicht in diesem Sonderheft, son-dern separat in einer anderen Zeitschrift publiziert. Auch wurde ersteinige Monate später öffentlich bekannt, daß von vier schwer er-krankten Patienten, die das neue Mittel injiziert bekommen hatten,drei innerhalb weniger Tage verstorben waren.25

25 Vgl. Herrmann Senator, »Mittheilungen über das Koch’sche Heilverfahren gegenTuberkulose«, in: Berliner klinische Wochenschrift 27 (1890), S. 1167; Die Wirksam-keit des Koch’schen Heilmittels gegen Tuberkulose. Amtliche Berichte der Kliniken,Polikliniken und pathologisch-anatomischen Institute der preussischen Universitäten.Klinisches Jahrbuch, Ergänzungsband, Berlin 1891; dazu Gradmann, Krankheit imLabor (wie Anm. 11), S. 183-187.

Praktisch zeitgleich mit dieser ersten Veröffentlichung erfolgteMitte November auch die Markteinführung des neuen Medika-ments. Durch Kochs hohes Ansehen, die allgemein schon bestehen-

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den großen Erwartungen gegenüber der Bakteriologie und schließ-lich durch im unmittelbaren Vorfeld der Vermarktung lanciertezuversichtliche Ankündigungen Kochs wurde das Mittel enthusia-stisch aufgenommen. Die Vossische Zeitung etwa berichtete bereits inder Woche vor der Einführung über die umlaufenden Gerüchte zurHeilwirkung der Substanz.26

26 Die weiteren Passagen folgen im wesentlichen Barbara Elkeles, »Der ›Tuberkulin-rausch‹ von 1890«, in: Deutsche Medizinische Wochenschrift 115 (1990), S. 1729-1732; Gradmann, Krankheit im Labor (wie Anm. 11), S. 187-193.

Die Markteinführung kulminierte schließlich am 16. Novemberin einer öffentlichen Demonstration in der Chirurgischen Universi-tätsklinik der Charite. Anwesend waren neben dem Direktor derKlinik, Ernst von Bergmann, einer der berühmtesten Mediziner sei-ner Zeit, auch etwa Kultusminister Gustav von Goßler sowie diePresse. Bergmann stellte einerseits Patienten vor, die bereits seit ei-nigen Tagen mit Tuberkulin behandelt worden waren, andererseitsnahm er persönlich Injektionen in Anwesenheit der Gäste vor. Ergab bekannt, daß aus seiner Perspektive zehn Tage der Erprobungdes neuen Medikaments ausgereicht hätten, um von seiner Wirkungüberzeugt zu sein: »Wir geben uns der Hoffnung hin, daß der Ent-decker des Tuberkelbacillus auch das Mittel entdeckt hat, die schäd-lichen Wirkungen dieser Noxe zu hemmen und endlich zu bannen[. . .]. Wir gehen mit der Huldigung vor der Größe des Forschers,mit dem Dank an unseren berühmten und hochherzigen Kolle-gen auseinander.«27

27 Ernst von Bergmann, »Mittheilungen über die mit dem Koch’schen Heilverfahrengewonnenen Ergebnisse«, in: Robert Koch’s Heilmittel gegen die Tuberkulose, hg. vonder Schriftleitung der Deutschen Medizinischen Wochenschrift, Bd. 1, Berlin, Leip-zig 1890, S. 63-82, hier S. 81 f.; zitiert nach Gradmann, Krankheit im Labor (wieAnm. 11), S. 188.

Auch die seriöse Presse kam am gleichen Tagzu einem dezidierten Urteil. So konstatierte die Vossische Zeitung,Koch »hat der Welt ein sicheres Mittel gegeben, dem WürgeengelSchwindsucht den Kampf anzubieten, insofern das schreckliche Lei-den, wenn nur seine Anfänge rechtzeitig erkannt und sachgemäßbekämpft werden, heilbar ist«.28

28 Anonymus, »Robert Koch«, in: Vossische Zeitung, 16. 11. 1890, zitiert nach Grad-mann, Krankheit im Labor (wie Anm. 11), S. 190.

Die nächsten Monate zeigten jedoch, daß dieses positive Urteilvon Medizinern und begeisterter Öffentlichkeit verfrüht war: Beilängerer Verlaufsbeobachtung wurden die anfänglichen Heilerfolge

25

zunehmend fraglich, und vermehrt drangen Beobachtungen überVerschlechterungen oder auch Todesfälle während und nach derBehandlung in die Öffentlichkeit. Solche klinischen Erfahrungenwaren allerdings mangels standardisierter Dokumentation und Aus-wertung in ihrem Stellenwert schwierig zu beurteilen.29

29 Vgl. dazu Gradmann, Krankheit im Labor (wie Anm. 11), S. 197-202.

AnfangJanuar 1891 wurde Koch schließlich auch mit seinen eigenen Waffen– nämlich der Evidenz aus dem Labor – frontal angegriffen: DerPathologe Rudolf Virchow, schon zuvor ein Skeptiker gegenüberallzu euphorischen Einschätzungen bakteriologischer Krankheitsin-terpretationen, legte Befunde vor, die Kochs Verständnis von derWirkung des Tuberkulins grundsätzlich in Frage stellten: Bei derObduktion von Kranken, die nach Behandlung verstorben waren,fand er am Rande der Gewebsnekrosen, die nach Koch auf die Wir-kung des Heilmittels zurückzuführen waren, frische Tuberkel-Bil-dungen. Der von Virchow auch geäußerte Verdacht, daß weitere, imganzen Körper verstreut aufgefundene kleine Knötchen ebenfallsResultat der Tuberkulin-Gabe (und nicht der bereits vorher beste-henden Erkrankung) sein könnten, wurde kurze Zeit später voneinem seiner Mitarbeiter erhärtet.30

30 Rudolf Virchow, »Ueber die Wirkung des Koch’schen Mittels auf innere OrganeTuberkulöser«, in: Berliner klinische Wochenschrift 28 (1891), S. 49-52; David Han-semann, »Pathologisch-anatomische und histologische Erfahrungen über dieKoch’sche Injectionsmethode«, in: Therapeutische Monatshefte 5 (1891), S. 77-80.

Rückblickend läßt sich für die Zeit von Mitte November 1890 bisEnde Januar 1891 eine deutliche Verschiebung bei der zeitgenössi-schen Einordnung und Bewertung der Tuberkulin-Gabe feststellen:Zum Zeitpunkt der Markteinführung Mitte November herrschtesowohl bei der überwältigenden Mehrzahl der Ärzte als auch in derbreiten Öffentlichkeit die Auffassung vor, daß nach Tierversuch underfolgreicher Erprobung am Menschen zwischen Juni und AnfangNovember nun die Routine-Anwendung des Mittels beginne, diekeinerlei experimentellen Charakter mehr habe. Demgegenüber wardas Ergebnis einer ersten Bestandsaufnahme im Januar 1891 nachSichtung aller Erfahrungen an preußischen Universitätskliniken undpathologischen Instituten ein ganz anderes: Die Brauchbarkeit desneuen Mittels schien denkbar, aber keineswegs gesichert.31

31 Die Wirksamkeit (wie Anm. 25), S. 904 f.; dazu Gradmann, Krankheit im Labor(wie Anm. 11), S. 206.

Beson-

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ders pointiert faßte der Internist Ernst von Leyden diesen Stand derDinge zusammen: Er bezeichnete die neue Substanz als »Koch’schesGeheimmittel«, dessen Wirkung schlecht zu untersuchen sei, weilman »eigentlich nichts Bestimmtes« über dieses Mittel wisse, undfügte hinzu: »Überdies waren wir Ärzte genöthigt, direkt an krankenMenschen zu experimentieren.«32

32 Die Wirksamkeit (wie Anm. 25), S. 6 f.

Mit anderen Worten: Das, was sich in der zweiten November-hälfte 1890 als Routineverfahren darstellte, wurde zwei Monate spä-ter als therapeutisches Experiment am Menschen eingeordnet.33

33 So auch Gradmann, Krankheit im Labor (wie Anm. 11), S. 211.

Dies ist ein Beispiel dafür, daß ein und dasselbe medizinische Han-deln je nach Perspektive einmal als Routineverfahren, ein anderesMal als therapeutisches Experiment bewertet werden kann – mitunter Umständen deutlich verschiedenen Konsequenzen für eine ju-ristische und medizinethische Bewertung.34

34 Weitere Beispiele aus der Geschichte des Humanexperiments im 20. Jahrhundertwären etwa die BCG-Impf»katastrophe« in Lübeck 1930 oder die genetische Be-standsaufnahme der gesamten isländischen Bevölkerung in den späten 1990er Jah-ren; diese Beispiele sind ausführlich beschrieben und analysiert in den Beiträgenvon Christian Bonah und Pei Koay im Sammelband Volker Roelcke/GiovanniMaio (Hg.), Twentieth Century Ethics of Human Subjects Research. Historical Per-spectives on Values, Practices, and Regulations, Stuttgart 2004.

Besonders interessantim Kontext der vorliegenden Fragestellung ist jedoch ein weitererAspekt: Der Übergang vom Tierexperiment zum Humanversucherfolgte in zwei Schritten. Im ersten Schritt (im Juni 1890) wurde dieVerträglichkeit und Ungefährlichkeit sowie die angemessene Dosie-rung beim Menschen überprüft – hier gab es aus Kochs Sicht einenKlärungsbedarf. Offenbar hielt er es für möglich, daß die Reaktionauf das Heilmittel bei Tier und Mensch durchaus verschieden seinkönnte. Die entsprechenden Untersuchungen wurden an gesundenProbanden durchgeführt. Es handelte sich also um einen Schrittvom erkrankten Tier auf den gesunden Menschen, wobei die Verhält-nisse am Gesunden allerdings vom bakteriologischen Tiermodell(einem Modell der menschlichen Erkrankung) gar nicht »abgebil-det« wurden.

Erst in einem zweiten Schritt (ab September) wurde der eigent-lich anvisierte therapeutische Effekt überprüft. Dies geschah nunam Kranken und für ganz unterschiedliche Formen und Stadiender Tuberkulose (Haut- und Lungentuberkulose; frühe und fortge-

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schrittene Stadien der Erkrankung). Tatsächlich waren ja im enge-ren Sinne die Ergebnisse des bakteriologischen Tiermodells auchnur auf den Kranken übertragbar, weil dieses Modell per definitio-nem eine artifizielle Reproduktion der menschlichen Krankheit aneinem geeigneten Versuchstier unter kontrollierten, das heißt La-borbedingungen darstellte. Entsprechend dieser Logik des bakterio-logischen Tiermodells war dieser Schritt für Koch auch völlig unpro-blematisch und nicht weiter zu begründen.

Welche Argumente rechtfertigten nun für Koch den Zeitpunktund damit die in diesem spezifischen Fall gewählte Grenzziehungzwischen Tier und Mensch? Die Eile, die geringe Fallzahl und dieallenfalls flüchtige Dokumentation legen nahe, daß der erste Über-tragungsschritt (auf den gesunden Menschen) für Koch am ehesteneine notwendige, aber lästige Pflichtübung war. Während das Wissenüber die Krankheit aufgrund der erprobten Theorie und Methodikdes Tiermodells ohne Frage vom Tier auf den Mensch transferierbarwar, gab es in bezug auf das Wissen von dem neuen Heilmittel offeneFragen (z.B. Verträglichkeit und Dosierung beim Menschen), beidenen Koch aber ganz offensichtlich keine Überraschungen erwar-tete. Der Unterschied zwischen Tier und Mensch wurde auf dieserEbene allenfalls als gradueller angenommen und aus der Sicht vonKoch auch bestätigt gefunden.

Der zweite Übertragungsschritt war für Koch – da im Tiermodellgeklärt – eindeutig unproblematischer. Die zentrale Herausforderung– die Frage nach einem effektiven Eingriff in den Krankheitsprozeß –war bereits im Tiermodell bewältigt, der Schritt vom Tiermodell aufden kranken Menschen wurde gar nicht mehr als eigenständiges Pro-blem wahrgenommen: Schon im August, also vor Beginn der thera-peutischen Erprobung am kranken Menschen, kündigte Koch in gro-ßer Öffentlichkeit an, daß der entscheidende Schritt »im Kampfgegen die kleinsten, aber gefährlichsten Feinde des Menschenge-schlechts« bereits gelungen sei.35

35 Koch, »Über bakteriologische Forschung« (wie Anm. 12), S. 660.

Die Aussicht, ein fundamentalesmedizinisches Problem in nächster Zukunft lösen zu können, unddies – in Kochs Perspektive – ganz im Einklang mit den schon bisheraußerordentlich erfolgreichen Methoden, Techniken und Krank-heitskonzeptionen, machte jede weitere Überlegung und Rechtfer-tigung überflüssig. Daß ein wirksames Therapeutikum gegen die

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Tuberkulose ein wissenschaftlicher und humanitärer Fortschritt seinwürde, war eine Gewißheit jenseits von jeglichem Zweifel. DieseKonstellation von einem erhofften wissenschaftlichen und humani-tären Fortschritt bei einer – beurteilt aufgrund vergangener Erfol-ge – angenommenen großen Wahrscheinlichkeit von relevanten zu-künftigen Forschungsergebnissen ergab in der Sicht von Koch eineso hohe Dringlichkeit, ja eine Notwendigkeit, daß es geradezu ver-werflich gewesen wäre, den vorgezeichneten Weg nicht weiterzuge-hen. Der wissenschaftlich fundierte und damit – in Kochs Perspek-tive – abgesicherte Fortschritt stellte somit einen Wert in sich selbstdar, der keiner weiteren moralischen Rechtfertigung bedurfte. Dieepistemologische und die ethische Rechtfertigung für den Schrittvom Tier- zum Humanexperiment waren damit für Koch nicht zweigetrennte Fragen, sie stellten für ihn vielmehr eine untrennbare Ein-heit dar.

Der hier geschilderte, in seiner Zeit äußerst prominente Fall illu-striert einige zentrale Charakteristika der medizinischen Forschungam Menschen um 1900:1. den raschen Anstieg der epistemologischen Bedeutung des Expe-

riments im allgemeinen und des Tierexperiments im besonderen;2. ein Selbstbild vieler medizinischer Forscher, wonach der poten-

tielle Wissensgewinn und damit Vorteil für zeitgenössische oderzukünftige Patientengenerationen – bei gleichzeitig bereits ver-fügbaren und äußerst erfolgreichen Theorieansätzen und Metho-den – Experimente am Menschen mit therapeutischer Intentionohne weiteres rechtfertigten;36

36 Weitere Beispiele für dieses Selbstbild und eine entsprechende Forschungspraxisfinden sich etwa in Barbara Elkeles, Der moralische Diskurs über das medizinischeMenschenexperiment im 19. Jahrhundert, Stuttgart 1996.

3. eine durch vergangene Erfolge beim Wissenstransfer vom Tier aufden Mensch entstandene Zuversicht bzw. unreflektierte Gewiß-heit über die Verallgemeinerbarkeit dieser Transfer-Möglichkeit,mit dem Resultat eines ›pragmatischen‹ Umgangs ohne syste-matisierte Vorsichtsmaßnahmen oder Reflexionen über diesenSchritt.

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3. Pharmakologie und Chirurgie zwischen 1932 und 1945:Die Sulfonamide

Unter den Humanexperimenten, die im Kontext des Nationalsozia-lismus und des Zweiten Weltkrieges stattfanden, nehmen die Expe-rimente zur Überprüfung der Sulfonamid-Wirkung im Kontext derKriegschirurgie eine Sonderstellung ein: Anders als in vielen ande-ren Fällen menschenverachtender Experimente von NS-Ärzten, fürwelche die jüngere (medizin)historische Forschung im Gegensatzzur früheren pauschalen Verurteilung als »pseudowissenschaftlich«inzwischen die wissenschaftliche Rationalität (nicht die ethischeZulässigkeit) rekonstruiert hat,37

37 Vgl. etwa zu den Forschungen im KZ Dachau im Kontext der LuftfahrtmedizinKarl Heinz Roth, »Tödliche Höhen. Die Unterdruckkammer-Experimente imKonzentrationslager Dachau und ihre Bedeutung für die luftfahrtmedizinischeForschung des ›Dritten Reichs‹«, in: Klaus Dörner/Angelika Ebbinghaus (Hg.),Vernichten und Heilen. Der Nürnberger Ärzteprozess und seine Folgen, Berlin 2001,S. 110-151; zur eugenisch motivierten humangenetischen Forschung Benoit Mas-sin, »Mengele, die Zwillingsforschung und die ›Auschwitz-Dahlem-Connection‹«,in: Carola Sachse (Hg.), Die Verbindung nach Auschwitz. Biowissenschaften und Men-schenversuche an Kaiser-Wilhelm-Instituten, Göttingen 2003, S. 201-254; Hans-Walter Schmuhl, Grenzüberschreitungen. Das Kaiser-Wilhelm-Institut für Anthropo-logie, menschliche Erblehre und Eugenik, 1927-1945, Göttingen 2005; zur Forschungim Kontext der Psychiatrie Volker Roelcke, »Psychiatrische Wissenschaft im Kon-text nationalsozialistischer Politik und ›Euthanasie‹. Zur Rolle von Ernst Rüdinund der Deutschen Forschungsanstalt für Psychiatrie«, in: Doris Kaufmann (Hg.),Die Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft im Nationalsozialismus, Göttingen 2000, S. 112-150;sowie die verschiedenen Kasuistiken in Wolfgang U. Eckart (Hg.), Man, Medicine,and the State. The Human Body as an Object of Government Sponsored Medical Re-search in the 20th Century, Stuttgart 2006.

gelten die Experimente zur Über-prüfung der Sulfonamidwirkung nach wie vor als »wissenschaftlichüberholt«.38

38 So die Schlußbewertung der Autoren in der bislang detailliertesten Rekonstruk-tion und Analyse dieser Experimente: Angelika Ebbinghaus/Karl Heinz Roth,»Kriegswunden. Die kriegschirurgischen Experimente in den Konzentrationsla-gern und ihre Hintergründe«, in: Angelika Ebbinghaus/Klaus Dörner (Hg.), Ver-nichten und Heilen (wie Anm. 37), S. 177-218, hier S. 213 f.; eine ähnliche Bewer-tung findet sich in Hans Peter Unterberg, Die Anfänge der Sulfonamidtherapie inden dreißiger Jahren, Herzogenrath 1986, S. 183-188, sowie in Bernhard Strebel, DasKonzentrationslager Ravensbrück, Paderborn 2003.

In bezug auf die Frage nach dem Verhältnis zwischen Tier- undHumanexperiment unterscheidet sich dieses Beispiel allerdings nicht

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grundsätzlich von Forschungen im Kontext der Humangenetik oderLuftfahrtphysiologie, vielmehr erlaubt es, einige der für diesen Über-gang relevanten Aspekte besonders deutlich herauszuarbeiten; außer-dem führt die Rekonstruktion der Sulfonamid-Experimente unterdieser besonderen Perspektive in einem nicht unwesentlichen Punktzu einer Revision des bisherigen historischen Kenntnisstands unddamit der oben genannten Bewertung.

Die kriegschirurgischen Experimente fanden in der Zeit ab Juni1942 in den Konzentrationslagern Dachau, Sachsenhausen und Ra-vensbrück statt. Die zentrale Fragestellung lautete, ob bei den mithoher Mortalität verbundenen ausgedehnten Kriegswunden mitGasbrand-Infektionen die traditionelle chirurgische Therapie mitRuhigstellung, weiträumiger operativer Ausschneidung und Wund-versorgung nach wie vor das optimale Verfahren sei oder ob dieKrankheitsverläufe und Überlebensraten durch zusätzliche Verfah-ren signifikant verbessert werden könnten. Zur Debatte standen da-bei im wesentlichen die zusätzliche lokale Applikation oder syste-mische Gabe von Sulfonamiden (den ersten Antibiotika im engerenSinne) oder alternativ eine zusätzliche homöopathische Behandlung,die vom Reichsführer-SS Heinrich Himmler favorisiert wurde. Imfolgenden soll zunächst die Praxis der Forschungen zusammenge-faßt, sodann deren Rationalität rekonstruiert werden.39

39 Die Rekonstruktion der Praxis folgt, soweit nicht anders gekennzeichnet, in engerAnlehnung an Ebbinghaus/Roth »Kriegswunden« (wie Anm. 38), insbesondereS. 196-211; sie ist relativ detailliert, da dies zum Verständnis der dahinterstehendenRationalität notwendig erscheint.

Zeitlich im wesentlichen parallel wurden in den drei Konzentra-tionslagern mehrere Versuchsreihen durchgeführt: In Dachau wur-de unter der verantwortlichen Leitung des Reichsarztes-SS ErnstGrawitz, eines Internisten, zunächst in zwei Versuchsreihen an 27Häftlingen mit eitrigen Wundinfektionen sowie an 16 zuvor gesun-den Häftlingen, die durch Eiter-Injektionen eigens infiziert wurden,die homöopathische Therapieoption überprüft. Ein Großteil derunfreiwilligen Versuchspersonen überlebte die Experimente nicht;die homöopathische Zusatztherapie war damit fragwürdig gewor-den.

In einem weiteren Schritt wurde nun die zusätzliche homöo-pathische im Vergleich zur zusätzlichen Sulfonamid-Therapie ge-prüft, parallel wurden ausschließlich chirurgisch behandelte »Kon-

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trollen« beobachtet. Der Studienaufbau wurde bereits vor Beginngenau festgelegt. Die insgesamt sechzig ohne vorherige Informationüber die Versuchsziele oder gar Einwilligung zur Teilnahme gezwun-genen Häftlinge wurden aufgrund ähnlicher allgemeiner Parameter(»Konstitution«) in Paare gruppiert und dann per Losverfahren je-weils auf eine homöopathische (B) oder eine Sulfonamid-Behand-lungsgruppe (A) verteilt. Bei zwanzig Versuchspersonen (10 A+ 10B)wurde die Zusatztherapie am vierten Tag, bei weiteren zwanzig amzehnten Tag nach der künstlich herbeigeführten Wundinfektionbegonnen, bei einer dritten Gruppe von wiederum zwanzig infizier-ten Häftlingen bereits am ersten Tag nach der Infektion.

Elf der sechzig Häftlinge starben während der Versuche an denFolgen der Infektion. Insgesamt zeigte sich, daß bei früher und aus-reichend hoch dosierter Sulfonamid-Behandlung der Verlauf milderund das Auftreten von Komplikationen seltener war als bei denanderen Behandlungsformen.

Die Praxis der Experimente in Sachsenhausen ist aufgrund spär-licher Quellen nur fragmentarisch zu rekonstruieren. Unter Betei-ligung oder möglicherweise Leitung des Ersten Lagerarztes EmilSchmitz wurden bei etwa 25 Häftlingen gasbrandinfizierte Kriegs-wunden simuliert, indem in 15 bis 20 Zentimeter lange Einschnittein die Oberschenkel sowohl Eiter als auch Stroh, Barackenstaub undanderer Schmutz eingebracht wurde. Die infizierten Wunden blie-ben geöffnet, eine Behandlung erfolgte mit einem nicht bekanntenAntiseptikum. Ob Vergleichs- oder Kontrollgruppen gebildet wur-den, läßt sich nicht mehr feststellen. Aufgrund von Nachkriegsre-cherchen läßt sich erschließen, daß etwa zwanzig der unfreiwilligenVersuchspersonen infolge der Experimente starben.

In Ravensbrück fanden die umfangreichsten Versuchsreihen un-ter der Leitung von Karl Gebhardt statt; er war Beratender Chir-urg der Waffen-SS und ärztlicher Direktor des nahegelegenen SS-Lazaretts Hohenlychen. Im KZ Ravensbrück wurden zunächst andrei gesunden Häftlingen »Vorversuche« durchgeführt, in denendie Technik der Herstellung von Modell-Krankheitszuständen fürdie Gasbrand-Infektion erprobt werden sollte. Dazu wurde bei denHäftlingen jeweils eine Muskelgruppe am Unterschenkel operativfreigelegt, ein Teil des Muskels gequetscht und durch Adrenalin-Einspritzung eine vermindert durchblutete Zone hergestellt. In die-se wurden dann Gaze-Tupfer eingebracht, die mit einem Strepto-

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kokken-Staphylokokken-Gemisch bzw. mit Para-Rauschbrand-Er-regern, im dritten Fall mit Gasbrand-Erregern und zusätzlich mitErde behaftet waren. Es stellte sich jedoch heraus, daß auf diesemWege keine infizierten Kriegswunden insbesondere für den Gas-brand imitiert werden konnten.

Daher wurden in einer zweiten und dritten Versuchsreihe dieWunden von insgesamt 15 Häftlingen mit Bakterienkulturen höhe-rer Keimzahl und zusätzlich mit Coli-Bakterien infiziert sowie teil-weise darüber hinaus mit Holzspänen gezielt weiter verunreinigt.Eine Gruppe der Versuchsopfer blieb als Kontrolle unbehandelt, dieanderen erhielten eine lokale Behandlung mit zwei verschiedenenArten von Sulfonamidpulver. Es entstanden massive Gewebeschä-digungen sowohl durch die Infektion als auch durch die folgendenchirurgischen Eingriffe, trotzdem überlebten wiederum alle Ver-suchsopfer; fast alle litten jedoch dauerhaft unter den physischenund psychischen Folgen.40

40 Zur Perspektive der Opfer, vgl. Angelika Ebbinghaus, »Zwei Welten. Die Opferund die Täter der kriegschirurgischen Experimente«, in: Angelika Ebbinghaus/Klaus Dörner (Hg.), Vernichten und Heilen (wie Anm. 37), S. 219-240.

Der durchführende Arzt, Fritz Fischer, mußte allerdings feststel-len, daß auf diesem Wege zwar eine lokale Gasbrand-Infektion pro-duziert werden konnte, diese im Schweregrad jedoch noch nichtdem voll ausgebildeten Krankheitsbild aus der Realität des Kriegesentsprach. In einer weiteren Versuchsreihe mit neun Häftlingen wur-den die Experimentalbedingungen daher noch verschärft, zunächstdurch zusätzliches Einbringen von Holzspänen, schließlich in einemletzten Schritt durch Unterbindung der Blutzufuhr zum infiziertenMuskel und weitere Verunreinigung der Wunde mit Glassplittern.Nun zeigte sich bei den mit Gasbrand-Erregern infizierten Opferndas Vollbild das Gasbrands unter Kriegsbedingungen, und auch diemit Streptokokken und Staphylokokken Infizierten waren von einerAllgemeininfektion mit Sepsis bedroht. Nun erst war eine experi-mentelle Konstellation hergestellt, in der nach Gebhardt »endgül-tige Rückschlüsse auf die Therapie mit chemotherapeutischen Mit-teln in Verbindung mit chirurgischen Eingriffen gezogen werden«konnten.41

41 Zitat nach Ebbinghaus/Roth, »Kriegswunden« (wie Anm. 38), S. 206.

Wiederum wurden innerhalb der Versuchsgruppen, dieden einzelnen Infektionstypen zugeordnet waren, systematisch un-terschiedliche Therapieformen angewendet: Ein Versuchsopfer in

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jeder Gruppe blieb chemotherapeutisch unbehandelt, das zweiteerhielt lokal applizierte Sulfonamidpulver, das dritte die lokale Ap-plikation plus Sulfonamid in Tablettenform, das vierte schließlichzusätzliche Sulfonamid-Injektionen. Auch wurden in Zusatzversu-chen vermutlich weitere, neu verfügbare Sulfonamid-Varianten (Ci-bazol, Ultraseptyl) getestet. Die Infektionsverläufe der chemothe-rapeutisch behandelten Opfer unterschieden sich nicht wesentlichvon denen der rein chirurgisch versorgten Versuchspersonen. DieHistoriker Ebbinghaus und Roth führen dies neben den katastro-phalen Allgemeinbedingungen in der Nachsorge darauf zurück, daßalle Versuchspersonen mit zu niedrigen Dosierungen und nicht aus-reichend lange behandelt worden seien.42

42 Genaue Zahlen für die angewendeten Dosierungen, für die »Standard«-Dosierungund Belege werden allerdings nicht genannt: Ebbinghaus/Roth, »Kriegswunden«(wie Anm. 38), S.206.

Fünf der Versuchsopferstarben, sechs weitere wurden nach den Abschlußuntersuchungenerschossen.

Außer Frage steht, daß diese Humanexperimente mit extremerRücksichtslosigkeit und Brutalität durchgeführt wurden. Auch istganz offenkundig, daß die mit den »Reichsrichtlinien zur Forschungam Menschen« von 193143

43 »Richtlinien für neuartige Heilbehandlung und für die Vornahme wissenschaft-licher Versuche am Menschen vom 28. 2. 1931«, in: Reichsgesundheitsblatt 6 (1931),S. 174 f.; die dieser Verordnung vorausgegangenen Skandale und Debatten sindrekonstruiert in Andreas Reuland, Menschenversuche in der Weimarer Republik,Norderstedt 2004.

existierenden juristischen und ethischenBedingungen für solche Versuche (informierte Zustimmung, keinAusnützen einer sozialen Notlage) völlig ignoriert wurden und dieExperimente allein aus diesem Grund – unabhängig von der kon-kreten Durchführung – unzulässig waren.

In den bisherigen Darstellungen und Interpretationen der Expe-rimente wird aber jenseits dieser juristischen und ethischen Argu-mente im engeren Sinne noch ein ganz anderes Argument geltendgemacht: So wird in der ansonsten sehr verdienstvollen Rekonstruk-tion und Analyse von Ebbinghaus und Roth wiederholt darauf insi-stiert, die Versuche seien »vom wissenschaftlichen Stand der damali-gen Kriegschirurgie aus gesehen [. . .] völlig überflüssig« gewesen, dafür die zusätzliche Anwendung der Sulfonamide bei Wundbehand-lungen die Fragen der »pharmakologischen und klinischen Wirk-

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samkeit längst beantwortet« gewesen sei. Dies sei durch »Tierversu-che und [. . .] klinische Erprobungsberichte der beratenden Front-chirurgen« geschehen. Die in den Experimenten verfolgten Frage-stellungen seien deshalb »medizinisch-wissenschaftlich überholt«,die Versuche damit sinnlos gewesen.44

44 Ebbinghaus/Roth, »Kriegswunden« (wie Anm. 38), Zitate S. 189, S. 214 f.; »Sinn-losigkeit«, S. 218.

Insgesamt seien die deutschenChirurgen gegenüber ihren Kollegen auf seiten der Alliierten »rück-ständig« gewesen, weil dort die Wirksamkeit der Sulfonamide schonum 1940 anerkannt und in eine klinische Praxis umgesetzt gewesensei.45

45 Ebd., S. 183.

Damit wird von den Autoren den »klinischen Erprobungsberich-ten« von der Front zusammen mit den Experimenten am Tiermo-dell (der Maus) eine ausreichend hohe Aussagekraft zugeschrieben,um die Frage nach einer systematischen klinischen Untersuchungfür gegenstandslos zu erklären – und dies, obwohl die Autoren beiihrer einleitenden Schilderung des breiteren Kontexts der Kriegs-chirurgie ausführlich betonen, wie wegen des raschen Stellungskrie-ges, fehlender Mindestausstattung usw. an der Front fast durch-gängig völlig unzureichende Arbeitsbedingungen bestanden hattenund kontinuierlich improvisiert werden mußte. Die unter solchenBedingungen beobachteten Krankheitsverläufe konnten im bestenFall einigermaßen dokumentiert, aber kaum im Sinne von geplan-ten Studien nach den zeitgenössisch gültigen methodischen Stan-dards durchgeführt werden. Der zur Aussagekraft genau dieser Artvon Erfahrungsberichten sehr kritische Aufsatz des HeidelbergerOrdinarius für Chirurgie Martin Kirschner, publiziert in der Zeit-schrift Der Chirurg, wird von Ebbinghaus und Roth als »wenig ge-nau« und »ressentimentgeladene Polemik« abqualifiziert.46

46 Martin Kirschner, »Die Chemotherapie chirurgischer Infektionskrankheiten«, in:Der Chirurg 13 (1942), S. 443-457; dazu die Bewertung bei Ebbinghaus/Roth,»Kriegswunden« (wie Anm. 38), S. 186 f.

Dieses vehemente Insistieren auf der Aussage von der »überholtenFragestellung« verwundert, und es drängen sich sofort eine Reihevon Fragen auf: Wären demnach die erfolgreiche Erprobung imTiermodell und eine gewisse Zahl von positiven Beobachtungen un-ter improvisierten Frontbedingungen immer ausreichend, um eineobligatorische Verabreichung eines neuen Medikaments bei allen

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verwundeten Soldaten zu rechtfertigen? Konnten die alliierten Sani-tätsdienste wirklich auf die Ergebnisse systematisierter klinischerStudien zurückgreifen? Und: Gäbe es denn eine Rechtfertigung fürdiese Experimente, wenn die Fragestellung wissenschaftlich aktuellgewesen wäre? Wäre demnach eine ethische Rechtfertigung bereitsmit der wissenschaftlichen Rechtfertigung gegeben? – Diese Fragensind erstaunlicherweise bisher nicht konsequent angegangen wor-den. Es lohnt sich daher, die zeitgenössische Entwicklung des Kennt-nisstandes zur Wirkung der Sulfonamide seit 1932 im Detail zurekonstruieren.47

47 Dies ist zwar die Fragestellung von Unterberg (1986) (wie Anm. 38), dort aber nurin unbefriedigenden Ansätzen beantwortet; insbesondere wird praktisch gar nichtauf die jeweilige Methodik der Erfolgsberichte zur Sulfonamid-Behandlung einge-gangen.

Erst dann kann eine adäquate Aussage darüber ge-macht werden, ob die Fragestellung der kriegschirurgischen Sulfon-amid-Experimente angesichts des Kenntnisstands zum Zeitpunktdes Beginns der Experimente im Jahr 1942 möglicherweise »über-holt« war.

1932 entdeckte der bei der I. G. Farbenindustrie angestellte Me-diziner Gerhard Domagk zusammen mit den Chemikern FritzMietzsch und Josef Klarer im Tierversuch die antibakterielle Wir-kung des Prontosil, des ersten Sulfonamid-Präparates. Offenbar umdie Vermarktungsmöglichkeiten zu sichern, wurde diese Entdek-kung erst nach einer Erprobung am Menschen im Jahr 1935 publi-ziert.48

48 Gerhard Domagk, »Ein Beitrag zur Chemotherapie der bakteriellen Infektionen«,in: Deutsche Medizinische Wochenschrift 61 (1935), S. 250-253; Philipp Klee/H.Römer, »Prontosil bei Streptokokkenerkrankungen«, in: Deutsche MedizinischeWochenschrift 61 (1935), S.253-255; Hans Theo Schreus, »Chemotherapie des Erysi-pels und anderer Infektionen mit Prontosil«, in: Deutsche Medizinische Wochen-schrift 61 (1935), S. 255 f.

Domagk erhielt für diese Arbeit 1939 den Nobelpreis.In den ersten Publikationen zur klinischen Erprobung wurde

über die gute Verträglichkeit berichtet sowie die positive Wirkungbei einer Vielzahl von Streptokokken-Infektionen in der InnerenMedizin und in der Dermatologie. Bei Staphylokokken-Infektionenwurde ebenfalls eine Wirkung, allerdings nicht im gleichen Umfangfestgestellt. Genaue Fallzahlen oder Einschlußkriterien für die kli-nische Erprobung wurden nicht mitgeteilt, ebenfalls wurden offen-bar keine Kontrollversuche mit anderen Behandlungsmethodenoder Placebos vorgenommen. Solche Standards für die Methodik

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der klinischen Forschung waren jedoch bereits von dem BonnerInternisten Paul Martini einige Jahre zuvor formuliert worden, undzumindest einige Elemente dieser Methodik (z.B. die Benennungvon Fallzahlen, von Einschlußkriterien; die Bildung von Vergleichs-gruppen) wurden auch in der Praxis von vielen, wenngleich nichtallen zeitgenössischen klinischen Studien angewandt.49

49 Paul Martini, Methodenlehre der therapeutischen Untersuchung, Berlin 1932; vgl.dazu Susanne Stoll/Volker Roelcke/Heiner Raspe, »Gibt es eine deutsche Vorge-schichte der Evidenz-basierten Medizin? Methodische Standards therapeutischerForschung im beginnenden 20. Jahrhundert«, in: Deutsche Medizinische Wochen-schrift 130 (2005), S. 1781-1784.

In den folgenden Jahren wurde über immer neue Anwendungs-möglichkeiten in weiteren medizinischen Disziplinen (z.B. Hals-Nasen-Ohren-Heilkunde, Gynäkologie) und für weitere Indikatio-nen (andere Erregergruppen und Krankheitszustände) berichtet.1937 publizierten Eleanor Bliss und Perrin Long erstmals eine Erfolgs-meldung über die Sulfonamid-Wirkung auf Clostridium welchii,den vermuteten Erreger des Gasbrands, allerdings nur im Tiermo-dell bei Mäusen. Sie berichteten außerdem über Tierexperimente,die möglicherweise den Wirkmechanismus erklärten: Entgegen er-sten Vermutungen wiesen diese Arbeiten darauf hin, daß die spezifi-sche Wirkung der Sulfonamide (hier getestet am Beispiel des Sulfa-nilamids bei Streptokokken) nicht in einer gesteigerte Aktivität derweißen Blutzellen (Leukozyten) und damit einer Stärkung im Ab-wehrsystem des Wirtsorganismus bestand, sondern am ehesten ineiner Hemmung des Bakterienwachstums (Bakteriostase). Sie äu-ßerten sich auch ausdrücklich vorsichtig hinsichtlich der Übertrag-barkeit dieser Ergebnisse auf andere Erregerarten.50

50 Eleanor Bliss/Perrin H. Long, »Observations on the Mode of Action of Sulphanil-amide«, in: Journal of the American Medical Association 109 (1937), S. 1524-1528; derVorbehalt ist formuliert auf S. 1527.

Im gleichen Jahrwurde erstmals über drei erfolgreich behandelte Fälle von Gasbrandam Menschen berichtet, wobei hier die klinische Diagnose nichtvollkommen gesichert war.51

51 H. R. Bohlmann, »Gas Gangrene treated with sulfanilamide. Report of threecases«, in: Journal of the American Medical Association 109 (1937), S. 254; 1938 folg-ten die ersten beschriebenen In-Vitro-Experimente an Clostridium welchii, demGasbrand-Erreger: Robb Spalding Spray, »Bacteriostatic Action of Prontosil So-luble, Sulphanilamide, and Disulfanilamide on the Sporulating Anerobes Com-monly Causally Associated with Gaseous Gangrene«, in: Journal of Laboratory andClinical Medicine 23 (1938), S. 609-614.

Im Juli 1939 erfolgte dann die Publika-

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tion über die erfolgreiche Sulfonamid-Behandlung bei zwei Frauenmit Gasbrand-Infektionen im Zusammenhang mit einem Schwan-gerschaftsabbruch bzw. einer Fehlgeburt.52

52 Joseph F. Sadusk/Constantino P. Manahan, »Sulfanilamide for Puerperal Infec-tions due to Clostridium welchii«, in: Journal of the American Medical Association113 (1939), S. 14-17.

– Zum Zeitpunkt desKriegsbeginns 1939 lagen also erst vereinzelte Kasuistiken über dieEffektivität von Sulfonamiden bei Gasbrand-Infektionen des Men-schen vor.

Zwei Jahre später, um 1941, war für die Innere Medizin, die Hals-Nasen-Ohren-Heilkunde, die Gynäkologie und die Dermatolo-gie die Wirkung der Sulfonamide insbesondere bei Infektionenmit Streptokokken, Pneumokokken, Meningokokken und Staphy-lokokken breit etabliert, dagegen ließen die vorliegenden Erfah-rungsberichte – um nicht mehr handelte es sich – bei chirurgischenWundinfektionen nach wie vor keinen Konsens erkennen. So wurdein einem im April 1941 publizierten Übersichtsaufsatz von ErichSchneider, dem Leiter der Chirurgischen Abteilung der Kliniken inFrankfurt an der Oder, zur Chemotherapie in der Chirurgie auf diegegenüber den anderen medizinischen Disziplinen insgesamt deut-lich geringere Zahl von entsprechenden Publikationen hingewiesen,ebenfalls auf die keineswegs einheitlichen Resultate.53

53 Erich Schneider, »Ergebnisse der modernen Chemotherapie in der Chirurgie undihre topographischen Bedingungen«, in: Medizinische Klinik 37 (1941), S. 385-387.

Die fast zeit-gleich im Mai 1941 vom Subcommittee on Surgical Infections desSurgeon General of the United States publizierte Empfehlung an dieamerikanische Armee zur lokalen Applikation von Sulfonilamid beiKriegswunden beruhte nach der Einschätzung eines beteiligten Gre-mienmitglieds nicht auf neuer wissenschaftlicher Evidenz für dieseMaßnahme, sondern auf dem Enthusiasmus ziviler Chirurgen fürdie neue Therapieoption.54

54 Vgl. dazu John E. Lesch, The First MiracleDrugs: How the Sulfa Drugs TransformedMedicine, Oxford 2007, S. 215.

Die Publikation der Empfehlung istselbst ein Indikator dafür, daß es im amerikanischen Militär einenBedarf an Klärung und damit keinen Konsens über die Einschät-zung der Sulfonamid-Behandlung gab.

Genau weil die Wirksamkeit der Sulfonamide bei Wundinfektio-nen und insbesondere beim Gasbrand nicht geklärt war, wurde dieFrage von dem Düsseldorfer Dermatologen Theodor Schreus und

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seiner Arbeitsgruppe noch einmal von experimenteller Seite syste-matisch angegangen. Im Tiermodell (Maus) einer Gasbrand-In-fektion (Einbringung von infizierter Erde in geöffnete Muskeln)konnte er zunächst nachweisen, daß geeignete Sulfanile (insbeson-dere Sulfacid) dann eine prophylaktische Wirkung zeigen, wenn siein hoher Dosis zeitgleich mit der Verschmutzung der Wunde verab-reicht werden.55

55 Theodor Schreus/E. Peltzer, »Chemoprophylaxe des Gasbrandes, II. Mitteilung«,in: Klinische Wochenschrift 20 (1941), S. 530-535.

In einer zweiten Versuchsserie wurde das Tiermo-dell dadurch optimiert, das heißt dem »natürlichen« Bild der Gas-brand-Infektion weiter angenähert, daß die betroffenen Muskelndes Versuchstieres nicht nur eröffnet, sondern auch gequetscht wur-den, um anämisches und nekrotisches Gewebe als begünstigendeFaktoren herbeizuführen. Auch unter diesen Bedingungen konntedie Wirkung der Gabe der zuvor untersuchten und von inzwischenneu entwickelten Sulfonamiden gezeigt werden, sofern sie direktzum Zeitpunkt der Wundinfektion oder spätestens vier Stundendanach in ausreichend hoher Dosis appliziert wurden.56

56 Theodor Schreus/H. Schümmer, »Chemoprophylaxe des Gasbrandes. III. Mittei-lung«, in: Klinische Wochenschrift 20 (1941), S. 705-708.

In einer weiteren Publikation berichtete die Arbeitsgruppe dannüber die methodischen Schwierigkeiten, die sich aus den unter-schiedlichen chemischen Eigenschaften (Wasserlöslichkeit) und demdavon abhängigen Resorptionsverhalten im (Tier-)Körper bei denverschiedenen verfügbaren Sulfonamidpräparaten ergeben hatten.Dadurch sei die Bioverfügbarkeit der einzelnen Wirkstoffe bei ora-ler, intravenöser oder subkutaner Gabe im Tiermodell sehr unter-schiedlich und die Effektivität der einzelnen Präparate in bezug aufdie Bakteriostase beim Gasbrand-Erreger bei einheitlicher Applika-tion im Tierversuch nur sehr eingeschränkt miteinander vergleich-bar. Die vergleichende direkte Wirkung auf den Erreger müsse daherzunächst in vitro untersucht werden, das heißt an der Erregerkulturauf künstlichen Nährmedien (z.B. Leberbouillon; Blutagarplatten)und mit Erregern, die durch mehrere Tierpassagen in ihrer Virulenzmöglichst weit standardisiert seien.57

57 Theodor Schreus/A. Brauns/H. Schümmer, »Vergleich der Wirkung verschiedenerSulfonamidverbindungen auf die Gasbrandinfektion durch Kulturerreger, IV.Mitteilung«, in: Klinische Wochenschrift 20 (1941), S. 1233-1236.

Mit dieser im Dezember 1941 vorgelegten Publikation schränkte

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Schreus – der in der Relevanz seiner Befunde auch von Ebbinghausund Roth anerkannt wird – die Aussagekraft der im Tiermodellgewonnenen Ergebnisse so sehr ein, daß er nach den ersten Ver-suchsserien am Tier als nächsten systematischen Schritt nicht etwadie Erprobung am Menschen in Angriff nahm. Vielmehr entfernteer sich – methodisch gesehen – zunächst weiter vom Menschen,indem er die Wirksamkeit der Sulfonamide erst noch einmal invitro, das heißt in der Erregerkultur außerhalb von Mensch und Tiereiner gründlichen Analyse unterzog.58

58 Diese Reihenfolge der Versuchspraxis ergibt sich einerseits aus der Reihenfolge derinsgesamt vier Publikationen (»Mitteilungen« I-IV im Titel), andererseits wird derZeitpunkt der Versuchspraxis direkt in den Texten angesprochen: Schreus u.a.(1941), II. Mitteilung (wie Anm. 55), dort S. 531; III. Mitteilung (wie Anm. 56),S. 705; IV. Mitteilung (wie Anm. 57), S. 1233; demgegenüber erklären Ebbinghausund Roth die zuletzt durchgeführte Versuchsserie zur ersten: Ebbinghaus/Roth,»Kriegswunden« (wie Anm. 38), S. 185.

Hier ergab sich dann ein sehrdifferenziertes Bild, wonach einige ganz neue, noch nicht auf demMarkt befindliche Substanzen sehr gut wirksam zu sein schienen,andere jedoch – wie etwa das kurz zuvor unter Beteiligung vonDomagk zur Marktreife gebrachte Mesudin/Marfanil – keine brauch-bare Wirksamkeit zeigten.

Dieser Stand der Dinge veranlaßte den Nobelpreisträger Domagkdazu, im Frühjahr 1942 im Kontext eines breiteren Übersichtsauf-satzes zur therapeutischen Anwendung der Sulfonamid-Präparatefestzustellen, daß zwar in vielen klinischen Disziplinen, und bei vie-len Erregertypen die Effizienz einzelner oder mehrerer Sulfonami-de inzwischen als gesichert gelten könnte, daß allerdings in einigenAnwendungsgebieten, wie insbesondere bei den Wundinfektionen,»die Meinungen über den Wert der Sulfonamidverbindungen nochauseinandergehen«.59

59 Gerhard Domagk, »Die Sulfonamidpräparate und ihre therapeutische Auswer-tung«, in: Die Medizinische Welt 16 (1942), S. 257-262, S. 283-287, hier S. 257.Domagk referierte mit Nennung von Autor und konkreten Zustandsbildern imwesentlichen die positiven Erfahrungsberichte; die vorliegenden skeptischen oderkritischen Berichte werden nicht entsprechend ausführlich wiedergegeben, warenihm aber – wie aus der Nennung der unten ausführlicher rekonstruierten Publi-kation von Kirschner hervorgeht – bekannt und gingen offenbar in die oben ge-nannte Gesamtbewertung ein.

Bei dieser Bilanz waren auch relevante Publi-kationen aus der internationalen Fachliteratur berücksichtigt. Im-merhin sei aber – so betonte Domagk – ganz wesentlich auch durchdie Arbeiten amerikanischer Wissenschaftler inzwischen der Wirk-

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mechanismus der Sulfonamide in den wichtigsten Grundzügen ge-klärt.

An dieses zögerlich-abwägende Urteil über die Antibiotika-The-rapie bei chirurgischen Infekten knüpfte wenige Wochen später derHeidelberger Chirurgie-Ordinarius Martin Kirschner an. Im Zen-trum seiner Erörterungen stand die Feststellung, daß die bisherigen,von ihm kritisch eingeschätzten »Erfolgsberichte« für die Wund-und insbesondere Gasbrand-Infektion sich im wesentlichen auf Tier-versuche sowie unsystematische klinische Beobachtungen stütztenund u.a. das bei der Wundinfektion recht häufige Phänomen derSpontanheilung außer acht ließen. Er stellte dann die Frage, welcheBedingungen erfüllt sein müßten, damit Fehlurteile über den Wertneuer Therapien vor der klinischen Routineanwendung vermiedenwerden könnten. Hierzu formulierte er eine ganze Liste von Anfor-derungen:60

60 Kirschner, »Die Chemotherapie chirurgischer Infektionskrankheiten« (wie Anm.46), S. 445 f.

die Vorab-Planung klinischer Studien mit Bildung vonVergleichs- und Kontrollgruppen, wobei die Versuchspersonen inden einzelnen Vergleichsgruppen »unter den gleichen äußeren undinneren Bedingungen« stehen und die Mitglieder der Kontrollgrup-pe sich von den spezifisch Behandelten »einzig durch den zu prüfen-den Behandlungsfaktor« unterscheiden sollten; eine alternierende(das heißt Zufalls-)Zuordnung der Versuchspersonen zur Verum-bzw. zur Kontrollgruppe; große Fallzahlen, zusammen mit einer sta-tistischen Auswertung; sowie – zum Ausschluß einer zu subjektivenBeurteilung durch nur einen (möglicherweise voreingenommenen)Untersucher – die Beteiligung von »möglichst zahlreichen« Unter-suchern. Auch sollten die Ausgangsbedingungen für alle Versuchs-personen hinsichtlich Größe und Gestalt der Wunde und Art desErregers so gleichartig wie möglich sein. Kirschner wies darauf hin,daß bei den bisher vorliegenden positiven Erfahrungsberichten zurSulfonamidgabe bei Wundinfektionen selten auch nur einer diesermethodischen Standards erfüllt gewesen sei.61

61 Ebd., S. 444, S.451.

Eine Sichtung der zeitgenössisch von Domagk angeführten po-sitiven Erfahrungsberichte bestätigt die Kritik von Kirschner prak-tisch vollständig.62

62 Auch die bei Ebbinghaus/Roth in ihrer historischen Rekonstruktion genann-ten Arbeiten zeigen die von Kirschner kritisierten Mängel, ohne daß jedoch die

Daß die von Kirschner benannten methodischen

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Autoren daraus entsprechende Konsequenzen für ihr Urteil über den zeitgenössi-schen Wissensstand zogen: Vgl. die bei Ebbinghaus/Roth, »Kriegswunden« (wieAnm. 38) in Anm. 34-36 genannten Publikationen sowie die Literaturliste beiDomagk, »Die Sulfonamidpräparate und ihre therapeutische Auswertung« (wieAnm. 59), S.287.

Forderungen durchaus zeitgenössischen Standards entsprachen, do-kumentiert die Methodenlehre für klinische Forschung von PaulMartini, publiziert im Jahr 1932, in der alle genannten Bedingungen(und weitere) bereits ausführlich dargestellt und in ihrem Wert dis-kutiert sind.63

63 Martini, Methodenlehre der therapeutischen Untersuchung (wie Anm. 49).

Kirschner selbst ergänzte seine Kritik der bisherigen Erfahrungs-berichte durch eine eigene prospektive und vergleichende Studie mitdefinierten Inklusionskriterien. In dieser untersuchte er die Wirk-samkeit der Sulfonamidgabe bei aseptischen Operationen zur Mini-mierung der postoperativen infektiösen Komplikationen und fandkeine signifikanten Unterschiede zwischen der Sulfonamid- und derKontrollgruppe.64

64 Ebd., S.447-450.

Insgesamt kam er daher zu folgendem Schluß: Dieexistierenden Berichte über positive Erfahrungen mit den Sulfon-amiden am Menschen seien methodisch völlig unzulänglich und da-her für verbindliche Therapieempfehlungen etwa in der Kriegschir-urgie allein nicht ausreichend. Die bisher vorliegenden Ergebnisseaus Tierversuchen mit Erreger-Reinkulturen seien in sich zwar schlüs-sig, würden aber nicht den »natürlichen Bedingungen« mit poly-bakteriellen Infektionen, »substanzieller Verschmutzung und son-stigen Schädigungen von Gelegenheitswunden« entsprechen.65

65 Ebd., S.450. Es überrascht, daß Ebbinghaus/Roth diese sehr detaillierten und ins-gesamt konsistenten Ausführungen von Kirschner ohne genau auf den Inhalt ein-zugehen als »ressentimentgeladene Polemik« beiseite schieben: Ebbinghaus/Roth,»Kriegswunden« (wie Anm. 38), S. 186 f.; dies um so mehr, da Roth im gleichenBand auf die wissenschaftliche Rationalität und zeitgenössische Attraktivität fürdie Luftfahrtforschung im KZ Dachau hingewiesen hat: Roth, »Tödliche Höhen«(wie Anm. 37).

Im Sommer 1942, zum Zeitpunkt des Beginns der Sulfonamid-Versuche in den Konzentrationslagern, war der Forschungsstandalso keineswegs geklärt und damit die bei den KZ-Experimentenverfolgte Fragestellung »überholt«. Vielmehr knüpften die von Gra-witz und Gebhardt vorgenommenen Experimente zur Sulfonamid-Wirkung66

66 Dies gilt ausdrücklich nur für die Frage nach der Wirkung zusätzlicher Sulfon-

in ihrer Fragestellung und Methodik genau an die Arbei-

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amid-Gaben zur chirurgischen Behandlung von Kriegswunden, nicht etwa für dieExperimente zur Wirkung von homöopathischen Präparaten.

ten von Schreus, Domagk und Kirschner aus den Jahren 1941 und1942 an: Sie versuchten, die methodisch überzeugenden Experi-mente vom Tiermodell vor einer breiten klinischen Anwendungzunächst in ein in möglichst vielen Parametern kontrolliertes undstandardisiertes »Humanmodell« nach dem Vorbild des Tiermodellsbei Schreus zu übersetzen und dabei gleichzeitig die von Kirschnergeforderten methodischen Standards anzuwenden. Dabei wurden al-lerdings die für Menschen im Kontrast zu Tieren geltenden ethischenStandards brutal beiseite geschoben. Konkret bedeutete dies, daßdie medizinischen Forscher in den KZs nach einem genau im vor-aus festgelegten Plan bei den Versuchspersonen definierte Wundenvergleichbarer Art und Größe mit Erregern von standardisierterVirulenz (Aggressivität) infizierten und zusätzlich vergleichbare Ver-schmutzungen und Wundirritationen durch Holzspäne und Glas-splitter produzierten, dann zu definierten Zeitpunkten nach derInfektion/Verschmutzung die verschiedenen Sulfonamid-Präparateund Applikationsformen in Vergleichsgruppen einsetzten, wobei diejeweils miteinander verglichenen Versuchspersonen sich außer inbezug auf die zu untersuchende Behandlungsform nicht unterschei-den sollten und eine möglichst gleiche körperliche Konstitutionhaben sollten. Damit bleibt festzuhalten: Fragestellungen und Ver-suchsaufbau entsprachen vollkommen dem wissenschaftlich-metho-dischen Standard zum Zeitpunkt des Beginns der Experimente imSommer 1942 – abstrahiert man von der brutalen Versuchspraxis undvon der Tatsache, daß hier ein Versuchsaufbau unmittelbar und ohneirgendeine Modifikation vom Tier auf den Menschen übertragen unddamit die Tier-Mensch-Grenze völlig ignoriert wurde.

4. Die Tier-Mensch-Grenze:Methodische Sorgfalt versus moralische Sorge

Das Vorgehen bei den Sulfonamid-Experimenten in den national-sozialistischen Konzentrationslagern kann ganz offensichtlich nichteinfach als wissenschaftlich »überflüssig« und »längst überholt« ab-getan werden – im Gegenteil: Gerade durch die Konfrontation mitdem Umgang mit der Tier-Mensch-Grenze im späten 19. Jahrhun-

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dert zeigt sich hier ein Befund, der auch für eine breitere Reflexionzur Epistemologie und Ethik des Humanexperiments aktuell undirritierend ist:

Betrachtet man den hypothetischen Weg von der Entdeckung derWirksamkeit eines Präparats im Reagenzglas bis hin zum Zeitpunktdes Konsenses von Wissenschaftlern und Ärzten, an dem eine neueTherapiemethode als etabliertes Standardverfahren gilt,67

67 Diese Formulierung schließt nicht aus, daß neues medizinisches Wissen durchausauch primär in klinischen Kontexten (oder an noch anderen Orten) entstandensein kann und daß das Tiermodell in solchen Fällen lediglich einen zweiten Schrittoder sogar – radikaler formuliert – eine argumentative Ressource zur Validierungund Plausibilisierung des zuvor instabilen Wissens darstellte.

so lassensich für die beiden beschriebenen historischen Konfigurationen fol-gende Zwischenschritte auf dieser Strecke dokumentieren:

Bei Kochs bakteriologischen Forschungen im späten 19. Jahrhun-dert ergab die Laborarbeit zunächst Hinweise auf eine Wirkung imTiermodell, verknüpft mit einer Hypothese ohne experimentelleÜberprüfung über den genauen Wirkmodus einer in ihrer Zusam-mensetzung unbekannten Substanz. Dieser Kenntnisstand sowieein Kontext von großen Erwartungen, Handlungsdruck und zu-rückliegenden großen Erfolgen mit einer analogen Methodik recht-fertigten den Übergang zur Erprobung am Menschen, zunächst ineiner kleinen, unsystematisch dokumentierten und ausgewertetenZahl, nach wenigen Wochen bereits in Form der Massenanwen-dung. Für die beteiligten Mediziner rechtfertigte der mögliche Er-kenntnisgewinn, und damit der potentielle Nutzen für zukünftigePatientengenerationen die Eingriffe an den konkreten Menschen,mit denen sie es zu tun hatten. Für Therapie oder Prävention rele-vante und gleichzeitig wissenschaftlich fundierte Fragestellungensowie eine ebenfalls durch den aktuellen Stand der Laborwissen-schaften sanktionierte Methodik wurden als Motoren des Fort-schritts nicht nur der Medizin, sondern auch der Menschheit im all-gemeinen verstanden und galten per se als Rechtfertigung für dasExperiment an Tier und Mensch. Eine Begründung außerhalb desprognostizierten wissenschaftlichen Fortschritts erschien nicht nö-tig. – Hier läßt sich also konstatieren, daß eine vergleichsweise ge-ringe Evidenz aus der Laborphase ausreichte für den großen Schritthin zur breiten Anwendung am Menschen. Dieser Schritt wurdevon den Zeitgenossen erst nach Auftreten von Zwischenfällen als

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problematisch bewertet. Er führte zusammen mit strukturell ähn-lich gelagerten weiteren Fällen68

68 Vgl. dazu Elkeles, Der moralische Diskurs (wie Anm. 36).

zur Formulierung von explizitenRegeln für die Forschung am Menschen.

Im Kontrast dazu war die gleiche prinzipielle Strecke zwischenReagenzglas und Routine-Anwendung im Falle der Sulfonamide inder Kriegschirurgie deutlich kleinteiliger gegliedert und gleichzeitigüber einen längeren Zeitraum ausgedehnt: Nach dem Nachweis derWirksamkeit des neuen, in seiner Chemie analysierten Mittels imReagenzglas wurde die Wirkung auch im Tiermodell überprüft undbestätigt, allerdings zunächst nicht für die in der Kriegschirurgierelevanten klinischen Bilder und Erreger. In weiteren Schritten wur-de dann der genaue Wirkmechanismus des Präparats aufgeklärt so-wie als nächstes der erwünschte Effekt im Tiermodell auch für denrelevanten Erreger nachgewiesen. Parallel wurden unsystematischeErfahrungsberichte über die erfolgreiche Anwendung am Menschenpubliziert, die jedoch den zeitgenössischen Standards klinischer For-schung nicht gerecht wurden. Die Sulfonamid-Experimente in denKZs können nun in ihrer epistemologischen Dimension verstandenwerden als weiterer Zwischenschritt nach dem schlüssigen Wir-kungsnachweis im Tiermodell und vor der obligatorischen Massen-anwendung im Kontext etwa der Kriegschirurgie – im Einklang mitder breiteren Logik eines zunehmend ausdifferenzierten und klein-teiligeren Vorgehens zwischen Reagenzglas und Routine. Im An-schluß an die etablierte und erfolgreiche Methodik des Tiermodellsmit einem Maximum an kontrollierten Parametern wurde nun einentsprechendes »Humanmodell« des Krankheitsbildes und Wir-kungsnachweises für die neue Präparategruppe implementiert. Diesgeschah in vollkommener Übereinstimmung mit den wissenschaft-lichen Prinzipien der Bakteriologie und experimentellen Pharma-kologie. Das Spezifische an diesem »Humanmodell« war, daß nichtnur die Gültigkeit der gleichen epistemologischen Bedingungenfür Tier und Mensch, sondern ebenso die der gleichen ethischenBedingungen für Tier und Mensch ohne irgendeine Modifikationvorausgesetzt wurde – oder, anders gesagt, daß die spezifisch für denMenschen gültige Ethik völlig ausgeblendet wurde. Die in den KZ-Experimenten als Probanden verwendeten Menschen wurden inkeiner Hinsicht anders als Tiere behandelt, jegliche potentielle Dif-

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ferenz bzw. Grenze zwischen Tier und Mensch ignoriert. Nur so läßtsich erklären, daß zur Ermöglichung dieses unter rein epistemologi-schen Gesichtspunkten schlüssigen Zwischenschritts des »Human-modells« wie im Tiermodell gesunde Versuch»objekte« zum Zweckdes Erkenntnisgewinns gezielt mit hoch pathogenen Krankheitser-regern infiziert und chirurgisch verstümmelt wurden.

Im Vergleich dazu kann die Forderung amerikanischer Medizi-ner nach obligatorischer Anwendung von Sulfonamiden bei Kriegs-wunden aus dem Jahr 194169

69 Publiziert im Journal of the American Medical Association 1941, referiert in Do-magk, »Die Sulfonamidpräparate und ihre therapeutische Auswertung« (wieAnm. 59), S. 287; vgl. dazu oben, Text um Anm. ˜ ˜ .

ohne diesen Zwischenschritt einseitigepistemologisch gesehen als Rückfall hinter bereits »erreichte« me-thodische Standards verstanden werden. Das Verhalten der KZ-Ex-perimentatoren könnte damit pointiert charakterisiert werden alsgerichtet auf methodische Sorgfalt ohne humanitäre Rücksicht, dasder amerikanischen Mediziner und militärmedizinischen Admini-stration als gerichtet auf humanitäre Sorge unter Verzicht auf me-thodische Sorgfalt. Tatsächlich war ja das Vorgehen der deutschenExperimentatoren nur möglich an Häftlingen in den Konzentra-tionslagern des NS-Staates, nicht aber an »normalen« erwachsenendeutschen Staatsbürgern – also in einem Raum, wo existierende juri-stische und ethische Standards ignoriert werden konnten. Es han-delte sich somit um experimentelle Medizin in epistemologischschlüssiger, aber moralisch entgrenzter Form. Die Wahl des Ortesder Experimente belegt das Bewußtsein von der juristischen undethischen Unzulässigkeit der Versuche auf seiten der Forscher.

Die Sulfonamid-Experimente in den Konzentrationslagern doku-mentieren damit ebenso wie zuvor die Tuberkulin-Versuche Kochsje spezifische Konstellationen sowohl der Tier-Mensch-Grenzzie-hungen als auch des Verhältnisses zwischen epistemologischer undethischer Dimension für die Rechtfertigung des Schritts vom Tierauf den Menschen. Deutlich wird dabei zunächst, daß es bei derAnwendung des Tiermodells in der Humanmedizin im Zeitraumzwischen etwa 1880 und 1945 keine eindeutigen und fest gefügtenVorstellungen von der Tier-Mensch-Grenze gab, sondern daß die-se Grenze kontextabhängig immer wieder anders gezogen wurde.Selbst bei der Analyse des Handelns eines einzigen Forschers, wieim Fall von Kochs Tuberkulin-Versuchen, finden sich bei genaue-

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rer Betrachtung zwei verschiedene Formen des Tier-Mensch-Über-gangs.

Darüber hinaus ergibt sich ein weiterer Befund: Im Tuberkulin-Fall zumindest latent sichtbar, im Fall der Sulfonamid-Experimenteradikal manifest vorhanden ist eine Fokussierung der medizinischenForscher auf eine von der Ethik abstrahierende, quasi »entsorgte«epistemologische Dimension der Rechtfertigung für den Übergangvom Tier- zum Humanexperiment. Die Geschichte des Tiermodellsin der Humanmedizin und insbesondere der Rechtfertigung für denSchritt vom Tiermodell zum Humanexperiment kann damit alsBestätigung für die These Bruno Latours von der »grand partage«,der kategorialen Separation und getrennten Wahrnehmung vonWissenschaft, Ethik und Politik in den Biowissenschaften der Mo-derne verstanden werden.70

70 Bruno Latour, Wir sind nie modern gewesen. Versuch einer symmetrischen Anthropo-logie, Frankfurt am Main 1998.

Die medizinische Forschung zur Zeitdes Nationalsozialismus wäre in dieser Perspektive eine besondersradikale Manifestation der modernen Biowissenschaften.71

71 Für konstruktive Kritik beim Entstehungsprozeß dieses Textes danke ich CarolineWelsh, Thomas Schlich und Martina Schlünder.

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Petra GehringBiologische Politik um 1900Reform, Therapie, Experiment?

»Nun vertritt aber der Wertforscher ei-nen Willen: Der Geschichtslauf soll einebestimmte Richtung einschlagen. Wo einWille ist, ist auch ein Weg, ist auch eineTechnik. Diese muß Antwort geben aufdie Frage: wie kann jener prognostizierteGeschichtsverlauf so umgestaltet werden,daß er zur Verwirklichung des vorgestelltenWertes führt?«1

1 Walter Haecker, Die ererbten Anlagen und die Bemessung ihres Wertes für das politischeLeben (Natur und Staat 9), Jena 1907, S. 62.

»Wen zu überzeugen die Wissenschaft nichtMacht genug hat, der ist ihrer nicht wert.«2

2 Curt Michaelis, Prinzipien der natürlichen und sozialen Entwicklungsgeschichte desMenschen. Anthropologisch-ethnologische Studien (Natur und Staat 5), Jena 1904,S.206.

1. Vorbemerkung

Gegenstand dieses Beitrages sind weder leibhaftige Menschenver-suche noch Diskurse, die sich auf wissenschaftliche oder klinischeForschungen am Einzelmenschen richten. Vielmehr sollen Theorie-anstrengungen betrachtet werden, die sich auf eine naturwissen-schaftlich gegründete, zukunftswirksame Manipulation der sozialenPopulation im Ganzen – eines Bevölkerungskörpers – richten.

Um 1900 werden in großem Stil Programme populär, die unterabstammungsbiologischem Vorzeichen das geeignete »Wie« einessolchen physischen Zugriffs auf das Gesellschaftsganze entfalten.Üblicherweise spricht man rückblickend von »Sozialdarwinismus«und pflegt die in Rede stehenden sozialhygienisch und eugenischgrundierten Theorien in einem Zusammenhang mit dem National-sozialismus und damit nicht zuletzt in ihrer Nähe zum Menschenex-periment – also dem Experiment am Individuum – zu sehen. Tat-sächlich werden zwar in der Zeit um 1900 erstmals forschungs- und

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fortpflanzungsmedizinische Versuche öffentlich bemerkt und bean-standet, das berufsethische Dilemma des forschenden Arztes wirddiskutiert, und in kritischer Absicht taucht der Begriff des »Experi-ments« am Menschen auf.3

3 Vgl. früh und mit der Forderung nach einer »ärztlichen Ethik« Albert Moll, Ärzt-liche Ethik. Die Pflichten des Arztes in allen Beziehungen seiner Thätigkeit, Stuttgart1902 (zum Zusammenhang Barbara Elkeles, Der moralische Diskurs über das medizi-nische Menschenexperiment im 19. Jahrhundert, Stuttgart, Jena u.a. 1996).

Auch legen der Blick auf das Grauen derNS-Zeit und die Menschenexperimente der sowjetrussischen For-schung die Vermutung nahe, es gebe unmittelbare Zusammenhängezwischen Erbbiologie und neuen, drastischen Formen einer geziel-ten, zum Nutzen der »Wissenschaft« veranstalteten Manipulationvon Individuen.

Die Frage, die ich stellen möchte, faßt dennoch von vornhereineine andere Ebene ins Auge. Ich möchte wissenschaftliche Program-matiken betrachten, die tatsächlich primär die Population im Gan-zen zum Gegenstand haben und deren Interventionsabsichten sichauf dieses eigenartige, statistisch generierte Objekt richten. Es han-delt sich also um Pläne oder Szenarien, die man – möglicherweise –als so etwas wie einen Versuch am Gesellschaftskörper im Ganzenbezeichnen könnte und die von daher dann erst in einem zweitenSchritt – gleichsam in abgeleiteter Form – das Individuum erfassenund betreffen.

In dieser Vorentscheidung – zu fragen nach regelrechten »Versu-chen« mit der Natur der »Population« – steckt einerseits eine These:Nicht allein der Menschenleib, sondern mit ähnlichem Ernst mögli-cherweise auch die Physis des Sozialkörpers kann zum Objekt vonForschung und wissenschaftlicher Manipulationen werden. DiesenVorverdacht entnehme ich Foucaults skizzenhafter Analyse zu einer»Biopolitik der Bevölkerung«,4

4 Michel Foucault, Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit 1 (1976), Frankfurtam Main 1983, S. 166.

die im Laufe des 19. Jahrhundertsnicht nur wohlfahrtsstaatliche, sondern auch biomedizinische Kon-turen gewinnt. Andererseits und im weiteren hat diese Vorentschei-dung jedoch den Charakter einer Probe: Wie genau sieht der Zugriffauf den Sozialkörper aus? Paßt auf die um 1900 diskutierten Op-tionen einer wissenschaftlich angeleiteten Manipulation des biolo-gischen Bevölkerungskörpers das Modell des (biologischen, biome-dizinischen) Experiments? Diese Frage dient als Leitfaden meines

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Beitrags. Die Rede vom »Menschenversuch« ist also lediglich einSondierungsbegriff. Er wird genutzt, um moderne, szientifische Pro-grammatiken einer Intervention, die im Populationsmaßstab mitoffenem Ausgang in die Biologie des Menschen erfolgen soll, mög-lichst genau zu beschreiben und in ihrer Spezifik zu verstehen.

2. Indizien

Um 1900 treten Diskurse der Manipulation der eigenen Rasse oderGattung mit einem klaren Anspruch auf Wissenschaftlichkeit her-vor, und es spricht wenig dafür, sie pauschal als lediglich ›politisch‹oder ›populär‹, also einfach als ideologischen Zwischenfall zu klassi-fizieren. Auch die deutsche Aufarbeitungsperspektive, Resultat gut-gemeinter Reflexe, birgt ihre Gefahren: Die Diskurslage der Jahr-hundertwende erscheint als bloße Vorgeschichte. Sie wird als Beginneiner Verwirrung stilisiert, die zwischen aggressiv-politischem So-zialdarwinismus und naiv-schwärmerischer »Lebensreform« quasinur aus Zeitgeist besteht, um – womöglich eben deshalb – in derNS-Ideologie zu enden. Ein zentrales Interpretament ist die An-nahme einer sozialdarwinistischen »Entwertung« des Lebens, wel-che die christlich geprägte Ethik und den mit ihr verbundenenGleichheitsgedanken unterminiert und damit ein Denken der selek-tiven Bewertung und der Herabstufung des einzelnen eröffnet.5

5 Vgl. Richard Weikart, »Devaluing Human Life in Germany 1859-1920«, in: Journalof the History of Ideas 63 (2002), S. 323-344, mit weiteren Nachweisen und einemÜberblick über den Diskussionsstand.

Im folgenden wird bewußt eine andere Perspektive gewählt. Ichwerde den damaligen analytischen und planerischen Anstrengungendie epistemische Kontur einer harten, teils disziplinären, teils inter-disziplinären, vor allem aber nicht nur auf Entwertung angelegten,sondern positiven Rationalität des »Lebens« zubilligen, die sich um1900 formiert. Der unmittelbare Objektstatus ganzer »Populationen«gehört zu dieser Rationalität hinzu. Unter dem doppelten Vorzeichender empirischen Sozialwissenschaften ist um 1900 so etwas wie eineepochale Verschiebung der Vorstellung von der Materialität desBevölkerungsganzen bereits erfolgt. Michel Foucault, Ian Hacking,Francois Ewald und andere haben diesen Objektstatus beschrieben –er betrifft auch das biologische »Leben« der Population: Der Stoff, der

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wir ›sind‹, ist im Medium der Statistik tatsächlich so weit skalierbargeworden, daß die Sozialempirie wie selbstverständlich auf verschie-denen Stufungen eines Lebenskontinuums hin- und hergleiten kann– eines Kontinuums, das die Zell-, die Individual-, die Familien- unddie Gattungsebene umfaßt. Wenn im ausgehenden 19. Jahrhundertvon sozialer Physik oder vom Sozialkörper die Rede ist, so ist dieskeine Metapher. Die moderne wissenschaftliche Weltanschauunglehre uns »mit immer größerer Deutlichkeit«, so ein Protagonist einesTextcorpus, um das es im folgenden gehen soll, »das eine: daß diemenschlichen Gemeinwesen in höherem Grade als wir gemeinhinglauben, den Wert einer biologischen realen Einheit zu besitzen.«6

6 Alfred Methner, Organismen und Staaten. Eine Untersuchung über die biologischenGrundlagen des Gesellschaftslebens und Kulturlebens (Natur und Staat 8), Jena 1906,S.167.

Die »sozialdarwinistische« – oder vielleicht sollte man sagen:lebenswissenschaftliche – Perspektive um 1900 bleibt allerdings inkeiner Weise auf Biologie oder Medizin begrenzt. Im Gegenteil. Esgibt eine Menge Indizien dafür, daß man die Rolle der Biologie imsogenannten Sozialdarwinismus nicht überschätzen sollte.

3. Fragestellung

Der Zeit »um 1900« nähere ich mich in einem exemplarischen Aus-schnitt, der tatsächlich so etwas wie eine Momentaufnahme der Dis-kurslage liefern kann. Betrachtet wird der unmittelbare Kontext,dem der Begriff »Biologische Politik« entstammt. Es sind diejenigenSchriften, die als Antworten auf die berühmte, im Jahr 1900 vondem Biologen und monistischen Populärphilosophen Ernst Haeckel,dem Ökonomen Johannes Conrad und dem Biologen EberhardFraas gestellte und anonym von Alfred Krupp finanzierte Preisfra-ge prämiet und dann auch publiziert worden sind. GemeinsamesThema dieser Texte sind die politischen Folgerungen, die aus den»Prinzipien der Deszendenztheorie« zu ziehen seien. Sechs der achtprämierten Preisarbeiten7

7 Der mit einem zweiten Preis ausgezeichnete Beitrag Politische Anthropologie. EineUntersuchung über den Einfluß der Descendenztheorie auf die Lehre von der politischenEntwicklung der Völker von Ludwig Woltmann wurde auf Wunsch des Verfassers,der den Preis ablehnte, gesondert publiziert.

und weitere drei der eingereichten Beiträ-

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ge8

8 Als zehnter und abschließender Band des Sammelwerks erscheint mit deutlicherVerspätung ein Lehrbuch von Ziegler selbst. Warum der Beitrag eines der Preisträ-ger, Friedmann, nicht publiziert wurde, teilen die Herausgeber nicht mit.

sowie schließlich noch eine nachgeschobene zoologische Arbeitsind in den Jahren 1903 bis 1911 in der repräsentativen Form eineszehnbändigen Sammelwerks erschienen. Es trägt den Titel Naturund Staat. Beiträge zur naturwissenschaftlichen Gesellschaftslehre.

Geradezu demonstrativ werden das wissenschaftliche Geprägeder Reihe wie überhaupt der wissenschaftliche und keinesfalls poli-tisch-programmatische Anspruch des ganzen Preisschrift-Unterneh-mens betont. Für das Sammelwerk komme es nicht darauf an, soschreibt eröffnend als federführender Herausgeber der ZoologeHeinrich Ernst Ziegler, ein repräsentatives Spektrum der politischenParteien zu versammeln, »denn für die Preisverteilung kam die poli-tische oder sozialpolitische Richtung der Arbeiten nicht in Betracht,indem gemäß den Bestimmungen des Preisausschreibens die wissen-schaftliche Behandlung des Themas und die wissenschaftliche Be-deutung der Arbeit die Entscheidung bedingten«.9

9 Vgl. Heinrich Ziegler, »Einleitung«, in: Heinrich Matzat, Philosophie der Anpas-sung mit besonderer Berücksichtigung des Rechtes und des Staates. Mit der Einleitungzu dem Sammelwerke Natur und Staat von Prof. Dr. H. E. Ziegler in Jena (Natur undStaat 1), Jena 1903, S. 1-24, hier S. 21.

»Ruhm« des Preis-ausschreibens solle es vielmehr sein, »in unserer Zeit der Agitatorenund Schwätzer wieder einmal die stillen Denker zu Wort kommenzu lassen«.10

10 Ebd., S. 10.

Der hehre Anspruch verhinderte nicht, daß die ReiheNatur und Staat von Anfang an als kompakter diskursiver Vorstoßan der Schnittfläche von Wissenschaft und Gesellschaft wahrge-nommen wurde. Es sei ein Werk, durch welches – so ein Kritiker inden Preußischen Jahrbüchern vom Mai 1904 – »Professor Haeckel-Jena eine umfassend angelegte Aktion gegen die historische Weltan-schauung in unserem öffentlichen Leben unternimmt«.11

1 1 Zitiert nach Wilhelm Schallmayer, Beiträge zu einer Nationalbiologie, Jena 1905,S.XI.

Man darfannehmen, daß die publizierten Arbeiten öffentliches Interesse fan-den. Insbesondere die mit dem ersten Preis bedachte Schrift vonWilhelm Schallmayer: Vererbung und Auslese im Lebenslauf der Völ-ker. Eine staatswissenschaftliche Studie auf Grund der neueren Biolo-gie erhielt nachhaltige Aufmerksamkeit.12

12 Sheila Faith Weiss, Race Hygiene and National Efficiency. The Eugenics of Wilhelm

Schallmayer ist Arzt, tritt

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Schallmayer, Berkeley, S. 90, nennt über zwanzig wissenschaftliche Rezensionensowie zwei Besprechungen in Tageszeitungen für die erste Auflage von Vererbungund Auslese (Wilhelm Schallmeyer, Vererbung und Auslese im Lebenslauf der Völker.Eine staatswissenschaftliche Studie auf Grund der neueren Biologie, [Natur und Staat3], Jena 1903. Das Buch erschien in zwei weiteren Auflagen, vgl. unten Anm. 14und 19).

aber programmatisch als Soziologe auf und wirkt ab 1904 als eineder Schlüsselfiguren der Auseinandersetzung um eine soziologischeRassenhygiene oder auch »eugenische Soziologie«. Schallmayer istauch wissenschaftspolitisch aktiv, unter anderem 1909 als Mitunter-zeichner des Gründungsaufrufs der Deutschen Gesellschaft für So-ziologie13

13 »Die Deutsche Gesellschaft für Soziologie [Einladung zum Beitritt in die DGS]«,in: Georg Simmel, Miszellen, Glossen, Stellungnahmen, Umfrageantworten, Leser-briefe, Diskussionsbeiträge 1889-1918. Anonyme und pseudonyme Veröffentlichungen1888-1920. Gesamtausgabe, Bd. 17, Frankfurt am Main 2005, S. 165-174, S. 167,S. 173.

sowie als Gründungsmitglied im ersten »Ausschuß« derGesellschaft.14

14 Dokumentiert ist unter anderem eine heftige inhaltliche Kontroverse Schallmay-ers mit Ferdinand Tönnies. Auch Tönnies hatte ein Manuskript zur Preisschrifteingesandt. Vgl. zu Schallmayers Sicht auf den Schlagabtausch das Vorwort derabermals stark überarbeiteten und unter verändertem Titel publizierten drittenAuflage seiner Preisschrift Vererbung uns Auslese: Wilhelm Schallmayer, Grundrißder Gesellschaftsbiologie und der Lehre vom Rassedienst. Für Rassehygieniker, Ärzte,Anthropologen, Soziologen, Erzieher, Kriminalisten, höhere Verwaltungsbeamte undpolitisch interessierte Gebildete aller Stände, 3Jena 1918, S. VII f.

In Fortsetzung der Thesen seiner Preisschrift publi-ziert Schallmayer 1905 das knapper und pointierter gestaltete BuchBeiträge zu einer Nationalbiologie. In diesem Text prägt er die Formelvon der »biologischen Politik«.

Im folgenden sollen nun nicht nur Schallmayers Arbeiten, son-dern die in Natur und Staat publizierten Preisschriften insgesamt insAuge gefaßt werden. Die Fragen, die ich an das Material richtenmöchte, lauten: Wie stilisiert sich kurz nach 1900 der durch die Preis-frage selbstbewußt zum Sprechen gebrachte Typ einer »wissenschaft-lichen«, einer »naturwissenschaftlichen« Gesellschaftsforschung mitdem Ziel der Erarbeitung von Anweisungen an die Politik? Undgenauer: Als welche Form von Handeln wird in jenen Texten diemanipulative, die intervenierende, die explorative Seite dieser »wis-senschaftlichen« Politik entworfen? Lassen sich hier Paradigmenausmachen, eines oder mehrere Leitbilder? Haben sich die Autorenden steuernden Eingriff in das Fortpflanzungs- und Bevölkerungs-

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geschehen als naturwissenschaftliches Unternehmen vorgenom-men, etwa als einen »Versuch«, ein Experiment im Großmaßstab?Oder welche anderen Typen des Handelns geben jenen im Zeichender »Naturwissenschaft« vorgetragenen Plädoyers für den Eingriff indie generative Wirklichkeit der Gattung ihr Vorbild und ihr Maß?

Im Titel meines Beitrags werden neben dem experimentalwissen-schaftlichen Paradigma zwei weitere Kandidaten für solche anderenFormen des praktischen Intervenierens genannt: zum einen das poli-tische Modell der Reform, zum anderen das traditionsreiche Bild vonder Gesellschaftssteuerung als Krisenabwehr und medizinische The-rapie des Gemeinwesens, also die Analogie zum ärztlichen Tun.

4. »Biologische« Politik

»Was lernen wir aus den Prinzipien der Descendenztheorie in Bezie-hung auf die innerpolitische Entwickelung und Gesetzgebung derStaaten?« so lautete die Preisfrage von 1900 im Wortlaut. Durch eineder Ausschreibung beigelegte Erläuterung des anonymen Stifterswird diese Aufgabenstellung präzisiert. Es soll zum einen das (biolo-gische) Vererbungsproblem fokussiert werden. Zum anderen wirddie Übertragung des Evolutionsgedankens – und ausdrücklich: desPrinzips der Anpassung – auch auf »Traditionen« (also auf Kultur-güter) angeregt.15

15 Den Text der Erläuterung zur Ausschreibung dokumentiert Ziegler, »Einleitung«(wie Anm. 9), S. 2-4.

Alle für preiswürdig erachteten Arbeiten halten sich an diese Vor-gabe, lediglich die Einengung der Darwinschen Theorie auf denAnpassungsgesichtspunkt bildet sich in den Arbeiten nicht ab. DieAutoren formulieren jedoch jeweils klare Bekenntnisse zur Natur-wissenschaft und zu einem naturwissenschaftlich begründeten Welt-bild, in welches sie soziale bzw. kulturelle Phänomene mit einbe-ziehen. Der disziplinäre Zuschnitt der Texte ist unterschiedlich,sowohl im Hinblick auf die Ausbildung der Autoren als auch gemes-sen am artikulierten Anspruch der Texte. Die zweiten PreisträgerHeinrich Matzat, Arthur Ruppin und Albert Hesse entwerfen je-weils einen im weiteren Sinne sozialwissenschaftlichen oder sozial-philosophischen Ansatz. Divergenter dann die dritten Preisträgerund die nicht preisgekrönten zum Druck ausgewählten Arbeiten:

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Curt Michaelis bezeichnet seine Arbeit als »anthropologisch-ethno-logisch« und argumentiert völker- und rassenpsychologisch. LudwigWoltmann verbindet anthropologische Naturgeschichte mit »politi-scher Rechtsgeschichte«.16

16 Vgl. Ludwig Woltmann, Politische Anthropologie. Eine Untersuchung über den Ein-fluss der Descendenztheorie auf die Lehre von der politischen Entwicklung der Völker,Eisenach, Leipzig 1903, S. 2.

Abroteles Eleutheropoulos will eine na-turalistische Soziologie begründen, der Autodidakt Emil Schalk, inder Wirtschaft tätig, konzentriert sich auf den ökonomischen Wett-kampf (exemplarisch zwischen Deutschland und Amerika), der Me-diziner Alfred Methner auf eine allgemeine Züchtungspolitik undder Pfarrer Walter Häcker entfaltet eine Art gesundheitspolizeilicheVision.

Schallmayers Schrift Vererbung und Auslese wird von ihm selbst als»sozialbiologisch« und »soziologisch« bezeichnet – wobei das Buchdann in der erheblich erweiterten zweiten Auflage 1910 den durchmehrere Kapitel vertretenen Aspekt der »Politik« zusätzlich heraus-hebt. Nachdem Vererbung und Auslese in der ersten Fassung von 1903ein eher deskriptiv angelegtes Gesamtbild der (aus seiner Sicht) be-völkerungspolitisch krisenhaften Lage vorlegt17

17 Neben anderem bildet die in Deutschland wie Frankreich schwache Geburtenent-wicklung den Hintergrund für Schallmayers Analysen, vgl. zu seiner Auseinander-setzung mit neomalthusianischen Positionen Weiss, Race Hygiene and NationalEfficiency (wie Anm. 12). Einzelheiten sind hier nicht mein Thema, aber ganz si-cher ist die »prewear paranoia« (Weiss, S. 127) hinsichtlich der Geburtenrate nureine unter mehreren Facetten der Schallmayerschen Position. Keinem der Autorenin Natur und Staat ist es nur um Quantitäten zu tun. So krude die Ansätze sind, istdoch stets das schwer einschätzbare Ineinander von Quantität und Qualität ihrThema.

und eine Anzahl vonmöglichen sozialpolitischen Maßnahmen diskutiert, fordert Schall-mayer 1905 in seiner Schrift Beiträge zu einer Nationalbiologie dieSchaffung eines Faches »Nationalbiologie« (in Analogie zur Natio-nalökonomie) sowie die Einrichtung eines entsprechenden Ministe-riums. Das diesbezügliche Kapitel des Buches trägt die Überschrift»Biologische Politik«. Charakterisiert wird die Zielstellung einer sol-chen Politik an Ort und Stelle wie folgt:

Bei naturwissenschaftlicher Betrachtungsweise der Politik erscheint als de-ren letztes Ziel die Schaffung der Bedingungen möglichst dauerhafter Erhal-tung und womöglich auch eines gedeihlichen Wachstums des Volkskörpers.Nun hängt die Konkurrenzfähigkeit der Völker und Staaten einesteils von

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ihren ererbten Qualitäten ab, andernteils von der Verfügung über jene nurdurch Tradition von Generation zu Generation übertragenen Machtmittel,welche die Kultur liefert. Daraus folgt offenbar, daß nicht nur die letzteren,die Kulturgüter, sondern auch die generativen menschlichen Erbwerte Gegen-stand der Politik sind, wenigstens einer um- und weitsichtigen Politik.18

18 Schallmayer, Beiträge zu einer Nationalbiologie (wie Anm. 11), S. 65 f.

1910, in der zweiten Auflage seiner Preisschrift, gibt Schallmayereine ähnliche Definition. Er spricht dann allerdings nicht mehr von»biologischer«, sondern von »generativer« Politik:

Generative Politik. Alle Bestrebungen und Maßnahmen zur Beeinflussungder Fortpflanzungsverhältnisse des Volkskörpers kann man unter der Be-zeichnung generative Politik zusammenfassen. Sie zerfällt in die quantitativeund qualitative Bevölkerungspolitik. Für letztere hat Galton die sehr glück-lich gewählte Bezeichnung Nationaleugenik eingeführt.19

19 Wilhelm Schallmayer, Vererbung und Auslese in ihrer soziologischen und politischenBedeutung. Preisgekrönte Studie über Volksentartung und Volkseugenik, 2. Aufl., Jena1910, S. 352.

Schallmayer wird im Text gleichwohl dem Wort »Rassedienst« denVorzug geben, und zwar weil dieses »nicht nur auf die Qualität, son-dern auch auf die Quantität der Reproduktion des Volkskörpersbezogen werden kann, während ›Eugenik‹ sich nur auf die Qualitätbezieht«.20

20 Ebd.

1918 erscheint Schallmayers Buch in einer dritten, erneut verän-derten Fassung und unter anderem Titel (vgl. oben Anm. 14). Hierwird dem »Rassedienst« ein veränderter, noch einmal dringlicherformulierter Auftrag gegeben:

Wenn nicht noch rechtzeitig ein so wirksamer Rassedienst einsetzt, daß esgelingt, die Fortpflanzung des Volkskörpers in eine sowohl qualitativ wiequantitativ gedeihliche Bahn zu lenken, so hat die weiße Rasse ihre besteZeit hinter sich, sie wird die Kraft zur kulturellen Führung der Menschheitverlieren. Wenn einmal diese Einsicht sich in den leitenden Kreisen durch-gesetzt haben wird, dann wird sicher keine Anstrengung und kein Opfer zurAbwendung dieses Verlaufes zu groß erscheinen. Wären wir heute schon soweit, so wäre es nicht zu spät, besonders nicht für das deutsche Volk. Denndie Mittel des modernen Staates zur Beeinflussung des Rasseprozesses sind,wie gezeigt wurde, mannigfaltig und mächtig, und die kulturelle Begabungdes deutschen Volkes ist besonders reich.21

21 Schallmayer, Grundriß der Gesellschaftsbiologie (3. Aufl. von Vererbung und Auslese,wie Anm. 14), S. 501.

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5. Reform?

Das Programm der Etablierung einer »Nationalbiologie« als wissen-schaftliches Pendant einer »biologischen« oder »generativen« Poli-tik, die sich später zu dem Jargonwort »Rassedienst« verdichtet, istzweifellos als politisches Reformprogramm angelegt. Trotz des Be-zugs auf die Naturwissenschaft erscheint die Gesellschaft bei Schall-mayer nicht als Gegenstand von Versuchen, sondern als Objektfeldvon Politik – wobei mit der Doppeladresse »Völker und Staaten«sowohl die staatlich-politische Ebene als auch der »Volkskörper«gemeint ist (also die physische Verfassung der Gesellschaft, wobeiSchallmayer die nationalpolitische Kategorie »Volk« und die sozio-logische Kategorie »Gesellschaft« synonym verwendet; 1918 heißt esu.a. »Gesellschaftsbiologie«).

Skizziert wird ein Reformgedanke, allerdings einer, der tief greift,nämlich nicht allein bestimmte neue Maßnahmen staatlichen Re-gierens fordert, sondern auch ein verändertes, fundamentaleres Ver-ständnis von Politik: Nicht nur die »Kulturgüter«, heißt es 1905,sondern auch die »generativen menschlichen Erbwerte« müßen Ge-genstand der Politik werden. Gefordert ist eine neue Form der Weit-sichtigkeit, welche die evolutionären Mechanismen quasi ihrerseitsim Wege von Entwicklung nutzt. Sosehr die Autoren von den Er-gebnissen der Naturwissenschaft, von einem »Darwinistischen Stand-punkt«,22

22 Schallmayer, Vererbung und Auslese (1. Aufl., wie Anm. 12), S. 237.

vom »Standpunkt der Selektionstheorie«23

23 Ebd., S.245.

ausgehend einegrundsätzlich neue Sichtweise verlangen, sosehr identifizieren siesich im Blick auf die »innerpolitische Entwickelung der Staaten«dennoch mit dem Gedanken einer allmählichen – vielleicht würdeman heute sagen: nachhaltigen – Politik.

Bereits die Erläuterung der Preisaufgabe 1900 schließt revolutio-näre Veränderungen aus. Und zwar quasi von der Sache her: Fort-entwicklungsprozesse müssen »sozusagen in Fleisch und Blut desVolkes« übergehen.24

24 In den Erläuterungen heißt es: »Da die Grundbedingung einer gesunden undrationellen Weiterentwickelung in der gründlichen Kenntnis und gewissenhaftenBefolgung überlieferter Gesetze und Institutionen zu suchen ist, so kann auch voneiner ferneren rationellen Entwickelung der Institutionen auf Grund der Anpas-sung nur dann die Rede sein, wenn der Geist der bestehenden Institutionen sozu-

Dieses Motiv der überlebensnotwendigen »An-

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sagen in Fleisch und Blut des Volkes übergegangen ist. Soweit dies nicht der Fall ist,kann eine versuchte Weiterbildung der Gesetzgebung nur illusorischen Wert haben(einen scheinbaren Fortschritt bedeuten). Eine langsame und stetige Entwickelungder Gesetze und Institutionen, welche der Aufnahmefähigkeit des Volkes Schritthält, trägt demnach am meisten zum gesunden Fortschritt des Volkes bei (Ziegler,»Einleitung« [wie Anm. 9], S. 3).

passung« wird auch in etlichen der Preisschriften als Kopplungsstellezwischen Deszendenztheorie und Staatspraxis genutzt: Mit der Not-wendigkeit der Anpassung korrespondiere die Idee der politischenReform.25

25 Vgl. Matzat, Philosophie der Anpassung (wie Anm. 9); Emil Schalk, Der Wettkampfder Völker, Jena 1905, S. 6.

»Vom naturwissenschaftlichen Standpunkt«, schreibt Schallmayer,»muß man sagen, das Tempo eines gedeihlichen sozialen Fortschrittshängt einerseits von der Dringlichkeit des Anpassungsbedürfnisses undandererseits von der Fähigkeit des sozialen Körpers zur Anpassung ab.Je mehr die Soziologie die Möglichkeit bieten wird, beide richtigzu beurteilen, desto mehr werden Reformen Aussicht auf Erfolghaben [. . .].«26

26 Schallmayer, Vererbung und Auslese (1. Aufl., wie Anm. 12), S. 295.

»Anpassung« ist Verbesserung des »sozialen Körpers«und damit sowohl der Eigenschaften als auch der politischen Posi-tion nicht etwa des Individuums, sondern des Gemeinwesens. DieseVerbesserung erfolgt – politisch gesprochen – im »Kampf« oder aber– biologisch gesprochen – im Prozeß der »Auslese« der Nationen,Gemeinwesen und Völker. So erscheint der Gedanke einer Art»Natur« von Reformen: Sie sind selbst Medium des evolutionärenKampfes. Aufgabe der Regierungskunst muß es sein, jene natürlichenwie auch auseinandersetzungsreichen Ausleseprozesse so zu lenken,daß die erwünschte Entwicklung zwar initiiert wird, aber doch auchvon sich aus zustande kommt. Schallmayer zufolge ergibt sich aufdiesem Wege letztlich eine Dynamisierung von Politik über dieQualität bloßer »historischer« Entwicklungen hinaus:

Nach den aus der übertragenen Selektionstheorie sich ergebenden Anschau-ungen wird sich die historische Richtung in der Soziologie und in der innerenPolitik einer dynamischen Auffassung unterordnen müssen. Es kommt bei einerReform zunächst nicht darauf an, was bisher war, sondern darauf, was jetztnot tut, um im friedlichen oder kriegerischen Ringen der Völker oben zubleiben [. . .].27

27 Ebd., S.284.

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Wer eine so angelegte Reform (und Anpassung) verweigert, den be-straft der politische Konkurrent, eigentlich aber auch die auslesendeoder »ausmerzende« Natur:Wir fanden, daß vom Standpunkt der auf Selektion aufgebauten Descen-denztheorie das letzte Ziel jeder staatlichen Politik auf Dauer kein anderessein kann als das, die Völker zum Bestehen des Daseinskampfes zu kräftigen;daß jede damit nicht übereinstimmende Richtung der Politik vor dem Rich-terstuhl der natürlichen Auslese stets Verurteilung findet, und daß dieseRichterin, wenn sie auch scheinbar eine Zeit lang Nachsicht übt, ihreUrteile unbedingt tödlich vollstrecken läßt, sobald sie einen Vollstrecker,nämlich einen Mitbewerber in der Konkurrenz ums Dasein, gefunden hat.28

28 Ebd., S. 379.

In diesem eigentümlichen Ineinander von politischer Lenkung undderen Sanktion durch die Mechanismen der natürlichen Entwick-lung spielt der Staat eine zentrale Rolle. Biologische Politik ist natio-nalstaatliche Gouvernementalität – wobei der Bevölkerungskörpermit dem Nationalstaat nicht nur eine rechtliche Organisationsformbesitzt, sondern gleichsam eine übergeordnete Subjektivität. Dasphysiologisch-staatliche Ganze ist das eigentliche Subjekt der bevöl-kerungspolitischen Notwendigkeiten: »Alles für den Staat und allesdurch den Staat! Der einzelne muß im Staate aufgehen und ihm alleszu opfern bereit sein, aber der Staat muß ihm auch ein schützenderFittig und ein wirklich heiliges Gebilde sein – ein Ideal, für das manmit freudigem Herzen lebt und stirbt«,29

29 Arthur Ruppin, Darwinismus und Sozialwissenschaft (Natur und Staat 2), Jena1903, S. 132.

heißt es bei Ruppin. Meth-ner zitiert Giercke zum Wesen menschlicher Verbände: »Nur ausdem höheren Werte des Ganzen gegenüber dem Teil, läßt sich diesittliche Pflicht des Menschen begründen, für das Ganze zu lebenund wenn es sein muß zu sterben. Der Schimmer einer hohen sitt-lichen Idee aber verblaßt, wenn man das Volk nur als eine Summeder jeweiligen einzelnen Volksgenossen betrachtet [. . .].«30

30 Otto von Giercke, Das Wesen menschlicher Verbände, als abschließendes Zitat in:Methner, Organismen und Staaten (wie Anm. 6), S. 167.

Etwasvorsichtiger, aber eben doch auch ähnlich, postuliert Hesse, ein Li-beraler: »Die Rücksicht auf sich selbst und auf die Bürger, das eigeneInteresse und das der Untertanen, richtet das Augenmerk des Staatesauf die Prinzipien der Deszendenztheorie . . .«31

31 Albert Hesse, Natur und Gesellschaft. Eine kritische Untersuchung der Bedeutung derDeszendenztheorie für das soziale Leben (Natur und Staat 4), Jena 1904, S. 72.

Bei etlichen Autoren

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ist es außerdem das Konzept der mit anderen »Rassen« konkurrie-renden »Rasse«, welches dasjenige des Nationalstaats entweder über-lagert (Michaelis, Methner, Haecker) oder aber nationalstaatlichePolitik mit einer Art Matrix unterlegt, an der sich die Qualität natio-nalstaatlicher Maßnahmen zeigen kann (Schallmayer).

Alle Preisschriften operieren also in einer – trotz Unterschiedenim Detail – durchaus ähnlichen Weise mit der Diskursoption »Re-form«.32

32 Vgl. markant Matzat, Philosophie der Anpassung (wie Anm.9), S. 160; Schallmayer,Vererbung und Auslese (1. Aufl., wie Anm. 12), S. 262, S. 284; Abroteles Eleuthero-poulos, Soziologie (Natur und Staat 6), Jena 1904, S. 2.

Zugleich wird man sagen müssen: Sie argumentieren poli-tisch, nämlich für eine öffentlich zu führende Reformdebatte undeine in terminis von Kampf und Auseinandersetzung gefaßte Politik– nicht aber für eine Verwissenschaftlichung des Politischen. Auchdie nachdrücklich (Ruppin, Eleutheropoulos, Woltmann) oder ver-halten (Schallmayer) sich zu sozialistischen Idealen bekennendenTexte entwerfen keine Modelle einer Verwissenschaftlichung vonPolitik: keine Programme der wissenschaftlich angeleiteten Planunggesellschaftlicher Entwicklung oder der wissenschaftlichen Zukunfts-forschung anstelle von Politik.

Zwei Denkfiguren betten das Reformdenken vieler Preisschriftenauf typische Weise ein. Zum einen wird die reformpolitische Bedeu-tung von »Ethik« betont. Zum anderen die Notwendigkeit einerEinbindung der Wissenschaft in eine ebensosehr politische wie »na-türliche« Rolle, die ihr im Kampf der Völker ums Überleben zu-kommt.

Indem die Preisschrift von Eleutheropoulos ihren positivistisch-wertneutralen Standpunkt für das Sein als Entscheidung gegen dasSollen formuliert, stellt sie eine Ausnahme dar. Die Soziologie kön-ne zwar auf ihrem Gebiet »Schlüsse für die Zukunft des sozialenLebens ziehen«, sie untersuche aber nicht, was für die Zukunft sein»soll«.33

33 Ebd., S.2 f.

Die übrigen Texte positionieren sich anders. Sie betonenden wichtigen Stellenwert, welcher infolge der Deszendenztheorieder »Ethik« zukomme und amalgamieren »Ethik« sowohl mit dereigenen Theorie als auch mit Politik.

»Betrachtet werden muß – da die Politik einen Zweig der Ethikdarstellt – die Ethik«,34

34 Matzat, Philosophie der Anpassung (wie Anm. 9), S. 3/39 (das Buch von Matzat ist

heißt es bei Matzat. Er konstruiert das ratio-

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doppelt paginiert: jeweils oben rechts und unten in der Mitte. Die beiden – durch-gehend gegeneinander versetzten – und hier mit Schrägstrich abgetrennten Seiten-zahlen verweisen also auf dieselbe Seite).

nale ethische Vorsehen als Errechnung einer »Wertsumme« undsieht das Recht als Medium der ethisch informierten Politik. Aufdiese Weise (qua Recht) will Matzat eine Art evolutionäres Wertur-teil institutionalisieren: mittels erzwungener Anpassungsleistung.Die »Rechtsanpassung« sei »Rechtsauslese«: »Sie will nicht, daß allenMenschen geholfen werde, sie will, daß die Menschen besser wer-den. Und das setzt sie durch, langsam, aber mit tödlicher Sicherheit:Tödlich für die Zurückbleibenden, sicher für die Vorwärtsschreiten-den – volentibus et valentibus.«35

35 Ebd., S. 188/114.

Die »ethische« Bilanzierungslogik,die der Autor anbietet, ist von erschütternder Einfachheit:

Wenn ein Mensch die Erhaltung und Vermehrung der Wertsumme will, soist er ein guter Mensch und sein Wille ein guter Wille; wenn er dagegen eineVerminderung der Wertsumme will, ist er ein schlechter Mensch und seinWille ein böser Wille.36

36 Ebd., S. 20/56.

[. . .]Wenn wir also etwas wert sein wollen, so müssen wir die Erhaltung und

Vermehrung der Wertsumme wollen. Und wenn unser Wert davon abhängt,ob wir die Erhaltung der Wertsumme wollen oder nicht, so hängt ebendavon auch unsere Berechtigung ab, überhaupt in der Welt zu existieren.37

37 Ebd., S. 21/57. Zur Matzatschen Wertethik als direkter Verlängerung des Anpas-sungsgedankens vgl. Rolf Winau, »Natur und Staat oder: Was lernen wir aus denPrinzipien der Deszendenztheorie in Beziehung auf die innerpolitische Entwick-lung und Gesetzgebung der Staaten?«, in: Berichte zur Wissenschaftsgeschichte 6(1983), S. 123-132, hier S. 125.

Der Theologe Haecker – auch in der Frage des Umgangs mit den›Minderwertigen‹ ein besonders rigider Visionär – rät dem Staat un-umwunden die »Ausnützung des Wettbewerbs der Weltauffassung«,um auf seiten der Bürger für eine »Idealübernahme« zu sorgen.38

38 Vgl. Haecker, Die ererbten Anlagen und die Bemessung ihres Wertes für das politischeLeben (wie Anm. 1), S. 289.

Schallmayer fordert zwei Komponenten, zum einen eine Aufklä-rung und Erziehung der Jugend im Geiste Darwins, zum andereneine eigens zu schaffende Ethik, die er zunächst (mit dem von Alex-ander Tille geprägten Terminus) »Entwicklungsethik« nennt.39

39 Vgl. Schallmayer, Beiträge zu einer Nationalbiologie (wie Anm. 11), S. 69 (ohne

Spä-

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Hinweis auf Tille, vgl. Vererbung und Auslese, (1. Aufl. [wie Anm. 12], S. 249 f. mitVerweis auf Tille).

ter wird Schallmayer sein Ethikprojekt dann mit einem eigenen Aus-druck belegen: »rassedienstliche Ethik«.40

40 Das sei präziser als Tilles »Entwicklungsethik«. Vgl. Schallmayer, Vererbung undAuslese (2. Aufl., wie Anm. 19), S. 454.

»Dienst« ist bei Schall-mayer weniger religiös oder kirchlich konnotiert (wie dies etwa beiHaeckels »monistischer Ethik« zunehmend der Fall ist), sondern dieRede vom »Dienst« behält einen Bezug auf die politisch-administra-tiven Ebenen des Staates. Schlagend deutlich wird der politisch-in-strumentelle Charakter der Ethik bei Schallmayer mit dem in derzweiten Auflage von Vererbung und Auslese zweimal äquivalent ver-wendeten Terminus »Sozialsuggestion«. Den Fortpflanzungswillen»am wirksamsten fördern« würde, so heißt es, »eine mit allen Mit-teln der sittlichen Erziehung und der sonstigen Sozialsuggestion zuübende Beeinflussung der öffentlichen Meinung und Wertung«.41

41 Vgl. Schallmayer, Vererbung und Auslese (2. Aufl., wie Anm. 19), S. 358.

Michaelis definiert Ethik als Beachtung von Rechten und Pflichten,beides geschehe im Reich zu wenig: »Die Erziehung ist hier der Fak-tor, der allein helfen kann.«42

42 Michaelis, Prinzipien der natürlichen und sozialen Entwicklungsgeschichte des Men-schen (wie Anm. 2), S. 196.

Schallmayer arbeitet die Züge der ethi-schen Beeinflussung der öffentlichen Meinung am genauesten aus.Sie richtet sich gegen »Humanität« und führt die Interessen kom-mender Generationen ins Feld:

Was wir da Humanität nennen ist Schwäche gegenüber gegenwärtigen,Ungerechtigkeit und blinde Grausamkeit gegenüber kommenden Indivi-duen. [. . .] [D]ie Kosten der weitherzigen Berücksichtigung der Interessen desgegenwärtig lebenden Individuums haben die folgenden Generationen zu be-zahlen, die in diese Versicherung auf Gegenseitigkeit nicht mit eingeschlossensind. Die moderne Ausdehnung des Rechts der Individualität schließt einebeinahe schrankenlose Gleichgiltigkeit gegen die Stammesinteressen in sichein, die auch die künftigen Generationen umfassen, und indirekt gegen dieInteressen des Menschenstammes. Ein die Menschheitsinteressen mißach-tendes Verhalten verdient aber jede andere Benennung eher als die der Hu-manität.43

43 Schallmayer, Vererbung und Auslese (1. Aufl., wie Anm. 12), S. 153.

Neben dem teils affirmativen, teils instrumentellen Ruf nach Ethikfindet sich in den Preisschriften das Projekt Wissenschaft selbst inein als Existenzkampf stilisiertes Hintergrundpanorama eingetragen

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– und in diesem Sinne dann ausdrücklich politisiert. Die Fragennach den Faktoren, welche Fortschritt und Rückgang der organi-schen Entwicklung bedingen, seien »Lebensfragen der Völker«, istbei Hesse zu lesen.

Die Soziologie ist eben erst an diese Probleme herangetreten; die Naturwis-senschaft hat ihr die Augen geöffnet. Doch schon regen überall sich Hände,an dem Werk mitzuarbeiten; und es ist eine Lust, in einer Zeit zu leben, dadie Geister erwachen. Die Aufgabe der Erforschung der Wahrheit trifft hierzusammen mit der Pflicht, zu seines Volkes Wohl zu arbeiten.44

44 Hesse, Natur und Gesellschaft (wie Anm. 31), S. 227.

Schallmayer folgert, drastischer, aus dem Daseinskampf, auch dieWissenschaft sei Kampf und also Politik: Alle »Kulturerrungenschaf-ten«, auch

. . . die Höhe und Ausbreitung der sittlichen und der wissenschaftlichen Bildung,die Entwicklung der Technik, der Rechtspflege usw. [müssen, P.G.] unter demGesichtspunkt der Ausrüstung zum sozialen Daseinskampf betrachtet werden,und ihre fortschreitende Entwicklung, die in der Anpassung an die steigen-den Erfordernisse sozialer Machtentfaltung besteht, als Ergebnisse diesesKampfes. Auf diese Weise steht die erweiterte Selektionstheorie in naherBeziehung zur Politik.45

45 Schallmayer, Vererbung und Auslese (1. Aufl., wie Anm. 12), S. 214.

Bei Matzat ist es die direkte Instruktion von Ethik und Recht – imSinne von Entwicklung statt Revolution –, die der Wissenschaft zu-fällt: »[. . .] die Wissenschaft von der Gerechtigkeit ist nunmehr dieWissenschaft von der Entwickelung der Gerechtigkeit.«46

46 Matzat, Philosophie der Anpassung (wie Anm. 9), S. 313/349.

Und Meth-ner bezeichnet die »moderne Wissenschaft« als »Führerin des Lebensim höchsten Sinne des Wortes«.47

47 Methner, Organismen und Staaten (wie Anm. 6), S. 60.

Lebensbedeutsamkeit im SinneNietzsches – durchaus aber auch die Bereitschaft zum »Kampf«48

48 »So lehrt uns dann die Deszendenztheorie und ihre wissenschaftliche Begründungnicht nur die Worte verstehen: Der Krieg ist aller Dinge Vater, aller Dinge König,sondern auch jenes Satzes: Die Weltgeschichte ist das Weltgericht« (ebd., S. 60).

sind hier mitgedacht.

63

6. Therapie?

Neben der Programmatik einer politischen Reformperspektive – dieEthik instrumentell einsetzt und Wissenschaft existenziell politi-siert – prägen zahlreiche medizinische Metaphern den in den Preis-schriften sich abbildenden Diskurs. Therapiemotive übernehmeninsbesondere dort die Führung, wo die Feststellung einer wissen-schaftlich erwiesenen Degeneration, Entartung oder gar beginnen-den »Selbstausmerzung der hochkultivierten Völker«49

49 Schallmayer, Vererbung und Auslese (2. Aufl., wie Anm. 19), S. XI.

mit der da-zugehörigen Versäumnisdrohung in den Vordergrund tritt. Politikwird dann mit einer medizinisch gebotenen Maßnahme, einem chir-urgischen Eingriff etwa, verglichen. So eine Parallelisierung vonPolitik und Medizin bei Schallmayer: Je mehr die Soziologie dieMöglichkeit biete, Anpassungsbedürfnisse und Anpassungsfähig-keit des sozialen Körpers richtig zu beurteilen, desto mehr hätten Re-formen Aussicht auf Erfolg: »unter Umständen auch, wenn sie [. . .]mit einem sehr gefährlichen, aber notwendigen und glücklich ver-laufenden chirurgischen Eingriff zu vergleichen sind«.50

50 Schallmayer, Vererbung und Auslese (1. Aufl., wie Anm. 12), S. 245.

Bedeutsa-mer sind Stellen, welche auf Behandlung einer »Krise« zielen unddann nicht nur ganz allgemein die Politik, sondern auch den Beitragdes selektionstheoretisch aufgeklärten Wissenschaftlers als Medizinund als eine Art von ärztlicher Maßnahme ansprechen. Die Natur»richte« über uns – so wiederum Schallmayer –, indem sie den poli-tischen Konkurrenten über uns siegen lasse. Die Deszendenztheorieaber lehre diese »geschichtliche Tatsache besser als bisher verstehen.Sie klärt uns darüber auf, daß diese Aufeinanderfolge nicht auf inne-rer Notwendigkeit beruht, sie weist uns auf Ursachen hin, die bisherganz unbeachtet geblieben waren, und zeigt uns den Weg, diese auf-zuheben. Sie verrät uns, wie der völkermordenden Kultur der Gift-zahn auszuziehen ist«.51

51 Ebd., S. 380.

In leichter Variation heißt es noch einmal inder zweiten Auflage: »Erst wenn es gelungen sein wird, der Kulturden völkermordenden Giftzahn auszuziehen, wird diese in Zukunftzu bisher unerreichten Höhen emporsteigen können.«52

52 Schallmayer, Vererbung und Auslese (2. Aufl., wie Anm. 19), S. XI.

In der Mi-schung ihrer Aspekte ist die schöne Metapher vom Giftzahn be-zeichnend: Sie mobilisiert die Idee einer Situation der medizini-

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schen Gefahrenabwehr – eine schleichende Vergiftung muß durchBeseitigung ihrer Ursache beendet werden. Aber in die Vorstellungvon Krise und Heilung mischt sich der Unterton des Kampfes.Nicht eine Krankheit, sondern eben eine Vergiftung wird verhindert– womöglich der »Angriff« der Schlange Kultur gebändigt, ein nichtnäher bestimmter Drache bekämpft.

Neben solchem medizinischen Heroismus ist es eine andere Zu-griffsebene, die sich im medizinischen Schema plausibilisieren läßt:Biologische Politik richte sich nicht auf (oder gegen) Personen, son-dern allein auf die »Keime«, die diese in sich tragen. In dieser Hin-sicht hebt Schallmayer die vorgeschlagenen sozialbiologischen Inter-ventionen von der natürlichen Selektion positiv ab: »Die natürlicheAuslese bezieht sich auf das Leben und den Tod von Personen; für dasRasseinteresse hingegen kommt es nur auf die Entwicklung oderNichtentwicklung ihrer Keime, auf die Auslese zur Fortpflanzung,an.«53

53 Schallmayer, Nationalbiologie (wie Anm. 11), S. 114.

Mit anderen Worten: Gelingt es, allein die Keime zu treffen,so können die Personen ruhig geschont werden. Biologische Politikist nicht an Tötung, allerdings auch nicht an individuellem Lebeninteressiert. Sie bedarf weder eines Gegners noch einer Feinderklä-rung, sondern operiert a-human wie die Zellbiologie: Ihre Sorge giltallein der Ebene einer Weitergabe der Keime. Allerdings müsse, soschaltet Schallmayer die Frage nach den Personen dann doch auchwieder hinzu, nach dem Wegfall der natürlichen Keimauslese – alsounter Kulturbedingungen – die geschlechtliche Zuchtwahl greifen,»die mit durchschnittlicher vorzeitiger Vernichtung minder angepaß-ter Keimträger (Personen) arbeitet«.54

54 Ebd., S.95.

Bei der Frage, wer sich (nur)fortpflanzen kann, soll und darf, kommt die Person also wieder insSpiel. Eine quasimedizinische Sorge um die Fortpflanzung (Dar-wins sexual selection) muß die individuelle Selektion ersetzen.

7. Experiment?

Mit Ausnahme des Beitrags von Schalk – der seine Thesen aus derpersönlichen Kenntnis des amerikanischen Wirtschaftslebens her-leitet und als wissenschaftlicher Laie schreibt – artikulieren allePreisschriften einen wissenschaftlichen Anspruch und reklamieren

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die Gründung ihrer Überlegungen auf »Naturwissenschaft«. Derszientifisch-naturalistische Gestus rechtfertigt eine generelle Exper-tise zur Politikbegutachtung. Er scheint auch konnotiert mit einemPathos der »Verantwortung« – Verantwortung für eine Zukunft, dienur mit naturwissenschaftlichem Instrumentarium erkennbar ist,wie auch Verantwortungsübernahme für Eingriffe in das Gegen-standsfeld Gesellschaftsnatur.

Teils wollen die Autoren den Naturwissenschaften lediglich einelängst fällige »praktische« Ergänzung bieten, »weil die naturwissen-schaftliche Betrachtungsweise in der Sozialwissenschaft nicht an-wendbar ist«, so der neukantianische Soziologe Arthur Ruppin.55

55 Ruppin, Darwinismus und Sozialwissenschaft (wie Anm.29), S.7. Vgl. weiter: »DerMensch hat zwar theoretisch gelernt sich als einen Zweig wie tausend andere Zweigeam Stamme der organischen Welt zu betrachten und sich eine verhältnismäßigbescheidene Rolle im Kosmos anzuweisen. Aber praktisch stellt er sich in den Mit-telpunkt der Welt und beurteilt und wertet alle Erscheinungen nur nach dem Nut-zen, den sie dem Menschen bringen. Er leuchtet nur in diejenigen Erscheinungenmit dem Lichte seiner Vernunft hinein, von deren Kenntnis er Förderung dermenschlichen Wohlfahrt erwartet« (S. 11).

Teils geht es aber ausdrücklich um die direkte Einsicht in Kausalzu-sammenhänge des Überlebenskampfes, um einen »Gewinn an kau-saler Verständlichkeit« hinsichtlich des generativen Aufstiegs undNiedergangs der Völker – im Rahmen einer kausal bestimmten »Ge-schichte, die noch nicht aus ist, die immer noch weiter spielt«.56

56 Schallmayer, Vererbung und Auslese (1. Aufl., wie Anm. 12), S. 95.

Undes geht um die naturwissenschaftlich-technische Nutzbarmachungdieser Kausalzusammenhänge – einschließlich der in der Erläute-rung zur Preisfrage schon postulierten Übertragung: der »analoge[n]Auffassung« der Entwicklungstheorie »hinsichtlich unserer gesell-schaftlichen Erscheinungen«.57

57 Ebd., S.213.

Die Autoren heben ebenso eine Kontinuität in der Methodik her-vor, so der Kultursoziologe Eleutheropoulos: Eine Unterabteilungder Biologie sei die Soziologie zwar nicht, aber sie stünde fest aufdem Standpunkt einer »auf breitere Basis gestellten Induktion«.58

58 Eleutheropoulos, Soziologie (wie Anm. 32), S. 7, S. 10.

Sonstige für die Soziologie angeführte Methoden seien schief odernur eine besondere Färbung der induktiven Methode. »Ersteres giltgegen eine sogenannte ›psychologische‹, letzteres gegen die sogenann-

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te biologische und eine organische Methode in der Soziologie.«59

59 Ebd., S. 14.

Eleu-theropoulos versteht unter Induktion die Ableitung aus »Tatsachen«– wenn auch ethnologischen Tatsachen –, nicht aus Messung. Aucheine methodische Reduktion auf Kausalität wird angedeutet, etwabei Woltmann, der erst die biologisch-anthropologischen sowie hi-storisch-politischen »Tatsachen« darstellen und dann »den innerenursächlichen Zusammenhang zwischen beiden Tatsachenreihen«aufdecken will.60

60 Woltmann, Politische Anthropologie (wie Anm. 16), S. 2.

Induktion also – womöglich so streng wie in der Physik: Folgt derDiskurs der biologischen Politik mit einem solchen Selbstverständ-nis nicht doch, wo sie auf Gesellschaft ausgreift, dem Modell desnaturwissenschaftlichen Experiments? Vielleicht gar der Idee vonder Gesellschaft als Labor? Ein nachträglich in die Frage nach denUrsprüngen des NS-Rassedenkens und seiner Eugenik eingeknüpf-tes Klischee ist dasjenige des Biologismus. Diesem populären Deu-tungsmuster zufolge war die Geschichte des Sozialdarwinismusdie der Entfesselung einer rassebiologischen Logik, eines (allzu) na-turwissenschaftlichen Weltbildes und einer Vernaturwissenschaft-lichung der Soziologie. Auch Menschenversuche wären dann alsResultat einer »Biologisierung« der Medizin, der Psychologie undder Sozialforschung zu betrachten – bedenkenloses Handeln in derArt einer entfesselten Grundlagenforschung, die gleichsam keineGrenzen mehr kennt.

Wendet man die Frage nach Elementen eines »experimentellen«Denkens als eine Art Lackmustest auf die Preisschriften über dieinnenpolitische Bedeutung der Deszendenztheorie an, so bestätigtsich die Vermutung vom experimentalwissenschaftlichen Vorbildnicht. Die Naturwissenschaftsorientierung wird zwar beschworen,aber dennoch fehlt das Pathos des kontrollierten Versuchs oder auchnur der systematischen Erprobung. Die geforderte Verbesserung desVolkskörpers wird in keiner der Preisschriften als Prüfung von Hy-pothesen eingeführt. Vielmehr wird von der pragmatischen Richtig-keit der eigenen Ableitungen ausgegangen und, wenn man will, eherim Ingenieursstil denn im naturwissenschaftlichen Stil eine Heu-ristik appliziert – und auf Ergebnisse hingearbeitet. Es geht umAnwendung unter in vielem offenen Randbedingungen, die es abernicht zu minimieren (oder zu kontrollieren), sondern zu bewältigen

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gilt – nicht um Regelwissen, sondern um die Meisterung einer Her-ausforderung.

Naturwissenschaftlichkeit wird denn auch eher den eigenen Aus-gangsannahmen zugeschrieben als der eigenen Methodologie. In derFrage, wie man auf den Gesellschaftskörper zugreift, dominiert dasschon skizzierte Bekenntnis zur Politik – und ergänzend treten dastherapeutische Pathos und das Szenario medizinischer Gefahrenab-wehr hinzu. In letzter Instanz ist die Politik Krieg – Kampf umsDasein – oder aber riskanter Selbstheilungsversuch der Gattung.Nicht aber ein gesellschaftlicher Großversuch oder ein Experimentan Menschen.

Selbst dort, wo Autoren vererbungstheoretische Unklarheiten ein-räumen, raten sie nicht zu reversiblen Maßnahmen oder zur Erpro-bung von Theorien. Etwa in der strittigen Frage der Vererbung er-worbener Eigenschaften favorisieren die Preisschrift-Beiträge einStandpunktdenken – Schallmayer ist Weismannianer, andere haltendie Lamarckistische Option, also Erbgutverbesserung durch Erzie-hung, offen und spielen die (praktisch ja große) Bedeutung dieserAlternative eher herunter, als sich ihr – etwa durch klare Wenn/dann-Überlegungen zu stellen. Dem Muster des Experimentierensfügt sich der spezifische Naturalismus der »biologischen Politik«auch in dieser Hinsicht nicht.

Was sich allerdings findet, sind Konstellationen, die Foucaultals Macht-Wissens-Zugriffe charakterisieren würde: Die Autorenfordern ein Ineinander von sozialpolitischer Intervention und Wis-sensgewinnung, also forschend-voranschreitender Exploration vonimmer besseren Eingriffsmöglichkeiten. So konstatiert der vergleichs-weise methodenbewußte und daher vor ungesicherten Schrittenwarnende Hesse: Erst wenn die Hypothese der Degeneration vonHochkulturen tatsächlich erwiesen sei, sei der Zeitpunkt zum Ein-greifen gegeben – und wendet dies dann in einen politischen Appellfür die Erhebung von Forschungsdaten: »Für jetzt kann staatlichesEingreifen nur tätig werden durch genaue Verfolgung der Mor-bidität, der Mortalität und der Vererbungsverhältnisse, um sichdie Grundlage gesetzgeberischen Vorgehens zu schaffen.«61

61 Hesse, Natur und Gesellschaft (wie Anm. 31), S. 133 [Hervorhebung im Original].

ÄhnlichSchallmayers Vorschlag zur Einrichtung erbbiographischer Stamm-bücher: Diese sollen einerseits die Eheschließenden lehren, rechtzei-

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tig den »Keimwert«62

62 Das Wort verwendet Schallmayer in Beiträge zu einer Nationalbiologie (wie Anm.11).

künftiger Partner in Betracht zu ziehen. Siedienen andererseits aber auch der Forschung:

Für jede Person soll also eine Art von Erbbiographie angelegt und zeitlebensfortgeführt werden. Diese Erbpersonalien sollten Angaben enthalten erstensüber die direkt feststellbaren Erbqualitäten jeder Person, zweitens über sol-che Tatsachen aus ihrem Leben, die zur indirekten Erkennung der zu erfor-schenden Erbanlagen beizutragen vermögen.63

63 Schallmayer, Vererbung und Auslese (1. Aufl., wie Anm.12), S. 389.

Noch deutlicher die Beiträge zu einer Nationalbiologie. Hier plädiertSchallmayer für die »offizielle Anlegung von Individualstammbäu-men, welche Angaben nicht nur über wichtige, direkt feststellbareErbqualitäten jeder einzelnen Person, sondern auch über alle dieTatsachen enthalten würden, welche indirekt zur wissenschaftlichenErkenntnis erblicher Anlagen geeignet erscheinen«.64

64 Schallmayer, Beiträge zu einer Nationalbiologie (wie Anm. 11), S. 96.

8. Was also sonst?

›Naturwissenschaftliche Denkweise – bis hin zum eiskalten Men-schenversuch‹: Dieses Deutungsmuster des Sozialdarwinismus ver-fehlt die Spezifik biologischer Politik. Naturwissenschaftspathos,Forschungsorientierung, Krisenrhetorik und Interventionsbereit-schaft lassen sich in den Preisschriften finden – ein Experimental-paradigma jedoch nicht.

Zweifellos stellt nicht zuletzt die Preisaufgabe selbst die Weichenin diese Richtung. Sie fordert zwar nicht eine populäre, aber eine»angewandte« Perspektive und keinen experimentell legitimiertenoder beweisenden Zugang zur Sache. Die Form der Preisaufgabe –aller deklarierten Wissenschaftlichkeit zum Trotz – öffnet den Dis-kurs bewußt auch für nicht fest in der Wissenschaft verankerte Au-toren. Die Beiträger wissen, daß sie – wenn schon nicht für dieÖffentlichkeit, dann doch mindestens auch – für Politiker und Ent-scheider schreiben. Dies mag das Corpus der Preisschriften unterein besonderes Vorzeichen stellen. Dennoch ist es bezeichnend, daßSchallmayer sein populäres Buch – die Beiträge zu einer Nationalbio-

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logie – der Preisschrift erst zwei Jahre später noch nachschob. Verer-bung und Auslese ist ein aufwendig argumentierendes und sperrigesOpus mit einer Vielzahl von Literaturdiskussionen und umfangrei-chen Belegen. Auch die Arbeiten von Hesse, Ruppin und Eleuthero-poulos ringen erkennbar um Systematik und ein möglichst hohesakademisches Niveau.

Von daher sollte man die Abwesenheit eines Denkens des Experi-ments oder jedenfalls die Abwesenheit des naturwissenschaftlichenExperimentaldiskurses im Diskurs der biologischen Politik um 1900als aufschlußreich vermerken. Vieles spricht dafür, daß das Bekennt-nis zur Naturwissenschaft, was die Aufgabenstellung und die Inter-ventionsebene biologischer Politik angeht, ein im Grunde ober-flächliches, ein ›leeres‹ Bekenntnis ist.

Bleibt die Frage: Wo, wenn nicht im Experiment, liegt denn dannder methodologische Schwerpunkt der Preisarbeiten? Hierauf bietetsich für meine Begriffe eine interessante Antwort an, die freilich insprätendierte naturalistische Selbstbild des Diskurses der Preisschrif-ten gar nicht paßt.

9. Das Paradigma der Nationalökonomie:Erbökonomische »Wahl« und »Werte«

Was in den Preisarbeiten – von der charakteriologischen Prosa desRassekundlers Michaelis einmal abgesehen – durchweg dominiert,ist das Werkzeug der als politische Arithmetik entstandenen gesamt-steuerungsorientierten Sozialstatistik, genauer: das methodologi-sche Vorbild der Nationalökonomie.

Die Autoren reden von Natur. Es ist aber nicht so, daß sie dasvorhandene sozialstatistische Material einfach im Ergebnis naturali-sieren. Vielmehr deuten sie es als ein Gefüge von dynamischenWirkzusammenhängen und (Effekte zeitigenden) Bewertungen –und interpretieren die Evolution selbst als eine ökonomische Dy-namik, die über Erbgut, Lebensfähigkeit und Durchsetzungsver-mögen Werturteile fällt. Es wird also nicht die gesellschaftlicheEntwicklung »Naturgesetzen« unterworfen, sondern die offene Dy-namik sozialstatistischer Phänomene wird in die biologische Evo-lution gleichsam hineingeschoben – was eigentlich einer Umgrün-dung oder zumindest dramatischen Erweiterung der Darwinschen

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Lehre (die kulturelle Dynamiken nicht mit einbezieht) gleich-kommt.

Gäbe es soziale Naturgesetze, so verlöre jede Beurteilung des so-zialen Lebens ihren Sinn, und das »Eingreifen der Gesetzgebung«würde »nichts zu bessern« vermögen – diese Bemerkung Hesses65

65 Hesse, Natur und Gesellschaft (wie Anm. 31), S. 66.

ließe sich in alle Preisarbeiten hineinkopieren. Keiner der Autorenist strenger Determinist, keiner interessiert sich im Grunde über-haupt für Naturgesetze. Statt dessen rekonstruieren fast alle die »Se-lektion« erstens als komplexes Geschehen und zweitens nach demVorbild der ökonomischen Wahl – einer Wahl, welche die Evolutiontrifft. Der entscheidende Schritt ist jedoch der, daß sie jenes »Urteil«der Natur nicht auf eine verborgene Regel hin interpretieren, son-dern im Wege der Ermittlung von »Werten«. »Erbwert«, »generativerWert«, »Keimwert«, »Vollwertigkeit«, »Minderwertigkeit« – in Para-metern diesen Typs denkt nicht nur Matzat, der seine Philosophie derAnpassung explizit als Wertphilosophie konzipiert; auch Schallmay-er, der Monist Michaelis, der Mediziner Methner und der TheologeHaecker schieben die Instanz der »Wertentscheidung« als das aus-schlaggebende Element zwischen ihre eigenen Analysen und denDarwinismus. Woltmann definiert staatliches Recht als den »so-ziale[n] Ausdruck des physiologischen Selektionswertes«66

66 Woltmann, Politische Anthropologie (wie Anm. 16), S. 244.

und ver-bindet seine anthropologischen Einsichten direkt mit dem (libera-len und marxistischen) Mehrwertbegriff: Wer »die begrenzten undschon verbrauchten anthropologischen Kräfte einer Nation kennt,wird im Interesse einer zweckmäßigen Verwertung des Nationalver-mögens für die Rassenzucht eine Differenzierung der Entwicklungs-bedingungen, nicht nur nach Beruf und Talent, sondern auch nachRasse, Geschlecht und Klasse verlangen müssen.«67

67 Ebd., S. 321 [Hervorhebung im Original].

Die Reihe der Bei-spiele ließe sich verlängern. Einem Scharnier ähnlich erlaubt dievariable Rede vom »Wert« den Autoren, sich von der Evolution alsNatur im strengen Sinne zu lösen und eine Evolution des Sozialenals eine Sozialnatur zu entwerfen, deren konkrete Notwendigkeitensich in der Art einer Ökonomie entschlüsseln und steuern lassen.68

68 Der Haeckelsche »Lebenswert« – im 17. Kapitel der 1904 und in der populärenVolksausgabe 1906 erschienen Lebenswunder entfaltet Haeckel ihn als etwas, das in

Wie diese Natur so lenkt auch die durch biologische Politik aufge-

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»subjektive« (persönliche) und »objektive« (gesellschaftliche) Aspekte zerfällt –wirkt demgegenüber vergleichsweise statisch und naiv. Haeckels Botschaft: Jehöher sich arbeitsteilige Staaten entwickeln, »je inniger der gegenseitige Bedarf derdifferenzierten Individuen wird, desto höher steigt der objektive Lebenswert derletzteren für das Ganze, desto mehr sinkt aber zugleich der subjektive Wert derIndividuen« (Ernst Haeckel, Die Lebenswunder. Gemeinverständliche Studien überBiologische Philosophie [1904], Volksausgabe, Stuttgart 1906, S. 164).

klärte Gesellschaft ihre eigene, die künstlich gesteuerte »Auslese«,»Anpassung« und Zucht in Analogie zu einer Rationalität der rich-tigen Wertewahl und Wertentscheidung. Und biologische Politiksetzt nicht ein Wissen um Naturgesetze um, sondern ist Handelnunter Unsicherheit im Rahmen einer Art erbstoffpolitischer Öko-nomie – im nationalstaatlichen Rahmen läßt es an marktsteuerndesHandeln wie auch an unternehmerisches Handeln denken. Auchdas Keimgut erscheint aus dieser Perspektive als ein im Hinblick aufErträge zu bewirtschaftendes »Gut« unter Gütern. Matzat verquicktSozialtheorie und Anpassungsgedanken ganz direkt zu einer »Wert-ethik«, die zugleich »Güterlehre«, »Tugendlehre«, »Pflichtenlehre«sein soll.69

69 Vgl. Matzat, Philosophie der Anpassung (wie Anm. 9), S. 47/83.

Hesse kritisiert die malthusianische Reduktion des Über-bevölkerungsproblems auf die Ressourcenfrage und plädiert für einekonsequenter ökonomische Sicht: Übervölkerung sei ein relativerBegriff; »die Produktion an Lebensgütern und die Ansprüche sind maß-gebend«.70

70 Hesse, Natur und Gesellschaft (wie Anm. 31), S. 184 [Hervorhebung im Original].

Auch bei Ruppin wird die Darwinsche Naturselektiondurch ein (letztlich) volkswirtschaftliches Selektionsmotiv durch-brochen: Unter Kulturbedingungen sei Leben kein Selbstzweck,heißt es im Text. Physische Stärke sei für den modernen Staat weni-ger wichtig als Gesundheit: »Die physische Stärke und Vollkom-menheit des Einzelnen ist sozial nur insoweit ein Gut, als sie nötigist, um den Einzelnen am Leben und zur Erfüllung seiner sozialenAufgaben tauglich zu halten.«71

71 Ruppin, Darwinismus und Sozialwissenschaft (wie Anm. 29), S. 124.

Und bei Schallmayer findet sicherneut eine sprechende Metapher. Rückschläge im Kampf gegenDegeneration können vermieden werden, »wenn einmal die höchst-kultivierten Völker einer rassedienstlichen Ethik huldigen werden,deren höchstes Gebot sein wird, das von den Vorfahren erhalteneorganische Erbgut den Nachfahren mit Zinsen zu hinterlassen«.72

72 Schallmayer, Vererbung und Auslese (2. Aufl., wie Anm. 19), S. XI f.

Politisch folgt aus diesen verallgemeinerten, mit dem weitergebba-

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ren (nicht dem sterblichen) biologischen Leben kurzgeschlosse-nen Ökonomien,73

73 Leben machen und Sterben lassen – so hat Foucault die politische Maxime para-phrasiert, die aus der Präferenz für ein von der individuellen Existenz abgelöstesKontinuum von (biologisch bebildertem) »Leben« Ende des 19. Jahrhundert folgt(vgl. Michel Foucault, In Verteidigung der Gesellschaft. Vorlesungen am College deFrance 1975-76 (1996), Frankfurt am Main 1999, S.278, sowie ders., Der Wille zumWissen (wie Anm. 4), S. 165). Im Hinblick auf die Funktion des Konzepts »Leben«belegt der Diskurs der Preisschriften Foucaults Theorem einer »Bio-Macht«, mitder zugunsten von szientifisch betreuter Lebensproduktion der individuelle Todunwichtig wird.

daß man zur Steuerung von Selektionsprozessennicht am Körper oder am Verhaltensspielraum des Menschen ein-setzt, sondern bei der Manipulation von Präferenzstrukturen. Indieser Hinsicht ist dann plötzlich auch der Unterschied zwischenden Lamarckisten und den Weismannianern nicht wirklich groß:Die einen wollen bestimmte Eigenschaften vererbt sehen und daherdurch Erziehung selektieren, die anderen konzentrieren sich auf dieZuchtwahlpräferenzen und setzen nicht auf Erziehung, sondern aufdie Selektionseffekte von Fortpflanzungspolitik. Wert und Wahl,positive Auslese wie auch das Motiv der Ausmerzung, greifen in bei-den Szenarien.

Für die theoretische Analyse der biologischen Politik und des So-zialdarwinismus rückt damit der Wertbegriff ins Zentrum der Über-legungen. Daß dieser Begriff im Sozialdarwinismus und insbeson-dere in den »Unwert«-Urteilen der negativen Eugenik grassiert, isthinlänglich bekannt. Jedoch gibt es da eine Art ›ethischen Fehl-schlusses‹ – als sei es gleichsam der Griff zu negativen moralischenWertungen, eine Art Zynismus aufgrund von Naturalismus, derchristliche Werte durchbrach und im Gefolge Darwins das diskrimi-nierende Kalkül des »Lebenswertes« entstehen ließ.

In den Preisschriften zeigt sich, daß die Rolle des Wertbegriffserstens nur vor dem Hintergrund einer ökonomischen Relationie-rung des Verhältnisses von Natur und Politik verständlich wird –und daß der Wertbegriff zweitens seinen Sinn keineswegs in einerAbwertung von Leben hat. Es ist, im Gegenteil, eine Aufwertung undeine Logik der Produktivität – eine volkswirtschaftliche Gut- undProduktfassung – von Leben, der die sozialdarwinistische Perspek-tive Rechnung trägt. Die »ethischen« Werte werden zum bloßenUnterfall der umfassenden Ökonomie eines sozialnatürlichen Wer-tes des Lebens. Und ein ökonomischer Kalkül der Lebenssteigerung

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ist die Vorderseite derjenigen Münze, auf deren Rückseite »lebens-unwert« steht.

10. Technik

Im Diskurs der Preisschriften läuft noch ein anderes methodologi-sches Leitbild mit, das nicht so sehr ins Auge springt wie die Ökono-mie von Wahl und Wert, aber in mitlaufenden Bemerkungen dochwiederholt durchscheint. Gleichsam als natürliche Folge ergibt sichaus dem Anspruch der Gründung auf »Naturwissenschaft« die Vor-stellung einer technischen Form der biologischen Politik. Zum Quie-tismus, zum »soziologischen Fatalismus«, merkt Schallmayer in sei-ner Nationalbiologie an einer Stelle an, führten seine Einsichten nicht.Denn:

Stößt denn nicht auch der naturwissenschaftlich geschulte Techniker fort-während auf naturwissenschaftliche Gesetze, die beachtet sein wollen? Legter etwa in Anbetracht von deren Unverbrüchlichkeit die Hände in denSchoß? Macht nicht vielmehr gerade die Kenntnis und die Beachtung dieserGesetze sein Eingreifen in das mit kausaler Notwendigkeit sich vollziehendeNaturgeschehen erfolgreich?74

74 Schallmayer, Beiträge zu einer Nationalbiologie (wie Anm. 11), S. 51 f.

Ruppin bringt für die aus Darwins Theorie zu ziehende Schlußfol-gerung, auch der Mensch müsse gezüchtet werden, ein ganz ähn-liches Bild:

Wenn es einem Künstler oder Handwerker nicht gelingt, aus einem be-stimmten Material ein Werk in gewünschter Form hervorzubringen, so wirder versuchen, das Material selbst zu ändern und für die Bearbeitung geeigne-ter zu machen; sollte sich dasselbe Verfahren nicht auf den Menschenanwenden lassen? Oft genug ist von Soziologen und Ärzten darauf aufmerk-sam gemacht worden, daß es eigentlich merkwürdig sei zu sehen, wie wir inder Zucht unserer Haustiere und Hauspflanzen nach bestimmten Regelnverfahren und dadurch die Tauglichkeit jener Tiere und Pflanzen für unsereZwecke unendlich vermehrt haben, daß aber an eine zweckbewußte Züch-tung und Verbesserung des edelsten Produktes der Erde, des Menschen, sogut wie gar nicht gedacht werde.75

75 Ruppin, Darwinismus und Sozialwissenschaft (wie Anm. 29), S. 44 f.

Das Verhältnis zwischen der Deszendenztheorie und ihren politi-schen Erträgen gliche damit dem Vorbild des Verhältnisses zwischen

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Naturwissenschaft und Technik. Der biologische Politiker rückt indie Nähe des Ingenieurs – oder gar eines auf ganz neue Weise pro-duktiven Ingenieurs, wie es Schallmayer in einer überbietungslo-gischen Formel nahelegt: Die Volkseugenik könne mehr Nutzenhaben »als die denkbar nützlichste technische Erfindung«.76

76 Schallmayer, Vererbung und Auslese (2. Aufl., wie Anm. 19), S. VIII.

11. Schluß

Der Versuch, die zehn Preisschriften als einen Diskurs zu lesen, hatnaheliegende Grenzen. In vielen Hinsichten – Stellung der Religion,Eigentums- und Klassenfrage, Rassenlehre, Rolle der Frau und derFamilie, Umgang mit den bürgerlichen Freiheiten, Interpretationder Darwinschen Theorie – differieren die Entwürfe der Autorendeutlich. Mein Interesse galt dem Versuch, sie gleichwohl in einengemeinsamen diskursiven Rahmen einzuordnen, um einige Ele-mente dieses Rahmens materialnah zu gewichten. Die Frage nach»Reform, Therapie oder Experiment« hatte dabei den Charaktereines Sondierungsversuchs. Man sollte die Ergebnisse der Sondie-rung nicht blind verallgemeinern. Mit Blick auf den gewählten Aus-schnitt stelle ich zusammenfassend jedoch folgende Thesen auf.

(1) Das Ideal der exakten Naturwissenschaft dominiert in denuntersuchten Texten in Form einschlägiger Bekenntnisse. Auch jen-seits von Präambeln, im Gang der Argumentationen, wird das na-turwissenschaftliche Leitbild bemüht. Dennoch wird »Naturwis-senschaft« nur abgerufen wie gedankliches Rohmaterial: Zitierteoder importierte Wahrheiten dienen als Versatzstücke, an die mananders anschließt. Die Methodologie der Naturwissenschaften – dasExperiment, der Determinismus – wird teils stillschweigend, teilsexplizit nicht übernommen. Auch die Rede von Induktion oderKausalität bleibt unscharf. Es scheint, als bedienten sich die Autorendes Attributs »naturwissenschaftlich« lediglich zur Fixierung einesauf bestimmte Parameter reduzierten Rahmens.

(2) Es ist nicht das Modell des Experiments, sondern primär dasSprachspiel der (politischen) Reform, das die Szenarien und das Inter-ventionspathos der Preisarbeiten prägt. Biologische Politik verstehtsich nicht nur bei Schallmayer, sondern durchgehend als eine wissen-

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schaftlich instruierte, in einem hohen Maße aber auch parteilichePolitik. Eher wird Naturwissenschaft einer Art naturrechtlichen Poli-tik (oder sollte man sagen: politischen Naturpragmatik?) einverleibt,als daß Naturwissenschaft verallgemeinert und Politik gleichsam ver-wissenschaftlicht würde. Der offen instrumentelle Sinn von Mei-nungsmache als »Ethik« entspricht diesem Primat der Politik.

(3) Das entscheidende wissenschaftliche Werkzeug, mit dem dieAutoren mehr oder weniger durchgehend arbeiten – um »Fakten« zubestimmen, um Dynamiken zu charakterisieren und auch um dieLogik zu plausibilisieren, die hinter Dynamiken steckt –, ist die pro-gnostische Hypothesenbildung und die Bewertung von Interven-tionsstrategien nach dem nationalökonomischem Vorbild. Was dieAutoren als »Soziologie« bezeichnen, beruht auf analogen statisti-schen Methoden. Eine zentrale Rolle spielt der Wertbegriff. Diesesan der Ökonomie geschulte und einer ökonomischen Logik gehor-chende Werkzeug wird von den Autoren mit Ausnahme Matzatserstaunlich wenig thematisiert und reflektiert. Eher Malthus alsDarwin, eher die Volkswirtschaftslehre, das Risikohandeln und die-jenigen Werturteile, die mit der wohlfahrtsstaatlichen Politik des»Viel-Regierens« einhergehen,77

77 Vgl. das Kapitel über »Das Leben der Ökonomie«, in: Joseph Vogl, Kalkül und Lei-denschaft. Poetik des ökonomischen Menschen, Zürich, Berlin 2004, S. 223-255.

nicht aber die Biologie, das Experi-ment sind das eigentliche Leitbild für die biologische Politik.

(4) Wenig durchschlagend, nämlich eher punktuell kommt dasmedizinische Paradigma ins Spiel. Auch in diesem Bereich hat imZweifel die nationalökonomische Außensicht die Priorität: Die Ge-sundheit ist ein Wert unter vielen, das eugenische Interesse richtetsich auf das Keimgut, nicht wirklich auf das individuelle Wohl undWehe. Der Nimbus des Kurativen erscheint gering – was zur Ten-denz fast aller Autoren paßt, Krankheiten auf »Anlagen« zurück-zuführen. Es bleibt das dramatische Bild von Krise und Rettung.Allenfalls hiermit, auf der Ebene eines rhetorischen Heroismus, istbiologische Politik »Therapie«.

(5) Es ergibt sich damit ein in Teilen negatives Fazit: BiologischePolitik um 1900 ist keineswegs einfach verallgemeinerte Biologieoder Medizin. Sie basiert auch nicht einfach auf einer Naturalisie-rung oder einem Biologismus des Sozialen.78

78 Vgl. Petra Gehring, »Lebenswissenschaften um 1900«, in: Allgemeine Zeitschrift fürPhilosophie 34 (2009) [im Erscheinen].

Vielmehr handelt es

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sich um etwas sehr viel Spezifischeres: Um das Programm eines wert-ökonomisch grundierten Materialismus, dessen Substrat eine regu-lierbare (und nach ökonomischem Vorbild zu steuernde) Steigerbar-keit des Lebens bildet. Dem Konzept des »Wertes« – nicht einemKausalschema oder überhaupt einem Determinismus – kommt imRahmen einer solchen biologischen Politik eine entscheidende Rollezu. Lebenspolitik folgt vielleicht einer experimentellen Technizität.Vor allem aber einer, in welcher sich ein ökonomischer Logos reali-siert.

77

Marcus KrauseMit Dr. Benn im »Laboratorium der Worte«

Zur Experimentalität moderner Subjekte

Daß Menschenversuche nicht nur in den Laboren der Verhaltens-forschung und der Medizin oder in Disziplinarinstitutionen wieSchulen, Psychiatrien oder Gefängnissen durchgeführt werden, son-dern auch auf den Brettern des Theaters oder zwischen den Deckelnvon Büchern ihren Ort finden, ist ein Befund, der spätestens seitdem Ausgang des 19. Jahrhunderts und den Auf- und Umbrüchender europäischen Moderne in Literatur und anderen Kunstformentopisch geworden ist. So topisch dieser Befund aber sein mag, soproblematisch ist der metaphorische Status des ›Menschenversuchs‹in ästhetischen Kontexten. Dies gilt nicht nur für die Frage, ob einkünstlerischer Versuch (natur)wissenschaftlichen Kriterien genügenmuß, um als ›experimentell‹ bezeichnet werden zu können, oder obbereits die Tatsache, daß ein Kunstwerk neue Formen und Inhalte›ausprobiert‹ und sich somit gegenüber dem ästhetischen Tradi-tionsbestand innovativ zeigt, zu einer solchen Attribution berech-tigt. Auch der semantische Gehalt des anderen Teils des Komposi-tums ›Menschenversuch‹ ist problematisch. Was nämlich mit dem›Menschen‹ in ästhetischen Experimenten bezeichnet wird, ist janicht – wie z.B. im medizinischen Menschenversuch – der konkreteMensch, der als Objekt einer Versuchsanordnung unterworfen wirdund von dem (bzw. von den Ergebnissen, die an diesem Menschenbzw. einer Gruppe von Menschen gewonnen wurden) ausgehendder Experimentator abstrahiert, um Aussagen über den Menschenim allgemeinen treffen zu können. Was mit dem ›Menschen‹ inästhetischen Experimenten bezeichnet wird, ist vielmehr in der Re-gel von Beginn an der Mensch im generischen Sinne oder wenigstensein allgemeiner sozialer Typus. Die Abstraktion steht in den künstle-rischen Avantgarden nicht am Ende, sondern am Beginn des Men-schenversuchs, und Experimentalität bezieht sich in ihnen nichtnur auf die Erkenntnis des bereits Vorhandenen, sondern vor allemauf die Entdeckung und den Entwurf neuer Konzeptualisierungendes Menschen, seiner sozialen Umwelt und seiner subjektiven Aus-drucksformen. Der ›Mensch‹ im Menschenversuch der künstleri-

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schen Avantgarden verweist somit in erster Linie auf ein politisches– meist emanzipatorisches – Projekt und erst in zweiter Linie auf denMenschen als Erkenntnisgegenstand, auch wenn sich diese beidenFluchtlinien häufig berühren, z.B. wenn die Analyse sozialer Ver-hältnisse den politischen Forderungen nach einer Änderung dieserVerhältnisse als Hintergrund dient.

Faßt man diese kurzen Überlegungen zur Bedeutung des Konzepts›Menschenversuch‹ für die Kunst zusammen, läßt sich festhalten,daß der ästhetische ›Menschenversuch‹ auf zwei Diskursbereicheverweist, nämlich auf die Naturwissenschaften und ihr Objektivi-tätsideal einerseits sowie auf das Politische und sein Emanzipations-ideal andererseits.1

1 Vgl. hierzu auch Jochen Venus, »Kontrolle und Entgrenzung. Überlegungen zurästhetischen Kategorie des Expriments«, in: Marcus Krause/Nicolas Pethes (Hg.),Literarische Experimentalkulturen. Poetologien des Experiments im 19. Jahrhundert,Würzburg 2005, S. 19-40, der eine Orientierung an diesen Bereichen für den ge-samten Kunstdiskurs feststellt.

So heterogen diese beiden Felder grundsätzlichsein mögen, so haben sie doch eine gemeinsame Eigenschaft, auf diesich künstlerische Bewegungen vorrangig beziehen: ihre Moderni-tät.2

2 Vgl. zur Geschichte des Begriffs ›Modernität‹ und seiner ubiquitären Verwendungum 1900 Hans Ulrich Gumbrecht, »Modern, Modernität, Moderne«, in: OttoBrunner/Werner Conze/Reinhart Koselleck (Hg.), Geschichtliche Grundbegriffe.Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Bd. IV, Stuttgart1978, S.93-131. Vgl. weiterhin Horst Thome, »Modernität und Bewußtseinswandelin der Zeit des Naturalismus und des Fin de siecle«, in: York-Gothart Mix (Hg.),Naturalismus – Fin de siecle – Expressionismus – 1890-1918, München 2000, S. 15-27.

Sowohl die Naturwissenschaften als auch die politische Ideolo-gie beziehen im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts ihre Geltungsan-sprüche vor allem dadurch, daß sie sich zum einen als Motor dessoziokulturellen und technologischen Fortschritts, zum anderen aberauch als dazu in der Lage präsentieren, diesen Fortschritt steuernund den gesellschaftlichen Bedürfnissen anpassen zu können. Alserste künstlerische Strömung, die sowohl den Herausforderungen,welche die Erkenntnisse der Experimentalwissenschaften an An-thropologie und Gesellschaft stellen, als auch den politischen Um-wälzungen der Epoche gerecht zu werden versucht, ist der Naturalis-mus zu nennen. ›Modern‹ im vollen Wortsinne ist der Naturalismusaber nicht nur, weil er den politischen und wissenschaftlichen For-derungen der Zeit Genüge tun will, sondern vor allem, weil er wohldie erste künstlerische Bewegung darstellt, deren Programmatik

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ihren künstlerischen Erzeugnissen nicht nur in nichts nachsteht,sondern diese an Produktivität und Reflexionstiefe in vielen Fällensogar überflügelt.3

3 Vgl. zu diesem für die Avantgarden des späten 19. und frühen 20.Jahrhunderts rechttypischen Verhältnis von Programmatik und künstlerischer Produktion die Einlei-tung in Wolfgang Asholt/Walter Fähnders (Hg.), Manifeste und Proklamationen dereuropäischen Avantgarde (1909-1938), Stuttgart 2005, S. XV-XXX.

Naturalismus, Wiener Moderne undliterarische Psychologie

Kernstück dieser Programmatik ist das Verlangen nach einem An-schluß der ›Dichtung‹ an die Forschungsstandards der Naturwis-senschaften und ihre positivistische Erfolgsgeschichte. Demgemäßfordert Wilhelm Bölsche,4

4 Zu Person, Werk und Wirkung Wilhelm Bölsches vgl. Wolfram Hamacher, Wissen-schaft, Literatur und Sinnfindung im 19. Jahrhundert. Studien zu Wilhelm Bölsche,Würzburg 1993, sowie das Nachwort in Wilhelm Bölsche, Die naturwissenschaft-lichen Grundlagen der Poesie (1887), Tübingen 1976, S. 84-98.

Romancier und Verfasser populärwissen-schaftlicher Schriften, in seinem 1887 erstmals erschienenen BuchDie naturwissenschaftlichen Grundlagen der Poesie die Rezeption derin den »exacten Naturwissenschaften« erworbenen Erkenntnisse unddie Einarbeitung der »Fortschritte der modernen wissenschaftlichenPsychologie« in die Literatur: »Eine Anpassung an die neuen Resul-tate der Forschung ist durchweg das Einfachste, was man verlangenkann.«5

5 Ebd., S. 5.

Neben einem solchen Anschluß an den Erkenntnisstand derhard sciences soll sich die Literatur darüber hinaus auch an ihren Ver-fahren orientieren und das wichtigste methodische Instrument, des-sen sich die Literatur laut Bölsche in Anlehnung an das naturwissen-schaftliche Vorbild bedienen soll, ist natürlich: das Experiment.6

6 Allerdings vertreten Die naturwissenschaftlichen Grundlagen der Poesie eine so offenewie schlichte Definition des Experiments, die u. a. jede Differenz zwischen Gedan-kenexperimenten und in der Wirklichkeit (zumindest des Labors) durchgeführtenExperimenten einebnet. Vgl. ebd., S. 7.

Folgt der »Dichter« Bölsches Vorgaben, indem er »Menschen, derenEigenschaften er sich möglichst genau ausmalt, durch die Macht derUmstände in alle möglichen Konflikte geraten und unter Betätigungjener Eigenschaften als Sieger oder Besiegte, umwandelnd oder um-

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gewandelt, daraus hervorgehen oder darin untergehen lässt«, wird erzu einem »Experimentator« »wie der Chemiker, der allerlei Stoffemischt, in gewisse Temperaturgrade bringt und den Erfolg beobach-tet«.7

7 Ebd. Bölsches Vorstellungen vom Dichter als Experimentator lehnen sich mehr alseindeutig an Zolas Konzeption des roman experimental an. Vgl. hierzu Emile Zola,»Le roman experimental«, in: ders., Œuvres completes, Paris 1966-1970, Bd. 10,S. 1175-1203, sowie Jutta Kolkenbrock-Netz, Fabrikation – Experiment – Schöp-fung. Strategien ästhetischer Legitimation im Naturalismus, Heidelberg 1981,S. 193-217.

Ziel solch naturalistischen Experimentierens ist eine Dich-tung, die »in der Tat eine Art von Mathematik« wäre. »[U]nd indemsie es wäre, hätte sie ein Recht, ihr Phantasiewerk mit dem stolzenNamen eines psychologischen Experimentes zu bezeichnen.«8

8 Bölsche, Die naturwissenschaftlichen Grundlagen der Poesie (wie Anm. 4), S. 25.

Ob von einer naturalistischen Psychologie, auf die Bölsche mitdem »stolzen Namen eines psychologischen Experimentes« verweist,vor dem Hintergrund einer Programmatik, die von der Literatur»das Zurückdrängen des Subjekts«9

9 Heinrich Hart, »Über den Realismus« [1889], in: Theorie des Naturalismus,S. 138-140, hier: S. 139.

und damit den Verzicht auf dieje-nige Instanz fordert, ohne die sich eine Psychologie – und zwar aucheine Psychologie, die das Subjekt als fremdbestimmt beschreibt –wenig Hoffnung auf eine adäquate Darstellung des menschlichenGeistes machen kann, überhaupt gesprochen werden darf, ist mehrals fraglich. Das Erkenntnisinteresse des Naturalismus scheint eherauf soziologische Phänomene gerichtet zu sein und interessiert sichweniger für komplexe Charaktere als für »Typen«, die als »Verkörper-ung aller Erscheinungen«10

10 Ebd., S. 140.

die angestrebte positivistische Erkennt-nis der Gesellschaft voranbringen.11

1 1 Einschränkend ist anzumerken, daß solch eine Charakterisierung des Naturalis-mus besonders für die naturalistischen Texte der späten 1880er Jahre kaum Gel-tung beanspruchen kann. Der von Arno Holz und Johannes Schlaf entwickelteSekundenstil, in dem sich vielfach Bruchstücke des Innenlebens der Protagonistenmit mimetischen Beschreibungsversuchen von Gestik, Mimik, Soziolekt usw. ver-mischen, übersteigt die in den Manifesten festgelegten Simplifizierungen deutlich.Vgl. hierzu Jörn Stückrath, »›Die naturwissenschaftlichen Grundlagen der Poesie‹.Naturalistische Modelle der Wirklichkeit«, in: Rolf Grimminger/Jurij Murasov/Jörn Stückrath (Hg.), Literarische Moderne. Europäische Literatur im 19. und 20.Jahr-hundert, Reinbek 1995, S. 140-168.

Entsprechend schlicht geratenmeist auch die literarischen Versuchsanordnungen, die das Verhal-

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ten ihres Personals durch eine simple Mechanik äußerer Umständeund diffuser Erbanlagen determiniert sehen und keinerlei Wert aufdie Darstellung innerer psychischer Vorgänge und Beweggründe le-gen.

Angesichts solcher Reduktionen überrascht es nicht, daß bereitszu einem Zeitpunkt, zu dem sich die naturalistische Bewegung aufdem Höhepunkt befindet, heftiger Widerspruch laut wird. 1891 ruftHermann Bahr die Krisis des Naturalismus aus und fordert statt einer»litterarischen Physik«12

12 Hermann Bahr, »Die Krisis des Naturalismus«, in: ders., Die Überwindung desNaturalismus (1891), Weimar 2004, S. 61-66, hier: S. 62.

eine »nervöse Romantik«, eine Literatur als»Mystik der Nerven«.13

13 Hermann Bahr, »Die Überwindung des Naturalismus«, in: ders., Die Überwin-dung des Naturalismus (1891), Weimar 2004, S. 128-133, hier: S. 130.

Den 1886 von Ernst Mach getroffenen epo-chalen Befund »Das Ich ist unrettbar«14

14 Ernst Mach, Die Analyse der Empfindungen und das Verhältnis des Physischen zumPsychischen (1886), Jena 1906, S. 20.

will Bahr mit dieser roman-tischen Mystik aber keineswegs in Frage stellen. Vielmehr formulierter als Ziel eine ›neue Psychologie‹,15

15 Vgl. Hermann Bahr, »Die neue Psychologie«, in: Das Junge Wien. ÖsterreichischeLiteratur- und Kunstkritik 1887-1902, ausgewählt, eingeleitet und hg. von GotthartWunberg, Bd. 1: 1887-1896, Tübingen 1976, 92-101, S. 97: »[D]ie Kunst der neu-en Psychologie [. . .] unternimmt, was sich der Selbsterkenntnis und darum derBeichte entzieht: die Erscheinungen auf den Nerven und Sinnen, noch bevor sie indas Bewußtsein gelangt sind, in dem rohen und unverarbeiteten Zustande.«

die weder auf eine idealistischePosition zurückfällt, welche von den in den Naturwissenschaftenüber psychische Mechanismen gewonnenen Erkenntnissen abstra-hiert noch die für den Naturalismus typische mechanistisch-simpli-fizierende Auffassung der menschlichen Psyche fortführt. Den An-spruch des Naturalismus, die Literatur an die methodologischeStrenge der Naturwissenschaft und die Erkenntniskraft des Experi-ments anzuschließen, erhält Bahr also aufrecht. Hierzu skizziert ereine ›neue Methode‹, die weder retro- noch introspektiv vorgehendarf, will sie »das Unbewußte auf die Nerven, in den Sinnen, vordem Verstande, [. . .] objektivieren«.16

16 Ebd.

Da »die Wandlungen der Seeleganz auf den Nerven und in den Sinnen vollzogen [werden] und dasBewußtsein [. . .] erst von dem Resultate verständigt wird, wenn esbereits entschieden und unwiderruflich ist«,17

17 Ebd., S. 99. Bahrs Befund, daß der moderne Mensch ›nur mehr mit den Nervenerlebt, nur mehr von den Nerven aus reagiert‹, ist keineswegs originell, sondern

kann eine Literatur,

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entspricht der allgemeinen Diskurslage seiner Zeit. Vgl. hierzu Wolfgang Eckart,»Die wachsende Nervosität unserer Zeit. Medizin und Kultur um 1900 am Bei-spiel einer Modekrankheit«, in: Gangolf Hübinger/Rüdiger vom Bruch/FriedrichWilhelm Graf, Kultur und Kulturwissenschaften um 1900 – II. Idealismus und Posi-tivismus, Stuttgart 1997, S. 207-226.

welche narratologisch über solche ›Wandlungen der Seele‹ verfügtund über sie aus der souverän reflektierenden Distanz einer Erzähl-instanz berichtet, der neuen Psychologie nicht gerecht werden. »EinePsychologie, welche [einen psychischen Vorgang] im Bewusstseindarstellt, wie er von der Phantasie der Erinnerung nachher zugerich-tet wird, ist falsch und kann vor keinem redlichen Experiment beste-hen.«18

18 Ebd.

Fragt man, wie eine Schreibweise verfaßt sein soll, die voreinem ›redlichen Experiment‹ bestehen kann, läßt sich zwar negativfesthalten, daß »[d]ie ›Ich-Form‹ [. . .] nicht aus[reicht], weil sie dasNervöse gerade weglässt«,19

19 Ebd., S.97.

wie genau aber literarische Verfahren be-schaffen sein müssen, die einer Darstellungsweise gerecht werden,die psychische Prozesse ohne Intervention von Bewußtsein, Phanta-sie oder Erinnerung abzubilden vermag, bleibt eine offene Frage.

Eine mögliche Antwort auf diese Frage formuliert Hugo von Hof-mannsthal in einem Brief an Bahr vom 1. Juli 1891, in dem er einepsychologische Beobachtungs- und Darstellungstechnik fordert, dieer in einer berühmt gewordenen Wendung als ›Bakteriologie derSeele‹ bezeichnet:

Übrigens hab’ ich mir angewöhnt die Zeit durchs Mikroscop anzusehen, damerkt man, wie der Begriff Ereignis lügt, und wie viel in solchen langweili-gen 3 Wochen drinsteckt an Gedanken die auftauchen verrückt herumwim-meln und zergehen, an Farben, Bildern, Fragen, Zweifeln, Versen, Anfän-gen, Überwindungen, Sensationen und Sensatiönchen. Ich möchte die Bak-teriologie der Seele gründen.20

20 Hugo von Hofmannsthal, Briefe 1890-1901, Berlin 1935, S. 18.

In ihrer Metaphorik verweist die ›Bakteriologie der Seele‹ nicht nurauf eine Kollation von Natur- und Geisteswissenschaft, sondernauch auf eine Beobachtungsweise, die ihre Aufmerksamkeit – ganzim Sinne der in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ihren Sieges-zug in Wissenschaft und Kriminalistik antretenden Techniken derAnthropometrie und Spurensicherung – auf das Detail richtet.21

21 Vgl. zum Detail als Objektivitätsstandard und seinen Beziehungen zu Fotografie

In

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und Literatur Ursula Renner, »›Details sollten sein wie jener Blitz bei Dickens‹.Photopoetische Reflexe um 1900«, in: Helmut Pfotenhauer/Wolfgang Riedel/Sabine Schneider (Hg.), Die Evidenz der Bilder, Würzburg 2005, S. 103-127.

den Texten der Wiener Moderne lassen sich grundsätzlich zweiMöglichkeiten unterscheiden, eine solche Detailwahrnehmung und-beschreibung – die sich in den Naturwissenschaften entsprechen-den medialen Technologien verdankt – literarisch zu gestalten.

Mit der ersten der beiden Möglichkeiten verbindet sich der NameArthur Schnitzler, der erstmals in Lieutenant Gustl (1900) der Forde-rung Hermann Bahrs nach einer »Objektvierung der inneren See-lenstände«22

22 Bahr, »Die neue Psychologie« (wie Anm. 15), S. 96.

und einer »Methode, die Ereignisse in den Seelen zuzeigen, nicht von ihnen zu berichten«,23

23 Ebd.

insofern nachkommt, als ermit dem inneren Monolog jede externe Fokalisation ausschaltet unddas erzählte Geschehen einzig aus dem Bewußtseinsraum einer lite-rarischen Figur und der Simulation ihrer Gedanken- und Gefühls-gänge heraus reflektiert.24

24 Vgl. zur literarischen Psychologie Schnitzlers und Hofmannsthals sowie ihren lite-ratur- und kulturhistorischen Hintergründen die entsprechenden Abschnitte inMichael Worbs, Nervenkunst. Literatur und Psychoanalyse im Wien der Jahrhundert-wende, Frankfurt am Main 1988.

Hofmannsthals Antwort auf die ›neue Psy-chologie‹ ist eine andere. Sie zielt in erster Linie nicht auf die direkteWiedergabe des Innenlebens einer Person, sondern auf ein, wie Hof-mannsthal in dem schon erwähnten Brief ausführt, »Vermengen vonBeobachtungs- und Darstellungstechnik«.25

25 Hofmannsthal, Briefe 1890-1901 (wie Anm. 20), S. 18.

Eine solche Vermen-gung findet sich in Hofmannsthals Reitergeschichte (1899) umge-setzt. Es vermischen sich nicht nur die verschiedenen Ebenen dererzählten Welt, in der äußeren Realität, Vorstellungs- und Traum-wirklichkeit des Protagonisten sowie Kollektiv- und Individualge-schichte unauflöslich ineinander übergehen. Auch erzähltes Gesche-hen und Erzählweise vermengen sich auf eine Weise, welche dieWirklichkeitsebenen nicht nur aus der Perspektive des Wachtmei-sters, sondern auch aus derjenigen des Lesers ununterscheidbar wer-den läßt, so daß die Grenze zwischen innen und außen der Diegese,Beobachtungs- und Darstellungstechnik unwiderruflich verwischtwird.26

26 Zur Interpretation der Reitergeschichte vgl. beispielsweise Rüdiger Steinlein,

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»Hugo von Hofmannsthals Reitergeschichte. Versuch einer struktural-psychoanaly-tischen Lektüre«, in: Zeitschrift für deutsche Philologie 110 (1991), S. 208-230.

»Das moderne Ich« unddie Psychiatrisierung der Literatur

In eine ganz andere, weniger feinsinnige, nämlich expressionistischeRichtung scheint Gottfried Benns Analyse moderner Subjektivitätzu gehen, wenn er 1919 in seinem Essay über »Das moderne Ich«befindet: »Nun steht es da, dies Ich, Träger alles erlebten Inhaltes,allem erlebbaren Inhalt präformiert. Anfang und Ende, Echo undRauchfang seiner selbst, Bewußtsein bis in alle Falten, Apriori expe-rimentell evakuiert, Kosmos, Pfauenrad diskursiver Eskapaden.«27

27 Gottfried Benn, »Das moderne Ich«, in: ders., Sämtliche Werke, Bd. III, Stuttgart1987, S. 94-107, hier S. 105.

Noch klassischer expressionistisch schließt der Essay, wenn das Ich –inzwischen zum Narziß transformiert sowie von südlichen Mythenund Worten umfangen – am Ende aus dem Text mit den Wortenentlassen wird: »schreiend nach Zeugung, hungernd in den Fäusten,dir Stücke aus dem Leib der Welt zu reißen, sie formend und sich tiefin sie vergessend [. . .], dann: zwischen Asphodelen schaust du dichselbst in stygischer Flut«.28

28 Ebd., S. 107.

Auch wenn zwischen den Schreibwei-sen der Wiener Moderne und dem fragmentarisch-assoziativen StilBenns kaum zu verkennende Unterschiede bestehen, hat sich dieEinschätzung der Lage, in der sich das moderne Subjekt befindet,kaum geändert. Mit der Unrettbarkeit des Ichs, von der die Darstel-lungsversuche psychischer Vorgänge, wie Schnitzler und Hofmanns-thal sie um 1900 entwickeln, ausgegangen waren, endet auch »Dasmoderne Ich« Benns. Und dieses Ende vollzieht sich gar in klassisch-bildungsbürgerlicher Manier, da sich der Essay zur Beschwörung desseinen eigenen Untergang betrachtenden Ichs mit dem Verweis aufden Hadesfluß Styx und die ›Asphodelen‹29

29 Dies sind die lilienähnlichen Pflanzen, welche den Boden desjenigen Teils derUnterwelt bedecken, der von all den Toten als Schatten bevölkert wird, die wederfür das Elysium noch für den Tartaros bestimmt sind.

nicht anders als Hof-mannsthal mit seiner Elektra beim Pathos griechisch-antiker My-theme bedient. Die Ausgangslage von Wiener Moderne und Expres-sionismus a la Benn ähnelt sich auch insofern, als diese auf das Schei-tern des positivistischen Programms des Naturalismus reagiert und

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dieser ebenfalls die Geschichte des »Subjektivismus«30

30 Benn, »Das moderne Ich« (wie Anm. 27), S. 104.

mit dem»modernen Positivismus« als »orgiastische[m] Finale«31

31 Ebd., S. 105.

einer Ge-schichte der Philosophie des Ichs ausklingen läßt.

Die Konsequenzen, welche die Texte der Wiener Moderne bzw.diejenigen Gottfried Benns aus dieser Ausgangslage – aus der Fest-stellung, daß das moderne Ich ein wenig dumm oder zumindesttrotz aller Bewußtseinsphilosophie und allem naturwissenschaft-lichem Fortschritt so klug als wie zuvor ›dasteht‹ – ziehen, unter-scheiden sich allerdings nicht nur mit Blick auf die Schreibweise unddie Form des Ausdrucks. Die Schreibweise ist vielmehr Konsequenzeiner tiefergreifenden Veränderung der literarischen Ästhetik undder mit dieser zusammenhängenden Konzeptualisierung der mensch-lichen Psyche (und zwar sowohl der beschriebenen/beobachteten alsauch der beschreibenden/beobachtenden). Deutlich wird diese Ver-änderung bereits auf der Ebene der programmatischen Schlagworte.Während Hofmannsthal mit seiner ›Bakteriologie der Seele‹ nochmit der Metapher der Bakteriologie und dem klassisch-idealisti-schen Begriff der Seele sowohl den naturwissenschaftlichen als auchden geisteswissenschaftlichen Bereich adressiert, verzichtet Benn inseinen poetologischen Texten – zumindest auf der Oberfläche derBegrifflichkeit – auf eine solche Amalgamierung. Seine Rede von der›progressiven Zerebration‹, als die er 1932 in der »Akademie-Rede«seine eigene literarische Produktion charakterisiert, unterhält keineVerbindung mehr zur Sphäre der ›alten‹ Geisteswissenschaften, son-dern gefällt sich in ihrer alleinigen Bezugnahme auf die Modernitätder Naturwissenschaften. Der Expressionismus Benns stellt sich mitder ›progressiven Zerebration‹, mit welcher er »die unaufhaltsamfortschreitende Verhirnung der menschlichen Rasse bezeichnet«,32

32 Gottfried Benn, »Akademie-Rede«, in: ders., Sämtliche Werke, Bd. III, Stuttgart1987, S. 386-393, hier S. 386.

und der Referenz auf die Materialität des Gehirns gegen die Psycho-logie der impressionistischen Vorgänger. Die Beobachtung und Auf-zeichnung des Innenlebens eines spezifischen Individuums wird ver-abschiedet:

Die psychologische Kontinuität des Einzel-Ich ist unterbrochen. [. . .] Daspsychologische Interieur eines zum Erlebnis strebenden und dann diesErlebnis im Entwicklungssinne verarbeitenden Ich tritt in den Schatten,

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und hervor tritt ein Erkenntnis forderndes, Begriffe bildendes, Worte schaf-fendes Ich, das den biographischen Ablauf nur noch auf seine Virulenz hinsondiert, unter deren Reiz begrifflich oder perspektivistisch zu summieren.33

33 Ebd., S. 387.

Läßt sich das naturalistische Programm als Verwissenschaftlichungs-bzw. Experimentalisierungsversuch, der allerdings weitgehend beiden literarischen Inhalten haltmacht und die Darstellungsform un-angetastet läßt, und die Wiener Moderne als Psychologisierung derLiteratur, die neue, experimentelle Beschreibungsmöglichkeiten fürpsychische Prozesse entwickelt, kennzeichnen, könnte man die Tex-te Benns, auf die seine »Akademie-Rede« zurückblickt, unter dasMotto einer Psychiatrisierung der Literatur stellen und damit in diediskursive Ordnung von Erzählungen wie Georg Heyms Der Irre34

34 Georg Heym, »Der Irre«, in: ders., Dichtungen und Schriften, Hamburg, München1960 ff., Bd.2, S. 19-35. Vgl. zum Verhältnis der Literatur Heyms zu Wahnsinn undPsychiatrie Joachim Metzner, Persönlichkeitszerstörung und Weltuntergang. Das Ver-hältnis von Wahnbildung und literarischer Imagination, Tübingen 1976, und Ger-hard Irle, »Rausch und Wahnsinn bei Gottfried Benn und Georg Heym. Zumpsychiatrischen Roman«, in: Winfried Kudzus (Hg.), Literatur und Schizophrenie.Theorie und Interpretation eines Grenzgebiets, Tübingen 1977.

und Alfred Döblins Ermordung einer Butterblume35

35 Alfred Döblin, »Die Ermordung einer Butterblume«, in: Döblin, Alfred/Althen,Christina (Hg.), Die Ermordung einer Butterblume und andere Erzählungen, Kriti-sche Gesamtausgabe, München 2004, S.63-77. Vgl. Wolfgang Schäffner, Die Ord-nung des Wahns. Zur Poetologie psychiatrischen Wissens bei Alfred Döblin, München1999.

(beide 1913) ein-reihen.

Daß Psychiatrie und Psychologie so sehr im Widerspruch zuein-ander stehen, daß sich eine literarische Bewegung wie der Expressio-nismus auf die Psychiatrie berufen kann, um einen radikalen Schnittgegenüber seinen literarischen Vorgängern zu setzen, ist natürlichkeineswegs selbstevident.36

36 Nicht umsonst faßt beispielsweise Foucault in seiner Vorlesung über Die Macht derPsychiatrie psychiatrische und psychologische sowie auch alle anderen Wissen-schaften und Institutionen, die auf die Psyche des Subjekts zugreifen, in der Psy-Funktion zusammen. Vgl. Michel Foucault, Die Macht der Psychiatrie. Vorlesungam College de France 1973-1974, Frankfurt am Main 2005, S. 129.

Aus der Perspektive der poetologischenSelbstbeschreibung Benns ist es das Bestreben, das individuelle Ichund seine Motivationen, Beweggründe und unbewußten Wünschezu verstehen, hermeneutisch zu erfassen, mit dem das expressionisti-sche Schreiben bricht. Die Poetik Benns beschreibt eine Erkenntnis-

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bewegung, die so tief in das Bewußtsein eindringt, daß es die Indi-vidualität der Psyche und das ›psychologische Interieur eines zumErlebnis strebenden und dann dies Erlebnis im Entwicklungssinneverarbeitenden Ich‹ hinter sich läßt und in diejenigen kollektivpsy-chologischen Regionen vordringt, die dem Individuum, seinen Vor-stellungen und Wortbildungen, vorausgehen und zugrunde liegen.Dieses Vordringen in die Tiefe und Vorgeschichte des menschlichenDenkens und Fühlens ist zur gleichen Zeit auch ein Auftauchen andie Oberfläche des menschlichen Verhaltens und Sprechens, dennan dieser Oberfläche der Gesten37

37 Zum Wahrheitsversprechen der Geste vgl. Walter Benjamin, »Was ist das epischeTheater? (1). Eine Studie zu Brecht«, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. II.2,Frankfurt am Main 1991, S. 519-531, hier S. 521: »Gegenüber den durchaus trügeri-schen Äußerungen und Behauptungen der Leute auf der einen Seite, gegenüberder Vielschichtigkeit und Undurchschaubarkeit ihrer Aktionen auf der anderenSeite hat die Geste zwei Vorzüge. Erstens ist sie nur in gewissem Grade verfälsch-bar, und zwar je unauffälliger und gewohnheitsmäßiger sie ist, desto weniger.Zweitens hat sie im Gegensatz zu den Aktionen und Unternehmungen der Leuteeinen fixierbaren Anfang und ein fixierbares Ende.«

und Wörter38

38 Vgl. Gottfried Benn, »Oberfläche«, in: ders., Sämtliche Werke, Bd. IV, Stuttgart1989, S. 367: »Zum Schluß wird alles öffentlich und Oberfläche, wird Wort.«Besonders prägnant präsentiert sich das Zusammenfallen von Oberfläche undWort, von Oberflächenbeschreibungen und Textoberfläche in Benns »Quer-schnitt«. Vgl. hierzu Natalie Binczek, »Der ärztliche Blick zwischen Wahrneh-mung und Lektüre. Taktilität bei Gottfried Benn und Rainald Goetz«, in: Zeit-schrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 117 (2000), S. 78-102, hier S. 93:»[H]ier entstehen Ornamente, jedoch nicht auf der Haut, sondern in Form vonBildern, die nichts anderes zum Ausdruck bringen wollen als ihre eigene Textuali-tät. [. . .] Hier hat auch der Text keine Tiefe mehr. Er ist reine Oberfläche gewor-den.«

zeigen sich – in derVorstellung nicht nur Benns, sondern auch anderer (expressionisti-scher) Zeitgenossen – die Ursprünge und Grundlagen des individu-ellen Erlebens deutlicher als in jeder psychologischen Interpretation.Alfred Döblin faßt diese Einsicht in seinem Berliner Programm von1913 vielleicht am konzisesten zusammen: »Man lerne von der Psych-iatrie, der einzigen Wissenschaft, die sich mit dem seelischen Gan-zen des Menschen befaßt: sie hat das Naive der Psychologie längsterkannt, beschränkt sich auf die Notierung der Abläufe, der Bewe-gungen, – mit einem Kopfschütteln, Achselzucken für das Weitereund das ›Warum‹ und ›Wie‹.«39

39 Alfred Döblin, »An Romanautoren und ihre Kritiker. Berliner Programm!«, in:ders., Schriften zu Ästhetik, Poetik und Literatur, Olten, Freiburg 1989, S. 119-123,

Die Analyse des individuellen Ichs

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hier S. 120 f. Vgl. auch die harsche Kritik an der Psychologie ebd., S. 120: »EinGrundgebrechen des gegenwärtigen ernsten Prosaikers ist seine psychologischeManier. Man muß erkennen, daß die Romanpsychologie, wie die meiste, täglichgeübte, reine abstrakte Phantasmagorie ist. Die Analysen, Differenzierungsversu-che haben mit dem Ablauf einer wirklichen Psyche nichts zu tun; man kommtdamit an keine Wurzel. [. . .] Psychologie ist ein dilett[a]ntisches Vermuten, schola-stisches Gerede, spintisierender Bombast, verfehlte, verheuchelte Lyrik.«

wird zugunsten einer Lektüre der Körper- und Sprachoberflächenund ihrer Details verabschiedet.40

40 Eine solche Lektüreform steht in engem Zusammenhang mit der Entwicklung desIndizienparadigmas und den Legitimationserfolgen, welche den Humanwissen-schaften der Blick für Details und Oberflächen eröffnet hat. Vgl. hierzu CarloGinzburg, »Spurensicherung«, in: ders., Spurensicherung. Die Wissenschaft auf derSuche nach sich selbst, Berlin 1995, S.7-57, sowie Thomas Macho/Wolfgang Schäff-ner/Sigrid Weigel (Hg.), »Der liebe Gott steckt im Detail«. Mikrostrukturen des Wis-sens, München 2003. Ob die Psychoanalyse tatsächlich für diese neue Form hu-manwissenschaftlicher Wissensproduktion so paradigmatisch ist, wie Ginzburgbehauptet, oder ob sie nicht vielmehr einen Kompromiß zwischen psychologi-scher Tiefeninterpretation und psychiatrischen Formen der Spurensicherung bil-det, wäre ausführlicher zu diskutieren.

Das einzelne Ich und seine durchsinguläre biographische Hintergründe geprägten Empfindungenbehindern lediglich den Blick auf das ›seelische Ganze des Men-schen‹. Dieses wird nur sichtbar, wenn aller individualpsychologi-sche Ballast abgeworfen wird, der die objektive Sicht auf Wahrheitund Wirklichkeit des Menschen verstellt. Genau in diesem Sinnedefiniert Benn die Grundhaltung des Expressionismus in seinemgleichnamigen Essay aus dem Jahr 1933, denn dieser ist

einheitlich in seiner inneren Grundhaltung als Wirklichkeitszertrümme-rung, als rücksichtsloses An-die-Wurzel-der-Dinge-Gehen bis dorthin, wosie nicht mehr individuell und sensualistisch gefärbt, gefälscht, verweich-licht, verwertbar in den psychologischen Prozeß verschoben werden kön-nen, sondern im akausalen Dauerschweigen des absoluten Ich der seltenenBerufung durch den schöpferischen Geist entgegensehen.41

41 Gottfried Benn, »Expressionismus«, in: ders., Sämtliche Werke, Bd. IV, Stuttgart1989, S.76-90, hier S.79.

Die ›Wirklichkeitszertrümmerung‹, durch die allererst die wirkliche –nämlich unverfälschte, nicht ›individuell und sensualistisch gefärb-te‹ – Wirklichkeit des absoluten, sich jeder Psychologisierung entzie-henden Ichs, erkennbar wird, reagiert laut Benn auf die »Zwangsweltdes 20. Jahrhunderts«, die nicht anders kann, als »das Unbewußte

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bewußtzumachen, das Erlebnis nur noch als Wissenschaft, den Affektals Erkenntnis, die Seele als Psychologie und die Liebe nur noch alsNeurose zu begreifen«.42

42 Ebd., S. 83.

Das »neue[ ] Bild des Menschen«,43

43 Ebd.

das derExpressionismus Benns und anderer entwirft, ist also eine Reaktionauf den neuen Menschen, wie ihn die Wissenschaften seit ihren posi-tivistischen Siegeszügen des 19. Jahrhunderts skizzieren. Es ist der Ver-such, eine Literatur zu schreiben, die der immer weiter voranschrei-tenden Quantifikation und Formalisierung des Menschlichen44

44 Vgl. hierzu beispielsweise Stefan Rieger, Die Individualität der Medien. Eine Ge-schichte der Wissenschaften vom Menschen, Frankfurt am Main 2001.

zwarkritisch begegnet, dies aber auf eine Weise, welche nicht in den Idea-lismus ich-zentrierter Subjektphilosophie zurückfällt und die wissen-schaftliche Erkenntnis- und Beschreibungslage nicht zurückweist,sondern als literarisches Material benutzt. Daß eine solche Literaturbei aller Verabschiedung psychologischer Prozesse und trotz der Feierdes ›akausalen Dauerschweigens‹ keinesfalls auf jegliche Kunstme-taphysik verzichtet, wird sowohl in der Rede vom ›schöpferischenGeist‹ deutlich, der die vom Ich befreiten Wirklichkeitsfragmentedann doch wieder in eine Ordnung bringt, als auch in der Kenn-zeichnung des literarischen Verfahrens, in dem »ein Thema [nicht]geschlossen vorgeführt [wird], sondern innere Erregungen, magi-sche Verbindungszwänge rein transzendenter Art den Zusammen-hang her[stellen]«.45

45 Benn, »Expressionismus« (wie Anm. 41), S. 83.

Die Poetik, die Benn in seinen Essays entwickelt, läßt einige Fra-gen offen: Entsprechen die in den Jahren zwischen 1910 und 1920,dem expressionistischen Jahrzehnt, entstandenen Texte Benns tat-sächlich den Postulaten, die er im Rückblick in seinen Essays ausden 1930er Jahren entwickelt? Wie läßt sich von Subjekten erzählen,denen ihre Individualität ausgetrieben worden ist? Welche Literaturentsteht, wenn – in den Worten von Musils Mann ohne Eigenschaf-ten – eine »Persönlichkeit [. . .] als ein imaginärer Treffpunkt des Un-persönlichen«46

46 Robert Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, Reinbek 1978, S. 474.

sowohl zum Subjekt wie auch zum Objekt literari-scher Beobachtung wird? Wie verhalten sich vor dem Hintergrunddieser Problemlage die Texte Benns zum vielbeschworenen Para-digma der Experimentalität? Diese Fragen sollen im Folgenden mit

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besonderem Augenmerk auf die erste Rönne-Novelle »Gehirne« undweitere Texte Benns aus den Jahren nach 1910 erörtert werden.

Im »Laboratorium der Worte« I:Dr. Benns Beschreibungsversuche

Daß ein Literat, der seine Texte als ›progressive Zerebration‹ kenn-zeichnet und sich wissenschaftlichen Vokabulars als Material seinerDichtung bedient, bei seinen poetologischen Selbstbeschreibungen– wie Naturalismus und Wiener Moderne vor ihm – der Verwen-dung der ubiquitären Experimentalsemantik nicht zu widerstehenvermag, ist kaum überraschend. So beschreibt Gottfried Benn seineProsatexte der 1910er Jahre beispielsweise als »experimentelle Stu-dien«47

47 Benn, »Akademie-Rede« (wie Anm. 32), S. 388.

und den Raum, »in dem der Lyriker sich bewegt«, als »einLaboratorium, ein Laboratorium der Worte«.48

48 Gottfried Benn, »Lyrik«, in: ders., Sämtliche Werke, Bd. IV, Stuttgart 1989, S. 355 f.,hier S. 355. Auch wenn Benn in »Lyrik« den Romancier und den Lyriker bzw. denUmgang, den beide typischerweise mit dem Wort pflegen, deutlich voneinanderabsetzt, gleichen sich die Beschreibungen der jeweiligen Verfahren doch meist sosehr, daß höchstens graduelle Unterschiede zwischen Benn als Lyriker und Bennals Verfasser von Prosatexten auszumachen sind.

Die Beschreibungs-kategorie der Experimentalität bezieht sich in beiden Fällen in ersterLinie auf die Form der Darstellung und ist somit für große Teile derliteraturwissenschaftlichen Beschäftigung mit Texten der literari-schen Moderne, die ihre Aufmerksamkeit nahezu ausschließlich aufdie Experimentalität im Gebrauch der Sprache und nicht auf experi-mentelle Verfahren oder Semantiken, die von den Texten themati-siert werden, richtet, anschlußfähig. Charakteristisch für eine solcheBetrachtungsweise ist die Definition beispielsweise expressionisti-scher Literatur als »ungegenständliche Dichtung«,49

49 So bereits 1918 Herwarth Walden, »Das Begriffliche in der Dichtung«, in: ThomasAnz/Michael Stark (Hg.), Expressionismus. Manifeste und Dokumente zur deutsch-sprachigen Literatur 1910-1920, Stuttgart 1982, S. 618-623, hier S. 621. Vgl. hierzuauch den Abschnitt »Wortkunst und Abstraktion« in Thomas Anz, Literatur desExpressionismus, Stuttgart 2002.

als eine Litera-tur also, die vom semantischen und referentiellen Gehalt der Spra-che abstrahiert und Wörter in erster Linie als rhythmisches undphonetisches Material bearbeitet. Das Label der Experimentalität

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steht in solchen Zusammenhängen für eine antihermeneutischeSchreibweise ein, welche die Ausdrucksmöglichkeiten der Spracheerkundet und erweitert, indem sie die Worte »öffnet«, »sprengt« und»zertrümmert«,50

50 Ebd.

sie ihren ursprünglichen Verwendungskontextenentfremdet und mit neuen Konnotationen versieht: »Silben werdenpsychoanalysiert, Diphthonge umgeschult, Konsonanten transplan-tiert.«51

51 Ebd., S. 355 f.

Was in solchen Sprachexperimenten zur Ansicht gebrachtwerden kann, ist das nichtsignifikative ›Sein der Sprache‹, ist eine»Ontologie der Literatur«,52

52 Michel Foucault, »Die Sprache, unendlich«, in: ders., Schriften zur Literatur,Frankfurt am Main 2003, S. 86-99, hier S. 89. Vgl. zu dieser Ontologie auch denText »Der Wahnsinn, das abwesende Werk« in demselben Band sowie Arne Kla-witter, Die »fiebernde Bibliothek«. Foucaults Sprachontologie und seine diskursanaly-tische Konzeption moderner Literatur, Heidelberg 2003.

wie Foucault sie in der Tradition derLiteraturkritik Blanchots in mehreren seiner Aufsätze beschwörtund in der sich ein widerständiges ›Denken des Außen‹ verkörpert,53

53 Vgl. Michel Foucault, »Das Denken des Außen«, in: ders., Schriften zur Literatur,Frankfurt am Main 2003, S. 208-233.

das sich jeder sozialen und wissenschaftlichen Vereinnahmung ent-zieht.54

54 Verläßt man eine solche philosophisch-generalisierende Perspektive, wird deut-lich, daß – aus historisch-spezifizierender Sicht – durch solche Sprachexperimenteebenfalls die Strukturen, Gesetze und Verknüpfungsregeln, nach denen sich ver-schiedene diskursive Formationen organisieren, nach denen sich bestimmteSprachregister definieren, zur Ansicht gebracht werden können. In den TextenBenns ist es – seinem Doppelleben als Arzt und Dichter gemäß – vor allem dermedizinische Jargon, der einer solchen Analyse unterzogen wird.

Die Bennsche Kunstmetaphysik selbst vergleicht die Struk-turprinzipien der Literatur mit denjenigen des natürlichen Lebens,ohne allerdings die Experimentalsemantik aufzugeben:

[D]ie Gewinnung von Kunst [steht] unter einem sehr allgemeinen Ge-setz, es ist das Gesetz eines Aufbaues des Seins vom Formalen aus. Entste-hung von Wirklichkeit aus einer ökonomisch verfahrenden Transzendenz.Sekundäre Entstehung von Wirklichkeit. Ein Verfahren, das auch demreinen Denken eignet, gewissermaßen sein Handverkauf als Idee + Experi-ment.55

55 Gottfried Benn, »Natur und Kunst«, in: ders., Sämtliche Werke, Bd. IV, Stuttgart1989, S. 360 f., hier S. 361. An dieser Stelle sei auch an Benns berühmten Orangen-stil erinnert, mit dem er die Konstruktion seines »Roman des Phänotyp« (in: Gott-fried Benn, Sämliche Werke, Bd. IV, Stuttgart 1989) beschreibt: »Eine Orangebesteht aus zahlreichen Sektoren, den einzelnen Fruchtteilen, den Schnitten, alle

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gleich, alle nebeneinander, gleichwertig, die eine Schnitte enthält vielleicht einigeKerne mehr, die andere weniger, aber sie alle tendieren nicht in die Weite, in denRaum, sie tendieren in die Mitte, nach der weißen zähen Wurzel, die wir beimAuseinandernehmen aus der Frucht entfernen. Diese zähe Wurzel ist der Phäno-typ, der Existentielle, nichts wie er, nur er, einen weiteren Zusammenhang derTeile gibt es nicht« (Gottfried Benn, »Doppelleben«, in: ders., Sämtliche Werke,Bd.V, Stuttgart 1991, S.83-176, hier S. 140 f.). Wie hilfreich der Vergleich zwischenOrange und literarischem Text tatsächlich ist, sei – auch angesichts der Frage, obsich in der Mitte der Orange wirklich eine ›weiße zähe Wurzel‹ und nicht vielmehrein Hohlraum befindet – dahingestellt.

Obwohl sich der biologistische Verweis auf die natürliche Determi-nation ›sehr allgemeiner Gesetze‹ und die kontrollierte Manipula-tion von Ereignissen und ihrer Umgebung im Experiment in unauf-lösbarem Widerspruch gegenüberstehen, greifen weite Teile der tra-ditionellen literaturwissenschaftlichen Geschichtsschreibung solcheabstrakt-spekulativen Formulierungen dankbar auf. Es hat den An-schein, daß sie sich durch die Transzendenz des Biologistischen aufder einen und die sprachzertrümmernde Experimentalität auf deranderen Seite einer genaueren Beschäftigung mit den wissenshi-storischen Voraussetzungen und Verwicklungen der SchreibweiseBenns enthoben fühlen können.56

56 Daß die Experimentalität Benns als ›Sprengung‹ und ›Zertrümmerung‹ keines-wegs adäquat beschrieben ist, sondern zunächst vor allem als Zitier- und Montage-technik operiert, daß sich folglich eine genauere Beschäftigung mit den Quellen,aus denen sich die Texte Benns zusammensetzen, durchaus lohnt, zeigt HolgerHof, Montagekunst und Sprachmagie. Zur Zitiertechnik in der essayistischen ProsaGottfried Benns, Aachen 1997.

Besonders die Rede vom Sprach-experiment mündet nicht selten in die Charakterisierung modernerLiteratur als ›unverständlich‹, ›hermetisch‹, ›enigmatisch‹ oder gar›aphasisch‹.57

57 Für eine solche Lesart repräsentativ ist Gotthart Wunberg, »Hermetik – Änigma-tik – Aphasie. Zur Lyrik der Moderne«, in: Dieter Borchmeyer (Hg.), Poetik undGeschichte. Victor Zmegac zum 60. Geburtstag, Tübingen 1989, S. 241-249.

Eine solche Lesart der sprachlichen Darstellung als Experimentläßt die Frage nach demjenigen, was dargestellt wird, also eben auchdie Darstellung von Experimenten, nicht mehr in den Blick kom-men. Auf der Seite des Dargestellten werden Experimente in avant-gardistischen Texten der Moderne höchstens dann noch themati-siert, wenn von der abendländischen modernen Subjektivität dieRede ist, die in der und durch die Sprache mit sich selbst experimen-tiere, sich hybrid-wahnhaft in ihre Umwelt hinaus ausdehne und

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somit ihrer »restlosen Identitätszerstörung«58

58 Bruno Hillebrand, »Benn: Gehirne«, in: Interpretationen. Erzählungen des 20. Jahr-hunderts, Bd. 1, Stuttgart 1996, S. 178-200, hier S. 180.

oder auch einer »epo-chalen Bewusstseinskrise«59

59 Ebd.

Ausdruck verleihe. In den Worten desBenn-Herausgebers Bruno Hillebrand: »Eines ist klar, hier brichtjene metaphysische Sinnwelt vollends zusammen, die seit der Auf-klärung in die Krise geraten war. [. . .] Die progressive Kunst die-ser Zeit ist eine große Revolte.«60

60 Ebd., S. 180 f.

Daß die Charakterisierung expres-sionistischer Prosa als Revolution auch und vor allem gegen dienaturwissenschaftliche Erfassung der Welt und der menschlichenPsyche61

61 Ein solches Verständnis, welches die literarische Moderne als Emanzipationsbewe-gung gegenüber der Dominanz der naturwissenschaftlichen Kultur versteht, findetsich z.B. bei Walter Müller-Seidel, »Wissenschaftskritik und literarische Moder-ne. Zur Problemlage im frühen Expressionismus«, in: Thomas Anz/Michael Stark(Hg.), Die Modernität des Expressionismus, Stuttgart, Weimar 1994, S. 21-43.

erst in jüngeren, diskursanalytischen Beschreibungen end-gültig überwunden scheint,62

62 Vgl. beispielsweise Thomas Gann, Gehirn und Züchtung. Gottfried Benns psych-iatrische Poetik 1910-1933/34, Bielefeld 2007, sowie die Aufsätze von MarcusHahn, »Innere Besichtigung 1912. Gottfried Benn und die Anatomie«, in: Weima-rer Beiträge 52/3 (2006), S. 325-353; ders., »Assoziation und Autorschaft: GottfriedBenns Rönne- und Pameelen-Texte und die Psychologien Theodor Ziehens undSemi Meyers«, in: DVjs 2 (2006), S. 245-316, und »Die armen Hirnhunde. Gott-fried Benn und die Neurologie um 1910«, in: Joachim Dyck/Matıas Martı-nez (Hg.), Gottfried Benn – Rochaden zwischen Biographie und Werk, Göttingen2006.

ist angesichts der vielen literarisch-wissenschaftlichen Doppelqualifikationen unter den expressionisti-schen Autoren und besonders angesichts des Arztes für Haut- undGeschlechtskrankheiten Dr. Benn verwunderlich. Gerade Benn er-hob doch nicht nur sein ›Doppelleben‹ als Arzt und Dichter offensivzum poetologischen Prinzip, sondern blieb seiner medizinischenProfession auch schriftstellerisch stets treu und verfaßte währendseiner gesamten literarischen Karriere Essays zur Medizin, zur Psy-chologie und zur Geschichte der Naturwissenschaften.63

63 Daß sich nicht nur diese Essays, sondern auch die im engeren Sinne medizinischenTexte Benns wiederum in erster Linie eher den Geisteswissenschaften zugeordne-ten Lektüre- und Kompilationstechniken und nicht der experimentellen Arbeitim Laboratorium verdanken, also »Naturforschung im Modus der Literaturfor-schung« sind, zeigt Christoph Hoffmann, »Literaturforschung. Über medizini-sche Schriften Gottfried Benns«, in: Bernhard J. Dotzler/Sigrid Weigel (Hg.),

Experi-

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»fülle der combination«. Literaturforschung und Wissenschaftsgeschichte, München2005, S. 319-341, hier S. 339.

mentalität beschäftigt den Expressionisten Benn, auch wenn seinespäteren Essays aus den 1930er Jahren teilweise diesen Eindruckerwecken mögen, keineswegs nur in der Form ästhetischer Sprach-experimente als Frage nach der Gestaltung seiner Texte, sondernauch in der Form naturwissenschaftlicher Forschung als Gegenstandseiner sowohl essayistischen als auch literarischen Texte.64

64 Daß sich die Rede von einem Gegensatz oder sogar Unterschied zwischen Gestal-tung und Gegenstand des Textes für die Ästhetik der Prosa Benns nicht aufrechter-halten läßt, erörtert Thomas Wegmann, »Die Moderne tiefer legen. GottfriedBenns Ästhetik der parasitären Störung«, in: Friederike Reents (Hg.), GottfriedBenns Modernität, Göttingen 2003, S. 55-74.

So veröf-fentlichte Benn vor seinen ersten literarischen Prosastücken dreiEssays mit den Titeln »Beitrag zur Geschichte der Psychiatrie« (1910),»Zur Geschichte der Naturwissenschaften« (1911) und »Medizini-sche Psychologie« (1911), und ein Blick in diese Texte bewahrt denInterpreten davor, gerne zitierte Sätze wie »Das Gehirn ist ein Irr-weg. Ein Bluff für den Mittelstand«65

65 Gottfried Benn, »Ithaka«, in: ders., Sämtliche Werke, Bd. VII/1, Stuttgart 2003,S. 7-16, hier S. 13.

aus der Szene »Ithaka« (1914)als Abgesang auf die Wissenschaften und als Generalkritik an experi-mentellen Forschungen zu verstehen.

Benn schreibt in »Medizinische Psychologie« zwar von einer »Er-niedrigung der Psychologie zu einem Zweige der Biologie«, konsta-tiert aber auch, daß ohne eine solche ›Erniedrigung‹ »eine neue Psy-chologie nicht hätte entstehen können«.66

66 Gottfried Benn, »Medizinische Psychologie«, in: ders., Sämtliche Werke, Bd. III,Stuttgart 1987, S. 18-22, hier S. 22.

Benns Kritik richtet sichnicht gegen die naturwissenschaftliche Deskription des Menschenim allgemeinen, sondern gegen eine rein neurologisch-lokalisatori-sche Erfassung der menschlichen Psyche, die diese umfassend be-greifen zu können glaubt, indem sie – ganz in der Tradition derPhrenologie – einzelnen psychischen Vermögen spezifische Hirnre-gionen zuordnet. Entsprechend äußert sich Benn in »Zur Ge-schichte der Naturwissenschaften«:

Wenn Flechsig und Fritsch mit der Elektrode die Großhirnrinde abtastetenund Bewegungen auslösten, die als der Ausdruck seelischer Regungen gal-ten, so war das für sie absolut nicht gefühlsbetonter, als wenn Pawlow sei-nem Hund eine Magenfistel anlegte, um das Drüsensekret zu untersuchen.

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Es interessierte am Gehirn gar nicht mehr der Sitz und das Ergehen derSeele; es war viel wichtiger, daß beim Stich in den vierten Ventrikel Zuckerim Harn auftrat und daß bei einer enthirnten Taube bestimmte psychischeFunktionen ausfielen und andere bestehen blieben.67

67 Gottfried Benn, »Zur Geschichte der Naturwissenschaften«, in: ders., SämtlicheWerke, Bd. III, Stuttgart 1987, S. 14-17, hier S. 16. Benn verwechselt Paul EmilFlechsig mit Julius Eduard Hitzig. Vgl. Gustav Fritsch/Eduard Hitzig, »Ueber dieelektrische Erregbarkeit des Grosshirns«, in: Archiv für Anatomie, Physiologie undwissenschaftliche Medicin 1870, S. 300-332.

Mit solch einer einschränkenden Kritik ist natürlich keineswegsdie Gültigkeit der in neurophysiologischen Experimenten ermittel-ten Ergebnisse in Frage gestellt. Ganz im Gegenteil: Die Konfronta-tion menschlicher Gefühlsregungen mit ihrer material-organischenBasis bleibt für Benn – wie die Rede von der ›progressiven Zerebra-tion‹ zeigt – zeitlebens nicht nur Vehikel seiner Kulturkritik, son-dern auch eines der wichtigsten Stilmittel seiner literarischen Pro-duktion.

Im »Laboratorium der Worte« II:Benn, Rönne und die Gehirne

Daß aber, wenn nicht die Gültigkeit, so doch die Reichweite medizi-nisch-physiologischer Erklärungen in den Augen Benns in Frage zustellen ist, wird in einem Vergleich von Benns erstem literarischenProsatext »Unter der Großhirnrinde« (1911) mit der ersten Rönne-Novelle »Gehirne« (1914) deutlich. In »Unter der Großhirnrinde« istdie Faszination für die Materialität des menschlichen Hirns nochgroß und seine medizinisch-taktile Kenntnis unabdingbar für dasVerständnis des ›Eigentümlichen gewisser Dinge‹:

Du hast wohl nie ein menschliches Gehirn in Deiner Hand gehalten? Dasmüßte man aber eigentlich, um das Eigentümliche gewisser Dinge ganz zuerfassen. Du müßtest dann eine Nadel oder eine Gabel nehmen und einebestimmte Stelle der Oberfläche ein bißchen abschaben. Und dann dirsagen: wenn das Gehirn jetzt noch warm und weich wäre und zu etwasLebendigem gehörte, könnte der Betreffende jetzt seinen linken Arm undsein linkes Bein nicht mehr bewegen.68

68 Gottfried Benn, »Unter der Großhirnrinde«, in: ders., Sämtliche Werke, Bd. VII/1,Stuttgart 2003, S. 355-363, hier S. 356 f.

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In »Gehirne« dagegen führen die »zweitausend Leichen«, die »ohneBesinnen« durch Rönnes »Hände gegangen« sind,69

69 Gottfried Benn, »Gehirne«, in: ders., Sämtliche Werke, Bd. III, Stuttgart 1987,S.29-34, hier S. 29.

zu keinerleiErkenntnis mehr, sondern nur zur Erschöpfung. Aus der pathologi-schen Forschung übrigbehalten hat Rönne nur jene berühmte Ge-ste, mit der er »die leicht gebeugten Handflächen, nach oben offen,an den kleinen Fingern zusammenlegte, um sie dann einander zuund ab zu bewegen, als brächte er eine große weiche Frucht auf«,jene Geste, von der »niemand wußte, was es zu bedeuten habe«,70

70 Ebd., S. 32.

biseines Tages der Kopfinhalt eines in der Anstalt geschlachteten ›grö-ßeren Tieres‹ die leere Stelle zwischen den Händen füllt und somitklar wird, daß Rönne mit seinen Händen immer noch den Gehirnennachspürt. Was Foucault in seiner Analyse der Geburt der Klinikals Errungenschaften des frühen 19. Jahrhunderts beschrieben hat,nämlich zunächst die Erzeugung eines »Gewebe[s] von Sichtbaremund Lesbarem« in der »klinischen Erfahrung« und daran anschlie-ßend eine »Triangulierung der Sinne«, also eine semiologische Ver-bindung von ›Hören und Berühren mit dem Sehen‹,71

71 Michel Foucault, Die Geburt der Klinik. Eine Archäologie des ärztlichen Blicks,Frankfurt am Main 1988, S. 176.

bricht in denRönne-Novellen wieder auseinander.72

72 So auch Hahn, »Innere Besichtigung 1912« (wie Anm. 62), S. 342: »Doch ausge-rechnet das, was Foucault ein halbes Jahrhundert später den ärztlichen Blick nen-nen wird, verweigert Rönne.«

Rönne versteht nicht, was er sieht, und fühlt, was nicht zu greifenist. Weder erschließt sich das Sichtbare, das von Rönne Wahrge-nommene, diesem in irgendeiner Form der Lektüre, noch sind dieverschiedenen Sinne in einer sinnvollen Weise, das heißt in eineranderen Weise als in dem kontingenten Erleben Rönnes, mitein-ander verknüpft. Die medizinische Wissenschaft und die Neurolo-gie haben sich »in eine Reihe von Handgriffen aufgelöst«.73

73 Benn, »Gehirne« (wie Anm. 69), S. 30.

DiesenAuflösungsprozessen, diesem Auseinanderfallen von entkontextuali-sierter Gestik und zielgerichteter wissenschaftlicher Tätigkeit, vonHandgriff und Handlung, entspricht allerdings auf der performati-ven Ebene des Texts das genaue Gegenteil, nämlich ein Zusammen-fallen von Geste und Wort, von textuell Inszeniertem und bildlicherInszenierung: »Die Rönne-Erzählungen [. . .] führen [. . .] vor, wie

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die Hände allmählich mit der textuellen Performanz zusammenfal-len, die sie vollziehen, und wie sie sich nur noch in diesem textuellenVollzug verstehen lassen; wie sie sich also aus ihrer medizinischenInstrumentalisierung herauswinden, um zu einem nur noch kon-junktivisch zu Ende formulierbaren Bild zu werden.«74

74 Binczek, »Der ärztliche Blick« (wie Anm. 38), S. 81.

Mit einer solchen Performanz, in der Narrativ und stillgestellteGebärde ineinander übergehen, läßt sich ebensowenig ein individuel-les Ich wie eine Handlung(en) darstellende Erzählung mehr verbin-den. Ob etwas tatsächlich geschieht oder nur gedacht wird, ob etwasin der äußeren Wirklichkeit wahrgenommen oder nur als Wort vorge-stellt wird, ist vor diesem Hintergrund nicht nur unentscheidbar, son-dern auch belanglos: »Was sollte man denn zu einem Geschehensagen? Geschähe es nicht so, geschähe es ein wenig anders. Leer würdedie Stelle nicht bleiben.«75

75 Benn, »Gehirne« (wie Anm. 69), S. 32 f.

Res und verba,76

76 Eine vergleichbare Überblendung von res und verba findet sich auch in einem17 Jahre später von Benn durchgeführten Gedankenexperiment, in dem ein Arzt,den der Autor Dr. Rönne zu nennen beliebt, ohne jede medizinische Behandlung,einzig durch die Suggestion seiner Worte seine Patienten mit neunzigprozentigerWahrscheinlichkeit von ihren Warzen befreit: »Ein Anruf, und die Warzen fallenab, überlegt Rönne, also Warzen, pathologisch festumrissene Gebilde, hundert-fach mikroskopisch untersucht, verschwinden auf Zureden. Durch ein lebendesVirus, wahrscheinlich Bakterien, hervorgerufene kleine Neubildungen trocknenab durch das eindringliche Wort. Ganz offenbar ist der Mensch etwas völlig ande-res, etwas ganz unfaßbar anderes, als meine Wissenschaft es mich lehrte, nichts soHerabgesetztes, nichts so Dickflüssiges, nichts, dessen Kadaver man mit Gas-schläuchen und Gummidrains bearbeiten müßte, um es zu heilen und sein Wesenzu erspähen« (Gottfried Benn, »Irrationalismus und moderne Medizin«, in: ders.,Sämtliche Werke, Bd. III, Stuttgart 1987, S. 340-349, hier S. 342).

Handeln und Sprechenfallen für die Fokalisierungsinstanz, die Sprachformel Dr. Rönne aufeine Weise zusammen, in der die Allmacht des beschwörenden Worts(»Wohin solle man sich dann sagen?«)77

77 Benn, »Gehirne« (wie Anm. 69), S. 33.

und die Ohnmacht des han-delnden Subjekts (»Er sei keinem Ding mehr gegenüber; er habekeine Macht mehr über den Raum, äußerte er einmal; lag fast unun-terbrochen und rührte sich kaum«)78

78 Ebd.

übergangslos aufeinander fol-gen. Allegorischen Ausdruck erhält dieses Paradox im Schlußbild der»Gehirne«, das die Zirkularität von All- und Ohnmacht, Vorstellungund Wirklichkeit nochmals vorführt (und zudem auf das jeden Men-

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schenversuch grundsätzlich heimsuchende Problem, daß ein Menschzugleich Subjekt und Objekt des Experiments ist, verweist), indemdie leer gewordene Geste des Gehirnbetastens wieder angefüllt wird,und zwar mit der Unmöglichkeit von Rönnes eigenem Gehirn: »Nunhalte ich immer mein eigenes in meinen Händen und muß immerdarnach forschen, was mit mir möglich sei.«79

79 Ebd., S. 34. Die Verbindung von Vorstellen und Denken mit der Materialität desKörpers, die sich in dem Bild des Betastens des eigenen Gehirns offenbart, findetsich auch in der Szene »Ithaka«, in der es in Anspielung auf die Konditionierungendes Experimentalwissenschaftlers Pawlow heißt: »Ich habe gedacht, bis mir der Spei-chel floß« (Benn, »Ithaka« [wie Anm. 65], S. 12).

Die essayistische Beschreibung des ›modernen Ich‹, das sich durchden Siegeszug des Positivismus auf seine Materialität, sein Gehirn,reduziert und dessen Individualität sich durch die Diskontinuier-lichkeit seines Erlebens aufgelöst sieht, zeigt sich in der Rönne-Novelle eingelöst. Entsprechend leer laufen Textbeschreibungen wiebeispielsweise die folgende: »In der ersten Erzählung des Zyklus istder Leidensdruck der Hauptfigur am größten, und ihr stehen nurunzureichende Mittel zur Verteidigung gegen die Bedrohungen dersie umgebenden Welt zur Verfügung. Daher wirkt Rönnes Aus-bruch wie ein Zusammenbruch.«80

80 Martin Preiß, »Gottfried Benns Rönne-Novellen«, in: Walter Fähnders (Hg.),Expressionistische Prosa, Bielefeld 2001, S. 93-114, hier S. 104.

Ein solcher Interpretationsver-such muß aus dem einfachen Grund fehlgehen, daß »Gehirne«keine Subjektivität narrativ inszeniert, die zusammen- oder ausbre-chen könnte. Auch die psychiatrischen Diagnosen, die dem Prot-agonisten der Rönne-Novellen aus literaturwissenschaftlicher Per-spektive gestellt werden,81

81 So bezeichnet z.B. Renata Purekevich (Dr. med. Gottfried Benn. Aus anderer Sicht,Bern, Frankfurt am Main 1976, S. 47) die »Gehirne« als »ins Dichterische umge-setzte Autopathographie eines Schizophrenen«.

müssen an einer Figur scheitern, die nichtgenügend individuelle Konsistenz aufweist, um solchen Diagno-sen genügen zu können. Anders als die Vorgänger der Wiener Mo-derne, für deren Texte solche Beschreibungen durchaus sinnvoll seinkönnen, erzählt Benns Text (genauso wie diejenigen seiner expres-sionistischen Zeitgenossen) von keinem Ich mehr, welches unterLeidensdruck stehen oder an einer psychischen Krankheit leidenkönnte: »Das hypertrophe Ich des Expressionismus bezeichnet [. . .]kein Innenleben einer Person mehr, kein psychologisch beschreib-bares Subjekt, das kriseln könnte, sondern ein von Rücksichten auf

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anderswo definierte Gegebenheiten weitgehend unabhängiges Text-verfahren.«82

82 Moritz Baßler, »Absolute Prosa«, in: Fähnders, Expressionistische Prosa (wieAnm. 80), Bielefeld 2001, S. 59-78, hier S. 63.

Daß das Ich der Rönne-Novellen nichts anderes als dieOberflächlichkeit eines Textverfahrens sein will, eines Textverfah-rens zudem, welches sich den klassischen Stilmitteln literarischerSinnbildung verweigert, läßt dieses Ich in der vierten Rönne-No-velle, »Der Geburtstag«, in aller Deutlichkeit lesbar werden:

Nun ist es Zeit, sagte er sich, daß ich beginne. In der Ferne rauscht ein Ge-witter, aber ich geschehe. [. . .] Dann wollte er sich etwas Bildhaftes zurufen,aber es mißlang. Dies wieder fand er bedeutungsvoll und zukunftsträchtig:vielleicht sei schon die Metapher ein Fluchtversuch, eine Art Vision und einMangel an Treue.83

83 Gottfried Benn, »Der Geburtstag«, in: ders., Sämtliche Werke, Bd. III, Stuttgart1987, S. 50-61, hier S. 51. Vgl. hierzu auch die Analyse des »Geburtstags« in MoritzBaßler, Die Entdeckung der Textur. Unverständlichkeit in der Kurzprosa der emphati-schen Moderne 1910-1916, Tübingen 1994, S. 153-157.

Wenn Metaphorik als ›Fluchtversuch‹ gekennzeichnet und somitklassische rhetorische Stilmittel als Organisationsprinzip des Texteswenn nicht vollständig verabschiedet, so doch zumindest unter Ver-dacht gestellt sind, stellt sich die Frage, welche Organisationsprinzi-pien dann das Textverfahren, welches das ›Ich‹ der Rönne-Novellenkonstituiert, strukturiert. Mit der Erforschung des Gehirns und derdiesem Wissensdrang zwar entsprechenden, aber gegenstandslosgewordenen Geste Rönnes ist ein solches Prinzip bereits erörtertworden. Nun ist das Gehirn und seine Erkundung keineswegs daseinzige Standbein, auf dem die Produktion des Rönne-Ichs ruht.Und dies aus gutem Grund; konstatiert Rönne doch selbst, daß diematerielle Grundlage seines Denkens und Empfindens nicht genü-gend Konsistenz aufweist: »Ich habe keinen Halt mehr hinter denAugen. [. . .] Zerfallen ist die Rinde, die mich trug.«84

84 Benn, »Gehirne« (wie Anm. 69), S. 32.

Rönnes kon-kretes Empfinden entspricht einer grundsätzlichen Skepsis, der im›erkenntnistheoretischen Drama‹ »Der Vermessungsdirigent« durcheine Frage von Rönnes Kollegen Jeff van Pameelen, der als jemandbeschrieben wird, der »mit allen derniers cris aller Psychologien ver-sucht, [das] Ich experimentell zu revidieren«,85

85 Gottfried Benn, »Der Vermessungsdirigent«, in: ders., Sämtliche Werke, Bd. VII/1,Stuttgart 2003, S. 35-67, hier S. 35.

folgender Ausdruck

100

verliehen wird: »Sie erwarten, daß ich meine logische Kontinuitätunterbrechen lasse durch physiologische Bizarrerien vom Rangeeines Experiments?«86

86 Ebd., S. 47.

Sosehr für Pameelen außer Frage steht, daß das Ich ›experimentellzu revidieren ist‹, sosehr steht in Frage, auf welche Art experimentel-len Zugriffs sich eine solche Revision zu beziehen hat. Um nämlichüberhaupt – und sei es vom Scheitern der Erkenntnisfunktionenund des Erzählens selbst – erzählen zu können, ist eine gewisse ›logi-sche Kontinuität‹ erforderlich, die weder durch das lyristische Sprach-experiment, das sich auf die materiellen Grundlagen des Sprechensbezieht, noch das physiologische Experiment mit Gehirnen, das sichauf die materiellen Grundlagen des Denkens bezieht, gewährleistetwerden kann. Diesem Gegensatz zwischen der Notwendigkeit eineszumindest teilweise vorherrschenden gedanklichen und erzähleri-schen Kontinuums und der Fragmentarität von Sprach- und Hirn-material entspricht, daß die Gehirne in »Gehirne« als »alle sehr zer-fließlich«87

87 Ebd., S. 34.

charakterisiert werden und somit im Widerspruch zuder Auftaktszene der »Gehirne« stehen, die mit der Absicht Rönnesschließt, sich ›Buch und Stift zu kaufen‹ und ›möglichst vieles aufzu-schreiben‹, »damit nicht alles so herunterfließt«.88

88 Ebd., S.29.

Im »Laboratorium der Worte« III:Dr. Rönnes Assoziationsversuche

Was ein solches Herunterfließen verhindert oder zumindest so weitstrukturiert, daß es erzählbar wird, ist eine weitere naturwissen-schaftliche Diskursivierung der menschlichen Psyche. Die Neuro-physiologie ist nicht die einzige Experimentalwissenschaft, auf diesich Benns »Gehirne« bezieht, denn auch das zweite Standbein, aufdem neben der Neurologie – wie Benn in seinem ersten veröffent-lichten Text, seinem »Beitrag zur Geschichte der Psychiatrie«, aus-führt – die »Möglichkeit einer Psychiatrie als Wissenschaft« fußt,die »experimentelle Psychologie«,89

89 Gottfried Benn, »Beitrag zur Geschichte der Psychiatrie«, ders., Sämtliche Werke,Bd. III, Stuttgart 1987, S. 7-13, hier S. 10.

spielt für die Gestaltung von

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»Gehirne« eine zentrale Rolle. Anders als die Neurologie, auf die derText in Gestalt der Gehirne mehr oder weniger deutlich anspielt, fin-det die experimentelle Psychologie aber nicht explizit Erwähnung,sondern ist in die Textur der Novelle eingegangen. Gegenüber dersprachlichen Darstellung als Experiment, mit der Experimentalitäthinsichtlich der Performativität des Textes angesprochen ist, undden neurophysiologischen Experimenten, auf die einerseits RönnesHandbewegungen und sein wissenschaftlicher Werdegang sowieandererseits die zitierten Intertexte aus dem Werk Benns verweisen,mit denen Experimentalität also hinsichtlich der Referentialität desTextes angesprochen ist, stellt die Behandlung der experimentellenPsychologie in der Rönne-Novelle eine dritte Form des Verhältnissesvon Literatur und Experiment dar. Die experimentelle Psychologieist nämlich – wenn auch nicht explizit, so doch implizit in der Ver-wendung ihrer Verfahren und Theoreme – sowohl Thema bzw.Gegenstand des Textes als auch konstitutiv für die Schreibweise, inder der Text seinen Gegenstand beschreibt. Die experimentelle Psy-chologie, auf die sich »Gehirne« bezieht, stellt sich durch die und inder Performativität des Textes dar.

Nun bezieht sich die Schreibweise von Benns Text natürlich nichtauf die experimentelle Psychologie, sondern auf eine spezifischetheoretische Ausrichtung der experimentellen Psychologie. In einerCharakterisierung der Bennschen Schreibweise, die Max Bense 1949in seinem Aufsatz »Über expressionistische Prosa« veröffentlicht hat,deutet sich an, um welches psychologische Konzept es sich handelt:

Wir nannten schon eingangs die expressionistische eine assoziative Prosa.Wir wollen damit sagen, daß ihre Entwicklung nicht deduktiv oder induktivvoranschreitet. [. . .] Es geht nicht um den Zusammenhang zwischen Prä-missen und Konklusionen. [. . .] Wie die Glieder einer Kette greifen Sub-jekte und Prädikate, Sätze und Abschnitte ineinander – aber das Ineinan-dergreifen wird nicht logisch, sondern expressiv, also durch Assoziationenbewirkt, die sich in der denkenden und schreibenden Existenz vollziehenund die durch sinnliche und seelische oder geistige Intensitäten dieser Wor-te und Wortverbindungen hervorgerufen werden.90

90 Max Bense, »Über expressionistische Prosa«, in: Bruno Hillebrand (Hg.), ÜberGottfried Benn. Kritische Stimmen 1912-1956, Frankfurt am Main 1987, S. 177-181,hier S. 178 f.

Verlängert man die Beschreibung Benses in die Wissenschaftsge-schichte hinein und begreift den Begriff der Assoziation nicht nur

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alltagssprachlich, sondern als fachwissenschaftlichen Terminus derPsychologie, ist man nicht nur auf ein Konzept verwiesen, welchesseit Coleridge und den Anfängen einer disziplinären Thematisie-rung der menschlichen Psyche im Schnittfeld von Literatur und Psy-chologie stand, sondern auch auf ein Konzept, welches in der Psy-chologie des Neurologen, Philosophen und Psychiaters TheodorZiehen (1862-1950), dessen Vorlesungen Benn in den Jahren 1905bis 1910 besuchte und dessen Texte Benn in seinen Essays immerwieder zitiert, eine prominente Stellung einnimmt. Zugleich wirddeutlich, daß Benses Feststellung, Assoziationen seien ›nicht logisch,sondern expressiv‹, zumindest aus der Sicht der Experimentalpsy-chologie kaum haltbar ist. Aus der Sicht Theodor Ziehens läßt sichvielmehr das Gegenteil behaupten. Die Prinzipien, nach denen sichAssoziationen verketten, gehorchen streng logischen Gesetzen. Ent-sprechend läßt sich laut Ziehen die Funktionsweise aller Ideenasso-ziationen auf ein simples Grundgesetz zurückführen: »Auf eine Vor-stellung Va folgt eine Vorstellung Vb, deren Grundempfindung oftgleichzeitig mit der Grundempfindung von Va aufgetreten ist oderderen Grundempfindung Partialempfindungen mit der Grundemp-findung von Va gemeinsam hat.«91

91 Theodor Ziehen, Psychophysiologische Erkenntnistheorie, Jena, 2. Aufl. 1907, S. 85.

Vergleicht man die Rönne-Novellen mit der psychologischen Theorie Ziehens, werden dieErlebnisse Rönnes nicht als Ausdruck eines hypernervösen, hyste-risch-überspannten, wahnhaft-dissoziierten Individuums, sondernals ästhetische Umsetzung assoziationstheoretischer Experimenteerkennbar.92

92 Dieser Vergleich kann hier nicht ausgeführt werden, muß es aber auch nicht,da eine entsprechende diskursanalytische Gegenüberstellung von Benns Rönne-Novellen und zeitgenössischer Experimentalpsychologie (Theodor Ziehen undSemi Meyer) mit dem Text von Marcus Hahn »Assoziation und Autorschaft« (wieAnm. 62) bereits vorliegt. Als Strukturprinzip der Rönne-Novellen macht Hahneinen »Aufschwung und Abbruch der Ideenassoziation« (ebd., S. 297) aus. Kurzzusammengefaßt, läßt sich festhalten: »Rönnes Bewusstseinsstrom simuliert Zie-hens Kausalgesetze als psychisches Parallelgeschehen« (ebd., S. 268).

Auch die Tatsache, daß Rönnes Ich keinen Ruhepol imStrom der Vorstellungen und Empfindungen bilden kann und garkein konkret-individuelles, sondern ein abstrakt-absolutes Ich dar-stellt, liest sich mit Blick auf Ziehens Psychophysiologische Erkenntnis-theorieals nicht viel mehr als literarische Gestaltung experimentalpsycholo-gisch formulierter Einsichten:

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Auch die Vorstellung des eigenen Ich ist eben nur eine Vorstellung innerhalbder Reihe, welche ebenso wie die Vorstellung anderer Ichs durch bestimmteReduktionen bestimmter Empfindungen sich ergeben hat. Weder ein Sub-jekt noch eine Pluralität von Subjekten ist gegeben, sondern gegeben ist nurdie Reihe der Empfindungen und der Vorstellungen.93

93 Ziehen, Psychophysiologische Erkenntnistheorie (wie Anm. 91), S. 40.

Auf die Verwicklungen von Ziehens Experimentalpsychologie undBenns Experimentalliteratur, vor deren Hintergrund es nicht ver-wundert, daß die Rönne-Novellen die »naive Reduktionsvorstellungdes eigenen Ichs«94

94 Ebd.

dekuvrieren, hat bereits Friedrich Kittler in allerihm eigenen Deutlichkeit in seiner Abhandlung über die Aufschrei-besysteme 1800-1900 hingewiesen:95

95 Zu einer längeren Rekapitulation und Problematisierung dieser Thesen Kittlersvgl. Gann, Gehirn und Züchtung (wie Anm. 62), S. 119-126.

»Es ist lediglich eine [. . .] Trans-position psychophysischer Techniken in Literatur, wenn Dr. med.Werff Rönne, Benns erster Novellenheld, gedankenflüchtiges Asso-ziieren auch ohne Versuchsleiterpeitsche praktiziert.«96

96 Friedrich A. Kittler, Aufschreibesysteme 1800-1900, München, 3. Aufl. 1995, S. 306.Die Peitsche bezieht sich auf die bereits erwähnte Szene »Der Vermessungsdiri-gent« (wie Anm. 85), in der Pameelens Assoziationsfluß durch Peitschenknallenangetrieben wird.

»Benn undRönne, auch und gerade, wenn sie delirieren, brauchen die Theorieihres Chefs [Ziehen] also nur noch in Schreibpraxis umzusetzen.«97

97 Ebd., S. 393.

Dabei schießen Kittlers Überlegungen aber über die eigene Aus-gangshypothese einer ›Transposition psychophysischer Techniken inLiteratur‹, einer ›Umsetzung der Theorie in Schreibpraxis‹ hinaus,wenn sie folgendermaßen ausgeführt werden:

Im aporetischen Versuch, das eigene Denken kraft eigenem Medizinerden-ken zu hinterfragen und d.h. zu lokalisieren, bringt Rönne ganz buchstäb-lich das Opfer seines Erkenntnissubjekts. Daß er Assoziationen und Wörterhat, wird zur unwahrscheinlichen Ausnahme angesichts ungezählter Mög-lichkeiten von Defiziten und Störungen. So hört die Sprache auf, Bastionder Innerlichkeit zu sein; dieselbe Geste, die das Umstülpen des eigenenHirns simuliert, verkehrt auch Sprache in Zufall und Äußerlichkeit.98

98 Ebd., S. 307.

Nimmt man die Beziehungen, die Benns Rönne-Novellen zu derpsychophysiologischen Erkenntnistheorie Ziehens unterhalten, tat-

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sächlich ernst, kann kaum die Rede davon sein, daß sich ›Sprache inZufall und Äußerlichkeit verkehrt‹ und sich die Schreibweise derNovellen ›Defiziten und Störungen‹ verdankt. Vielmehr ist das Ge-genteil der Fall. Die Opferung des Erkenntnissubjekts ist keineFolge aporetischer Verwicklungen, sondern Ausgangspunkt einer li-terarischen Versuchsanordnung, welche die Verknüpfungsregeln von›Assoziationen und Wörtern‹ sichtbar zu machen sucht. Kittlers Er-örterungen vertauschen Ursache und Wirkung. Am Beginn des er-zählerischen Experiments Benns steht die radikale Umsetzung derpsychologischen Einsicht Ziehens, daß ›weder ein Subjekt noch einePluralität von Subjekten gegeben ist, sondern nur die Reihe der Emp-findungen und der Vorstellungen‹. Folge der bewußten Aufgabe einersolchen individuellen Subjektposition ist, daß die ›Empfindungenund Vorstellungen‹ nach ihren eigenen Gesetzmäßigkeiten aufein-ander folgen, ohne daß sie sich auf das Erleben eines konkreten Ichsbeziehen und durch dieses miteinander verbunden werden würden.Daß die Gedankengänge Rönnes als delirant und wahnsinnig er-scheinen, ist keine Folge eines Mangels an Rationalität, sondernAusdruck eines Überschusses. Die Aufgabe des Phantasmas der Sub-jektivität, die logisch aus den Erkenntnissen der Experimentalpsy-chologie folgt, läßt Wörter und Assoziationen gemäß ihrer eigenenRegelhaftigkeit prozessieren, und es ist diese Regelhaftigkeit (undkeineswegs eine Regellosigkeit der Verknüpfungen, die den Textschlicht vollkommen unlesbar machen würde), die den Eindruckvon Irrsinn vermittelt. Nur der vereinheitlichende Eingriff des phan-tasmatischen Ichs nämlich könnte ihr einen – wenn auch irrationa-len – Bezugspunkt bereitstellen, durch den der Anschein von Ver-nünftigkeit, von Kohärenz vermittelt würde.

Auch die ›Geste, die das Umstülpen des eigenen Hirns simuliert‹,wird vor diesem Hintergrund nicht als Ursache des Ich-Verlusts undeiner ›Verkehrung der Sprache‹, sondern als deren Folge erkennbar.Die Aporie zwischen ›eigenem Denken‹ und ›eigenem Mediziner-denken‹, auf die Kittler hinweist, entsteht nämlich erst dann, wenndas eigene Denken die Vorstellung eines eigenen Ichs aufgegebenhat und es in der Folge unmöglich wird, die – eigentlich nicht son-derlich komplexe – Unterscheidung zwischen dem Ich und demGehirn als seinem materiellen Träger zu treffen. Das Paradox liegtauf einer anderen Ebene, nämlich darin, daß die heuristische Tren-nung zwischen versuchsleitendem Subjekt und im Experiment zu

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erkennendem Objekt ›Mensch‹, welche die Erfolge experimental-wissenschaftlicher Forschung allererst ermöglicht, in ihrer Anwen-dung zwar zu Einsichten wie ebenderjenigen Ziehens, daß sich ›dieVorstellung des Ichs durch bestimmte Reduktionen bestimmterEmpfindungen ergibt‹, führt, die konsequente Anwendung solcherEinsichten aber wiederum die heuristische Trennung, der sie sichverdanken, unmöglich werden läßt. Verläßt man die Textebene der»Gehirne« nicht, ist festzuhalten, daß erst durch die willentliche Til-gung einer ordnenden Subjektposition die Gehirne zum Materialfreien Assoziierens und die sich mit den Gehirnen befassendenGesten zu Sprechhandlungen werden und nicht umgekehrt.

Daß die Rönne-Novellen als Assoziationsversuche, als von je-der vereinheitlichenden Subjektivität abstrahierende Experimental-anordnung verstanden werden können, kommt auch in der äußerenAnlage der Texte, dem Setting der Gedankenläufe Rönnes, zur Gel-tung. Schon Dieter Wellershoff merkt 1968 in seinem Nachwort zuBenns Gesammelten Werken an, daß die Spaziergänge Rönnes »wiedie Experimente einer Versuchsreihe an[muten]«.99

99 Dieter Wellershoff, »Nachwort des Herausgebers zu Prosa und Szenen«, in: Gott-fried Benn, Gesammelte Werke, hg. v. Dieter Wellershoff, Bd.6, Wiesbaden 1968,S. 1622-1630, hier S. 1624.

Und tatsächlicherinnern die unzähligen Spaziergänge, die Rönne in »Gehirne« undnoch ausgeprägter in den weiteren vier Novellen immer wieder un-ternimmt, an die Experimentalhaltung eines Gründungsvaters derExperimentalpsychologie.100

100 Dies hat bereits Hahn, »Assoziation und Autorschaft« (wie Anm. 62), S. 265 fest-gestellt.

In seinem Aufsatz »Psychometric Expe-riments« aus dem Jahr 1879 beschreibt Francis Galton als Methodezur Erforschung der Psyche, wie er immer wieder denselben Spazier-gang entlang einer Einkaufsmeile unternahm und bei jedem Objektso lange verweilte, bis sich zu diesem Objekt eine Assoziation ein-stellte:

I walked leisurely along Pall Mall, a distance of 450 yards, during which timeI scrutinised with attention every successive object that caught my eyes, andI allowed my attention to rest on it until one or two thoughts had arisenthrough direct association with that object; then I took very brief mentalnote of them, and passed on to the next object. I never allowed my mind toramble. The number of objects viewed was, I think, about 300, for I havesubsequently repeated the same walk under similar conditions, and endea-

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vouring to estimate their number, with that result. It was impossible for meto recall in other than the vaguest way the numerous ideas that had passedthrough my mind; but of this, at least, I was sure, that samples of my wholelife had passed before me, that many bygone incidents, which I neversuspected to have formed part of my stock of thoughts, had been glanced atas objects too familiar to awaken the attention. I saw at once that the brainwas vastly more active than I had previously believed it to be, and I was per-fectly amazed at the unexpected width of the field of its everyday opera-tions.101

101 Francis Galton, »Psychometric Experiments«, in: Brain 2 (1879), S. 149-162, hierS. 151.

Vergleichbar geht Rönne vor, wenn er während der Zugfahrt, beiseiner ärztlichen Tätigkeit und während seiner Spaziergänge durchdie Anstalt beobachtet, »wie sich Vorstellungen bildeten«.102

102 Benn, »Gehirne« (wie Anm. 69), S. 30.

Andersals Galton verändert Rönne aber den Rhythmus seiner Spazier- undGedankengänge. Teilweise läßt er seinen Gedanken so freien Lauf,daß seine Assoziationen als ›Ideenflucht‹ im Sinne Ziehens beschrie-ben werden könnten, teilweise schließt er sich – wie am Ende von»Gehirne« – so von der Umwelt und seinen eigenen Gedanken ab,daß sein Bewußtseinszustand mit der Ziehenschen Kategorie der›Denkhemmung‹ charakterisiert werden könnte. Vor allem aber hatRönne gegenüber Galton, der sich darüber beklagt, daß es für ihnunmöglich gewesen sei, ›die unzähligen Ideen, die durch seinen Geistgegangen seien, anders als auf die unbestimmteste Art und Weise zuerinnern‹, einen bzw. zwei entscheidende Vorteile. Rönne kauft sichein Buch und einen Stift, um »möglichst vieles auf[zu]schreiben«,103

103 Ebd., S.29.

und ermöglicht so das expressionistische Literaturexperiment seinesAutors Gottfried Benn.

Möchte man das Verhältnis von Literatur und Experiment, wiees sich anhand von »Gehirne« zeigt, zusammenfassend bestimmen,lassen sich drei Spielarten dieses Verhältnisses ausmachen: Gemäßden poetologischen Selbstbeschreibungen Benns und den klassi-schen Positionen der literaturwissenschaftlichen Charakterisierungexpressionistischer Prosa wäre die Rönne-Novelle erstens vor allemals ästhetisches Experiment zu begreifen, welches sich der Spra-che als Material bedient und die klanglichen sowie semantischenIntensitäten der Worte und ihrer Verknüpfungen freizusetzen ver-

107

sucht.104

104 Trotz der großen Erklärungsreichweite wissenspoetologischer Untersuchungenist diese Dimension nicht zu verabschieden, läßt sich doch beispielsweise dasEnde der »Gehirne« mit seinem berüchtigten »blauen Anemonenschwert« (ebd.,S. 34) nur sehr schwer mittels dissoziativer Störungen oder assoziationstheoreti-scher Erläuterungen adäquat beschreiben, sondern ist eher einem Willen zumLyrismus geschuldet, der außerhalb solcher Beschreibungskategorien liegt.

In Gestalt der Neurophysiologie und des immer wiederkeh-renden Motivs der Gehirne wird zweitens eine Experimentalwis-senschaft zum Thema, zum Gegenstand literarischer Darstellung.Schließlich werden drittens Grundannahmen der Assoziationstheo-rie zum Gegenstand des Textes, indem sie bestimmend für dessenPerformativität sind. Indem der Experimentator Dr. Rönne die imSelbstversuch gewonnenen Assoziationsreihen weitgehend105

105 Anders z.B. in Benns zweiter Rönne-Novelle »Die Eroberung«, in: ders., Sämt-liche Werke, Bd. III, Stuttgart 1987, S. 35-41, hier: S. 38: »Man muß nur an alles,was man sieht, etwas anzuknüpfen vermögen, es mit früheren Erfahrungen inEinklang bringen und es unter allgemeine Gesichtspunkte stellen, das ist die Wir-kungsweise der Vernunft, dessen entsinne ich mich.«

ohne(meta)diskursiven Kommentar, ohne ordnenden Eingriff einer ver-einheitlichenden Subjektivität aufzeichnet und somit gleichzeitigvorführt, kann zwischen einer Deskription und einer Expressionexperimentalpsychologischer Beschreibungsversuche menschlicherBewußtseinsvorgänge nicht mehr unterschieden werden.

Vergleicht man die Komplexität, in der sich diese drei Formen desliterarischen Experiments nicht nur für sich betrachtet, sondernauch in ihrem Zusammenspiel in den Texten Benns präsentieren,mit der Komplexität, die experimentellen Kategorien innerhalb derprogrammatischen Forderungen des Naturalismus und eines Groß-teils ihrer literarischen Umsetzungen zukommt, läßt sich ein deut-licher Zuwachs feststellen. Ist das Verhältnis des Naturalismus zumExperiment insofern als hysterisch zu kennzeichnen, als der Rufnach einer Experimentalisierung der Literatur und ihrem Anschlußan die Naturwissenschaften zwar gebetsmühlenartig und vehementin einer Vielzahl naturalistischer Manifeste wiederholt wird, dieserubiquitäre Wunsch nach Experimentalität aber keineswegs durchentsprechend reflektierte Konzeptualisierungen der Übertragung na-turwissenschaftlicher Methodik auf literarische Verfahren gedecktist, so sind die Anschlüsse, die von vielen Autoren der Wiener Mo-derne zwischen Literatur und psychologischer Experimentalität ge-sucht werden, in einem ganz anderen Sinne hysterisch. Die nervöse

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Psychologie, wie beispielsweise Hermann Bahr sie konzeptualisiert,bezieht sich auf die Verschränkungen von körperlichen und see-lischen Zuständen, für die die Hysterie bei Charcot und in denAnfängen der Psychoanalyse Freuds zum Sinnbild geworden ist,indem sie fordert, ›die Erscheinungen auf den Nerven und Sinnen,noch bevor sie in das Bewußtsein gelangt sind‹, zur literarischenGestaltung zu bringen. Konsequenz dieser Forderung ist, daß dasExperimentelle nicht mehr – wie noch in den Anfängen des Natu-ralismus – auf den dargestellten Inhalt beschränkt bleiben kann,sondern auf die literarische Form übergreift, für die Autoren wieSchnitzler Erzählweisen wie den inneren Monolog entwickeln, mitdenen sich eine Vielzahl psychischer Konflikte und Vorgänge jen-seits realistischer Narrationsstandards erstmals erschließen. Läßtsich in solchen literarischen Gestaltungen psychologischen Wissensdie Kontrolle über die Erzählexperimente noch weitgehend bei einerhinter ihnen liegenden Autorschaft vermuten, dehnt sich bei Hof-mannsthal der experimentelle Anspruch auch auf diese und die vonihr verwendete Sprache aus, da in Hofmannsthals Konzeption undUmsetzung einer ›Bakteriologie der Seele‹ erzählendes und erzähltesBewußtsein, Beobachtungs- und Darstellungsebene des Textes un-auflöslich ineinanderfließen. Daß schließlich in den Rönne-Novel-len die experimentelle Sättigung literarischen Schreibens noch mehrdadurch angereichert wird, daß mit der Neurologie und der Psycho-physik auch Versuchsanordnungen im engeren, naturwissenschaft-lichen Sinne eine geisteswissenschaftliche Bühne erhalten oder diesesogar bilden, mag als weitere Annäherung der zwei Kulturen ›Gei-stes- und Naturwissenschaft‹ und als weiterer Komplexitätszuwachsin ihrem Verhältnis zu verstehen sein. Vielleicht ist diese weitereKomplikation im Verhältnis von Literatur und Experiment aber auchAusdruck des Übergangs in eine Epoche, in der »das Wissen [anfing],unzeitgemäß zu werden«, und »der unscharfe Typus Mensch, der dieGegenwart beherrscht, [. . .] sich durchzusetzen begonnen«106

106 Musil, Mann ohne Eigenschaften (wie Anm. 46), S. 249.

hatte.

109

Margarete VöhringerExperimente zum Verhalten von Tier und Mensch

Ivan Pavlovs Reflexe im Kino

Als der Mediziner Francois Jacob 1997 in Die Maus, die Fliege undder Mensch erklärt, wie sich Tiere und Menschen auf unterschied-liche Weise aus Elementen desselben Baukastens zusammensetzen,und dabei zugleich die Genforschung beschreibt, schließt er überra-schenderweise mit einem gar nicht naturwissenschaftlichen Kapitel:mit dem Vergleich des Wahren und des Schönen. Auf die Ermah-nung, die Wissenschaften nicht entlang ihren Worten, sondern auchangesichts ihrer Taten zu untersuchen, folgt die Beschreibung dersogenannten Nachtwissenschaft. Anders als die Tagwissenschaft seisie ein »blindes Irren«: »Sie zögert, stolpert, weicht zurück, gerät insSchwitzen, schreckt auf. [. . .] Dem Zufall ausgeliefert, irrt der Geistdurch ein Labyrinth, einer Flut von Hinweisen ausgesetzt, auf derSuche nach einem Zeichen, einem Wink, einem unvermuteten Zu-sammenhang.«1

1 Francois Jacob, Die Maus, die Fliege und der Mensch. Über die moderne Genforschung,Berlin 1998, S. 164.

Kurz, sie ist eine »Werkstatt des Möglichen«, dieRaum für Stilfragen läßt und damit der Kunst gar nicht unähnlichwird.2

2 Ebd., S. 181.

Nach mehreren historischen Beispielen, die zeigen, daß eszwischen Künstlern und Wissenschaftlern »eine Art Echo« gebenkann, das »sich in der Ausrichtung ihrer Gedanken und in der Artder verwendeten Bilder äußert«, gibt Jacob zu bedenken, daß dieseEntsprechungen »nicht so einfach zu analysieren« sind. Sie könntenzwar im Zuge von Revolutionen zu einer »Verschiebung des Mög-lichen« führen, aber »der Ursprung solcher Veränderungen ist meistschwer auszumachen«.3

3 Ebd., S. 174 f.

Um solche Entsprechungen, die nicht soeinfach zu analysieren sind und die mit einer Revolution in denBereich des Möglichen gerückt wurden, soll es im folgenden gehen:um die Verflechtungen von Kunst, Wissenschaft und Politik in denpostrevolutionären 1920er Jahren oder vielmehr um die Begegnun-gen von Hunden, Menschen und Dokumentarfilmen, von Laboren,Gesellschaftsentwürfen und Kinos.

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Das Phänomen, das all diese Bereiche zu verbinden erlaubt, istder physiologische Reflex. 1925 tauchte er in Zeitungsartikeln auf,die von filmischen Expeditionen nach Sibirien berichteten. Zu-gleich stand der Reflex in Vsevolod Pudovkins Film Die Mechanikdes Gehirns im Rampenlicht und wurde im Labor Ivan Pavlovs inLeningrad erforscht. Unter welchen Bedingungen konnte der Reflexfür all diese Bereiche relevant werden? Was brachte ihn ins Kino der1920er Jahre, das für den experimentellen Avantgarde-Film bekanntist, nicht aber für populärwissenschaftliche Filme? Und was sagt alldies über das Menschenbild der Zeit aus, oder vielmehr: Was sagt esüber das Verhalten von Tier und Mensch aus?4

4 Die Ausführungen zum Film Die Mechanik des Gehirns greifen auf eine umfassen-dere Analyse mit Synopsis zurück, vgl. Margarete Vöhringer, Avantgarde und Psy-chotechnik. Wissenschaft, Kunst und Technik der Wahrnehmungsexperimente in derfrühen Sowjetunion, Göttingen 2007, Kapitel 2.

1. Bäuerliche Psyche

In den 1920er Jahren wurden in Rußland sogenannte Kul’turfil’myeingeführt, die der Aufklärung der sowjetischen Bevölkerung dienensollten. Sie waren aus der deutschen Lehrfilmbewegung hervorge-gangen5

5 Zum deutschen Kulturfilm vgl. Dr. E. Beyfuss/Dipl.-Ing. A. Kossowsky (Hg.), DasKulturfilmbuch, Berlin 1924, und Reiner Ziegler, Kunst und Architektur im Kultur-film 1919-1945, Konstanz 2003.

und sollten »Fragen der Moral, der nationalen Identität, desphysischen Wohlbefindens und des Schutzes der Kinder«6

6 William Uricchio, »The Kulturfilm: A Brief History of an Early Discursive Prac-tice«, in: Cherchi Paolo Usai/Lorenzo Codelli (Hg.), Before Caligari: GermanCinema 1895-1920, Pordenone 1990, S. 356-379, hier S. 374.

behan-deln. 1924 erschien ein umfangreicher Sammelband in Berlin – DasKulturfilmbuch –, das ganz verschiedene Beiträge von Medizinern,Schauspielern, Regisseuren, Filmtechnikern, Erziehern und Poli-tikern beinhaltete, die dem Genre kaum Grenzen setzten: »Jederkulturelle, publikumbildende, volksveredelnde, ein Ethos tragendeFilm ist für uns (und jeden Gebildeten) ein Kulturfilm, und somögen unsere Leser sich selbst eine Liste der Kulturfilme der Weltaufstellen [. . .].«7

7 Beyfuss/Kossowsky, Das Kulturfilmbuch (wie Anm. 5), Vorwort, S. VIII.

Entsprechend wurde in der Sowjetunion die Pro-duktion von Kulturfilmen auf alle potentiell aufklärungsbedürfti-

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gen Zuschauer hin ausgerichtet, meist allerdings auf die ungebilde-ten Bevölkerungsschichten. Hier wie dort schien man an die Verbes-serung des Menschen durch Aufklärung und mithin durch Wissenzu glauben, und Kino hielt man für besonders aufklärungstauglich.So entstanden Filme über die Folgen des Alkoholmißbrauchs, überdie vielen entlegenen Regionen der Sowjetunion wie das georgischeSvanetien, über Traktoren oder Familienplanung.8

8 Oksana Sarkisova, »Life As It Should Be? Early Non-fiction Cinema in Russia«, in:Medien und Zeit 1 (2003), S. 41-61, hier S. 60 f.

Sie brachten ne-ben technischen und wissenschaftlichen Neuerungen ganz nebenbeiauch die offizielle Ideologie unters Volk.

Doch die russischen Propagandisten interessierte mehr als dieeinseitige Aufklärung der Landbevölkerung. Sie hatten auch denumgekehrten Informationsfluß im Sinn, von den entlegenen Regio-nen der Sowjetunion in die Hauptstadt.

Im Jahr 1925 wurde in einer Filmzeitschrift die Rezeption von ver-schiedenen Filmen verhandelt, ausgehend von der Frage, wie diebreite Masse überhaupt auf die Filme aus den städtischen Produk-tionsfirmen reagierte. Die naheliegendste Methode, dies herauszu-finden, waren soziologische Befragungen mittels verteilter Fragebö-gen, wie sie auch europäische Arbeitswissenschaftler mehr und mehreinsetzten.9

9 Vgl. Anson Rabinbach, Motor Mensch. Kraft, Ermüdung und die Ursprünge derModerne (1990), Wien 2001, S. 228-231.

Dabei erzielten sie weniger überraschende Ergebnisse:Der Geschmack des Publikums ließ sich in Arbeiter und Intellektu-elle unterscheiden, und die Arbeiterzuschauer sprachen sich in derMehrheit gegen westlich-kapitalistische Filme aus.10

10 A. Dubrovskij, »Opyty izucenija zritelja« (Experimente zur Erforschung desBetrachters), in: Kino zurnal ARK (Organ der Assoziation Revolutionärer Kinemato-graphen) 8 (1925), S. 6-9, hier S. 7.

Etwas ehrlicherund differenzierter verliefen Befragungen, die noch während oderdirekt nach der Filmaufführung durchgeführt wurden. Bei diesensogenannten »Versuchen zur Erforschung des Betrachters« ging manoffenbar von einer Wirkung des Films auf die Wahrnehmung aus,die einige Zeit nach der Aufführung wieder verschwand. Nichtzufällig wurden die Filmschauen als »Seancen« bezeichnet. Um alsoden Eindruck des Films bei einer Seance sofort einzufangen, machteman sich in dem genannten Artikel auch einige Gedanken zurAnordnung der Versuche – es sollte immer nur eine Variable geän-

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dert werden und die übrigen Parameter konstant bleiben. Das wa-ren keine allzu starren Regeln: Als Konstante wurde beispielsweiseder Film festgelegt, der gezeigt wurde, und die soziale Publikums-schicht, während man den Aufführungsort variierte. Oder umge-kehrt, man zeigte in demselben Kino immer wieder verschiedeneFilme bei gleichbleibendem Publikum. Die Zuschauermeinung wur-de dann folgendermaßen erfaßt:

1. Name des Films, 2. Ort und Zeit der Aufführung, 3. Zusammensetzungder Zuschauer (soziale Schicht, Alter, Menge und allgemeine Charakteri-stik), 4. Registrierung des Verhaltens der Zuschauer während der Auffüh-rung mittels Notizen (in welchem Teil des Films und warum kam Lachenauf, oder Freude, Applaus, Schrecken, Tränen, Sprünge usw.), 5. verschie-dene Bemerkungen der Zuschauer zur Qualität des Films während undnach der Aufführung, 6.Gespräche über den Film (und wer spricht), 7. Mei-nung der Beobachter vom Publikum, 8. und die Meinung der Beobachtervom Film.11

1 1 Ebd., S. 9.

Als Ergebnis erhoffte man sich neben »kollektiven Film-Rezensio-nen« – womit nur die Auswertungen der Umfragebögen gemeintwaren – angeblich auch den Einfluß des Zuschauers auf die Kino-produktion zu erhöhen. Wie aber konnte von einer Erhöhung derZuschauermeinung die Rede sein, wenn nicht reflektierte, sondernspontan gemachte Äußerungen gesammelt wurden?

Schon der nächste Artikel in derselben Zeitschrift läßt erahnen,was das eigentliche Interesse dieser Bemühungen war, nämlich ganzund gar nicht die aktive Beteiligung der Zuschauer an ihrem Kino-programm. Hier ging es um die filmische Erfassung von Experimen-ten, aber nicht etwa im Labor, sondern im Kino. Durch eine »Auf-nahme der Reflexe des Gesichts« sollte die objektive Wirkung vonFilmen erkundet werden – und dafür wurden erst gar nicht Gesprä-che geführt. Geplant waren Photo- und Filmaufnahmen (Abb. 1).

Was verrieten schon die Aussagen der Zuschauer, insbesonderewenn es Bauern waren, die ihre Gefühle kaum artikulieren konnten?Und wie sollte man von der Stadt aus Filme drehen für die »bäuer-liche Psyche«, die man doch gar nicht einzuschätzen vermochte?12

12 An. Terskoj, »S’emka Refleksov Lica« (Die Aufnahme der Reflexe des Gesichts), in:Kino zurnal ARK (Kino Journal ARK. Organ der Assoziation Revolutionärer Kinema-tographen) 8 (1925), S. 10-12, hier S. 10.

Die Antwort auf diese Fragen war beeindruckend simpel: durch die

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Abb. 1: Typ Bauer, in: An. Terskoj, »S’emka Refleksov Lica«(»Die Aufnahme der Reflexe des Gesichts«), in: Kino zurnal ARK.

(Kino Journal ARK. Organ der Assoziation RevolutionärerKinematographen) 8 (1925), S. 10-12, hier S. 10.

unmittelbare, und das heißt: sprachlich unvermittelte Erfassung vonGesichtsausdrücken bzw. mimischen Reflexen. Zur Rechtfertigungihrer aufwendigen Pläne, die im Verlauf des Artikels ausführlicherläutert werden, berief man sich auf Darwins Vorstellungen, die dieMuskelbewegungen des Gesichts mit bestimmten Emotionen inVerbindung brachten – und auf die sogenannte »Reflexologie«: »DieBeobachtung der ausdrucksvollen Gesichtsmuskelbewegungen unddie Beobachtung der Reflexe können wir als Material zur Erfor-schung der Gefühle des dörflichen Auditoriums gebrauchen.«13

13 Ebd.; den Begriff »Reflexologie« wandte Pavlovs Kollege und Konkurrent VladimirBechterev für seinen ganzheitlicheren Forschungsansatz an, vgl. Vladimir Bechte-rev, Allgemeine Grundlagen der Reflexologie des Menschen. Leitfaden für das objektiveStudium der Persönlichkeit, nach der 3. Auflage hg. von Martin Pappenheim, Leip-zig, Wien 1926.

Die-ses Material, zunächst in Form von Fotografien, wurde heimlich ge-sammelt, so daß es von den Kinobesuchern unbemerkt blieb. Hier-

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Abb. 2: Dorfkinder bei der Filmvorführung, in: Terskoj,»S’emka Refleksov Lica«, S. 11.

zu mußte die Apparatur im Vorfeld auf einen Bereich mit zehn Zu-schauern ausgerichtet, der Fokus festgestellt und das Ganze »irgend-wie maskiert« werden (Abb.2).

Das Medium der Fotografie jedoch machte prinzipielle Pro-bleme: Die Zuschauer reagierten meist mit einer gewissen Verzöge-rung auf die Leinwandereignisse, so daß das Auslösen des Blitzesund damit der Aufnahme selten rechtzeitig erfolgte. Zudem wirktesich der Fotoblitz auf die Mimik der Zuschauer aus, da er ihre Auf-merksamkeit von der Leinwand ablenkte. Zuverlässige Ergebnissewaren demnach quasi nicht gewährleistet. Ganz anders hingegenfunktionierten Filmaufnahmen. Filmte man die Zuschauermenge,so konnte mit lichtstarken Objektiven gearbeitet werden, man be-nötigte keinen Blitz und war von der Reaktionsgeschwindigkeit derGesichtsmuskeln unabhängig. Die Filmpädagogen erkannten nichtnur die Faszination des Kinofilms als Projektionsmedium, sondernauch die Registrierfähigkeit des Films, die es ermöglichte, daß dieAnalyse der Mimiken durch Zeitlupe, Vergrößerung und Standbil-der immer wieder überprüft und optimiert werden konnte. So hoff-ten sie, mimische Reflexe als Zeichen psychischer Vorgänge beob-achten zu können. Das offiziell verlautbarte Ziel dieser Experimentewaren nun auch nicht mehr aufgeklärte Kinozuschauer. Statt dessenwünschte man sich und damit den Produzenten von Kulturfilmenein »territoriales Album der Filmsujets, Stilmittel und notwendigenTechniken«.14

14 Terskoj, »S’emka Refleksov Lica« (wie Anm. 12), S. 11.

Woher kam diese Vorstellung, Reflexe des Gesichtsdurch Filme auslösen zu können, und welches Wissen lieferte ihr dierussische Reflexologie?

115

2. Pavlovsche Konditionierung

Pavlovs Reflexlehre wurde vor allem durch seine Hundeexperimentebekannt. Den sogenannten Pavlovschen Hunden trainierte er Re-flexe an und entwickelte eigens Apparate zur Erfassung ihrer Reak-tionen. Dabei versuchte er zu zeigen, daß ein Tier nicht nur aufeinen primären Reiz wie das Wahrnehmen von Futter reagierte, son-dern auch schon auf einen damit verbundenen sekundären Reiz wiedas Ertönen eines Metronomschlages. Hörte also ein Hund immereinen bestimmten Rhythmus während ihm Futter präsentiert wur-de, so lief ihm das Wasser im Mund nach mehrmaligem Wieder-holen schon allein dann zusammen, wenn er den Rhythmus hörte,ohne Futter zu sehen. Vor allem aber konnte Pavlov mit dieser neu-artigen Experimentalanordnung beweisen, daß das Tier nicht mitHunger, also rein psychologisch, auf äußere Reize antwortete, son-dern auch physiologisch mit der Ausscheidung von Speichelflüssig-keit. Bemerkenswert ist, daß Pavlov mit seinen Experimenten füreine weitere Verschiebung der psychologischen Forschung in diePhysiologie sorgte – für die an sich unmögliche äußerliche Beobach-tung innerlicher, psychischer Prozesse – und daß er für diese Experi-mentalpraxis neue Beobachtungsformen brauchte, die er am Hundentwickelte.

Anders als viele Experimentatoren vor ihm legte Pavlov eine gera-dezu tierfreundliche Haltung gegenüber seinen Hunden an den Tag.Verkündete sein französischer Lehrer Claude Bernard noch, daßman, »um zu lernen, wie Menschen und Tiere leben, nicht umhin-kann, eine Menge von ihnen sterben zu sehen, denn der Mechanis-mus des Lebens kann nur aufgedeckt und bewiesen werden durchdie Kenntnis der Mechanismen des Todes«,15

15 Claude Bernard, Einführung in das Studium der experimentellen Medizin (1865),Leipzig 1961, S. 86.

sah Pavlov in den Pro-zessen des Sterbens eine Störung. Die »akuten Versuche« Bernardsverfälschten die normalen Verhaltensmuster, die Pavlov gerade un-tersuchen wollte. Wenn an Versuchstieren direkt nach einer Ope-ration Experimente vorgenommen wurden, an welcher sie baldsterben sollten, wie konnten sich diese Tiere normal verhalten? Siewanden sich vor Schmerzen oder waren zum Teil noch betäubt, sodaß sich etliche ihrer physiologischen Abläufe im Ausnahmezustandbefanden. Pavlov bevorzugte die von ihm eingeführten »chroni-

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schen Experimente«, das heißt, er wartete, bis die Tiere sich nacheiner Operation von dieser erholt hatten und sich wieder in einemschmerzfreien, normalen physiologischen Zustand befanden.16

16 Die Ausführungen zu Pavlovs »chronischen Experimenten« folgen Daniel P. Todes’detailreicher Studie, vgl. Daniel P. Todes, Pavlov’s Physiology Factory, Baltimore,London 2002, S. 84-101.

Umdiesen Normalzustand zu bestimmen, mußte Pavlov aber noch vielmehr berücksichtigen als nur postoperative Schmerzen, denn seineHunde befanden sich in einer ganz und gar nicht normalen Situa-tion, wenn er sie an Apparate anschloß, die ihnen Stromstöße ver-setzten, oder Wangenfisteln an ihrem Körper anbrachte. Pavlovmußte also die Hunde mit ihrer Experimentalsituation akklimatisie-ren und sie in dieser zunächst eine geraume Zeit beobachten, be-vor er mit ihnen experimentierte. Wie auch sonst sollte Pavlov diesogenannte »psychische Sekretion« – den Speichelfluß als Indikatorpsychischer Vorgänge – messen können, wenn nicht durch Berück-sichtigung aller möglichen Einflüsse auf die Psyche.17

17 Nach ebd., S. 124-132, S. 230.

So wurden dieHunde an grelle Lampen im Labor gewöhnt und merkwürdigenFütterungsritualen ausgesetzt. Es durften keine Mühen gescheutwerden, um künstlich eine möglichst natürliche Situation herzustel-len.

Konsequenterweise nahm Pavlov auch die persönlichen Charak-tereigenschaften seiner Hunde in den Blick (Abb. 3). Jeder Hundbekam einen Namen wie »Freundchen«, »Tobik« oder »Jungchen«,und die Praktikanten beschrieben ihre Verhaltensmuster, bevor sieihnen Experimente zumuteten: Ein Hund war besonders gefräßig,und so wurde die normale Menge Futter notiert, die er täglich zusich nahm. Ein anderes Tier bevorzugte rohes Fleisch, was relevantwar, wenn man ihm Trockenfutter vorsetzte und er es verweigerte.Pavlov kreierte individuelle »psychologische Profile« für seine Hun-de, speicherte, ob sie einfache Straßenköter waren oder Jagdhunde,feige oder neugierig, verspielt oder schüchtern. Selbst das Verhältniszum Versuchsleiter kam in Betracht, wenn man eine einzige »stereo-type« Kurve aus den unterschiedlichen Daten gewinnen wollte, diedie unterschiedlichen Hunde lieferten.18

18 Ebd., S. 52, S. 363 f.

Der Pavlovsche Hund waralso nicht einfach nur irgendein austauschbares Versuchstier, er hat-te einen Namen und eine Persönlichkeit.

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Abb. 3: Pavlovscher Hund, Hygienemuseum St. Petersburg(Fotografie Margarete Vöhringer, 2004).

Zugleich aber stellten Pavlovs Hunde standardisierte Bestandteileder Laborforschung dar, und zwar nicht einfach als Objekte, son-dern als Umgebungen von Experimenten. Mit ihren künstlichenMagenausgängen und Fisteln, mit den Behältnissen zum Auffangenvon Speichelflüssigkeit und Magensaft waren die Hunde im Laborkeine Tiere mehr, sondern Träger von Apparaten oder, wie sich Da-niel Todes ausdrückt: Sie waren »Technologien (oder ›Zwischenpro-dukte‹), die im Laboratorium erzeugt wurden, um etwas andereshervorzubringen – so wie in einer Fabrik Maschinen zur Herstellunganderer Produkte aufgebaut werden«.19

19 Daniel P. Todes, »Pawlows Physiologie-Fabrik«, in: Henning Schmidgen/PeterGeimer/Sven Dierig (Hg.), Kulturen des Experiments, Berlin 2004, S. 234.

Dabei stellten sie nicht tech-nische Anordnungen dar, in die organische Einzelteile verdrahtetworden waren, sondern umgekehrt: physiologische Maschinen, indie technische Einzelteile eingebaut waren, Hybride aus Tier undApparat. Der Hund wurde zu einer organischen Maschine, inner-halb welcher physiologisches Wissen entstehen konnte, und diesesWissen war sehr spezifisch. Die Pavlovschen Ensembles aus Hundund Apparatur erzeugten eine bestimmte experimentelle Vorgehens-weise, bestimmte Ergebnisse und bestimmte Fakten, die nur repro-duziert werden konnten, wenn exakt diese Technologie eingesetztwurde. Damit brachten sie ein lokales Wissen hervor, das ausschließ-lich innerhalb ihrer selbst, innerhalb dieser organischen Umgebungaufscheinen konnte. Physiologen, die keinen Hund mit isoliertem

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Abb. 4: Pavlovs kleine Magensaft-Fabrik, in: Daniel P. Todes,Pavlov’s Physiology Factory, Baltimore, London 2002.

Magen herstellen konnten, aber den Pepsingehalt des Magensaftsmessen wollten, mußten einen Pavlovschen Hund erwerben odernach St. Petersburg reisen, um Pavlovs Handwerk kennenzulernen.Der Hund war folglich nicht nur Mittel zum Zweck für PavlovsExperimente, er war zugleich Experimentalobjekt, Produkt und Um-gebung seiner Forschung. Ohne die Hundetechnologien waren wederPavlovs Experimente nachvollziehbar noch weitere Produkte seinesLabors herstellbar: Neun Jahre lang produzierte er täglich einen LiterMagensaft, der auf dem internationalen Markt für Pharmaziepro-dukte als Sensation galt. Die Hunde waren somit die wichtigstenErzeugnisse seines Labors. In der sogenannten »kleinen Magensaft-Fabrik« (Abb.4) sicherten sie die Finanzierung und fortlaufende For-schung Pavlovs und verkörperten zudem seine einzigartige operativeund technische Kunstfertigkeit.20

20 Ebd., S.235.

In der jungen sowjetischen Gesell-schaft verkörperten sie die möglichen Höchstleistungen einer ge-nuin russischen Physiologie – und den Sieg der materialistischenWissenschaften über die Natur.

Der Pavlovsche Hund galt aber nicht nur als wertvoller Bestand-teil von Pavlovs Arbeit, er stellte auch den Modellorganismus für dieErforschung des menschlichen Nervensystems dar. Bei der Wahl desHundes griff der Physiologe nicht zufällig auf eine Jahrhunderte wäh-rende Domestizierung dieses Tiers zurück: Sie hatte dazu geführt,daß der Hund als häufigstes Haustier sein Herrchen, den Menschen,

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wie kein anderes Lebewesen verstand. Nur der Hund brachte dieFähigkeiten zur Kommunikation mit dem Menschen mit, die Pav-lov brauchte, um nicht sprachliche Reaktionen in Form von Refle-xen zu studieren. Die Tatsache, daß die Köter, die Pavlov von denSt. Petersburger Straßen holte, während ihrer Domestizierung im-mer wieder wegen ihrer Fähigkeiten zur Kommunikation mit demMenschen selektiert wurden, war entscheidend für ihren Einsatz imLabor. Pavlov schien erkannt zu haben, daß nur der Hund der per-fekte Modellorganismus sein konnte für die reflexhafte und unwil-lentliche Übertragung von Informationen. Deshalb auch waren dieHunde in Pavlovs Labor Persönlichkeiten, hatten Namen und festeBezugspersonen, wurden für die Experimente lange trainiert und alsorganische Maschinen bestmöglich gepflegt. Für die Erforschungder zwischenmenschlichen Kommunikation benötigte Pavlov einTier, das diese Kommunikation mit dem Menschen beherrschte.Und ebendas war nicht nur wichtig für den Physiologen, sondernauch für die Pädagogen, die Pavlovs Konditionierung außerhalb desLabors anzuwenden gedachten.

3. Die Mechanik des Gehirns

Eine solche Anwendung der Pavlovschen Reflexlehre im Kino fandim Jahr 1925 statt und fiel zusammen mit der Verbreitung des Kul-turfilms in Rußland. Der Avantgarde-Filmemacher Vsevolod Pu-dovkin kündigte an, einen Film über Ivan Pavlovs Labor zu drehen,jenen Ort also, an dem seit Jahrzehnten Experimente mit Hundendurchgeführt wurden, die so erfolgreich waren, daß Pavlov für sie alserster Physiologe und als erster Russe 1904 den Nobel-Preis erhaltenhatte. Pudovkins Film Die Mechanik des Gehirns hatte propagandi-stische Funktion in mehrfacher Hinsicht.21

21 Diese Gedanken greifen auf einen gemeinsam mit Michael Hagner verfaßten Auf-satz zurück: Margarete Vöhringer/Michael Hagner: »Vsevolod Pudovkins ›Mecha-nik des Gehirns‹. Film als psychophysiologisches Experiment«, in: Bildwelten desWissens. Kunsthistorisches Jahrbuch für Bildkritik 2,1 hg. von Horst Bredekamp,Matthias Bruhn und Gabriele Werner, Berlin 2004, S. 82-92.

Zum einen sollte er Pav-lovs Konditionierung publik machen als zuverlässige Methode derKindererziehung, zum anderen die international anerkannte For-schung mit den neuen Machthabern in Verbindung bringen, und

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Abb. 5: Zoo-Elefant bei der Fütterung(Filmstill aus Vsevolod Pudovkins Mechanik des Gehirns).

schließlich knüpfte er das gesellschaftliche Verständnis vom Men-schen an wissenschaftliche Experimente. Der Filmemacher schwärm-te: »Jedem ist klar, von welcher Tragweite die Propagierung dieserGedanken ist, die die materialistische Weltanschauung auf einemGebiet erhärten, die bis zum heutigen Tag unausweichlich mit demBegriff ›Seele‹ verknüpft ist.«22

22 Vsevolod Pudovkin, »Die Mechanik des Gehirns«, in: Kinogazeta (Kinozeitung).28.07.1928, zit.nach der deutschen Fassung in: Wsewolod Pudowkin, Die Zeit inGroßaufnahme. Erinnerungen/Aufsätze/Werkstattnotizen, Berlin 1983, S. 44.

Pudovkins Film zeigt allerdings nicht, wie der Titel verheißt, Ge-hirne, sondern was im Untertitel steht: Das Verhalten von Tier undMensch. Pavlov galt den Bolschewisten als die Autorität des wissen-schaftlichen Materialismus schlechthin und sollte die Realisierungder neuen Ordnung physiologisch untermauern: Langatmige Auf-nahmen im Labor erklären ausführlich, wie die Entdeckung der be-dingten Reflexe vor sich ging und daß diese Reflexe auch außerhalbdes Labors anzutreffen sind – bei hungrigen Zootieren, spielendenJugendlichen am Strand und vor allem bei Kleinkindern (Abb. 5-7).Während Operationen am Großhirn von Hund und Affe zu Ein-schränkungen des Gesichtsfelds und damit auch des Bewegungsum-fangs führen, zieht die Übung von Bewegungsabläufen bei gesundenKindern eine Optimierung des Verhaltens nach sich. Der Zusam-menhang zwischen Erziehung und Entwicklung – zwischen Verhal-tensweisen und Gehirnfunktionen – wird damit unmißverständlich

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Abb. 6: Strandspiel(Filmstill aus Vsevolod Pudovkins Mechanik des Gehirns).

Abb. 7: Wohlerzogene sowjetische Kleinkinder in der Kindertagesstätte(Filmstill aus Vsevolod Pudovkins Mechanik des Gehirns).

auf reflexhafte Vorgänge begründet. So münden auf der LeinwandPavlovs Versuche mit Fröschen, Hunden und Affen in der klassi-schen Konditionierung von Kindern, die sich nur dank der Ausbil-dung von bedingten Reflexen zu jenen Persönlichkeiten entwickelnsollten, die in der Zeit unter dem Schlagwort »der Neue Mensch«gefaßt wurden.23

23 Zum »Neuen Menschen« im Zusammenhang mit Pavlovs Konditionierung vgl.Torsten Rüting, Pavlov und der Neue Mensch. Diskurse über Disziplinierung in So-wjetrussland, München 2002.

Mit Hilfe von Pavlovs Reflexlehre waren Sehen,

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Gehen und Denken nichts weiter als trainierbare Vorgänge, erlern-bar für jedermann und insbesondere für all diejenigen, die diesenFilm sehen konnten.

Vsevolod Pudovkin kündigte des weiteren an, daß er außer neue-ste Forschung zu filmen auch selbst experimentieren wollte. Er er-klärte seine Kameratechnik in der Mechanik des Gehirns als Ergebnisder Auseinandersetzung mit Pavlovs Reflexlehre: »Mir wurde be-wußt, daß es die fotografische Exaktheit bei der Fixierung einer Be-wegung erlaubt, diese bedeutend genauer als durch eine einfacheBeobachtung des Auges zu erfassen. Ich schlug [. . .] vor, die Ver-engung der Pupille als einen präzisen unbedingten Reflex mit derKamera zu fixieren [. . .].«24

24 Vsevolod Pudovkin, »Kak ja stal regisserom« (Wie ich Regisseur wurde), Moskau1946, zit. nach der deutschen Fassung in: Pudowkin, Die Zeit in Großaufnahme(wie Anm. 22), S. 30 f., hier S. 30.

Der Vorschlag wurde von Pudovkinswissenschaftlichen Konsultanten im Labor bewilligt. Das Ergebniswar eine Kameraoptik, die ihre Linse als Simulation der mensch-lichen Pupille immer wieder schloß und öffnete, die mal enger, malweiter aufgezogen wurde, mal einen fokussierten Ausschnitt bildete,mal einen unscharf verschwommenen (Abb. 8). Doch war es nichtPudovkins alleiniges Ansinnen, das Funktionieren des menschlichenAuges zu imitieren. Vielmehr versprach er in seiner ersten Presse-äußerung zur Mechanik des Gehirns, »die ›Lehre von den Reflexen‹filmisch zu erschließen [. . .], Momente wissenschaftlich wertvoller Ex-perimente aufzunehmen, die nur mit Hilfe des Objektivs einer Film-kamera fixiert werden können«.25

25 Pudovkin, »Mechanika golovnogo mozga«, zit. nach der deutschen Fassung in:Pudowkin, Die Zeit in Großaufnahme (wie Anm. 22), S. 44.

Er faßte die Filmtechnik nicht nurals Möglichkeitsbedingung auf, experimentelles Wissen zu vermit-teln, sondern als ein der wissenschaftlichen Methode entsprechendesVerfahren, experimentell gewonnenes Wissen zu ermitteln.

Es war eine Apparate-Ästhetik, die Pudovkin in der Mechanik desGehirns entwickelte. Er verstand den Filmapparat und seine reprä-sentative Bedingung, die Montage, analog zu Pavlovs psychophysio-logischen Experimenten – als Stimuli für konditionierte Reflexe.Wenn auch Pudovkin sich nicht mit den Funktionen des Verdau-ungstrakts beschäftigte, so übertrug er doch Pavlovs Reflexschemaauf seine Kommunikationstechniken: Im sukzessiven Wechsel dergeöffneten und geschlossenen Blende wand er das Verhältnis von Er-

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Abb. 8: Kreisblendeneffekt(Filmstill aus Vsevolod Pudovkins Mechanik des Gehirns).

regung und Hemmung auf die Performance seines Filmapparats an.Indem er Apparat und Wahrnehmung in eins setzte, versuchte Pu-dovkin nichts Geringeres, als den Betrachter filmisch zu affizieren –und in einen Zustand der Desorientierung zu versetzen, der ihnschließlich sich all der konditionierenden Prozesse bewußt werdenließ, sowohl im Funktionieren des Filmapparats wie auch seines ei-genen Wahrnehmungsapparats: »Die Macht des Regisseurs bestehtim wesentlichen darin, dass er den Zuschauer veranlassen kann, ei-nen Gegenstand nicht so zu sehen, wie er am leichtesten zu sehenwäre.«26

26 Vsevolod Pudovkin, Filmtechnik. Filmmanuskript und Filmregie (1928), Zürich1961, S. 181.

Vielmehr konnte er »ihn dazu bringen, das Gesehene rechteigentlich zu erfassen«.27

27 Ebd., S.87 f.

Doch was es zu erfassen galt, war nicht nurdie Reflexlehre auf der Leinwand, sondern auch die Augenreflexeder Kinozuschauer vor der Leinwand.

Pavlov selbst setzte die Aufzeichnung auf Film in seinem Labornicht ein und interessierte sich auch nicht für die Mimiken seinerHunde. Aber er tolerierte offensichtlich Pudovkins Dreharbeiten undseine Ausweitung der Reflexlehre vom Menschen auf die technischeApparatur und ihre Rezipienten, und das heißt auch von singulären,individuellen Objekten auf mehrzählige Versuchsobjekte – auf dieZuschauermenge im Kinosaal. Das meinte Pudovkin, als er ankün-digte, »die ›Lehre von den Reflexen‹ filmisch zu erschließen« – daß

124

man mit Film »das Verhalten der menschlichen Massen« untersu-chen könne, daß man mit Film die »Ergebnisse nicht an sich selbst,sondern an den Menschen (in einer faktischen, realen, nicht subjekti-ven sondern objektiven Praxis) untersuchen«28

28 Vsevolod Pudovkin, »Zametki na rasrosennych listach« (»Notizen auf losen Blät-tern«), undatiert, in: Vsevolod Pudovkin, Sobranie Socinenii v trech tomach (Ge-sammelte Werke in 3 Bänden), Moskau 1974-1976, Bd. 3, S. 264.

müsse. Die Wirkungvon Pudovkins Montage als Reizmittel für Reaktionen interagiertemit einem Menschen, der als Reiz-Reaktions-Maschine aufgefaßtwurde. Der Neue Sozialistische Mensch läßt sich so, wie schon derPavlovsche Hund, zugleich als Objekt, Produkt und Experimental-umgebung wenn nicht der Wissenschaft, so doch der sozialistischenPartei und ihrer zahlreichen hygienischen und pädagogischen Un-ternehmungen begreifen. Denn obwohl der Film suggeriert, daßPavlovs Laborkonditionierung auch in jeder privaten Wirklichkeitmöglich sei, wuchs das ideale Kind weder im physiologischen Labornoch im sowjetischen Kinderheim, sondern im Filmstudio des Pro-duzenten auf und mußte, um zu laufen, zu spielen und zu essen insLabor des Filmemachers gebracht werden. Der ›Neue Mensch‹ derfrühen Sowjetunion war ein Labormensch.

4. Gesichtsreflexe, Mind-Mapping

Pavlovs Hund, die Anwendung seiner Hunde-Konditionierung aufdie Kindererziehung, die auf den Augenreflex ausgerichtete Film-montage und die Aufnahme von Gesichtsreflexen der Kinozuschau-er eröffnen ihren Sinn nur im Zusammenhang, auch wenn dieser Zu-sammenhang nicht sehr konkret ist. Als die Mechanik des Gehirns inder Filmpresse propagiert wurde, galt auch sie als Kulturfilm – denzahlreichen Artikeln zufolge sogar mit Vorbildfunktion: Wie machtman einen Kulturfilm? lautete der Titel eines Interviews mit Pudov-kin, in dem allerlei praktische Probleme im Umgang mit Nichtschau-spielern und an Orten außerhalb von durchorganisierten Studios: inLabors, am Strand, mit Tieren, Kindern und experimentierendenWissenschaftlern, verhandelt wurden. Pudovkin beschränkte sichhier, im Expertenblatt für Filmemacher, auf Beschreibungen seinerErfahrungen bei den Dreharbeiten. Von filmischer Reflexologie imKino, von seinen Ambitionen, das Massenpublikum zum Gegen-

125

stand filmischer Experimente zu machen, war keine Rede. Für denFilmemacher war der Kulturfilm eher ein Problem der Produktionals der Rezeption.

Pudovkin beteiligte sich zwar nicht an den heimlichen Kino-Experimenten, seine Mechanik des Gehirns aber läßt sich geradezu alsLehrstück dieser Anordnungen auffassen. Die Soziologen, die sibi-rische Bauern im Kino beobachten wollten, hatten wie auch Pu-dovkin die Wirkung des Films auf die Wahrnehmung erkannt undsetzten sie systematisch zu ebendem ein, was der Avantgardist inAussicht stellte: mit Film die »Ergebnisse nicht an sich selbst, son-dern an den Menschen (in einer faktischen, realen, nicht subjek-tiven, sondern objektiven Praxis) zu untersuchen«.29

29 Ebd.

Indem der Re-gisseur mit einem exakt kalkulierten Film über das Verhalten desMenschen an bestimmten Stellen die Zuschauer sich wundern, la-chen oder weinen ließ, an anderen sie in Langeweile oder auchFurcht versetzte, untersuchte er nicht nur die Aufmerksamkeit derZuschauer, er rief sie hervor: »In jeder Szene des Films ist die Mei-sterschaft des Regisseurs [. . .] zu spüren, ist die riesige Nachdenk-lichkeit und Sorgfalt der Inszenierung zu spüren«, schwärmten dieKinobesucher, »all dies führt uns zu dem Schluß, daß das Verhaltendes Menschen [. . .] nicht nur einen bestimmten wissenschaftlichenWert besitzt, sondern auch einen künstlerischen«.30

30 L. Sucharevskij, »›Chudozestvennost‹ ‘v naucnoj Fil’me« (»›Das Künstlerische‹ imwissenschaftlichen Film«), in: Sovetskoe Kino (Sowjetisches Kino) 2 (1927), S. 12.

Dieser künstle-rische Wert schien sich nicht wie noch wenige Jahre zuvor durchästhetische Raffinesse allein auszuzeichnen. Ihn charakterisierte diegekonnte Umsetzung wissenschaftlicher Reflexlehre in die Praxis.Schließlich nutzte Pudovkin den Film nicht nur für Experimente,sondern auch als Experiment im öffentlichen Raum – als angewand-tes wissenschaftliches Experiment mit den Massen im Kino.

So kann der Hund als Modell für die Experimentalisierung desMenschen außerhalb des Labors betrachtet werden, die in zweifa-cher Hinsicht stattfand: im Kino durch die Adressierung und Ana-lyse der Wahrnehmung und im sozialen Raum durch die Erziehung›Neuer Menschen‹. In beiden Fällen war der Mensch nicht als Gan-zes gemeint, sondern als Effekt einer Experimentalanordnung, diesich aus Pavlovs Labor heraus über die gesamte Gesellschaft ausbrei-tete. Wie der Hund war der Mensch als Maschine konzipiert, die

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zwar nicht physisch mit technischen Elementen verbunden war,aber systematisch, indem sie ihn in einem technischen Zirkelschlußgefangen hielt: Während er einen Film über Pavlovs Konditionie-rung sah und seine Methoden quasi automatisch verinnerlichte, rea-gierte der Mensch reflexhaft auf filmisch induzierte Reize. DasErgebnis wäre Mind-Mapping mittels Film: Die Partei mußte DieMechanik des Gehirns nur zweimal in dasselbe Kino schicken, um zuüberprüfen, ob Pavlovs Konditionierung anschlug, ob und wie sichdas Verhalten der Kinobesucher, wie sich ihre Gesichtsreflexe verän-dert hatten.

Pudovkins Film ließe sich wesentlich ausführlicher innerhalbder Wissenschaftsgeschichte der Wahrnehmungsforschung veror-ten, doch würde das nichts ändern an dem, was der Film als wich-tigstes Merkmal zu erkennen gibt: nämlich daß ein Film, produziertim Experimentallabor und damit an der Schnittstelle von Kunst undWissenschaft, zu einem politischen Instrument werden kann, das,neben Propaganda und Ideologie zu verbreiten, auch imstande ist,Gesellschaft zu konstituieren: Als Kulturfilm hob Die Mechanik desGehirns an, die Gehirne der Kinozuschauer zu einem Kollektiv zuvernetzen, das durch vergleichbare mimische Reflexe zusammen-fand. Die Mechanik des Gehirns schuf ein Netzwerk aus aufgeklär-ten Bauern und Arbeiterzuschauern, einen Neuen Menschen nichtals stählernen Übermenschen, wie er weithin propagiert wurde, son-dern als kollektiven Menschen, wie er praktisch in Szene gesetztwurde. Man mußte nur, wie die Kino-Pädagogen, zur Kenntnisnehmen, »dass sich auf der ganzen Welt dieselben Seelenzuständeauf bemerkenswert übereinstimmende Weise herausarbeiten«,31

31 Terskoj, »S’emka Refleksov Lica« (wie Anm. 12), S. 10.

undschon ließen sich diese Zustände bei den verschiedensten Kinobesu-chern gleichermaßen induzieren. Die wissenschaftliche Fundierungaller Lebensbereiche war hiernach mehr als nur Parteiprogramm, siewar unerschrockene Praxis. Film vernetzte nicht nur theoretisch,sondern tatsächlich die Gedanken seiner Betrachter, wenn Tausendevon Bauern demselben Film ausgesetzt wurden. Wichtig war dabeiweder, ob diese Vernetzung sinnvolle Effekte zeigte, noch, ob sie aufAnerkennung stieß. Es zählte offenbar nur, daß sie stattfand. Und soschwärmte Vsevolod Pudovkins Lehrer, der Regisseur Lev Kuleshovnach einem Kinobesuch jener Jahre: »Ich weiß nicht, was war, ich

127

habe nichts verstanden, aber der Film ist hervorragend, und mir istgut.«32

32 Lev Kulesov, »O Scenarijach« (»Über Szenarien«), in: ders., Stat’i Materiali (Essays,Materialien), Moskau 1979, S. 52.

((Falls es nicht durch Korrekturen geschieht, werden diese Zei-len im nächsten Lauf eingetrieben.))

128

Christoph HoffmannGebilde des Protokollierens

Schreibverfahren in Kurt Lewins Psychologieder Selbstbeobachtung

1.

Es ist inzwischen Allgemeingut, daß die Gegenstände der Wissen-schaften mit den Mitteln ihrer Untersuchung verwoben sind. »Unefait est fait«: Eine »Tatsache« ist immer auch eine »Tatsache«.1

1 So die Pointierung von Gaston Bachelards Diktum durch Hans-Jörg Rheinberger inseiner auszugsweisen Übersetzung von Bruno Latours Aufsatz »The Force and theReason of Experiment«, in: Philosophischer Taschenkalender. Jahrbuch zum Streit derFakultäten (1992/93), S. 210-220.

DiesesVerhältnis kennzeichnet alle Wissenschaften, auch solche, die sichbei erster Betrachtung auf wenig komplexe, kaum eigene Umständeins Spiel bringende Praktiken stützen. Wer vornehmlich schreibt,kommt zwar ohne Stift und Papier, Tastatur und Bildschirm nichtaus. Die Frage nach dem Einfluß der Arbeitsgeräte auf das eigeneForschen scheint damit aber fast schon erledigt zu sein. Tatsächlichinteressieren in diesem Zusammenhang auch weniger die Schreib-werkzeuge selbst als die Weise ihres Gebrauchs, geht es nicht sosehr um Schrift als um Schreiben als regelhaftes Vorgehen, womitnicht die Technik des Schreibvorgangs gemeint ist, sondern die imSchreibvorgang realisierte schriftliche Verfahrensweise. Wenn bei-spielsweise das historisches Wissen, wie Michel de Certeau bemerkt,nicht losgelöst von der »Geste des Beiseitelegens, des Zusammenfü-gens, der Umwandlung bestimmter, anders klassifizierter Gegen-stände in ›Dokumente‹« betrachtet werden kann,2

2 Michel de Certau, Das Schreiben der Geschichte (1975), übers. von Sylvia M. Schom-burg-Scherff, Frankfurt am Main, New York 1991, S. 93.

dann muß manhinzufügen, daß sich diese Geste in Verfahrensweisen des Schreibensausführt, in der Verzeichnung der Bestände, in der Anlage von Find-büchern, im Exzerpt, in der Synopse, im Kommentar.

Schreiben als Verfahren der Forschung zu betrachten statt bloß alsRealisierung kognitiver Prozesse oder als Residuum eines Stils, lie-fert nicht nur für die Gegenstände der Geisteswissenschaften auf-

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schlußreiche Einsichten. Geschrieben wird nicht nur an Schreibti-schen, in Archiven und Bibliotheken, geschrieben, und wahrschein-lich kaum weniger, wird auch in Laboratorien. Als konstitutives Ele-ment wissenschaftlicher Erkenntnis fiel Schreiben sogar zuerst imBlick auf die Arbeitspraxis der Naturwissenschaften auf. Es warBruno Latour, der mit seinem Aufsatz »Drawing Things Together«die Eigentümlichkeit der modernen Wissenschaft und das ›Geheim-nis‹ ihres Erfolgs aus ihrer Papierarbeit, ihrem »paperwork«, herlei-tete. Daß Latour sich dabei weit mehr mit Praktiken der Visualisie-rung als mit schriftlichen Verfahrensweisen beschäftigt und daß erden Akzent weit stärker auf die persuasiven als auf die epistemologi-schen Effekte legt, nimmt seinem Argument die Fülle, aber nichtden Charme der freien Sicht auf bis dahin weithin Unbeachtetes.Denn diese Operationen »sind so praktisch, so bescheiden, so allge-genwärtig, so eng mit Hand und Auge verwoben, daß sie sich derAufmerksamkeit entziehen«.3

3 Bruno Latour, »Drawing Things Together«, in: Michael Lynch/Steve Woolgar(Hg.), Representation in Scientific Practice, Cambridge, Mass., London 1990,S. 19-68, hier S. 21.

Allerdings besitzen die Wissenschaf-ten selbst, zumindest einige von ihnen, durchaus Gespür für die Lei-stung ihrer Aufschreibepraktiken oder genauer gesagt: Zu bestimm-ten, kritischen Momenten haben sie auch die schriftlichen Anteilean ihren Forschungsmethoden in den Blick genommen. Nur wur-den die Aufzeichnungsvorgänge nicht im strengen Sinne diskutiert,sondern zum Gegenstand von Vorschriften gemacht, die befolgtund nicht besprochen werden sollten. Dieser Umstand mag erklä-ren, warum die Bedeutung dieser Vorgänge notorisch unterschätztwird. Nur was zum Gegenstand Journale füllender Kontroversenwird, darf sich vorab einer Aufmerksamkeit sicher sein, die es ge-wohnt ist, die Wichtigkeit einer Sache an Ausmaß und Ausführlich-keit ihrer Besprechung zu messen.

2.

Die Arbeiten Kurt Lewins (1890-1947) sind heute in aller Munde,ohne daß es die meisten wohl wissen. Ausdrücke wie ›Aus-dem-Feld-Gehen‹, Ersatzhandlung oder Ersatzbefriedigung sind Teil der All-tagssprache geworden, und ein Begriff wie ›Gruppendynamik‹, der

130

ganze emanzipatorische Milieus kolonisiert hat, wird erst durch Le-win bekannt, der im Zweiten Weltkrieg, was diese Milieus vermut-lich mit Pein erfüllt, das Office of Strategic Services in Fragen psy-chologischer Kriegsführung beraten hat.4

4 Vgl. Alfred J. Marrow, Kurt Lewin. Leben und Werk (1969), Weinheim, Basel 2002,Kapitel 15. Siehe ferner Helmut E. Lück, Kurt Lewin. Zur Einführung in sein Werk,Weinheim 2001.

Während diese Seite derArbeiten Lewins immer noch fortwirkt, sind die Verschiebungen imEntwurf der Psychologie als Wissenschaft, die sich mit seinem Na-men verbinden, kaum mehr präsent. Doch daß Sozialpsychologieund social engineering überhaupt einmal psychologische Forschungund Praxis beschäftigen sollten, hat, hält man sich an die Genealogieder Lewinschen Unternehmungen, seine erste Bedingung in einergrundsätzlichen Klärung im Gegenstandsbereich psychologischenWissens gehabt.

Die Geschichte des Menschen als »Funktion von Person und Um-welt«5

5 Ebd., S.67.

beginnt am Ende des Ersten Weltkriegs. Im selben Jahr 1917,in dem Lewin mit dem Aufsatz »Kriegslandschaft« seinen Erfah-rungen ›im Felde‹ die erste, noch literarische Skizze eines subjektivstrukturierten Raums abgewinnt, eines später oft zeichnerisch dar-gestellten ›Felds‹, erscheint von ihm in der Zeitschrift für Psychologieauch eine vorläufige Mitteilung über Versuche zum Grundgesetz derAssoziation. Hier steht das Erleben der Subjekte ebenfalls im Mittel-punkt, nur bildet nicht der Eindruck ihrer äußeren Umgebung, son-dern mit der Verknüpfung und Reproduktion von Eindrücken undErlebnissen ein Bewußtseinsvorgang den Ausgangspunkt der Argu-mentation. Lewin wird fünf Jahre später noch einmal über diese Ver-suche, um zahlreiche Experimente ergänzt und erheblich erweitert,berichten. Der entscheidende Punkt deutet sich aber schon an: As-soziation ist kein unwillkürlicher Vorgang, der durch Wiederholungzur Einprägung von Erlebnisverbindungen führt und durch Wie-dervorzeigen ausgelöst wird, Assoziation scheint überhaupt falschverstanden, wenn man darunter ein passives Geschehen begreift, dasdem Subjekt nur unterläuft.6

6 Vgl. Kurt Lewin, »Die psychische Tätigkeit bei der Hemmung von Willensvorgän-gen und das Grundgesetz der Assoziation«, in: Zeitschrift für Psychologie 77 (1917),S.212-247, hier S. 219.

Von der »psychischen Tätigkeit« wirdbereits in der Überschrift des Aufsatzes gesprochen, und was Lewin

131

mit seiner Untersuchung im Sinn hat und was er im folgenden Jahr-zehnt entwickeln wird, beinhaltet weit mehr als die Kritik eines ex-perimentalpsychologischen Forschungsansatzes. Eine neue Art vonPsychologie bildet den Einsatz; eine Psychologie, die sich aus dernach seinen Worten »sinnespsychologischen« Rahmung ihrer Er-kenntnisinteressen löst und zum eigentlichen »Standpunkt der Psy-chologie« vorstößt.7

7 Kurt Lewin, »Psychologische und sinnespsychologische Begriffsbildung« (1918),in: ders., Werkausgabe, hg. von Alexandre Metraux, Bd. 1, Bern, Stuttgart 1981,S. 127-151, hier S. 139.

In einer unveröffentlichten Programmschrift aus dem Jahr 1918 –als Gabe zum 70. Geburtstag von Lewins Lehrer Carl Stumpf ge-dacht – wird dieser »Standpunkt der Psychologie« durch eine Serievon einfachen, aber sehr wirksamen Vertauschungen charakterisiert.Statt auf die Wahrnehmungsgegenstände hat psychologische Beob-achtung auf psychische Erscheinungen wie Gefühle oder Stimmun-gen zu achten, hat sie als »Gebilde« eigenständiger Art zu behandeln.Nicht der Inhalt der sinnlichen Empfindungen, deren nähere Eigen-schaften, sondern Empfindung als erlebter Inhalt der Beobachtungbildet ihren Gegenstand, nicht die Zweckbestimmungen psychischerTätigkeit (zum Beispiel Assoziation), sondern diese Tätigkeit selbstnach der »Art ihres Ablaufens« (was kennzeichnet Assoziation alspsychischen Vorgang). Und schließlich hat eine psychologische Er-klärung nicht beispielsweise den Zusammenhang von sinnlichenEmpfindungen in Gebilden (wie bei der Formulierung von Gestalt-gesetzen) zu erfassen, sondern das Einwirken gegebener psychischerGebilde aufeinander. Im Kern gehen alle diese Verschiebungen je-doch nicht zuerst aus einer epistemologischen, sondern aus einermethodischen Operation hervor.

3.

Das ›Was‹ der von Lewin entworfenen Psychologie hängt entschei-dend am ›Wie‹ ihres Vorgehens. Wieder ist es eine Differenz, ausder heraus der eigene »psychologische Standpunkt« entwickelt wird.Über den Unterschied von psychologischer und sinnespsychologi-scher Methodik schreibt Lewin: »Bezeichnet man eine Beobach-tung, die der Betrachtungsweise der Psychologie folgt, sich also auf

132

psychische Gebilde oder Prozesse richtet, als ›Selbstbeobachtung‹, sohat die Vp [Versuchsperson] in der Sinnespsychologie durchwegnicht die Aufgabe, Selbstbeobachtung zu treiben.«8

8 Ebd., S. 129.

Man könnte dieProvokation, die in diesem Satz liegt, und den Anspruch, der mitihm erhoben wird, fast überlesen. Das eine wie das andere ergibt sicherst, wenn man die Anführungsstriche zu deuten weiß, in die dasWort ›Selbstbeobachtung‹ gesetzt wird.

In der seit den 1880er Jahren entstehenden apparativ gestütztenLaboratoriumspsychologie kommt der Selbstbeobachtung die Rolleeiner unzureichenden, vorwissenschaftlichen Praxis zu, die manglücklich hinter sich lassen will. Den Königsweg zur Psychologie alsWissenschaft bildet nach dieser an Wilhelm Wundts Leipziger Insti-tut orientierten Auffassung die »Benutzung des Experimentes« mitseinen kontrollierbaren Bedingungen und der Möglichkeit zurQuantifizierung.9

9 Vgl. Wilhelm Wundt, Grundzüge der physiologischen Psychologie, Bd. 1, 6. Aufl.,Leipzig 1908, S. 4 f.

»Denn die sogenannte ›reine Selbstbeobachtung‹kann nur unter wesentlichen Einschränkungen als Beobachtung be-zeichnet werden, und auf Exaktheit kann sie überhaupt keinenAnspruch erheben«10

10 Ebd.

– so steht es unverändert auch in der sechstenAuflage von Wundts Standardwerk Grundzüge der physiologischenPsychologie aus dem Jahr 1908. Zwar haben die an Wundt anschlie-ßenden Psychologen den strengen Gegensatz zwischen Experimentund Selbstbeobachtung wieder aufgehoben: Edward B. Titchener,ein Wundt-Schüler der ersten Generation, eröffnet beispielsweisesein Manual of Laboratory Practice mit der Feststellung: »A psycho-logical experiment consists of an introspection or a series of introspec-tions made under standard conditions.«11

1 1 Edward B. Titchener, Experimental Psychology. A Manual of Laboratory Practice,New York, London 1906, S. xiii.

Am im Grundsatz prekärenStatus der Selbstbeobachtung ändert dies aber nichts. Ihre »unheil-baren Gebrechen«,12

12 Hermann Ebbinghaus, Grundzüge der Psychologie, Bd. 1, 5. Aufl., Leipzig 1911, S.63.

die allesamt schon in Kants Vorrede zu seinerSchrift »Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaften«diagnostiziert werden,13

13 Nämlich: notwendige aber kaum durchführbare Spaltung des Bewußtseins, Be-einflussung des Beobachtungsinhalts durch die Fokussierung auf das zu Beob-achtende sowie das Problem der Verallgemeinerung der gewonnenen Einsichten.

sind keineswegs vergessen. Man glaubt nur,

133

Siehe Immanuel Kant, »Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaften«(1786), in: Kants Werke. Akademie Textausgabe, Bd. 4, Berlin 1968, S. 471.

die problematischen Umstände durch die Bindung an den apparati-ven Rahmen des Experiments stillstellen zu können.

Nach diesem Verständnis ist Selbstbeobachtung ohne LewinscheAnführungszeichen eine zwar akzeptierte, aber für Irrtümer und Ver-fälschungen stets anfällige Methode der Psychologie. ›Selbstbeob-achtung‹ mit Lewinschen Anführungszeichen bildet hingegen dieprimäre Erfahrungsquelle psychischer Objekte, der auch noch dasGegenteil von dem zugebilligt wird, was sie so anrüchig machte. DieSelbstbeobachtung, so Lewin, »ist keine Beobachtung der ›subjekti-ven‹, auf ein ›Ich‹ bezogenen Seite des Geschehens, etwa im Gegen-satze zu einer Betrachtung irgendwelcher ›objektiven‹ Seite[n] derVorgänge. Vom Standpunkt der Vp [Versuchsperson] aus gesehenhat die psychologische Selbstbeobachtung vielmehr durchaus denCharakter einer Fremdbeobachtung«.14

14 Lewin, »Psychologische und sinnespsychologische Begriffsbildung« (wie Anm.7),S.134.

Auf eine Formel gebracht,wird ›Selbstbeobachtung‹ als Selbst-Beobachtung konzipiert oder,wie es vorher heißt, der Beobachter soll zu sich selbst, seinem Erle-ben und Empfinden, »in keinem anderen Verhältnis« stehen »als derphysikalische Beobachter zu seinen Wahrnehmungsgegenständen«.15

15 Ebd.

Mit seinen Anführungszeichen setzt sich Lewin aber nicht nur voneinem Verständnis der Selbstbeobachtung als einer Methode ab,welche »die Dinge, auf welche sie sich richtet, nicht rein und objek-tiv erfassen [kann]«,16

16 Ebbinghaus, Grundzüge der Psychologie (wie Anm. 12), S. 64.

er setzt sich auch von einem ganz gewöhn-lichen, beiläufigen Gebrauch der Selbstbeobachtung in der Psycho-logie ab, der als solcher nur nie so bezeichnet wird. Denn bedeutet›Selbstbeobachtung‹ Selbst-Beobachtung, kann das immer noch hei-ßen, sich entweder auf sich selbst – auf die eigenen psychischen Er-scheinungen und Vorgänge – zu konzentrieren, oder es kann hei-ßen, auf etwas außerhalb des Beobachters selbst zu achten. Letzteresgeschieht in der Sinnespsychologie, wo sie nicht allein rein messendvorgeht (wie in der Psychophysik Fechners), sondern sich für denWahrnehmungsvorgang interessiert und ihre Probanden auf dieWahrnehmung des äußerlich Gegebenen hin befragt. Wenn Lewinnun – wie am Anfang des Abschnitts zitiert – der Sinnespsychologie

134

unterschiebt, daß die Aufgabe der Versuchsperson in ihr niemalsdarin besteht, »Selbstbeobachtung zu treiben«, dann gewiß nicht,weil er sich die sinnespsychologische Vorgehensweise nicht genü-gend klargemacht hat. Es geht an dieser Stelle vielmehr darum, dieSelbstbeobachtung als ›eigentlich‹ psychologische Methode gegenihren ›uneigentlichen‹ Gebrauch beim Studium sinnlicher Vorgängeabzugrenzen.

So läßt es sich verstehen, daß Lewin in seinem ansonsten striktprogrammatischen Aufsatz an dieser Stelle direkt eine »Reihe vonVersuchen« referiert, die von ihm als Versuchsperson angestellt wor-den sind und bei denen genau »die psychologische Beobachtung durch-zuführen versucht wurde unter Bedingungen, die ganz einfachensinnespsychologischen Versuchen entsprechen«.17

17 Lewin, »Psychologische und sinnespsychologische Begriffsbildung« (wie Anm. 7),S. 129.

In einem kleinenPapierrahmen wurden verschieden gefärbte geometrische Objekt vor-gelegt, und die »Instruktion für den Versuch lautete: Das im Aus-schnitt Erscheinende ist anzusehen; nach dem Versuch war retro-spektiv die Selbstbeobachtung über die aufgetretenen psychischenGebilde anzugeben«.18

18 Ebd.

Die Selbstbeobachtung »anzugeben« heißtdabei faktisch, das Beobachtete zu protokollieren und – in LewinsAufsatz – diese Protokolle unter der Überschrift »Protokoll« abzu-drucken. Geht man von der Bemerkung in einer Fußnote aus, daß esbei diesem Versuch einzig darum ging, »diese Art der Beobachtungdarzustellen«,19

19 Ebd., S. 150, Fn. 5.

dann erfolgt die Darstellung dieser Beobachtungsartnicht über die Erläuterung eines besonderen Beobachtungsverfah-rens oder über die Aufzählung von Rahmenbedingungen, die der»psychologischen Beobachtung« besonders förderlich sind. Die Dar-stellung dieser »Art der Beobachtung« erfolgt über die Wiedergabeder aufgezeichneten Aussagen des Probanden und wird zuerst alseine Art der Beschreibung zugänglich.

Der Einwand, daß sich eine Beobachtungsart in einem gedruck-ten Text schlechterdings nicht vorführen läßt, liegt zwar nahe, gehtaber fehl. Parallel zu dem Aufsatz über »Psychologische und sinnes-psychologische Begriffsbildung«, von dem bis jetzt die Rede war,und gleichsam flankierend, in einer Parallelaktion, legt Lewin ineinem zweiten Aufsatz, der ebenfalls unpubliziert geblieben ist, über

135

fast fünfzig Druckseiten eine Anleitung »zur richtigen Selbstbe-obachtung« vor. Nicht die Unmöglichkeit, eine Beobachtungsartzu schildern, bringt ihn dazu, mitten in seinen programmatischenÜberlegungen über zwei Seiten Versuchsprotokolle wiederzugeben,sondern der Umstand, daß sich die eigentümliche Art der Beobach-tung, auf der alle epistemologischen Abgrenzungen des »psychologi-schen Standpunkts« aufruhen, nur in der Auseinandersetzung mitden Beschreibungen der Probanden, mit der Ausdrucksweise undder Art der Aussagen, eröffnet. Eine ›Selbstbeobachtung‹ als man-gelhaft zu charakterisieren, wie dies Lewin mit Blick auf zwei zumVergleich angegebene Versuche eines anderen Beobachters tut, heißtentsprechend, darauf hinzuweisen, daß sich »die Selbstbeobach-tungsangaben [. . .] nicht immer [im Sinne Lewins] eindeutig psy-chologischer Ausdrücke« bedienen.20

20 Ebd., S. 133 (Hervorhebungen C.H.).

Kritik der Beobachtung voll-zieht sich als Sprachkritik, was den Umkehrschluß gestattet, daß dieEntwicklung einer neuen Beobachtungsart und weiter einer neuenpsychologischen Gegenständlichkeit ganz erheblich von der Ent-wicklung einer Beschreibungssprache abhängt. Tatsächlich beschäf-tigt sich Lewins Aufsatz über »Die Erziehung der Versuchsperson«,auf den eben schon kurz angespielt worden ist, in seinem zweitenTeil ausführlich mit der »Erzielung richtiger und gesicherter Selbst-beobachtungsangaben«, die im Idealfall auf eine »reine Beschrei-bung« hinauslaufen.21

21 Kurt Lewin, »Die Erziehung der Versuchsperson zur richtigen Selbstbeobachtungund die Kontrolle psychologischer Beschreibungsangaben« (n. d.), in: ders., Werk-ausgabe, hg. von Alexandre Metraux, Bd. 1, Bern, Stuttgart 1981, S. 153-211, S.180-200.

4.

Mit seiner Aufmerksamkeit auf die Sprache, in der Beobachtungenfestgehalten werden, steht Lewin in den Wissenschaften der Zeitkeineswegs allein. Der Psychiater Robert Sommer bemerkt einlei-tend in seinem 1899 erschienenen Lehrbuch der psychopathologischenUntersuchungs-Methoden, daß in den »üblichen Krankengeschich-ten fast niemals das Prinzip der reinen Beschreibung« beachtet wird,vielmehr »Eindrücke, Urtheile und Diagnosen hineingemengt« wer-

136

den.22

22 Robert Sommer, Lehrbuch der psychopathologischen Untersuchungs-Methoden, Ber-lin, Wien 1899, S. 4.

Ebenfalls nach der »reinen Beschreibung« wird Anfang des20. Jahrhunderts in den Sektionsanleitungen der Pathologie ver-langt,23

23 Vgl. Robert Rössle, »Technik der Obduktion mit Einschluß der Maßmethoden anLeichenorganen«, in: Emil Abderhalden (Hg.), Handbuch der biologischen Arbeits-methoden: Abt. VIII: Methoden der experimentellen morphologischen Methoden, Teil1, Zweite Hälfte, Berlin, Wien 1935, S. 1093-1246, hier S. 1100. Siehe insgesamtChristoph Hoffmann, »Schneiden und Schreiben. Das Sektionsprotokoll in derPathologie um 1900«, in: ders. (Hg.), Daten sichern. Schreiben und Zeichnen als Ver-fahren der Aufzeichnung, Zürich, Berlin 2008, S. 153-196.

wo dieser Punkt, mehr oder weniger ausführlich, aber im-mer mit Warnungen vor der Vermischung von Darstellung und Ur-teil verknüpft, bei der Besprechung des Protokolls aufgegriffen wird.So unterschiedlich dabei die Erscheinungen sind, die im Sektions-saal und der psychiatrischen Klinik zu beobachten sind – auf dereinen Seite der an der Leiche vorgefundene Zustand der Organeund Gewebe, auf der anderen Seite alle Arten von mimischen, gesti-schen und sprachlichen Äußerungen sowie die Verhaltensweisen derPatienten –, so sind sie doch gemeinsam durch den Umstand ge-kennzeichnet, daß es sich um höchst flüchtige, vorübergehende,individuell sehr variable und nicht ohne weiteres reproduzierbareErscheinungen handelt. Weder lassen sich Sektionsbefunde jenseitsihrer Beschreibung beliebig wieder vor Augen führen: Die Sektionzerstört die ursprünglichen Verhältnisse an der Leiche, und diese istzudem nach der Sektion nicht mehr verfügbar. Noch läßt sich ein als›psychopathologisch‹ bestimmtes Geschehen jederzeit willkürlichund in der vorher beobachteten Weise wieder herbeiführen.

Der Akzent, der auf die reine Beschreibung gelegt wird, darf sobetrachtet nicht zuerst und ausschließlich als Ausdruck methodo-logischer Standards begriffen werden, wie sie auch in anderen em-pirischen Wissenschaften für die Aufzeichnung von Beobachtungenformuliert werden. In diesem Fall ist es vielmehr so, daß die Be-schreibung die beschriebenen Erscheinungen nicht einfach vertritt,sondern weitgehend ersetzt. Das Sektionsprotokoll in der Patho-logie und die Krankenakte in der Psychiatrie bewahren nicht nurBeobachtungen auf: Sie verkörpern materiell das Beobachtete undwerden als das Beobachtete behandelt, ausgewertet und so zum Ge-genstand von Handlungen, an deren Ende eine wissenschaftlicheErkenntnis stehen kann. Eine charakteristische Nachträglichkeit ih-

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res Gegenstands verbindet jene Wissenschaften miteinander, in de-nen die Forderung nach reiner Beschreibung mit besonderem Nach-druck erhoben wird. Nachträglich ist ihr Gegenstand, sofern er nurim Nachtrag der Beschreibung Bestand gewinnt und nur durchdiese Beschreibung nachträglich, nach dem beobachteten Gesche-hen oder den beobachteten Erscheinungen, verfügbar ist.

Im Unterschied zu anderen Wissenschaften, die ihre zurückbe-haltenen Beobachtungen, Meßergebnisse oder Experimentaleffekte– in allen von der Wissenschaftstheorie wohlformulierten Grenzen –gegebenenfalls erneut realisieren und so das Aufgezeichnete wiederin einen Bezug zu etwas außer ihm setzen können (an dem sich zei-gen mag, ob es anderes enthält, als sich nun feststellen läßt), kommtder Vorgang der Beschreibung in Pathologie und Psychiatrie einerunumkehrbaren Entscheidung gleich. Was nicht in der Kranken-akte steht oder im Protokoll verzeichnet ist, kann im Weiteren derwissenschaftlichen Arbeit auch nicht mehr herangezogen werden.Und was aufgezeichnet wird, bestimmt wiederum nach den gewähl-ten Ausdrücken und der Differenziertheit des Ausdrucksvermögensdie weiteren Möglichkeiten, aus seiner Lektüre Erfahrungen zu sam-meln und Erkenntnisse zu formulieren. »Vor allem muss alles, wasnicht zur reinen Beschreibung gehört, ausgeschlossen werden, wennman eine Nachprüfung der niedergelegten Beobachtungen ermög-lichen will«,24

24 Sommer, Lehrbuch der psychopathologischen Untersuchungs-Methoden (wie Anm.22), S. 5.

nuanciert Sommer seine Skepsis gegenüber der psych-iatrischen Aufzeichnungspraxis, wobei das Adjektiv ›niedergelegt‹entscheidend ist. Nachprüfen kann man nämlich nur das in der Kran-kenakte Festgehaltene, und dies auch auf keinem anderen Weg alsdurch dessen Lektüre. Erst mit dieser Einsicht ist die Forderungnach einer reinen Beschreibung vollkommen verstanden: Zweifel-sohne zeugt sie von dem Verlangen nach einer möglichst vollständi-gen und urteilsfreien »Darstellung der optischen Erscheinungendurch eine Folge von Worten«,25

25 Ebd., S.4.

wie Sommer definiert, im Hinter-grund hält sich aber noch eine ganz andere Sorge, die Sorge vor dermißverständlichen Beschreibung, die aus dem Umstand rührt, daßman »Folgen von Worten« nicht nur geschickt zu wählen hat, son-dern, sollen sie ihren Zweck erfüllen, auch wieder lesen muß.

Unter den fünf Hauptfehlern der Beschreibung, die Sommer

138

aufzählt, läßt sich der zuletzt genannte am wenigsten vermeiden:»Durch das Mittel der Sprache werden in dem Leser einer Beschrei-bung andere Vorstellungen geweckt, als dem Schreiber vorgeschwebthaben.«26

26 Ebd., S. 5.

In der Konsequenz heißt dies, daß empirische Wissen-schaft hier an die Grenze zur Hermeneutik gerät, daß sie statt einerBeschreibung der Natur eine Interpretation von Texten liefert. Das›Reine‹ der reinen Beschreibung gilt dieser Verunreinigung. Diesezu vermeiden nährt das in Sektionsanleitungen so häufig formu-lierte Begehren, »sich aus dem Protokoll ein klares Bild« machenzu können, damit man »selbst entscheiden kann«.27

27 Bernhard Fischer, Der Sektionskurs. Kurze Anleitung zur pathologisch-anatomischenUntersuchung menschlicher Leichen, Wiesbaden 1919, S. 119.

Dieser Wunschnach einer transparenten Sprache mag naiv wirken, in unserem Zu-sammenhang interessiert aber einzig, daß Disziplinen wie die Psych-iatrie oder die Pathologie durch die Einsicht in die besondereSprachgebundenheit ihrer Untersuchungsgegenstände dazu geführtworden sind, einen erheblichen Aufwand auf die Regulierung desBeschreibungsvorgangs zu verwenden. Daß sich dennoch niemalseine reine Beschreibung einstellen wird, war allerdings JohannesOrth, dem Nachfolger Rudolf Virchows als Direktor des Pathologi-schen Instituts der Charite, schon am Anfang des 20. Jahrhundertsklar. Denn wie viel Mühe man sich auch geben mag, »bei der Fest-stellung der Tatsachen« ist ein »subjektives Urteil« kaum zu vermei-den: »ob eine Färbung als hellrot oder dunkelrot, blaurot oder vio-lettrot, ob sie [als] gelbrot, orangerot, rostrot, gelbbraun, rotbraunusw. bezeichnet werden soll, dafür ist das subjektive Ermessen mass-gebend [. . .]«.28

28 Johannes Orth, Pathologisch-anatomische Diagnostik nebst Anleitung zur Ausfüh-rung von Obduktionen sowie von pathologisch-histologischen Untersuchungen, Berlin,7. Aufl. 1909, S. 13 f.

Um welche Erscheinungen es sich auch handelt, mitihrer Bezeichnung geht immer schon eine Entscheidung des Beob-achters einher.

5.

Es ist kaum anzunehmen, daß Lewin bei der Formulierung seinesProgramms zur »Erziehung der Versuchsperson« die Überlegungenvon Psychiatern und Pathologen bekannt waren. Seine Aufmerk-

139

samkeit auf diesen Punkt war aber schon vorher am PsychologischenInstitut der Berliner Universität geweckt worden, wo er in den letz-ten Jahren vor dem Ersten Weltkrieg bei Carl Stumpf an seiner Dis-sertation zum Grundgesetz der Assoziation arbeitet. Wie alle Stu-denten wird Lewin zunächst das von den Assistenten abgehalteneexperimentalpsychologische Praktikum durchlaufen haben, das nichtzuletzt der Ausbildung eines Beobachterreservoirs für die experi-mentellen Untersuchungen der Institutsmitarbeiter diente. Über diehierbei auftretenden Probleme bemerkt Friedrich Schumann, bis1905 Stumpfs Assistent:

Die einen vermögen überhaupt sehr wenig zu constatiren, weil für sie imWesentlichen nur die Außenwelt Interesse besitzt, während andere derSelbsttäuschung sehr zugänglich sind. Bei Gelegenheit von experimentellenUebungen wird man jedoch verhältnißmäßig leicht erkennen können, obJemand ein guter und zuverlässiger Beobachter ist oder nicht. Hat maneinen guten Beobachter gefunden, der sich verschiedentlich bewährt hat, soist er eine besonders werthvolle Versuchsperson für weitere Untersuchun-gen. Leider wird die Zahl derselben immer sehr gering bleiben, da die müh-samen experimentell-psychologischen Untersuchungen vielfach so hohe An-sprüche an die Ausdauer der Versuchpersonen stellen, daß nur wenige sichdazu bereit finden.29

29 Friedrich Schumann, »Beiträge zur Analyse der Gesichtswahrnehmungen. ErsteAbhandlung: Einige Beobachtungen über die Zusammenfassung von Gesichtsein-drücken zu Einheiten«, in: Zeitschrift für Psychologie und Physiologie der Sinnes-organe 23 (1900), S. 1-32, hier S. 4 f.

Wesentlich angeregt zum methodischen Ausbau der Selbstbeobach-tung wurde Lewin weiter durch seine Auseinandersetzung mit AchsUntersuchungen zu den Gesetzen der Assoziation. Dessen Forde-rungen an die »systematische experimentelle Selbstbeobachtung« ent-halten bereits – insbesondere mit Blick auf die Befragung der Ver-suchspersonen durch den Versuchsleiter – zentrale Elemente vonLewins ein Jahrzehnt später entstandener Anleitung zur Selbstbeob-achtung.30

30 Vgl. Narziß Ach, Über die Willenstätigkeit und das Denken. Eine experimentelleUntersuchung mit einem Anhange: Über das Hippsche Chronoskop, Göttingen 1905,S. 8-25. Zur Würzburger Schule der Selbstbeobachtung, aus der Achs Untersu-chung hervorgeht, siehe die Einleitung des Herausgebers in: Paul Ziche (Hg.),Introspektion. Texte zur Selbstwahrnehmung des Ichs, Wien, New York 1999, S. 1-42.

»Es ist eine besondere Eigentümlichkeit der Psychologie«, so dieersten Zeilen von Lewins Instruktion, »daß die zu Prüfungen oder

140

Versuchszwecken benutzten ›Objekte‹, die Versuchspersonen (Vpn)in der Regel zugleich einen nicht unwesentlichen Teil der wissen-schaftlichen Arbeit zu leisten haben.«31

31 Lewin, »Die Erziehung der Versuchsperson« (wie Anm. 21), S. 153.

Eine Versuchsperson ist nachdieser Bestimmung in einer Mittelposition zwischen Instrument desVersuchsleiters und selbständig agierendem Akteur der Forschung.Sie ist, folgt man Lewin, nicht ein passives Beobachtungsgerät, son-dern muß in der Beobachtung tätig werden, um wiederum mit ihrenBeobachtungsangaben die Grundlage der Untersuchung zu bilden.Verantwortlich für diese komplizierte Situation ist der simple Um-stand, daß allein den Versuchspersonen »die psychischen Objektezur direkten Beobachtung zur Verfügung« stehen.32

32 Ebd.

Ein mit Selbst-beobachtungen arbeitender Psychologe befindet sich damit in einervergleichbaren Situation wie der Pathologe im Sektionssaal oder derPsychiater in der Klinik. Auch ihm sind die Gegenstände seiner Ar-beit, die »psychischen Objekte«, einzig in der nachträglichen Be-schreibung vollkommen verfügbar. Nur kehrt sich die Situation impsychologischen Laboratorium um. Während die Erscheinungen,mit denen Pathologen und Psychiater zu tun haben, prinzipiellbetrachtet zum Zeitpunkt der Untersuchung auch von jedem ande-ren beobachtet, jedoch später nicht ohne weiteres wiederholt wer-den können, hat es der Psychologe mit Erscheinungen zu tun, die,prinzipiell betrachtet, bis zur Erschöpfung zwar willkürlich repro-duzierbar, dafür aber einzig von den Versuchspersonen zu konstatie-ren sind. Ihre Beschreibungen stellen deshalb nicht zuerst die physi-sche Andauer des Beobachteten sicher, obwohl sie dies auch leisten.Vielmehr eröffnen sie den Forschenden einen – wenn auch nichtden einzigen, so doch einen besonders vielversprechenden – Zugangzum Gegenstand der Untersuchung.

In Anbetracht dieses Umstands scheint sich ein Psychologe, derseine Untersuchungen auf Selbstbeobachtungen gründet, in einerwesentlich dramatischeren Lage zu befinden als ein Psychiater oderPathologe, der, wie es auch geschehen ist, auf andere Mittel der Auf-zeichnung wie Fotografie oder Film und zusätzliche Verfahren derDatensicherung wie die Anfertigung von Präparaten und die ganzehistologische und biochemische Analytik zurückgreifen kann. Manwürde daher vermuten, daß Lewins Schulungsprogramm für seineVersuchspersonen noch weit stärker von der Vorstellung beherrscht

141

ist, den Spielraum der Beschreibung ganz auf die Wiedergabe desGegebenen einzuschränken. In der Tat ist dies teilweise auch so,insofern den Versuchspersonen sehr genaue Vorgaben darüber ge-macht werden, was sie zu beobachten haben und wie sie über ihreBeobachtungen zu sprechen haben. Nur sollen alle diese Vorgabendie Versuchsperson gerade in die Lage versetzen, ›durchdacht‹ vor-zugehen. Nach Lewin wird Selbstbeobachtung als Methode dannihren Zweck am besten erfüllen, wenn die willkürliche Aufmerk-samkeit und die unkontrolliert in die Beobachtung eingehendenVorstellungen und Annahmen der Probanden durch eine vorgege-bene Technik der Beobachtung ersetzt werden.

Die »Erziehung der Versuchsperson« zielt nicht auf die unbeein-flußte Wiedergabe von Beobachtungen ab, sondern auf die gezielteBeeinflussung der von der Versuchsperson im Vorgang der Beobach-tung in Anschlag gebrachten Einstellungen. »Es gilt, die etwaigenfalschen Bearbeitungsweisen (im weitesten Sinne) nach Möglichkeitauszuschalten und an ihre Stelle die im Sinne einer reinen Beschrei-bung richtigen Verhaltensweisen zu setzen.«33

33 Ebd., S. 163 f.

Während in den Na-turwissenschaften an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert einnichtinterventionistisches Modell der Objektivität weit verbreitetgewesen ist, ein Modell, das solchen Beobachtungen Objektivitätzubilligt, die aus einer Praxis herrühren, die jeden direkten Eingriffder Forscher ausschließt,34

34 Vgl. Lorraine Daston/Peter Galison, »Das Bild der Objektivität«, in: Peter Geimer(Hg.), Ordnungen der Sichtbarkeit. Fotografie in Wissenschaft, Kunst und Technolo-gie, Frankfurt am Main 2002, S. 29-99.

folgt Lewin, wenn man so will, eineminterventionistischen Modell von Objektivität. Erst der Eingriff indas ›wilde‹ Vorgehen der Beobachter verwandelt sie in brauchbareVersuchspersonen und zuverlässige Lieferanten von psychischen Ob-jekten. Die »reine Beschreibung«, mit deren Hilfe letzteres gesche-hen soll, bezeichnet deshalb etwas grundsätzlich anderes als bei demPsychiater Sommer. Zwar sucht auch Lewin alle ›Theorien‹, Urteileund Erklärungen in den Mitteilungen seiner Probanden von vorn-herein zu unterdrücken, und sicherlich teilt er die Vorstellung voneiner ausschließlich deskriptiven Sprache. Während aber bei Som-mer die Beschreibung als »verbal-graphische Methode«, wie derAusdruck nahelegt, sich am Ideal der graphischen Methode Etienne-Jules Mareys und praktisch an der Fotografie und Kinematographie

142

messen lassen muß,35

35 Vgl. Sommer, Lehrbuch der psychopathologischen Untersuchungs-Methoden (wieAnm. 22), S. 5-11, hier S. 4.

kann die von diesen Techniken verkörperteUnmittelbarkeit der Aufzeichnung in Lewins Begriff der reinenBeschreibung keine besondere Rolle spielen. Privilegiert werden imGegenteil solche Aussagen, die vom Versuchsleiter durch gezielteBefragung gewonnen werden.

6.

Bisher war von den materiellen Trägern der Aussagen und den kon-kreten Handlungen, aus denen Beschreibungen hervorgehen, nuram Rande die Rede. Zwar bezieht man sich auf die Krankenakte,das Sektionsprotokoll oder das Protokoll der Selbstbeobachtungen,wenn man von der Beschreibung spricht, Präsenz gewinnen dieseaber vornehmlich als Ort, an dem sich das in Worten ausgesagte inder Form von Schriftzeichen niederschlagen soll. Diesem Zustandentspricht, daß die schriftliche Aufzeichnung im Bewußtsein derForscher häufig als notwendiger, aber lästiger ›Papierkram‹ abge-tan wird, der in ihren Augen kaum als ›echte‹ Arbeit gilt.36

36 Vgl. die Beobachtungen in einer gerichtsmedizinischen Prosektur bei Stefan Tim-mermanns, Postmortem. How Medical Examiners Explain Suspicious Deaths, Chi-cago, London 2006, S. 63.

Ein Pro-tokoll anfertigen erscheint unter diesem Blickwinkel vornehmlichals Festhalten schon anderweitig geklärter Sachverhalte oder Er-scheinungen. Auch in Lewins Überlegungen zur »Erziehung derVersuchsperson« begegnet das Protokoll zunächst in bezug auf diese,seine dokumenthafte Seite. Die Notwendigkeit, die Versuchsperso-nen zu instruieren, wird unter anderem mit dem Hinweis begrün-det, daß bei unbeeinflußten Äußerungen unter Umständen »der Vl[Versuchsalter] unter der Bezeichnung etwas anderes versteht als dieVp und daher bei der weiteren Bearbeitung der Protokolle zu falschenSchlüssen geführt wird«.37

37 Lewin, »Die Erziehung der Versuchsperson« (wie Anm. 21), S. 161 (HervorhebungC.H.).

Ebendiese »weitere Verarbeitung« der Pro-tokolle dient auch als Argument dafür, in ihre Anfertigung von An-fang an durch Vorgaben beim Beobachten und Nachfragen bei derAngabe des Beobachteten gezielt einzugreifen. Wenn vom Versuchs-

143

leiter, so Lewin, »ja doch auf alle Fälle eine mehr oder weniger weit-gehende Bearbeitung der Protokolle vorgenommen wird«, wenn erdas »Material ordnen und gruppieren« muß und, darauf gestützt,»zumindest Behauptungen über die Existenz ganz bestimmter psy-chischer Sachverhalte« aufstellt, dann wird erst recht darauf zu ach-ten sein, daß alles Mögliche für die »eindeutige Klarheit« der aufge-zeichneten Aussagen getan wird.38

38 Vgl. ebd., S. 162.

Als Dokument gerät das Protokoll nach seiner eigenen Zukunftin den Blick; nach dem, was mit ihm in der Zukunft angestellt wer-den soll. Zum Dokument wird es deshalb auch erst in dem Moment,in dem der Versuchsleiter auf das Aufgezeichnete zurückkommt,dieses durcharbeitet, mit den Protokollen anderer Versuchspersonenzusammenbringt, vergleichende Aufstellungen anfertigt oder im Ver-gleich charakteristische Äußerungen in einzelnen Protokollen her-ausgreift. Kurz gesagt: Den Status des Dokuments gewinnt das Pro-tokoll in den Routinen seiner Auswertung; im »paperwork«.39

39 Vgl. Latour, »Drawing Things Together« (wie Anm. 3), S. 52-60.

In derGegenwart seiner Anfertigung ist das Protokoll hingegen nicht Do-kument, sondern Verfahren, ist es nicht vorliegender Gegenstand,sondern ablaufende Handlung, bezeichnet das Wort Protokoll einGeschehen, den Vorgang des Protokollierens: die Protokollierung.Für diesen Vorgang gilt noch mehr als für sein Resultat – das Proto-koll –, daß ihm bestenfalls beiläufig, meistens als technischer Um-stand Aufmerksamkeit geschenkt wird. So wird, wie erwähnt, in denSektionsanleitungen einhellig das Protokollieren durch Diktat derSektionsbefunde empfohlen. Als eigenständiger Akt tritt die Proto-kollierung darüber hinaus jedoch nicht in Erscheinung. Auch in derLiteratur über das Protokoll wird dieser Akt einzig in seinen insti-tutionellen, juristischen Umständen beleuchtet, sonst aber mit dersprachlichen Formulierung des zu protokollierenden Geschehensgleichgesetzt.40

40 Vgl. Michael Niehaus/Hans-Walter Schmidt-Hanissa, »Textsorte Protokoll. EinAufriß«, in: dies., Das Protokoll. Kulturelle Funktionen einer Textsorte, Frankfurt amMain 2006, S. 7-23.

Um so bemerkenswerter ist es deshalb, daß Lewinseine Ausführungen darüber, wie man zu beschreiben hat, aufs eng-ste mit Ausführungen darüber verbindet, wie das Protokoll derSelbstbeobachtungen erstellt werden soll.

Als »Gewinnung einer besonderen Art psychologischer Daten«

144

bezeichnet Alexandre Metraux das Ziel der von Lewin vertretenenForm der Selbstbeobachtung.41

41 Vgl. Alexandre Metraux, »Zur Einführung in diesen Band«, in: Kurt Lewin, Werk-ausgabe, hg. von Alexandre Metraux, Bd. 1, Bern, Stuttgart 1981, S. 19-45, hier S.22.

Die Besonderheit dieser Daten hängtaber keineswegs allein an der Methode, durch die sie in Erfah-rung gebracht werden. Man kann sogar sagen, daß die Selbstbeob-achtung allein überhaupt keine Daten hervorbringt. Zu Daten desForschungsprozesses werden die beobachteten Erscheinungen erstim Zuge ihrer schriftlichen Fassung. Die expliziten Ausführungenzur Protokollierung machen dabei nur den kleinsten Teil von LewinsInstruktion aus, kaum mehr als zweieinhalb von fünfzig Druckseiteninsgesamt. Implizit handelt aber der ganze abschließende Abschnittüber »Das Erzielen richtiger und gesicherter Selbstbeobachtungsan-gaben« von der Aufzeichnung der Äußerungen im Protokoll. Diesegeschieht nicht durch die Probanden selbst, sondern durch den Ver-suchsleiter, und sie geschieht nicht in der Form einer Mitschrift –eines Wortprotokolls – des von der Versuchsperson auf eine einzigeinitiale Frage hin (Was haben Sie beobachtet?) Geäußerten. DasProtokoll entsteht vielmehr in einer Form ähnlich einem Interview,in dem der Versuchsleiter zu jedem nach seinem Dafürhalten geeig-neten Zeitpunkt durch Nachfragen in den Bericht der Versuchsper-sonen eingreift. Blättert man sich durch Lewins Vorschläge, von denProbanden in seinem Sinne gute Angaben zu erhalten, stößt manimmer wieder auf Formulierungen wie die, daß es von Vorteil seinkann, »einen Vergleich anzuregen«, der Versuchsperson einen »kon-kreten Weg« zu zeigen, mit dem Hinweis, auf die »Zeitfolge« ei-nen »außerordentlich hilfreichen Leitfaden der Beschreibung« andie Hand zu geben, »neue Gesichtspunkte gezielt anzubieten« odergar – gelegentlich – »eine ganz neue Einstellung herbeizuführen«.42

42 Vgl. Lewin, »Die Erziehung der Versuchsperson« (wie Anm. 21), S. 180-196. ZitateS. 186, 188, 192, 194 und 196.

Alle diese Empfehlungen werden durch »Ergänzungs- und Unter-stützungsfragen«43

43 Ebd., S. 172. Zur Funktion und Problematik des Fragens siehe insgesamtS. 168-178.

umgesetzt und charakterisieren die »reine Be-schreibung« als gemeinsame Leistung von Versuchsperson und Ver-suchsleiter.

Das Protokollieren bietet hierfür weit mehr als nur den situativenRahmen, in dem dieses Wechselspiel von Bericht und Befragung

145

überliefert wird. Entsprechende Aspekte, etwa die Schwierigkeit, diedurch die Zeit des Aufschreibens entstehende Gesprächspause zuüberbrücken, oder die Organisation der Aufzeichnungen auf demSchriftträger, erwähnt Lewin auch gar nicht. Was er über das Pro-tokollieren zu sagen hat, fügt sich unter die Überschrift »Die Ver-ständigung mit dem Versuchsleiter«. Das Protokoll wird damit vonvornherein als eine Aushandlung und das heißt als eine Tätigkeitcharakterisiert, in deren Ablauf das zuletzt Nachlesbare entsteht. ZweiLeistungen werden angesprochen: Zum einen »bietet das Protokol-lieren der Aussagen der Vp durch den Vl« ein sehr gutes Mittel, umzu überprüfen, ob die mitgeteilten Beobachtungen vom Versuchslei-ter richtig aufgefaßt worden sind.44

44 Ebd., S. 197.

Zum anderen – und mit die-ser eigentlichen Verständigung zwischen den Beteiligten eng ver-bunden – bildet sich im Lauf der Protokollierung »meist von selbsteine eigentümliche Terminologie dadurch aus, daß ein mehrdeuti-ges Wort durch Vereinbarung auf einen ganz bestimmten Sinn fest-gelegt wird«.45

45 Ebd.

Dem Akt der Aufzeichnung eignet damit jedesmalder Zweck der Präzisierung, der Fokussierung und – vorgängig da-zu – der Kanalisierung des Beobachteten. All dies geschieht mitRücksicht auf das Protokoll – auf das zu erzielende Resultat – und inVoraussicht auf den künftigen Gebrauch des Schriftstücks als Doku-ment. Verständlichkeit des Protokollierten und konsistente Termi-nologie stellen Eigenschaften dar, die ihre Wichtigkeit von der »Be-arbeitung der Protokolle« her erhalten.

Eine ganz ähnliche Auffassung des Protokollierens findet sich beidem Pathologen Orth. Ein Protokoll aufzunehmen hat für ihn nichtzuletzt »den Vorteil, dass man gezwungen wird, sich die sinnlichenWahrnehmungen recht klar zum Bewusstsein zu bringen«.46

46 Orth, Pathologisch-anatomische Diagnostik (wie Anm. 28), S. 13.

VomProtokollieren geht, so betrachtet, auf den Beobachter ein Druckaus, sich zu dem Wahrgenommenen in ein Verhältnis der Betrach-tung zu setzen, sich dieses unter der Perspektive der Verschriftungnoch einmal – vielleicht zum ersten Mal – ›bewußt‹ vor Augen zuführen. Hierin liegt die instrumentale Leistung des Protokollierensals Verfahren: Die Absicht der Verschriftung führt den Beobachtervor sich selbst und seine Beobachtungen, verschafft der Selbstbeob-achtung jenen »Charakter der Fremdbeobachtung«, den Lewin für

146

sie reklamiert. Der Einwand, daß dieser Effekt gar nicht aus der Pro-tokollierung, sondern aus der Befragung rührt, läßt einen entschei-denden Aspekt außer acht, der am Verfahren der Protokollierunghängt. Wie Lewin betont, ist es für die inhaltliche und terminolo-gische Klärung der protokollierten Beobachtungen unverzichtbar,daß der Versuchsleiter »das Geschriebene vorliest, damit die Vp amGrad des Verständnisses des Vl eine äußere Kontrolle erhält«; daß sie»zu hören bekommt, was wirklich geschrieben wird«.47

47 Lewin, »Die Erziehung der Versuchsperson« (wie Anm. 21), S. 197 f.

Erst in derRückkoppelung von Berichten, Schreiben, Lesen, Hören und Nach-fragen entsteht die aufgezeichnete Aussage, die als Datum zirkulie-ren wird.

7.

Lewins Verständnis des Protokollierens ist denkbar weit entferntvon einer anderen psychographischen Praxis, die – neu ansetzend,die alte Graphologie überformend – nicht mehr primär das Schrift-bild, sondern den Schreibvorgang in den Blick rückt und diesen alsSpur, als Indikator psychischer Variablen wie Ermüdung oder Er-regung konzipiert.48

48 Vgl. Peter Geimer, »Linien des hellen Wahnsinns. Das Zittern des Graphologen«,in: Werner Busch/Oliver Jehle/Carolin Meister (Hg.), Randgänge der Zeichnung,München 2007, S. 55-71; und Armin Schäfer, »Lebendes Dispositiv: Hand beimSchreiben«, in: Cornelius Borck/Armin Schäfer (Hg.), Psychographien, Zürich,Berlin 2005, S. 241-265.

Nicht das Äußere des Schreibens, sondern des-sen prozedurales Vermögen interessiert ihn. In diesem Laborato-rium wird geschrieben, um dadurch etwas zu bewerkstelligen. Dabeikann die operative Leistung bis an die Grenze einer epistemischenLeistung geraten. So bemerkt Lewin, daß in dem Prozeß der Proto-kollierung nicht nur Mißverständnisse und Widersprüchlichkeitenin den Selbstbeobachtungsangaben geklärt werden können, sonderndaß in der Schleife von Niederschreiben und Vorlesen »nicht seltenauch der Vp feinere Eigentümlichkeiten des [psychischen] Erlebnis-ses bewußt gemacht« werden.49

49 Lewin, »Die Erziehung der Versuchsperson« (wie Anm. 21), S. 198.

Es scheint deshalb schwer möglichzu sein, die »psychischen Gebilde« oder »psychischen Objekte« vomGebilde ihrer Protokollierung abzulösen. Damit soll nicht ihre Rea-lität im Sinne eines trivialen Konstruktivismus in Frage gestellt wer-

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den. Denn etwas zur Darstellung zu bringen läßt sich gar nicht an-ders vorstellen als in Form einer regelhaften Transformation50

50 Vgl. Bruno Latour, Die Hoffnung der Pandora, Frankfurt am Main 2000, Kapitel 2.

–anderenfalls hat keine Darstellung stattgefunden. Es soll vielmehrder Beitrag eines verhältnismäßig schlichten Aufzeichnungsvorgangszur Herausbildung einer neuen Art Psychologie in den Blick gerücktwerden.

Wichtiger noch als die weitere Differenzierung der psychischenErlebnisse dürfte in dieser Hinsicht die Leistung des Protokollierensfür die Herausbildung einer Terminologie gewesen sein, mit derdiese Erlebnisse erst zur Grundlage einer Theorie des Psychischenwerden konnten. Denkt man noch einmal an die Untersuchungenüber das Grundgesetz der Assoziation, in denen Lewin seine pro-grammatischen und methodischen Überlegungen an eine konkreteProblemstellung der Forschung zurückbindet, dann fällt in den zweiVeröffentlichungen hierzu aus den Jahren 1917 und 1922 der häufigeGebrauch von Anführungsstrichen auf. Diese kennzeichnen Zitateaus der Literatur, Äußerungen von Probanden, Instruktionen desVersuchsleiters und schließlich auch die Verwendung von psycholo-gischen Begrifflichkeiten, wobei nicht immer sofort zu entscheidenist, welche Art von Markierung jeweils vorliegt. Dieser Umstandläßt ahnen, daß Lewin zu diesem Zeitpunkt weder schon über eineeigene Begrifflichkeit noch im strikten Sinne über eine ›uneigent-liche‹ Begrifflichkeit verfügte. Zwar markieren Anführungsstriche,mit denen Ausdrücke wie »Wille« oder »Gewohnheit« gekennzeich-net werden,51

51 Vgl. zum Beispiel Kurt Lewin, »Das Problem der Willensmessung und das Grund-gesetz der Assoziation I«, in: Psychologische Forschung 1 (1922), S. 190-302, hierS.200.

ähnlich wie im Fall des Ausdrucks »Selbstbeobachtung«einen Abstand zu einer als üblich vorausgesetzten Verwendung: Siefungieren als graphisches Äquivalent für das Wort ›sozusagen‹. Wor-in dieses ›Sozusagen‹ besteht und worin die hiervon verschiedeneBedeutung der derart von Lewin gekennzeichneten Ausdrücke be-stehen soll, entzieht sich aber der Formulierung. Noch entbehrendiese Ausdrücke einer festen Bestimmung sowohl ihrer eigentlichenwie ihrer uneigentlichen Bedeutung. Wenn – Blumenbergs berühm-ter Formulierung zufolge – Metaphern »Leitfossilien einer archai-schen Schicht des Prozesses theoretischer Neugierde« sind,52

52 Hans Blumenberg, »Ausblick auf eine Theorie der Unbegrifflichkeit«, in: ders.,

dann

148

Schiffbruch mit Zuschauer. Paradigma einer Daseinsmetapher, Frankfurt am Main1997, S. 85-106, hier S. 87.

befindet sich Lewins Unternehmen Ende der 1910er, Anfang der1920er Jahre in dem noch urtümlicheren Zustand, daß es ihm nochan einer leitenden metaphorischen Rede mangelt, daß sein Zugriffsich als bloßer Abstand artikuliert, ohne daß dieser Abstand schonbegrifflich sicher eingefangen werden könnte.

Diese Situation ändert sich erst mit zwei Aufsätzen Lewins ausdem Jahr 1926, die von der psychologischen Literatur heute als Grün-dungsdokumente der psychodynamischen Forschung und der Feld-theorie gelesen werden.53

53 Vgl. Lück, Kurt Lewin (wie Anm. 4), S. 29.

Als Eröffnung einer Reihe von »Untersu-chungen zur Handlungs- und Affektpsychologie« entwickelt dererste dieser Aufsätze ausschließlich Begriffsbestimmungen, der zwei-te fügt sie exemplarisch in eine Theorie der »Vornahmehandlung«,mit der der Begriff des Willens von Lewins »Standpunkt der Psycho-logie« aus neu besetzt wird.54

54 Kurt Lewin, »Untersuchungen zur Handlungs- und Affektpsychologie I: Vorbe-merkungen über psychische Kräfte und Energien und über die Struktur der Seele«,in: Psychologische Forschung 7 (1926), S. 294-329; und ders., »Untersuchungen zurHandlungs- und Affektpsychologie II: Vorsatz, Wille und Bedürfnis«, in: Psycholo-gische Forschung 7 (1926), S. 330-385.

Anführungszeichen sind in diesen Tex-ten keineswegs verschwunden: Die meisten der Ausdrücke, die vonnun an zum Standardrepertoire Lewinscher Schriften gehören – vonso originären wie psychisches Feld über ganz alltägliche, nun in einemdefinierten theoretischen Rahmen benutzte wie Spannung oderSystem bis hin zu sehr speziellen wie Grenzfestigkeit oder Aufforde-rungscharakter –, sind jedoch kursiv gesetzt. Der Wechsel von dereinen zur anderen Art der Hervorhebung steht für den Übergangvon einer bloßen Absetzbewegung vom gegebenen Vokabular zu ei-ner souveränen Geste der Begriffsbildung ein. Kursivierungen mar-kieren keinen Abstand, sondern leihen dem gedruckten Wort einehervorgehobene Stellung. Der Effekt der Kursivierung ist ein psy-chotechnischer: Kursivierung verwandelt ein Wort in einen Fachbe-griff, einen Terminus. Diese Terminologie aber, kursiv gesetzt, dieAnfang der 1920er Jahre, als Terminologie noch fehlte, hat ihren Ent-stehungsort aller Wahrscheinlichkeit nach in der Schreibszene desProtokolls – im Zusammenspiel von Instrumentalität, Gestik undSemantik des Protokollierens.55

55 Zum Begriff der Schreibszene siehe Rüdiger Campe, »Die Schreibszene. Schrei-

Am Beispiel des Terminus »Span-

149

ben«, in: Hans Ulrich Gumbrecht/K. Ludwig Pfeiffer (Hg.), Paradoxien, Disso-nanzen, Zusammenbrüche. Situationen offener Epistemologie, Frankfurt am Main1991, S.759-772; sowie Martin Stingelin, »›Schreiben‹. Einleitung«, in: ders. (Hg.),»Mir ekelt vor diesem tintenklecksenden Säkulum«. Schreibszenen im Zeitalter derManuskripte, München 2004, S. 7-21.

nung« deutet dies Lewin in seinen Anmerkungen zur Protokol-lierung der Selbstbeobachtungen von Versuchspersonen an. DieserBegriff entsteht als Begriff aus der Abstimmung der Aussagen derVersuchsperson mit den Aufzeichnungen des Versuchsleiters im Pro-tokoll; er erhält seine Fassung und Bedeutung in der Schleife derProtokollierung zwischen Äußerung, Nachfragen und weiterer Be-schreibung.56

56 Vgl. Lewin, »Die Erziehung der Versuchsperson« (wie Anm. 21), S. 198 f.

Weiteren Aufschluß könnten hier die tatsächlich entstandenenProtokolle bieten, etwa indem man untersucht, wie sich der Ge-brauch einzelner Ausdrücke über die Zeit verdichtet. Und erst derBlick auf die Protokolle könnte auch die Formel von der »weiterenBearbeitung« mit einem konkreten Inhalt füllen, könnte zeigen, wiediese Bearbeitung sich ausführt (gibt es Anstreichungen, Margina-lien, werden Farbcodes benutzt, gibt es Zusammenstellungen vonAussagen?), ob Lewin Vordrucke benutzt hat, die die Standardisie-rung der Angaben unterstützen, und schließlich könnte der Blickauf die Protokolle zeigen, ob und in welcher Weise, formal und in-haltlich, die in den Veröffentlichungen ›zitierten‹ Aussagen der Pro-banden und die abgedruckten ›Protokolle‹ redigiert worden sind. Esist allerdings fraglich, ob eine solche Untersuchung noch durchge-führt werden kann. In Lewins Nachlaß liegen, soweit ersichtlich,keine entsprechenden Materialien aus dieser Zeitspanne vor.

8.

Bei aller Vorsicht scheint die herausgehobene Stellung der Selbstbe-obachtung in Lewins Forschungspraxis um die Mitte der 1920erJahre allmählich ins Wanken zu geraten. Den Höhepunkt erreichtihre Wertschätzung in dem 1922 publizierten Aufsatz über das »Pro-blem der Willensmessung«, mit dem Lewin seine noch vor demKrieg begonnene Auseinandersetzung mit der Assoziationspsycho-logie zum Abschluß bringt. Hier werden die Angaben der Proban-

150

den nicht nur äquivalent zu numerischen Daten, Meßwerten undstatistischen Größen im Argument in Stellung gebracht, sondernauch formal in ganz derselben Weise in tabellarischen Aufstellungendargeboten.57

57 Vgl. Lewin, Das Problem der Willensmessung und das Grundgesetz der Assoziation I,S. 212 f., S.231.

Nur fünf Jahre später ist von dieser Art Gebrauchnicht mehr viel übriggeblieben. Zwar wird die Selbstbeobachtungin den zahlreichen Studien aus Lewins Schülerkreis, mit denen die»Untersuchungen zur Handlungs- und Affektpsychologie« fortge-führt werden, weiterhin als zentrale Untersuchungsmethode an-geführt.58

58 Siehe zunächst Bluma Zeigarnik, »Untersuchungen zur Handlungs- und Affekt-psychologie III: Das Behalten erledigter und unerledigter Handlungen«, in: Psy-chologische Forschung 9 (1927), S. 1-85, hier S. 5; sowie Georg Schwarz, »Unter-suchungen zur Handlungs- und Affektpsychologie IV: Über Rückfälligkeit beiUmgewöhnung. 1. Teil: Rückfalltendenz und Verwechslungsgefahr«, in: Psycholo-gische Forschung 9 (1927), S. 86-158, hier S. 96.

Schon in der ersten dieser Arbeiten – Bluma ZeigarniksStudie über »Das Behalten erledigter und unerledigter Handlun-gen« – handelt es sich bei den eingerückten Äußerungen der Ver-suchspersonen aber mehrheitlich nicht um Selbstbeobachtungsan-gaben im Sinne Lewins, sondern um Äußerungen, die von den Pro-banden noch während des Versuchs getroffen wurden.59

59 Vgl. Zeigarnik, »Untersuchungen zur Handlungs- und Affektpsychologie III«,S. 32 f., S. 59 f. Introspektive Äußerungen: S. 23, 53,62.

Mit dieser Verschiebung wird das methodische Programm genuinpsychologischer Forschung, wie es Lewin 1918 in seinem Skript zurTechnik der Selbstbeobachtung festlegt, gleichsam beiseite gescho-ben. Für die Argumentation werden nicht mehr vornehmlich solcheAussagen der Probanden herangezogen, die im Abstand vom Ver-such durch den Filter von Frage, Antwort, Aufzeichnung, Vorlesenund Rückfrage vielfach geklärt und terminologisch geschärft wor-den sind. Privilegiert wird vielmehr das genaue Gegenteil, oder inZeigarniks Diktion: privilegiert werden »halb-spontane« Äußerun-gen. Über ihren Wert bemerkt sie: »Die Vp. betrachtet nicht nach-träglich ›beobachtend‹ ihre Erlebnisse, sondern reagiert unmittel-bar aus der Situation heraus und deckt somit den Charakter dieserSituation auf.«60

60 Ebd., S. 21.

»Selbstbeobachtungen im gebräuchlichen Sinne«sind damit zwar nicht vollständig außer Kurs gesetzt. Wie die Erläu-terung zu verstehen gibt, schätzen die Akteure aber inzwischen die

151

unwillkürlichen, unmittelbaren Äußerungen der Versuchspersonenvöllig anders ein. Statt als Störfaktoren, die, wenn sie schon nicht zuunterdrücken sind, auf jeden Fall keinerlei Erkenntniskraft besitzen,begegnen sie jetzt als Ansatzpunkt für »ein tieferes Verständnis derwirklichen Vorgänge«.61

61 Ebd.

Nimmt man diese Behauptung beim Wort,so folgt daraus, daß die Tiefe des psychischen Geschehens nun stattim hochreflexiven Prozedere des Selbstbeobachtungsberichts im un-vermittelten Ausdruck der Probandenrede offenbar wird.

Der methodische Schwenk, der sich hier andeutet, vollzieht sichparallel zur Herausbildung des energetischen, dynamischen Begriffs-gefüges wie Spannung, Frustration, Ablenkung oder Vergessen, mitdem Lewin die inneren Empfindungen und Einstellungen des Sub-jekts zu den äußeren Umständen des Erlebens und Handelns inBeziehung setzt. Experimentaltaktisch wird dabei häufig so verfah-ren, daß die Probanden in Unkenntnis des eigentlichen Gegen-stands des Experiments eine Aufgabe gestellt bekommen, etwa einGedicht aufzuschreiben, deren Durchführung der Versuchsleiter jenachdem forciert oder behindert. Von diesem Ansatz her, der in dereingangs erwähnten Formel mündet, nach der Verhalten als Funk-tion von Person und Umwelt zu verstehen ist, liegt es nahe, dentatsächlichen Reaktionen der Versuchspersonen in den gegebenenSituationen ebensoviel Aufmerksamkeit zu widmen wie den nacht-räglichen Ausdeutungen in den Selbstbeobachtungsangaben. Zumeinen können diese Angaben mit den Äußerungen der Versuchsper-sonen während der Versuche abgeglichen werden. Zum anderen istdie Interaktion zwischen Subjekt und äußeren Umständen im Gan-zen nur einem Beobachter verfügbar, der von außen auf die Binnen-welt des Versuchsgeschehens blickt.

Das Interesse für die »halb-spontanen« Äußerungen der Proban-den ist von dieser Lage bestimmt. Lewins Schüler finden in ihnenein Mittel, um in einer bestimmten Situation des Experiments In-formationen über das innere Geschehen zu sammeln. So berichtetZeigarnik beispielsweise über die Reaktionen der Versuchspersonenbei der Aufforderung, das eben Geleistete noch einmal zu rekapitu-lieren, in folgender Weise: »Die Vp. wiederholt die Frage des Vl.›Was ich hier alles gemacht habe?‹[,] seufzt, als ob sie Mut und Kräftezu der ›unnötigen‹ Arbeit sammelt, macht eine energische Kopfbe-

152

wegung, streckt sich manchmal, murmelt vor sich hin: ›na schön‹und fängt an, die Aufgaben aufzuzählen.«62

62 Ebd., S. 33.

Nimmt man die vor-angestellte Bemerkung hinzu, daß »der Gesichtausdruck der Vp.manchmal dem eines Menschen [ähnelt], den man auffordert vorzu-tanzen oder vorzusingen«,63

63 Ebd.

dann wird deutlich, daß die psychologi-sche Analyse an dieser Stelle weitgehend mit einer Psychographiezusammenfällt, die in den Äußerungen der Probanden in ganz der-selben Weise ›liest‹ wie in ihrer Mimik und Gestik. Für den Statusdieser Äußerungen im Forschungsprozeß und insgesamt für denStatus der Versuchspersonen folgt daraus, daß sie als eine Art Anzei-gen verstanden werden, durch deren Vermittlung psychische Vor-gänge augenblicklich für den Beobachter faßlich werden: »Sie sinddirekte Auswirkungen der Situation.«64

64 Tamara Dembo, »Untersuchungen zur Handlungs- und Affektpsychologie X: DerÄrger als dynamisches Problem«, in: Psychologische Forschung 15 (1931), S. 1-144,hier S.6.

Mit dem Verständnis der hör- und sichtbaren Regungen der Pro-banden als Ausdruck tieferliegender psychischer Vorgänge verwan-delt sich die Funktion der Schriftlichkeit im Forschungsprozeßgrundlegend. Zeigarniks Beschreibung ihrer Versuchsperson gleichtweit eher einem Gebärdenprotokoll, in dem Äußerungen und Ver-haltensweisen der Probanden gleichartig symptomatisch begriffenund komplementär zueinander aufgezeichnet werden.65

65 Vgl. hierzu Peter Becker, »›Recht schreiben‹ – Disziplin, Sprachbeherrschung undVernunft. Zur Kunst des Protokollierens im 19. Jahrhundert«, in: Michael Nie-haus/Hans-Walter Schmidt-Hanissa (Hg.), Das Protokoll. Kulturelle Funktioneneiner Textsorte, Frankfurt am Main 2006, S. 49-76, hier S. 55-62. In diesem Zu-sammenhang zeigt sich, daß viele Probleme des Protokollierens, die am Ende des19. Jahrhunderts in den medizinischen Wissenschaften in den Blick geraten, be-reits am Anfang desselben Jahrhunderts im juristischen Kontext besprochen wor-den sind.

Die Lei-stung eines solchen Protokolls bemißt sich entsprechend nicht anseinem Beitrag zur Klärung und Fixierung von Begrifflichkeiten,sondern an dem Maß, in dem es im Akt des Protokollierens gelingt,der Mannigfaltigkeit der gleichzeitig aufeinander folgenden Erschei-nungen eine schriftliche Fassung zu geben. Die Herausforderung istdamit dieselbe wie im Sektionssaal oder in der psychiatrischen Kli-nik. Mit dem Wort Robert Sommers wird an das Protokoll der An-

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spruch einer »verbal-graphischen Methode« gestellt. Daß Protokol-lieren als Verfahren hiervon systematisch überfordert wird, daß Pro-tokolle Umschriften und keine Abbildungen liefern, die zu lesenund nicht zu betrachten sind, dieser Einsicht hat man sich in Le-wins Kreis nicht verschlossen. Tamara Dembo bemerkt Anfang der1930er Jahre in ihrer Studie »Der Ärger als psychisches Problem«:»Wenn nur notiert wird, was bei der Betrachtung ohne weiteres insAuge fällt, so nimmt schon diese Arbeit den Protokollführer vollin Anspruch.«66

66 Dembo, »Untersuchungen zur Handlungs- und Affektpsychologie X« (wieAnm.64), S.7.

Der Ausweg aus diesem Ungenügen ist da bereitsbekannt: »Zur lückenlosen Aufnahme eines Versuches wäre eineKino- und gleichzeitige phonographische Aufnahme (ein Tonfilm)erforderlich.«67

67 Ebd.

Der Konjunktiv deutet auf einige Probleme bei der praktischenUmsetzung dieses Vorhabens hin, aber zumindest im Idealfall trat inden späten 1920er Jahren in Lewins Forschungsgruppe die filmischeAufzeichnung an die Stelle der vorher favorisierten Praxis der Selbst-beobachtung. Selbst die zunächst größte Einschränkung, auf dieLewin 1926 in der Einleitung zu einem seiner ersten öffentlich vor-geführten Filme über »Trieb- und Affektäußerungen psychopathi-scher Kinder« hinweist, war, näher betrachtet, nicht mehr ganz soentscheidend. Denn daß man auf diesem Wege (etwa zwei Jahrevor dem Durchbruch des Tonfilms) »nur Optisches zu erfassen ver-mag«,68

68 Kurt Lewin, »Filmaufnahmen über Trieb- und Affektäußerungen psychopathi-scher Kinder (verglichen mit Normalen und Schwachsinnigen)«, in: ders., Werk-ausgabe, hg. von Franz E. Weinert und Horst Gundlach, Bd. 6, Bern, Stuttgart1982, S. 41-75, hier S.42.

wurde teilweise dadurch ausgeglichen, daß – epistemolo-gisch betrachtet – die Probanden nun im Ganzen sprechend waren.Jede ihrer Regungen enthielt Informationen über die untersuchtenpsychischen Vorgänge, und das, was sie sagten (und was auf demStand der Technik vorerst der Aufzeichnung verlorenging), bargin dieser Hinsicht nur eine besonders eindrückliche Informations-quelle – und zwar eindrücklich als ›Anzeige‹ für den momenta-nen psychischen Zustand des Probanden. Der Einzug der Filmka-mera in die psychologische Forschungspraxis zeugt so betrachtetdavon, daß das Modell psychischer Vorgänge, zu dem Lewin Mitte

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der 1920er Jahre gelangte, seine eigenen methodischen Grundlagenüberholt hatte. Die Begrifflichkeiten mochten aus der Bearbeitungvon Selbstbeobachtungsprotokollen hervorgegangen sein, doch andiesem Punkt angelangt, kehrte sich die neue Psychologie gegen ihreBindung an ein Schreibverfahren. Den »Standpunkt der Psycholo-gie« einzunehmen meinte nunmehr im besten Falle, ganz auf dieProtokollierung mit Stift und Papier zu verzichten. Zugespitzt ge-sagt: Was im weiteren zur Feldtheorie geworden ist, muß als einGebilde des Films verstanden werden. Protokolliert wurde auch wei-terhin, die zentrale epistemische Leistung dieses Akts lag aber bereitsin der Vergangenheit.

155

Ramon ReichertMedienkultur und Experimentalpsychologie

Filme, Diagramme und Textedes Sozialpsychologen Kurt Lewin

Im 19. Jahrhundert war der humanwissenschaftliche Menschenver-such in den Institutionen und Apparaten, welche die bürgerlicheOrdnung in einem Staat garantierten, verwahrt.1

1 Vgl. Michel Foucault, Die Geburt der Klinik. Eine Archäologie des ärztlichen Blicks,Frankfurt am Main 1988, S. 123-136; Kurt Danziger, Constructing the Subject. Histo-rical Origins of Psychological Research, Cambridge 1990, S. 17-33.

Disziplinarord-nung und Experimentalkultur überlagerten sich in Klinik, Fabrik,Gefängnis, Kaserne und Schule, die ein temporäres und konkurrie-rendes Geflecht von Prozeduren der Macht und Techniken der Wis-sensherstellung bildeten.2

2 Vom Wissenschaftshistoriker Jonathan Crary wurde die methodenkritische Frageaufgeworfen, ob nicht das Visuelle bloß ein »Effekt andersartiger Kräfte und Macht-verhältnisse sei«, vgl. Jonathan Crary, Aufmerksamkeit. Wahrnehmung und moderneKultur, Frankfurt am Main 2002, S. 14; vgl. zur kulturgeschichtlichen Vermessungdes Lebendigen im 19. Jahrhundert als Aggregat diskursiver, medialer, visueller undtechnischer Verfahrensweisen Henning Schmidgen/Sven Geimer/Peter Dierig(Hg.), Kultur im Experiment, Berlin 2004, S. 7-16.

Die in dieser Tradition stehende Psycho-technik, welche Hugo Münsterberg 1914 zum Oberbegriff für diegesamte angewandte Psychologie deklarierte, war Bestandteil aktivintervenierender Demonstrationsexperimente in einem Laborato-rium, das aus einer Ansammlung von Instrumenten und Apparatenbestand.3

3 Mit der Wortneuschöpfung »Psychotechnik« beschrieb William Stern 1903 dieangewandte Psychologie der »Menschenbehandlung«; vgl. William Stern, Ange-wandte Psychologie. Beiträge zur Psychologie der Aussage. Mit besonderer Berücksichti-gung von Problemen der Rechtspflege, Pädagogik, Psychiatrie und Geschichtsforschung,Leipzig 1903, S. 4-45. Der Begriff »Psychotechnik« wurde vom Experimentalpsy-chologen Hugo Münsterberg aufgenommen und in seiner 1914 veröffentlichtenSchrift Grundzüge der Psychotechnik popularisiert.

Nach dem Ersten Weltkrieg begann sich in akademischenNetzwerken eine Wende in der Experimentalkultur des Menschen-versuchs abzuzeichnen. In human- und sozialwissenschaftlich orien-tierten Wissenssystemen wie der Psychologie wurde der Ausweitungder Versuchsanordnungen auf »offene Milieus«4 ein zunehmend grö-ßerer Stellenwert zugeschrieben. Auf gewöhnlichen Situationen des

156

Alltagslebens aufgebaute Feldexperimente sorgten für eine kontinuier-liche Differenzierung der psychologischen Experimentalforschung.5

5 Der Mannheimer Psychologe Edmund Lysinski untersuchte 1919 Alltagssituatio-nen, die er im Rahmen seines Schaufenster-Reklame-Feldexperiments mit ver-deckter Beobachtung durchführte, vgl. Edmund Lysinski, »Zur Psychologie derSchaufenster-Reklame«, in: Zeitschrift für Handelswissenschaft und Handelspraxis 12(1919), S. 156-160.

Das Wissen vom Leben löste sich vom Verifikationismus des 19. Jahr-hunderts und von der Vorstellung der instrumentellen Fabrikationvon Wissen im Laborbetrieb. Der psychologische Zugriff auf »einenbestimmten Menschen in einer konkreten Situation« wurde zur Auf-gabe einer beobachtenden Experimentalkultur, die es sich zum Zielgesetzt hatte, den »ganzen Menschen zu erfassen«.6

6 Kurt Lewin, Die Entwicklung der experimentellen Willenspsychologie und die Psycho-therapie, Leipzig 1929, S. 3 f.

Gegenläufig zurdamals dominanten Psychotechnik7

7 1912 veröffentlichte der an der Universität Harvard experimentelle Psychologielehrende Hugo Münsterberg seine Schrift Psychologie und Wirtschaftsleben (Leip-zig), die ein Jahr später in den USA unter dem Titel Psychology and Industrial Effi-ciency (Boston 1913) zum Bestseller avancierte. Mit dem in der Einleitung verkün-deten Leitsatz: »Das psychologische Experiment soll planmäßig in den Dienst desWirtschaftslebens gestellt werden« erklärte Münsterberg die gesamtwirtschaftlichrelevante Anwendbarkeit zur Hauptaufgabe der experimentellen Psychologie.

und ihren operativen Metho-den des Messens, Zählens und Erklärens leistungsorientierten Ver-haltens formierte sich ein psychologischer Diskurs mit ganzheitlicherAusrichtung.8

8 Vgl. Mitchell G. Ash, Gestalt Psychology in German Culture, 1890-1967: Holismand the Quest for Objectivity, Cambridge u.a. 1995.

Dieser holistische Ansatz transformierte den expe-rimentellen Zugriff auf den Menschen und setzte sich mit seinemalltäglichen und gewöhnlichen Leben, seiner lebensgeschichtlichenEntwicklung und seiner subjektiven Wahrnehmung auseinander.9

9 Vgl. Anita Karsten, »The Study of Everyday Life«, in: Susan A. Wheelan/Emmy A.Pepitone/Vicki Abt (Hg.), Advances in Field Theory, Newbury Park u.a. 1990,S. 17-19.

Dieses Experimentieren im offenen Milieu stieg im Zeitalter der Ver-wissenschaftlichung aller Lebensbereiche zum Paradigma der Moder-ne auf. Mit der Wende zum »Lebensexperiment«10

10 Ludwig Binswanger, »Lebensfunktion und innere Lebensgeschichte«, in: Monats-schrift für Psychiatrie und Neurologie 68 (1928), S. 52-79, hier S. 71.

in unterschied-lichen human- und sozialwissenschaftlichen Diskursen änderten sich

4 Gilles Deleuze, »Postskriptum über die Kontrollgesellschaften«, in: ders., Unter-handlungen 1972-1990, Frankfurt am Main, S. 254-262, hier S. 261.

157

die Ansprüche der Forscher an die Dokumentation empirisch nach-weisbaren Verhaltens, und der Film als zeitbasiertes Medium unddie Methode der filmischen Aufzeichnung erfuhren eine neue Be-deutung und Aufwertung.

1. Bildfeld und Feldexperiment

Die individual- und sozialpsychologischen Experimente und Analy-sen des deutsch-amerikanischen Psychologen Kurt Lewin und seinevielfältige Anwendung des Films im Kontext von Forschung, Lehreund Popularisierung setzten über die Fachgrenzen hinaus neueMaßstäbe hinsichtlich der Medialisierung wissenschaftlichen Wis-sens. Als Filmemacher potenzierte Lewin seine eigene akademischeReputation und entwickelte neue mediale Aneignungsstrategien fürdas Wissen vom Menschen.11

1 1 Vgl. Mel van Elteren/Helmut E. Lück, »Kurt Lewin’s Films and their Role in theDevelopment of Field Theory«, in: Wheelan/Pepitone/Abt (Hg.), Advances inField Theory (wie Anm. 9), S. 38-61.

1923 begann er in enger Zusammenar-beit mit Tamara Dembo, Anitra Karsten, Bluma Zeigarnik, RichardMeili und anderen Studierenden des Psychologischen Instituts derBerliner Kaiser-Wilhelm-Universität, Filmaufnahmen von Kindernin experimentell geschaffenen Konfliktsituationen herzustellen. Sei-ne russische Assistentin Bluma Zeigarnik betonte in einem Inter-view, daß Lewin mit seinen frühen Filmen den Grundstein für seineFeldtheorie legte.12

12 Helmut E. Lück, »Erinnerungen an Kurt Lewin. Ein Interview mit Bluma Zeigar-nik«, in: Gruppendynamik 1 (1984), S. 103 f.

Im Unterschied zur Psychopathologie der Leistungsfeststellung,wie sie von der Industriepsychologie mit Hilfe von Test- und In-struktionsfilmen durchgeführt wurde,13

13 Psychotechnische Trainingsfilme wie etwa Menschen-Ökonomie. Berufseignung undLeistungsprüfung. Methoden der Psychotechnik (D 1921) operierten mit Schrifttafeln,welche die Betrachter aufforderten, sich bestimmte Merkwörter und -sätze einzu-prägen, etwas einzuüben und gemeinsam mit den Figuren auf der Leinwand beruf-liche Eignungstests durchzuführen. Mit dem psychotechnischen Testfilm wurdedie Versuchsanordnung in den Kinosaal verlegt und auf diese Weise Wissen überdie Effektivität der Filmrezeption erlangt. Vgl. Noel Carroll, »Film/Mind Analog-ies: The Case of Hugo Munsterberg«, in: The Journal of Aesthetics and Art Criticism46/4 (1988), S. 489-499.

fokussierten die experimen-

158

tellen Filmaufnahmen der Lewin-Gruppe »auf dem Gebiete derTrieb-, Affekt- und Ausdruckspsychologie« die Beobachtung »auf-gabefreier Situationen«.14

14 Kurt Lewin, »Filmaufnahmen über Trieb- und Affektäußerungen psychopathi-scher Kinder (verglichen mit Normalen und Schwachsinnigen)«, in: Zeitschrift fürKinderforschung 32 (1927), S. 414-447, hier S. 420.

»Es ist also wichtig, von den rein äußer-lichen Leistungsbegriffen [. . .] zur Feststellung der psychologischrealen Fakten fortzuschreiten und dabei an die Stelle einer rein klas-sifikatorischen eine konstruktive Begriffsbildung zu setzen.«15

15 Lewin, Die Entwicklung der experimentellen Willenspsychologie (wie Anm.6), S.24.

Anstelleder Feststellung beruflicher Eignungen und Fähigkeiten ging es umdie experimentell-technische Konstruktion von Situationen, in de-nen »Neigungen und Abneigungen«, »experimentell geformte Vor-geschichten« und ein »Sich-Freifühlen« der Versuchspersonen im»Rahmen des ›Natürlichen‹« sichtbar gemacht werden sollten.16

16 Ebd., S. 421.

Dochbereits im Vorfeld der Filmaufnahme mußte der experimentelleRaum auf die begrenzten Möglichkeiten des Kameraobjektivs unddie Erfordernisse des filmischen Mise en scene eingestellt werden. Da-bei mußten komplexe Szenenanweisungen berücksichtigt werden,um das psychologische Feld an das »Kinofeld«17

17 Ebd., S. 420.

und seine medialenAnforderungen anzugleichen. Die 1923/24 experimentell geschaffe-ne Konfliktarchitektur für ein anderthalbjähriges Kind, das manvon einem Zielobjekt durch eine kreisförmige Barriere trennte, hat-te sich den perspektivischen Anforderungen des Filmbilds unter-zuordnen (Abb. 1).18

18 Auf die am Set aufgebaute Konfliktarchitektur mit ihren Wirkmechanismen fürdas Handeln vor der Kamera spielt Gilles Deleuze in seiner Kinotheorie an. Erbenutzt den von Lewin geprägten Begriff des »hodologischen Raums« für seineDefinition des sensomotorisch motivierten Erzählens im Kino: »Das sensomotori-sche Schema entfaltet sich ganz konkret in einem ›hodologischen Raum‹ (KurtLewin), der sich durch ein Kraftfeld, durch Gegensätze und Spannungen zwischendiesen Kräften sowie durch das Lösen dieser Spannungen zwischen diesen Kräftensowie durch das Lösen dieser Spannungen je nach der Verteilung der Ziele, Hin-dernisse, Mittel, Umwege usw. definiert« (Gilles Deleuze, Das Zeit-Bild. Kino 2,Frankfurt am Main 1991, S. 170).

Im Unterschied zur experimentellen Situationmit mehreren Beobachtern, die im Raum verstreut unterschiedlicheSichtlinien knüpften, gab es im filmbasierten Experiment nur eineSichtlinie, nämlich der Kamera. Vergleichbar jeder anderen Aufnah-mesituation war das Bildfeld im forschenden Kino dem Objektiv

159

Abb. 1: Filmstills von Studienaufnahmen Kurt Lewins aus:Kurt Lewin, VHS-Produktion des Zentrums für

Fernstudienentwicklung, Hagen 1985.

der Kamera entsprechend verengt: »Das, was man durch das Ob-jektiv sehen kann, ist eine Art auf den Kopf gestellter visueller Py-ramide, die sich vom Objektiv ausgehend mit zunehmender Tie-fe sowohl der Breite als auch der Höhe nach erweitert.«19

19 David Bordwell, Visual Style in Cinema. Vier Kapitel Filmgeschichte, Frankfurt amMain 2001, S.42.

Um dieSchwierigkeit des schmalen, keilförmigen Raumausschnitts vor derKamera zu bewältigen, entschied sich die Forschergruppe für die fil-mische Rauminszenierung der nahen Einstellungen. Dabei wurdendie handlungsrelevanten Versuchspersonen (Vp) im zentralen Bild-vordergrund in Szene gesetzt und die Kamera im rechten Winkel zurHintergrundfläche aufgebaut, so daß die sogenannten Versuchsper-sonen, die mittlerweile im Sucher zu Filmfiguren mutierten, parallelzur Filmebene positioniert waren. Die Kinder wurden vor der Ka-mera positioniert und dabei mit einer halbnahen Einstellung inFrontalansicht von vorne aufgenommen. Diese Inszenierungs- undAufnahmetechnik erzeugte sowohl einen flächigen Bildraum als aucheinen unscharfen Hintergrund mit geringer Tiefe und lenkte die Auf-merksamkeit auf die mimischen Ausdrucksbewegungen der Kinder:»Besonderes Gewicht hat man meist auf die Sichtbarkeit der Ge-sichtsmimik zu legen.«20

20 Lewin, »Filmaufnahmen« (wie Anm. 14), S. 419.

Die vom Berliner Institut für Psychologie bereitgestellte 35-mm-

160

Kamera ermöglichte eine kontinuierliche Aufnahme von sechsMinuten.21

21 Ebd.

In seinen Ausführungen zu den »Filmaufnahmen überTrieb- und Affektäußerungen psychopathischer Kinder« wies Lewindarauf hin, daß

man also die Versuche so einzurichten habe, daß innerhalb dieser Zeit [dasist die sechsminütige Aufnahmezeit einer Filmkassette, R. R.] die gewünsch-ten Geschehensabläufe vonstatten gegangen sind. Denn das Auswechselnder Filmkassette dauert eine nicht unbeträchtliche Zeit, sodaß gerade dieentscheidenden Vorgänge der Aufnahme entgehen können. Auch die gro-ßen Kosten des Films zwingen zu einer Beschränkung auf möglichst kurzeZeitstrecken.22

22 Ebd.

Die Kapazität des damals gängigen Speicherformats limitierte denexperimentellen Rahmen in zeitlicher Hinsicht. Unter diesen Vor-zeichen geriet die experimentelle Praxis unter Zeitdruck. Das For-schungsdesign mußte den Aufbau entscheidungsgeladener Situatio-nen enthalten, die sich innerhalb der festgelegten Filmzeit von sechsMinuten abwickeln lassen mußten.

Beim Filmen der Kinder bedienten sich die Berliner Psychologenauch der Methode der versteckten Kamera und nahmen das medialeSetting der einflußreichen Sozialexperimente Obedience (Stanley Mil-gram, 1963) und Stanford Prison Experiment (Philip G. Zimbardo,1971) vorweg.23

23 Vgl. Ramon Reichert, »Kinotechniken im Labor. Das Stanford Prison Experi-ment« (1971), in: montage av 14/2 (2002), S. 125-141.

Der experimentalpsychologische Anspruch, die ungestellte Wirk-lichkeit festzuhalten und damit Nichtsichtbares sichtbar zu machen,korrelierte mit der konstruktivistischen Programmatik der zeitge-nössischen Film-Avantgarde.24

24 Vlada Petric, Constructivism in Film. The Man with the Movie Camera. A Cine-matic Analysis, Cambridge, London 1993, S. 28 f.

Wie Dziga Vertov war Lewin der An-sicht, daß die Kamera als Werkzeug in der Hand des Filmemachersin der Lage sein könne, die Wirklichkeit zu durchdringen und so dieversteckten Ereignisse des täglichen Lebens bloßzulegen. Seine ver-deckte Beobachtung des Alltäglichen und Gewöhnlichen sozialenHandelns rekurrierte auch auf bereits erprobte Techniken des wis-senschaftlichen Dokumentarfilms. In der Medienpraxis der ethno-logischen Forschung prägte der filmische Stil der versteckten Kame-

161

ra bereits die Materialbeschaffung der ethnographischen Methodein der Zeit des frühen Kinos vor 1910.25

25 Zu den frühen ethnographischen Filmen der beobachtenden Methode zählen u.a.die Filme von Rudolf Pöch (Neu-Guinea, 1904-1906 und Buschmänner in derKalahari, 1907-1909), Herbert Tischners Völkerkundliche Filmdokumente aus derSüdsee aus den Jahren 1908 bis 1910 und Aus dem Leben der Taulipang in Guayana(1911) von Theodor Koch-Grünberg.

Grundsatz der frühen doku-mentarischen Ethnographie-Filme war es, Szenen so zu filmen, alswäre die Kamera nicht vorhanden (teilweise mit verdeckten Mit-teln). Dagegen entwickelte sich ab den 1950er Jahren in Abgrenzungzum beobachtenden der teilnehmende Stil. Seine Grundsätze sind:keine verdeckten Aktionen und eine aktive Kommunikation mitden Gefilmten. Diese Entwicklung des ethnographischen Films istmethodischer Bestandteil der visuellen Kommunikation bzw. der vi-suellen Anthropologie.26

26 David MacDougall, The Corporeal Image: Film, Ethnography, and the Senses, Prin-ceton 2006, S. 11 f.

Aus sozialpsychologischer Sicht wurde demgegenüber immer wie-der hervorgehoben, daß die Präzision eines ›unverfälschten‹ mensch-lichen Verhaltens nur möglich sei, wenn der gefilmte Proband nichtum die Anwesenheit der Kamera wisse. In seinen Ausführungen zurpsychischen Ausschaltung des »Kinofeldes« und der Eigenwahrneh-mung des »Gefilmtwerdens« seitens der Versuchspersonen schriebLewin 1926 in der Zeitschrift für Kinderforschung: »Wir benutzten,soweit nicht eine Hecke oder etwas ähnliches ein genügendes Zu-rücktretenlassen des Kinoapparates aus dem momentanen Gesichts-feld ermöglichte, in der Regel ein Zelt, bei dem nur das Objek-tiv durch einen kleinen Schlitz von außen sichtbar ist.«27

27 Lewin, »Filmaufnahmen« (wie Anm. 14), S. 419.

Für dieDurchführung der Versuche wurden die Versuchspersonen und ihrUmfeld gemäß den Erfordernissen der versteckten Kamera angeord-net: »Die Szene muss sich innerhalb eines bestimmten Platzes ab-spielen, der von dem Filmapparat noch gut überstrichen werdenkann.«28

28 Ebd.

Die kooperierenden Probanden wurden weder über dasForschungsdesign aufgeklärt noch darüber informiert, daß sie wäh-rend der gesamten Dauer der Versuchsreihe heimlich gefilmt wur-den. Zwischen den ersten Studienfilmen im Jahr 1923 und den Stu-dien zum Führungsstil der Jahre 1938 bis 1940 baute die Mehrzahl

162

der Forschungsfilme auf der Strategie der doppelten Täuschung unddes einseitigen Mehrwissens seitens der Forscher auf.

Mit der Integration der Filmkamera durchlief der entwicklungs-psychologische process of discovery unterschiedliche Transformatio-nen der Fiktionalisierung, aus denen er seine Erkenntnisse schöpfte.Experimentelles Wissen überlagerte sich in einem epistemischen,filmästhetischen und medienstrategischen Raumaggregat, das dieAkteure hinter und vor der Kamera involvierte. Während der Film-aufnahme hatten die vor der Kamera agierenden erwachsenen Mit-arbeiter/innen oder Familienmitglieder dafür zu sorgen, daß dieVersuchspersonen (die Kinder) gut sichtbar entlang der Sichtlinieder Kamera verteilt waren: »Die aufzunehmenden Personen müssenschließlich in einer solchen Front und einer solchen Haltung sichbefinden, daß die charakteristischen Bewegungen bei den Aktionenund beim Affektausdruck vom Aufnahmeapparat her in richtigerBeleuchtung und gegen einen geeigneten Hintergrund sichtbar wer-den.«29

29 Ebd.

Idealiter sollte der Film als integrierter Bestandteil der Ver-suchsanordnungen an der aktiven Hervorbringung von Wissenbeteiligt sein, um Bedingungen der Möglichkeit von Wissensgewin-nung zu generieren.30

30 Vgl. Jean-Louis Comolli, »Machines of the Visible«, in: Teresa de Lauretis/StephenHeath (Hg.), The Cinematic Apparatus, London 1980, S. 121-143.

Doch vor der Kamera wurden die Versuchs-personen zu heimlichen Darstellern. Der Entwicklungspsychologeverblieb hinter der Kamera als ihr beobachtender Voyeur und ver-suchte das ›ungestellte‹ Leben einzufangen. Vor diesem Hintergrunderweist sich das mediale Set-Design des Feldexperiments als me-dienarchäologischer Prototyp gegenwärtiger Reality-TV-Formateim Massenmedium Fernsehen.31

31 Nicolas Pethes, »Der Test des großen Bruders. Menschenexperiment Massen-medium«, in: ders./Annette Keck (Hg.), Mediale Anatomien. Menschenbilder alsMedienprojektionen, Bielefeld 2001, S. 351-372, hier S. 371.

Die ›biographische Lebenswirklichkeit‹ der Versuchspersonen er-hielt in den Prozeduren ihrer Medialisierung einen narratologischenund theatralischen Gehalt, der vermittels fortgesetzter Kontextua-lisierungen in Vorlesungen, Vorträgen und Veröffentlichungen ver-tieft wurde.

163

2. Amateurfilm und biographisches Labor

Zum Studium von Kindern in ›natürlichen‹ Konfliktsituationen be-gann Lewin im Jahre 1923, Filme seiner eigenen Kinder zu drehen.Damit positionierte er das private Leben als Forschungsfeld. In die-ser Form des experimentellen Kontexts gab es keine strikte Tren-nung zwischen Forschungssubjekt und Forschungsobjekt. Bei sei-nen Filmaufnahmen der Kinder der eigenen nahen Verwandtschaftoder der Kinder von Freunden und Bekannten nutzte Lewin die ver-trauliche Familienatmosphäre und seine eigene Einbettung in diesozialen Gruppen von Freunden und Bekannten zur Steigerung vondokumentarischer Evidenz und Authentizität des Gefilmten.

Das Filmen im privaten Feld ermöglichte eine technische Innova-tion der deutschen Filmindustrie im Jahr 1923. Die Federwerks-kamera »Ica-Kinamo« der Dresdner Ica AG hatte ein Federwerk,welches die Handkurbel zum Transport des Filmstreifens ersetzte.Zuvor mußten Stativ und Handantriebskamera eine festgefügte Ein-heit bilden, ohne die ein gleichmäßiges Abkurbeln der Szene bei-nahe unmöglich war. Mit der Kinamo, der ersten Handkamera fürAmateure, konnte die Filmkamera an verschiedene Orte mitgenom-men und unter flexiblen Bedingungen eingesetzt werden: »Ich be-nutzte neben dem großen Aufnahmeapparat noch einen kleinenKinamo mit Federwerk, der vor allem auch bei unvorhergesehenen,an unerwarteten Stellen eintretenden Ereignissen gute Dienste lei-stet und ein leichtes Nachgehen bei größerem Ortswechsel der Vp.ermöglicht.«32

32 Lewin, »Filmaufnahmen« (wie Anm. 14), S. 419.

Starre Formen der Inszenierung, bei der die gefilmten Objekteoder Personen präzise und planvoll ins Bild gesetzt werden mußten,um der Unbeweglichkeit von Handkurbelkameras gerecht zu wer-den, konnten zugunsten spontanerer Aufnahmen vermieden wer-den. Demzufolge manifestierte das im Feldexperiment hergestelltepsychologische Wissen keine reine Erkenntnis vor einem ahistori-schen Horizont, sondern ging als Effekt aus einer konjunkturellbedingten Medienkultur hervor. Mit der Kinamo, die mit dem Slo-gan »Filme dich selbst!« beworben wurde,33

33 Michael Kuball, Familienkino. Geschichte des Amateurfilms in Deutschland, Bd. I,1900-1930, Hamburg 1980, S. 70.

hatte Lewin die Auf-hebung des Gegensatzes von Labor und Leben im Visier. Dieser An-

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spruch auf ›Lebensnähe‹ der Experimentalforschung blieb jedoch insich widersprüchlich. So wurde die Position des heimlichen Beob-achters und der Einsatz der versteckten Kamera beibehalten – dieDokumentation des ›authentischen Lebens‹ basierte auf einer Täu-schung der Versuchspersonen.

Mit der Handkamera kreierte Lewin eine neuartige filmischeÄsthetik in der Domäne der wissenschaftlichen Kinematographie.Eine Filmrolle umfaßte allerdings bloß fünfzehn Meter Film. SechsMeter konnten in einem Single Shot abgedreht werden. Der Psycho-loge als Kameramann konnte die Protagonisten in ihrer Bewegungagieren lassen, weil er selbst beweglich wurde und sich in Situatio-nen begeben konnten, die nicht eigens für die Aufnahme organisiertwerden mußten. Mit dem »Tele-Objektiv«34

34 Lewin, »Filmaufnahmen« (wie Anm. 14), S. 420.

konnte sich der Psycho-loge im Hintergrund des Kinofeldes aufhalten und die jeweiligenAkteure in halbtotalen oder halbnahen Kameraeinstellungen auf-nehmen (Abb. 2). Mit der Festlegung des Sichtfeldes vermittels derKadrage definierte Lewin nicht nur den Rahmen der Aufnahme,sondern gleichermaßen die Dimension der »psychischen Feld-kräfte«.35

35 Lewin, Willenspsychologie (wie Anm. 6), S. 23 und S. 27.

Die Theorie des Feldes und seiner Kräfte rekurrierte aufdie Bedingungen medialer Konstellationen. In der Halbtotalen auf-genommene Versuchspersonen wurden in ihrer ganzen Figur inner-halb eines räumlichen Umfelds gezeigt (Abb. 3). Die experimentelleArbeit mit dem Teleobjektiv verschaffte Lewin nicht nur die Mög-lichkeit zum besseren Studium seiner Versuchspersonen, sondernpartizipierte an der damals breit verankerten Wahrnehmungskulturspezifischer Kameratechniken, die ›Wirklichkeit‹ als dynamischesAggregat von Empfindungen und nahe Einstellungen zur ›Aufmerk-samkeitsselektion‹ und ›Affektsteuerung‹ des Kinopublikums ein-setzten.36

36 Vgl. Ramon Reichert, Im Kino der Humanwissenschaften. Studien zur Medialisie-rung wissenschaftlichen Wissens, Bielefeld 2007, S. 61.

Bereits im frühen Kino begann die Einübung des Kinopublikumsin die Praktiken des massenkulturellen Blickregimes vermittelsSchnitt, Parallelmontage und entfesselter Kamera.37

37 Crary, Aufmerksamkeit (wie Anm. 2), S. 275.

Die vom Verlustdes festen und beständigen Ortes der Beobachtung geprägte Kino-erfahrung um 1900 hatte vielschichtige Auswirkungen auf die visu-

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Abb. 2: Filmstills von Studienaufnahmen Kurt Lewins aus:Kurt Lewin, VHS-Produktion des Zentrums für

Fernstudienentwicklung, Hagen 1985.

elle Kultur der Folgezeit. Mit ihren Handkameras überlagertendie Medienamateure der 1920er Jahre die dynamische Kinoästhetikder instabilen und flexiblen Kameraführung mit ihren eigenen In-szenierungspraktiken im privaten Alltag. Die Amateurfilme KurtLewins können als Fortführung der im Kino trainierten Mobili-sierung des modernen Blicks aufgefaßt werden. Analog zur Wahr-nehmungskultur der entfesselten Kamera im Kino der Sensationenverkündeten die Anwendungen der laienhaften Amateurkinema-tographie eine grenzenlose Vivisektion der lebensweltlichen Wahr-nehmung. Mit der Handkamera wurde die aktive Raumaneignungzum Postulat des akribischen Forschers. In Abgrenzung zur filmi-schen Darstellungsweise der statischen Kamera überwand der Me-dienamateur Kurt Lewin den ›gegebenen‹ Raum und machte diesenmit Hilfe der Infrastruktur der Amateurfilmkamera medial verfüg-bar.

Lewins Medialisierung des psychologischen Wissens und seineAusweitung des Forschungsfeldes auf offene Milieus wie die eigeneFamilie und den Freundes- und Bekanntenkreis weisen historischeund wissenschaftliche Bezüge auf, die über die engeren Fachgrenzenhinausweisen. Im Jahr 1929 führte Lewin dem russischen RegisseurSergej Eisenstein am Berliner Institut für Psychologie einige seinerFilme vor. Eisenstein begeisterte sich für Lewins Topologie der Ge-setzmäßigkeit des psychischen Geschehens. Im Gegenzug stellte Le-

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Abb. 3: Filmstills von Studienaufnahmen Kurt Lewins aus:Kurt Lewin, VHS-Produktion des Zentrums für

Fernstudienentwicklung, Hagen 1985.

win in seinem Aufsatz »Kindlicher Ausdruck« (1927) eine konzep-tionelle Nähe zu Eisensteins Theorie der theatralischen Ausdrucksbe-wegung her, die der Regisseur 1923 gemeinsam mit Sergej Tretjakowveröffentlicht hatte.38

38 Vgl. Oksana Bulgakowa, »Kurt Lewin und Sergej Eisenstein«, in: Wolfgang Schön-pflug (Hg.), Kurt Lewin – Person, Werk, Umfeld. Historische Rekonstruktionen undaktuelle Wertungen aus Anlaß seines hundertsten Geburtstages, Frankfurt am Mainu.a. 1992, S. 16-29.

In ihrem wissenschaftlichen Gebrauch wurden Kameras seit denAnfängen der wissenschaftlichen Kinematographie beinahe aus-schließlich auf ein Stativ gestellt.39

39 Vgl. Martin Weiser, Medizinische Kinematographie, Dresden, Leipzig 1919, S. 49-54; Franz Paul Liesegang, Wissenschaftliche Kinematographie, Leipzig 1920,S.85-87.

In rigider Abgrenzung zur media-len Konstruktion multipler Blickpunkte erklärte man im wissen-schaftlichen Gebrauch des Kinematographen die auch heute nochgültige Konvention der statischen Einstellung auf das determinierteBildfeld zum Garanten wissenschaftlicher Objektivität. Mit der ent-schiedenen Benutzung des Stativs und der Selektion des Bildaus-schnitts machte der Wissenschafter eine gravierende Aussage: Ererklärte mit diesen Vorkehrungen die Ausschaltung der Subjektivi-tät des Wissenschaftlers, um den Kinematographen und die denVersuch bezeugenden Bewegtbilder an die seit der Mitte des 19. Jahr-

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hunderts geltenden Idealvorstellungen mechanisch erzeugter Bilderanschlußfähig zu halten.40

40 Vgl. zur Theorie und Geschichte mechanisch hergestellter Bilder im 19. Jahrhun-dert Lorraine Daston/Peter Galison, »Das Bild der Objektivität«, in: Peter Geimer(Hg.), Ordnungen der Sichtbarkeit. Fotografie in Wissenschaft, Kunst und Technolo-gie, Frankfurt am Main 2002, S. 29-99.

Der Dreh im offenen Feld war im Unterschied zur isoliertenLaborsituation unvorhersehbar und erforderte eine ortsunabhängigeund bewegliche Aufnahmetechnik. Mit der wackeligen Hand-Kina-mo und dem beweglichen Teleobjektiv führte Lewin den subjektivenErmessensspielraum in die Gegenstandswelt der wissenschaftlichenKinematographie ein. Mit seinen nahen Einstellungen, die das Indi-viduum in das Bildzentrum rückten, konstruierte er ein Motiv, dasdurch seine subjektive Kameraführung einen Objektstatus erhielt.Eine neuartige filmische Strategie der Authentifizierung und Natura-lisierung der außerfilmischen Wirklichkeit verlieh dem ›neutralen‹Forschungsfilm ein ›lebensnahes‹ Image. Entgegen der ›interesselo-sen‹ Kameraeinstellung der Totalen, die in der wissenschaftlichenKinematographie das Objektivitätspostulat verkörperte, wechselteLewin mit seiner Amateurfilmkamera permanent die Einstellungs-größen. Sprunghafte Kamerabewegungen, Jump Cuts, abrupt wech-selnde Kamerapositionen, Unschärfen oder Schlagschatten aus demszenischen Off simulierten weniger das Abbild des Lebens vor derKamera, als vielmehr die Wahrnehmungsarbeit des beobachten-den Blicks hinter der Kamera. In diesem Zusammenhang lenkte dieÄsthetik der nahen Einstellungen die beobachtende Aufmerksam-keit auf den konkreten Gegenstandsbezug, den Handlungsvollzugund korrelierte mit der individualpsychologischen Aufwertung desGesichts als Medium der Ausdrucksbewegung.

Die von Lewin in seinem Tempelhofer Hinterhof, bei Landpar-tien und in der Sommerfrische am Meeresstrand durchgeführten›Lebensexperimente‹ fokussierten das Leben nicht als einen ontolo-gisch gegebenen Gegenstand der Wissenschaften, sondern als eineinterpretierbare Variable, die durch ein Gefüge aus Medien, Diskur-sen und Praktiken generiert werden konnte. Die Topoi der experi-mentellen Aufnahmen deckten sich mit den Motiven der hobbymä-ßigen Amateuraufnahmen, bei denen Zuschauer/innen und Dar-steller/innen identisch waren: Freizeit, Familienfeier, Ferien. In ihrerUntersuchung zu den sozialen Gebrauchsweisen der Fotografie ka-

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men Pierre Bourdieu und seine Mitarbeiter/innen zum Ergebnis,daß in der Privatsphäre fotografiert wurde, »um die großen Augen-blicke des Familiendaseins zu feiern und zu überliefern«, wobei daserstellte Bild vor allem »der Verstärkung der Integration« diente.41

41 Pierre Bourdieu/Luc Boltanski/Robert Castel u.a., Eine illegitime Kunst. Die sozia-len Gebrauchsweisen der Photographie, Frankfurt am Main 1983, S. 31.

Übertragen auf die spätere Migrationslinie »Familienfilm – Lehr-film« muß daher eingeräumt werden, daß entwicklungspsychologi-sche Filmklassiker wie die Lewin-Filme maßgeblich an der sozialenKonvention und der Erinnerungskultur des Amateurfilms partizi-pierten. In der Versuchungsanordnung des Privaten kam es zu einerÜberlagerung der Funktionsweisen des Amateurfilms: So fungiertedie Filmaufzeichnung auch als voyeuristisches Instrument in denHänden des Familienvaters und wurde oft erst nachträglich als eine»materialisierte Theorie«42

42 Gaston Bachelard, Der neue wissenschaftliche Geist, Frankfurt am Main 1988, S. 18.

reinszeniert. Seine Filme oszillierten zwi-schen den technischen Möglichkeiten der damaligen Amateurkine-matographie, der Wahrheitsproduktion sozialer Erinnerung, filmi-schen Inszenierungstechniken, wissenschaftlichen Interpretationenund didaktischen Prozeduren bei der späteren Bearbeitung des Ma-terials (Montage, Zwischentitel, Präsentation, Publikation). Wennsich die Aufnahmen als wissenschaftlich irrelevant herausstellten,wanderten sie in das Familienarchiv des väterlichen Archivars. Spei-cherte der Filmstreifen hingegen wissenschaftlich wertvolle Hand-lungen und Affekte, dann wurde er als Material verwertet und inweiterer Folge in der Lehre und auf Konferenzen einem Fachpubli-kum vorgeführt.

3. Im Modus der Diskursivierung

Die von Lewin und seiner Forschergruppe durchgeführte Diskur-sivierung der Filmaufnahmen rekurrierte auf unterschiedliche Wis-senstechniken. Das diskursive Register setzte sich aus verbalsprach-lichen Kommentaren, textuellen Skripts und bildmedialen Forma-ten zusammen. Alle Modi der Diskursivierung zielten darauf ab, dieVersuche zur kindlichen Entwicklungspsychologie aus ihrem prakti-schen Vollzug zu lösen und die Regelhaftigkeiten und Gesetzmäßig-keiten des kindlichen Verhaltens kohärent und evident darzustellen.

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Die Beglaubigung, Evidenzstiftung und Objektivierung der be-wegten Bilder als Forschungs- und Bildungsgegenstand konnte ent-weder durch den Kinoerzähler verbalsprachlich oder durch den Zwi-schentitel schriftsprachlich vollzogen werden. Lewin benutzte seineFilmaufnahmen als Bestandteil seiner entwicklungspsychologischenReferate im Lehrbetrieb seiner Vorlesungen, bei öffentlichen Vorträ-gen und wissenschaftlichen Konferenzen.43

43 Helmut Lück verweist auf ein Vortragsmanuskript aus dem Jahr 1933, das 1987 ver-öffentlicht wurde. Vgl. Helmut E. Lück, Kurt Lewin. Eine Einführung in sein Werk,Weinheim 1996, S. 88; Kurt Lewin, »Die Dynamik des kindlichen Konflikts«, in:Gruppendynamik 18 (1987), S. 441-450.

Auf dem neunten Inter-nationalen Kongreß für Psychologie, der 1929 an der Yale Universityabgehalten wurde, führte Lewin u.a. den Film Hanna und der Steinvor, der heute zum Kanon des wissenschaftlichen Films zählt. Mitseinen zahlreichen Film Lectures im Rahmen von Vorträgen undKonferenzen steigerte Lewin den Bekanntheitsgrad seiner Feldtheo-rie in den USA. In diesem Netz sozialer Beziehungen gegenseitigenKennens und Anerkennens fungierte das Filmkonvolut als sozialesKapital.44

44 Vgl. zum soziologischen Begriff »soziales Kapital«: Pierre Bourdieu, »Ökonomi-sches Kapital – Kulturelles Kapital – Soziales Kapital«, in: ders., Die verborgenenMechanismen der Macht, Hamburg 1992, S. 9-80.

Die von Lewin getätigte Einführung dieses neuen Medi-ums in die Praxis der Psychologie eröffnete ihm Zugänge zu denRessourcen des akademischen und gesellschaftlichen Lebens. Filmals soziales Kapital produzierte und reproduzierte Tauschbeziehun-gen und Kooperationen: »Der sowjetische Psychologe AlexanderLuria war von Lewins Filmen so angetan, daß er ihn mit dem Re-gisseur Sergej Eisenstein zusammenbrachte und selber den Plan faß-te, in Moskau ein psychologisches Laboratorium zu gründen, daseng mit der dortigen Staatlichen Filmakademie zusammenarbeitenwürde«.45

45 Carl-Friedrich Graumann, »Zur Kurt Lewin-Werkausgabe«, in: Kurt-Lewin-Werk-ausgabe, hg. von Carl-Friedrich Graumann, Bd. 1, Bern, Stuttgart 1981, S.7-18, hierS.9.

Bei den Vorführungen seiner Filme schlüpfte Lewin in der Rolledes Kinoerzählers, dessen Aufgabe in der Ära des Stummfilms darinbestand, den Zuschauerinnen und Zuschauern die Handlung desFilms näherzubringen. Da Lewin seine Kurzfilme ohne Schrifttafelnvorführte, kommentierte er einzelne Filmszenen während und nachder Vorstellung verbalsprachlich und konnotierte sie mit dokumen-

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tarisierenden Lektüreanweisungen, um das Publikum didaktisch andie wissenschaftliche Wahrnehmungspraxis heranzuführen. Mit derVermittlungsinstanz des Kinoerzählers wurde die Filmvorführungalso insgesamt um einen theatralischen Modus erweitert.

In seinem 1927 veröffentlichten Aufsatz »Filmaufnahmen überTrieb- und Affektäußerungen psychopathischer Kinder« definierteLewin den Film als ein privilegiertes Medium wissenschaftlicherDemonstration:

Die Möglichkeit des Filmstreifens, einen Geschehensablauf festzuhalten,macht ihn zu einem verlockenden Hilfsmittel für die wissenschaftliche Er-forschung und Demonstration auf allen Gebieten, wo charakteristische Ei-gentümlichkeiten nicht im einzelnen, momentanen Zustand, sondern erstim Ganzen des Geschehensablaufs zutage treten. Ermöglicht der Film doch,den flüchtigen, manchmal überraschenden Ablauf des Geschehens einerwiederholten, ruhigen Betrachtung zu unterziehen, eventl. im verlangsam-ten Tempo, und so Einzelheiten oder neue Seiten des Geschehens zu erfor-schen, die der einmaligen Betrachtung, die unmöglich zugleich genügenduniversell und speziell eingestellt sein kann, entgehen müssen.46

46 Lewin, »Filmaufnahmen« (wie Anm. 14), S. 415.

Im Unterschied zum Rezeptionsmodus des Laienpublikums solltendie ihren Kontext wechselnden bewegten Bilder des Alltäglichenund Gewöhnlichen von einem Fachpublikum nicht mehr betrachtet,sondern als Dokument eines wissenschaftlichen Ereignisses gelesenwerden.

Der veränderte epistemische Status der Aufnahmen verlangte eineModifikation der gängigen Vorführpraxis bewegter Bilder.47

47 Lewin, »Die Dynamik des kindlichen Konfliktes« (wie Anm.43), S. 441-450.

So wur-de der Film an bestimmten Stellen angehalten oder gegebenenfallsmehrmals hintereinander aufgeführt. An die Stelle der imaginärenAnschlußfähigkeit des Laienpublikums im Prozeß des Betrachtensgalt es, eine Disziplin des Verstehens zu rücken, die den fachwissen-schaftlichen Wissensapparaten, akademischen Schulen und Institu-tionen zugehörig sein sollte.48

48 Lewin, Die Entwicklung der experimentellen Willenspsychologie (wie Anm.6), S. 18 f.

Schließlich stand die »Möglichkeiteiner pädagogischen Beeinflussung des Kindes«49

49 Kurt Lewin, »Kindlicher Ausdruck«, in: Kurt Lewin, Werkausgabe, hg. Von Carl-Friedrich Graumann, Bd. 6, Bern, Stuttgart 1982, S. 77-99, hier S. 77.

im Zentrum sei-ner Konzeption einer Psychologie der Entwicklung und Erziehung:»Der Psychotherapeut will ja das Seelenleben eines bestimmten Men-

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schen nicht nur erkennen, sondern auch beeinflussen.«50

50 Lewin, Die Entwicklung der experimentellen Willenspsychologie (wie Anm.6), S.25.

Dement-sprechend motivierte Lewin das Publikum, in der Filmlektüre An-leitungen zur Verhaltenssteuerung von Kindern zu entdecken. ImUnterschied zum Laienpublikum, das die Amateuraufnahme als Bildin seiner Gesamtheit betrachtete, wurde das Fachpublikum vomKommentar des Kinoerzählers aufgefordert, die Ablösung des Bildesvon seinem alltäglichen Status als Bildobjekt zu vollziehen und denablaufenden Film entlang bestimmten Regeln zu lesen, um seine»referentielle Genauigkeit«51

51 Umberto Eco, Einführung in die Semiotik, München 1972, S. 213.

sicherzustellen. Die Kommentarfunk-tion zielte im wesentlichen darauf ab, den Forschungsfilm als einabgeschlossenes Werk zur Beweisführung wissenschaftlicher Aussagengeltend zu machen.

1926 präsentierte Lewin erstmals systematische Aspekte der Aus-wertung seiner Amateuraufnahmen in seinem Aufsatz »Filmaufnah-men über Trieb- und Affektäußerungen psychopathischer Kinder«.52

52 Lewin, »Filmaufnahmen« (wie Anm. 14).

Diese Publikation beschränkte sich auf die Deskription der Be-wegtbilder. In den Folgejahren nahm er in mehreren entwicklungs-psychologischen Veröffentlichungen auf die von ihm hergestelltenFilmaufnahmen Bezug und stellte ihre Auswertung und Kontextua-lisierung in das Zentrum seiner wissenschaftlichen Objektivierungs-strategie. Mit der zur Plausibilisierung und Evidenzsicherung derFilmstills eingesetzten Skripts verlagerte Lewin den Erkenntnismo-ment der Kinematographie von der Wahrnehmungspraxis der Kino-aufführung vor Publikum in das Druckmedium der Zeitschrift. Inden Prozeduren seiner wissenschaftlichen Verwertung wurde derFilmstreifen als Material und Werkzeug verwendet. Einzelne Bilderwurden einer Bewegungssequenz entnommen, um sie in bestimm-ten Kontexten der Wissenschaftsinszenierung als ›Abbildung‹, ›Bei-spiel‹, ›Anschauung‹ oder ›Argument‹ zu verwenden.

In seinem »Bild- und Textbeitrag« mit dem Titel »Kindliche Aus-drucksbewegungen« für die vierte Ausgabe der 1927 veröffentlichtenPsychologie der frühen Kindheit von William Stern ließ Lewin erst-mals Standbilder seiner eigenen Filmaufnahmen abdrucken.53

53 Der Aufsatz »Kindlicher Ausdruck« erschien erstmals 1927 in der Zeitschrift fürpädagogische Psychologie, experimentelle Pädagogik und jugendkulturelle Forschung

Aufvier Bildtafeln erstellte er exemplarische Serien aus seinen Filmauf-

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28, S. 510-526 (wiederabgedruckt in: Kurt Lewin, Werkausgabe [wie Anm. 49]).Der die Filmstandbilder erörternde Mittelteil erschien als »Anhang – KindlicheAusdrucksbewegungen«, in: William Stern, Psychologie der frühen Kindheit, Leip-zig, 4. Aufl. 1927, S. 503-511. Eine Fassung referierte Lewin 1927 unter dem gleich-namigen Titel auf dem zehnten Kongress für experimentelle Psychologie in Bonn.

Abb. 4: Kurt Lewin, »Kindliche Ausdrucksbewegungen«, Anhang zu:William Stern, Psychologie der frühen Kindheit, Leipzig 1927.

nahmen, die er in einzelnen Fallbeschreibungen narrativ verdichtete(Abb.4).

An die Stelle der Bewegungsbilder der Kinosituation rückten dieAufsätze jeweils einen Appendix von Tableaus ausgewählter »Film-standbilder«. Ihr Abdruck kann als eine Praktik der Sichtbarma-chung im Sinne der Evidenzerzeugung verstanden werden. Die Her-stellung eines methodologischen Supplements der Standbilder bliebder diskursiven Kontextualisierung überantwortet: Mit der literari-schen Charakteristik der Filmszenen galt es, von der »klassifikatori-schen Begriffsbildung überzugehen zu dem Versuch, den konkretenAusdruck als Auswirkung einer speziellen Situation zu verstehen, in derer zustande kommt«.54

54 Lewin, »Kindlicher Ausdruck« (wie Anm. 49), S. 81.

Die Abhandlungen »Kindlicher Ausdruck« von1927 und »Die Entwicklung der experimentellen Willenspsycho-logie und die Psychotherapie« von 1929 kodierten die Standbilderin einer chronologischen Gliederung. In der Protokollsprache der»Bildbeschreibungen« bildeten sie die Anschauungsgrundlage indi-vidueller Fälle:

Hanna am Strande. Die Mutter ist Baden gegangen. Als auch das Kin-derfräulein sich etwas entfernt, fängt Hanna, ganz verlassen, zu heulen an:Das richtige, inbrünstige Kinderheulen. (Unglückliche, etwas zusammen-geknickte Haltung) Die Haltung wird fast ohne jede Veränderung eine be-

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Abb. 5: Kurt Lewin, »Kindliche Ausdrucksbewegungen«,Anhang zu: William Stern, Psychologie der frühen Kindheit,

Leipzig 1927.

trächtliche Zeit hindurch (über 4 Sek.) beibehalten, nicht einmal der Mundwird zugemacht.55

55 Ebd., S.85.

Vom Einzelbild der weinenden Hanna (Abb. 5) leitete Lewin kausaleHandlungsfolgen ab. Ausdruckselemente verwiesen für ihn auf ei-nen lokalen Zustand, der die gesamte Dramaturgie der Fallgeschich-te in ihrer Temporalität und Historizität repräsentieren könne. Indiesem Zusammenhang wurden die Bildtitel mit den Namen derVersuchspersonen individualisiert: Hanna, Bummi, Fritz, Wawi,Marianne, Agnes, Hans-Heinz. Alltagssprachliche Rhetorik undsubjektiver Wahrnehmungsstil sorgten für den narrativen Hand-lungsbogen und den thematischen Zusammenhalt der jeweiligenFallgeschichten: »Ernstes Arbeitsgesicht bei der schwierigen Aufgabe.Die Gesichter sehen vor arbeitsamer Anstrengung fast etwas böseaus. Der Mund ist geschlossen; leicht vorgestülpte Arbeitsschnu-te«.56

56 Ebd., S. 91.

Mit der Kommentarfunktion der Bildbeschreibungen erhieltdas Experiment jeweils einen klar strukturierten Anfang und einEnde; sie verknüpften kausallogisch einen linearen Ablauf und rück-

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ten die dramaturgischen Höhepunkte und Schlüsselszenen von Si-tuationen und sozialen Beziehungen in den Vordergrund: »Im Film-beispiel sagt z.B. der Dreijährige schon nach wenigen Wiederholun-gen, ›er wolle Mittagessen gehen‹.«57

57 Lewin, Die Entwicklung der experimentellen Willenspsychologie (wie Anm. 6), S. 19.

Den einzelnen Handlungenwurde eine erzählerische Funktion innerhalb einer logisch stringen-ten Handlungsfolge, einer »Sequenz«, zugewiesen. Eine »Sequenz«bezeichnet nach Roland Barthes einen begrifflich genau eingegrenz-ten, erzählerisch dargebotenen Geschehensablauf.58

58 Vgl. das Kapitel »Einführung in die strukturale Analyse von Erzählungen« beiRoland Barthes, Das semiologische Abenteuer, Frankfurt am Main 1988, S. 102-143.

Aus dieser nar-rativen »Sequenz« werden Ereignisse als erwartungswidrige Gesche-henselemente einer Geschichte ausgeschlossen. In diesem Sinneverfährt Lewin, wenn er in seinen analytischen Kodierungen undnarrativen Synthesen das Phänomen der Zeitlichkeit vor allem unterdem Aspekt textuell zerlegbarer Bewegung abhandelt.59

59 Zum Narrativ »Zeit« und »Bewegung« seit Aristoteles vgl. Paul Ricœur, Zeit undErzählung. Die erzählte Zeit, Bd. 3, München 1989, S. 13.

In seiner 1936 in den USA veröffentlichen Schrift Principles of To-pological Psychology änderte Lewin seine Visualisierungsstrategie undverzichtete auf den Abdruck von Filmstandbildern. An ihre Stellerückten topologische Zeichnungen zur analytischen ›Vorführung‹des filmischen Materials:

Wir möchten ein Beispiel aus unserem Filmmaterial vorführen. Ein zweijäh-riges Kind K, das noch Mühe hat, ohne Hilfe die Treppen herauf- oder her-unterzugehen, möchte seinen Ball auf einem Treppenabsatz ablegen. Umdies tun zu können, muß es drei Stufen hinaufgehen. Topologisch könntenwir das Anfangsstadium wie folgt darstellen (Abb. 6). Zwischen dem Ziel Zund dem Kind K befindet sich eine Barriere, die aus folgenden Zonen be-steht: die erste Stufe erklettern (c1), die zweite Stufe (c2), die dritte Stufe (c3)erklettern und schließlich über die Kante des Treppenabsatzes hinweggehen,die noch eine Gefahrenzone (gz) darstellt, weil von ihr der Ball zurückrollenkann.60

60 Kurt Lewin, Grundzüge der topologischen Psychologie, Bern, Wien 1969, S. 130.

Den topologisch schematisierten Raum beschrieb Lewin als Inbe-griff aller gesetzmäßigen Möglichkeiten entwicklungspsychologi-scher Dynamik: »Die Aufgabe der dynamischen Psychologie ist es,psychologische Gesetze zu erforschen und die Situationen so darzu-stellen, dass sich die wirklichen Geschehnisse aus ihr begrifflich ein-

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Abb. 6: Kurt Lewin, Principles of Topological Psychology,New York, London 1936.

deutig ableiten lassen.«61

61 Ebd., S. 98.

Vor diesem Hintergrund wurde der filmi-schen Methode und dem Film als Material der Stellenwert einerSituationsdarstellung ohne logische Konsequenz zugewiesen. Aus derSichtweise der seit Mitte der 1930er Jahre favorisierten topologi-schen Erkenntnismethode erwiesen sich die Studienfilme als nichtmehr geeignet, um den theoretischen Gehalt der dynamischen Ge-setze psychologischer Entwicklung zu kommunizieren. Dement-sprechend wurde der Abdruck der Filmstandbilder unterdrückt undder Verweis auf das filmische Quellenmaterial auf Randbemerkun-gen reduziert. Für den Topologen firmierte das filmische Materialnur noch als ein der ›eigentlichen‹ Erkenntnisgewinnung unterge-ordneter Ausgangspunkt der mathematischen Darstellungsmittel:»Eine richtige Darstellung dessen, was ›ist‹, ist zugleich eine ›Erklä-rung‹ dessen, was geschieht.«62

62 Ebd., S.99.

Der Medienwechsel von der evidenzschaffenden Realfilmaufnah-me (Forschungsfilm) über die Semiopragmatik der Filmvorführung(Lehrfilm, Kommentarfunktion des Kinoerzählers) bis zur abstrak-ten Symbolisierung (mathematische Darstellung, graphische Ver-anschaulichung, Symbol, Vektorbegriff, Formel) implizierte eineneue Hierarchie der Wissenstechniken: der systemische Blick derTopologie sollte endgültig der filmischen Repräsentation des kind-lichen Körpers übergeordnet werden. Die Annahme, die Überset-zung filmischer Materialien in eine graphische Visualisierung müssezwangsläufig als eine Manifestation des wissenschaftlichen Abstrak-tionsprozesses verstanden werden, blendete allerdings den Kontextwissenschaftlicher Vermittlungsstrategien aus. Das topologischeModell verkörperte nicht nur eine ›grundlegende‹ Funktion des ent-wicklungspsychologischen Wissens, sondern partizipierte gleicher-maßen an der Rezeptionskultur des didaktischen Lektüremodus

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und der pädagogischen Gesamtanordnung des Lehrbuchwissens.Im Unterschied zum filmischen Standbild und seinem illustrativenCharakter suggerierte der topologische Schematismus eine Zugehö-rigkeit zum synoptischen Wissen, das alle Einzelfälle in einem einzi-gen Schaubild zusammenfassen sollte. Die topologische Zeichnungenthielt jedoch auch ein artistisches Potential, das auf rezeptionsäs-thetische Wirkungen abzielte. So blieb das topologische Bild undseine Beweisführung in der topologischen ›Definition‹ immer auchüberlagert von den rhetorischen Inszenierungen visueller Blickfüh-rung.

Nach seiner Emigration 1933 wurde Lewin zu einem der wichtig-sten Exponenten der sozialpsychologischen Schule in den USA.63

63 Gordon W. Allport, »The Genius of Kurt Lewin«, in: ders. (Hg.), The Person inPsychology. Selected Essays, Boston 1968, S. 360-370.

Mit den Sozialwissenschaften etablierte sich in den USA die Idee dertechnischen Steuerbarkeit der Gesellschaft, und in weiten Teilen derÖffentlichkeit und gebildeten Mittelschichten bewunderte man dasIdeal der Rationalisierung der Gesellschaftsordnung.64

64 Mitchell G. Ash, »Kurt Lewin in Iowa«, in: Wilhelm Schönpflug (Hg.), KurtLewin – Person, Werk, Umfeld, Frankfurt am Main 1992, S. 193-209, hier S. 197.

Die in denUS-amerikanischen Sozialwissenschaften dominierende Grundan-nahme, daß soziale Konflikte auf zwischenmenschliche Probleme zu-rückgeführt werden konnten, evozierte einen gruppendynamischenForschungsboom. Vor dem Hintergrund der politischen und geo-strategischen Bedrohung durch das nationalsozialistische Regimebewerteten Vertreter der Scientific Community die gruppenpsycho-logischen Versuchsanordnungen als Ausdruck des politischen Enga-gements, und gruppenpsychologische Diskurse verankerten sich alsExpertenwissen in regierungsnahen Institutionen. Mit dem Begriffder Gruppendynamik übertrug Lewin sein feldtheoretisches Kon-zept des individuellen Lebensraums einer Person auf das Kollektiv.Mit dieser Transformation ist die Beschreibungseinheit nicht mehrdas Einzelindividuum, sondern die Gruppe als Funktionseinheit.Aus dem individualpsychologischen Begriff des Lebensraums ent-wickelte Lewin schließlich den sozialpsychologischen Begriff des»sozialen Raums«.65

65 Kurt Lewin, Resolving Social Conflicts. Selected Papers on Group Dynamics, hg. v.Gertrud Weiss Lewin, New York 1948, S. 13 f.

Die experimentellen Studien zum Führungsstilverhalten in Grup-

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pen führten Lewin und seine Studenten Ron Lipitt und RobertWhite an der University of Iowa durch,66

66 Kurt Lewin/Ron Lippitt/Robert K. White, »Patterns of Aggressive Behavior inExperimentally Created ›Social Climates‹«, in: The Journal of Social Psychology 10(1939), S.271-299.

die der mit Zwischentitelnversehene Lehrfilm Experimental Studies in the Social Climates ofGroups (USA 1940) zusammenfaßte. Hinter den Vorhängen befan-den sich Lewin, Lipitt und White und beobachteten die Rollen-spiele der Führungsstile. In diversen Versuchsanordnungen teste-ten die Sozialpsychologen die Möglichkeiten zur durchgreifendenSteuerung von Personen und deren Verhalten. Die Forschergrup-pe kategorisierte einen demokratischen, autokratischen und Laissez-faire-Führungsstil und untersuchte ihre Auswirkungen auf das »so-ziale Klima« der am Experiment beteiligten elfjährigen Jungen. DerAnspruch, im Experiment eine gezielte und manipulative Verände-rung des Gruppenverhaltens hervorzurufen, führte zum Ausschluß›störender‹ Einflüsse und zur hermetischen Einschließung der Ver-suchspersonen und ihres Handlungsraums in einem künstlich ge-schaffenen sozialen Labor (Abb.7).

Für die an den Experimental Studies in the Social Climates ofGroups beteiligten Forscher stand außer Frage, daß die Sozialpsycho-logie eine säkulare Mission in der Gesellschaft zu erfüllen habe undes ermöglichen sollte, die Folgen menschlichen Verhaltens voraus-zusagen wie auch seine Ziele sozialtechnologisch zu regulieren. Dievon Lewin angeregte gruppendynamische Forschung führte in den1940er und 1950er Jahren zu einer Blütezeit der Gruppenforschung.Seine Untersuchungen zu den »Führungsstilen in Gruppen«67

67 Kurt Lewin, »Field Theory and Experiment in Social Psychology«, in: AmericanJournal of Sociology 44 (1939), S. 868-897.

fan-den innerhalb der Lewin-Gruppe Fortsetzungen in den Studien zu»Kooperation und Wettbewerb in Gruppen«,68

68 Morton Deutsch, »An Experimental Study of Effect of Cooperation and Compe-tition Upon Group Process«, in: Human Relations 2 (1949), S. 199-231.

zu den »Abweichun-gen vom Gruppenstandard«69

69 Stanley Schachter, »Deviation, Rejection, and Communication«, in: Journal ofAbnormal Social Psychology 46 (1950), S. 190-207.

und zur »Sozialen Kommunikation inGruppen«.70

70 Leon Festinger, »Informal Social Communication«, in: Psychological Review 57(1950), S. 271-282; Leon Festinger/Stanley Schachter/Kurt W. Back, Social Pres-sures in Informal Groups: A Study of Human Factors in Housing, New York 1950.

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4. Zusammenfassung

Im Kontext seiner Medialisierung wurde in der Geschichte des psy-chologischen Feldversuchs kontinuierlich wissenschaftliches Wis-sen von einem Medium in andere Medien übertragen. Der Film alsInstrument von Evidenzerzeugung durchlief unterschiedliche Ge-brauchskontexte kultureller Techniken. Als Aufzeichnungsmediumsollte die Filmkamera im experimentellen Kontext ›Wirklichkeitsab-bilder‹›herstellen und damit das Ideal wissenschaftlicher Objektivi-tät absichern. Als Transformationsmedium sollte die mit Teleobjektivausgerüstete Kamera die verdeckte Einstellung unterstützen und dieSichtbarkeit der mimischen und gestischen Ausdrucksbewegungensteigern. Mit dem Reproduktions- und Distributionsmedium Filmformierte sich eine neue visuelle Kultur von Studium, Demonstra-tion und Wissenspopularisierung. Im wissenschaftsgeschichtlichenGebrauchskontext fungierten die Filmstreifen als Speichermediumpsychologischer Ausdrucksbewegungen und wurden den Archivenwissenschaftlichen Wissens eingegliedert. Die visuelle Kultur derFilmaufnahmen setzte sich folglich aus einer Vielzahl sozialer undkultureller Praktiken des Evidentmachens zusammen.

Kurt Lewin und seine Studierenden waren Akteure einer umfas-senden Transformation von Medien, Kulturtechniken, Praktiken undDiskursivierungen: vom Bewegtbild zum verbalsprachlichen Kom-mentar; vom Standbild zu numerischen Aufzählungen; von durchSchauspieler verkörperten Spielfilmszenen zum topologischen Dia-gramm; von der mathematischen Formel zu narrativen Vereinfa-chungen und tricktechnischen Anekdoten. Mit diesem Prozedereveränderte sich permanent der epistemische Status von Wissen. Dieentwicklungspsychologischen Versuchsanordnungen beinhalteteneine Vielzahl intermedialer und interdiskursiver Ausdrucks- undNutzungformen, die das Subjekt der Versuchsperson um Adressie-rungsfunktionen und Rezeptionskontexte erweiterten und sowohldidaktische (Konferenzen, Lehrfilm) als auch popularisierende (öf-fentliche Vorträge, abendfüllende Dokumentarfilme) Medienfor-mate integrierten. Diese Prozeduren intermedialer Übersetzungeninitiierten weitere Normalisierungseffekte und erstellten ein dichtessemantisches Netz wissenschaftlicher Narrative, Graphiken, Tabel-len, Paratexte, Axiome und Zeichnungen. Die filmischen Aufzeich-nungen, die topologischen Diagramme, die literarischen Medialisie-

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rungen, die Protokollsätze in den Bildbeschreibungen und die Kom-mentare, Analysen und Modellbildungen generierten eine sich hy-bridisierende Episteme, in der sich Kunst, Kultur und Wissenschaft,filmische, technische, bildnerische und literarische Medien wechsel-seitig bedingten und stets aufeinander verwiesen. Dabei folgte dieepistemische Plausibilisierung der psychologischen Beobachtungstets einem konditionalen Prinzip: Um die filmischen und bildne-rischen Visualisierungen zu verstehen, wurden kausal-narrative, ex-plikativ-belehrende und wissenschaftlich-legitimierende Aussagenals erklärende und interpretierende Modi der experimentellen Wis-senschaft miteinander verflochten.

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Stefan Rieger›Bipersonalität‹

Menschenversuche an den Rändern des Sozialen

»Wir müssen sofort feststellen, daß die Definitionjedes besonderen Systems beliebig ist. Es ist durch-aus berechtigt, eine Schere als System zu bezeich-nen. Doch auch das größere System einer Frau, diemit dieser Schere arbeitet, ist ein echtes System«.1

1 Stafford Beer, Kybernetik und Management, Frankfurt am Main 1962, S. 24.

»Man hätte demnach organismusähnliche Gebildezu unterscheiden, deren Teile nur funktionell-ephe-mer vereinigt sind, und Organismen, die eine sta-tisch-permanente Verknüpfung mit Hilfe des Bin-degewebes und der das Ganze umschließendenperipheren Haut, d.h. des Felles oder des Gefieders,aufweisen.«2

2 Rudolf Bilz, Vorwort zu Jakob von Uexküll, Theoretische Biologie, Frankfurt amMain 1973, S. IX.

»Daß es sich für uns selbst nicht darum handelt,eine bloße Meinung zu äußern oder einen ›Stand-punkt‹ einzunehmen, den man teilen oder ablehnenkönnte, dessen mußten wir uns wie jeder andereNaturforscher durch das Experiment versichern.Ein Experiment hat nicht nur die Bedeutung, daßjeder andere es wiederholen kann. Es muß auch soangelegt sein, daß die Natur antworten kann, wiesie will, mindestens mit Ja oder Nein.«3

3 Viktor von Weizsäcker, Der Gestaltkreis. Theorie der Einheit von Wahrnehmen undBewegen, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 4, Frankfurt am Main 1997, Vorredezur 4. Auflage, S. 89.

1.

»Ein neues Blatt der Forschung ist aufgeschlagen« – nicht wenigerreklamiert der Gestaltkreistheoretiker Viktor von Weizsäcker imJahre 1948 für eine bestimmte Forschungsrichtung, die unter seinerÄgide in den 1940er Jahren an der Heidelberger Universitätsnerven-

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klinik durchgeführt wurde. Ort dieser emphatischen Einschätzungist die Vorrede zur vierten Auflage seines Hauptwerks Der Gestalt-kreis. Theorie der Einheit von Wahrnehmen und Bewegen von 1940.Auf diesem neuen Blatt werden Veränderungen im Menschenver-such sichtbar, deren Gemeinsamkeit in einem scheinbaren Paradoxliegt – in dem, was mit ›Wiedereinführung des Subjekts‹ bezeichnetwird. Diese Formel schürt in hohem Maße ein Mißverständnis, weilsie den Eindruck nahelegt, wieder hinter einen bestimmten Standbereits erfolgter wissenschaftlicher Ausdifferenzierung zurückzufal-len, also eine Position einzunehmen, die im Kampf der beiden (Wis-senschafts-)Kulturen der Medizin und der Physiologie so nicht zu-kommt.4

4 Zu den Konsequenzen für die Begriffsbildung vgl. Stafford Beer/Albrecht Bethe/Jakob von Uexküll, »Vorschläge zu einer objektivierenden Nomenklatur« sowieFriedrich Brock/Jakob von Uexküll, »Vorschläge zu einer subjektbezogenen No-menklatur in der Biologie«, in: Jakob von Uexküll, Kompositionslehre der Natur. Bio-logie als undogmatische Wissenschaft. Ausgewählte Schriften, hg. und eingeleitet vonThure von Uexküll, Frankfurt am Main u.a. 1980, S. 92-100, S. 129-142.

Dieses Mißverständnis hat Methode, ist es doch selbsteiner bestimmten Forschungsrichtung geschuldet, zu der die Wie-dereinführung des Subjekts einen alternativen Zugang darstellt undexplizit darstellen will.5

5 Zu dieser Wiedereinführung des Subjekts, zu den Konsequenzen für die Nomen-klatur und zu entsprechenden Vorgaben durch Jakob von Uexküll vgl. Viktor vonWeizsäcker, »Zum Begriffswandel der Biologie«, in: ders., Gesammelte Schriften,Bd. 4, Frankfurt am Main 1997, S. 63-70.

Vor diesem Hintergrund sind bestimmteNeuausrichtungen von Neurologen und Ärzten aus einem entspre-chenden Umfeld nicht zufällig, sondern nachgerade symptomatisch.Was sich dabei aufdrängt, ist die Vorstellung einer Kehre, wie sieMartin Heidegger für seine Philosophie in Anspruch genommenhat.6

6 Von einem der Beteiligten, Herbert Plügge, heißt es ausdrücklich: »Bis 1945 wissen-schaftliche Publikationen im Rahmen der konventionellen Neurologie und innerenMedizin. Seitdem fast ausschließlich im phänomenologischen Grenzbereich desInternismus« (Frederik J. J. Buytendijk/Paul Christian/Herbert Plügge, Über diemenschliche Bewegung als Einheit von Natur und Geist, Schorndorf bei Stuttgart 1963[Beiträge zur Lehre und Forschung der Leibeserziehung; Bd. 14], S. 80).

Von Weizsäckers selbstbewußter Einschätzung vom neu aufge-schlagenen Blatt der Forschung kann daher eine Auflistung vonArbeiten vorangehen, die seinem Optimismus ihrerseits biobiblio-graphisch Gestalt verleihen.7

7 Dazu Stefan Rieger, »Formen des Lebens. Messungen am Inkommensurablen«, in:

Vor allem im Anschluß an den zuletztvon ihm genannten Beitrag wird ein fundamentales Mißverständnis

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Caroline Welsh/Stefan Willer (Hg.), Beiträge von Philologie und Kulturwissenschaftzur Wissensgeschichte, München 2007 (im Druck).

bestimmter Menschenwissenschaften und ihre Überwindung in vonWeizsäckers Gestaltkreislehre manifest.

Weitere unserer Arbeiten sind folgende:A. DERWORT (1943), Über die Formen unserer Bewegungen gegen ver-

schiedenartige Widerstände und ihre Bedeutung für die Wahrnehmung vonKräften.

P. CHRISTIAN und R. PAX (1943), Wahrnehmung und Gestaltung vonSchwingungsvorgängen.

P. CHRISTIAN (1948b), Die Willkürbewegung im Umgang mit beweg-lichen Mechanismen.

A. DERWORT (1948), Zur Psychophysik der handwerklichen Bewegun-gen bei Gesunden und Hirngeschädigten.

P. CHRISTIAN (1948c), Vom Wertbewußtsein im Tun. Ein Beitrag zurPsychophysik der Willkürbewegung. In der letztgenannten Abhandlung istdas, was man als das statische Mißverständnis des Gestaltkreises bezeich-nen kann, vollständig überwunden. Denn hier wird die Beziehungsfähigkeitder Sphäre der Werte mit der Sphäre der Mechanik am Beispiel der Willkür-bewegung gezeigt und beschrieben. Damit scheidet die Relation von Psycheund Physis als eine zwischen zwei Substanzen aus der Beschreibung derWirklichkeit völlig aus. Es ist derselbe Schritt, der mit der Hinwendung zuden pathischen Kategorie begonnen war. Ein neues Blatt der Forschung istaufgeschlagen.8

8 Von Weizsäcker, Der Gestaltkreis (wie Anm. 3), S. 89 f.

2.

Neu an diesem Blatt ist vor allem eines: Die alleinige Perspektive aufden Einzelkörper wird durch weitere Hinsichten ergänzt. Was dieausdifferenzierte Forschungslandschaft der Moderne am Menschenvorrangig in den Blick genommen hat, was etwa in Psychotech-nik und Arbeitswissenschaft, was in Sportwissenschaft und Tayloris-mus, was in Betriebswirtschaftslehre oder Ausdrucksforschung, wasin Psychologie und Neurologie, was in der Physiologie der Wahr-nehmung und Motorik untersucht und gemessen wurde, setzte inder Regel an einem individuierten Körper an.9

9 Anders beim Feldtheoretiker Kurt Lewin. Vgl. ders., Die Sozialisierung des Taylora-systems. Eine grundsätzliche Untersuchung zur Arbeits- und Berufspsychologie, Berlin1920 (Praktischer Sozialismus Schriftenreihe).

Die Karriere dieses

183

Zugriffs und seiner Kenntnisse ist mit der Karriere von Wissenschaf-ten wie der Physiologie als Leitwissenschaft des 19. Jahrhundertsgleichursprünglich – jener Wissenschaft also, die Bewegungsformenund Verlautbarungen lebender Körper zu ihrem vornehmsten Ge-genstand hatte und die jene Apparaturen in die Welt entließ, mittelsderen physiologische Äußerungen in ihrem Zeitverlauf vollumfäng-lich zur Aufzeichnung gelangen konnten.10

10 Zu diesem Arsenal für die Analyse motorischer Bewegungen vgl. Viktor von Weiz-säcker, »Die Analyse pathologischer Bewegungen«, in: ders., Gesammelte Schriften,Bd. 3, Frankfurt am Main 1990, S. 429-439.

Ob das Kymographionoder die analogen Verfahren zur Ton- und Bewegungsaufzeichnung:Die nachmaligen Massenmedien sind als Teil der Physiologie Ge-genstand von Geschichtsschreibungen, deren Genealogie in so ver-meintlichen Spezialanliegen wie der Körpernachstellung und nichtin der alltäglichen Unterhaltung gründet.11

1 1 Giulio Panconcelli-Calzia, »Zur Geschichte des Kymographions«, in: Folia oto-laryngologica. 1. Teil/Originale: Zeitschrift für Laryngologie, Rhinologie, Otologieund ihre Grenzgebiete 26 (1936), S. 196-207. Für die Kinematograpie vgl. Fried-rich Kittler, »Der Mensch, ein betrunkener Dorfmusikant«, in: Renate Lachmann/Stefan Rieger, Text und Wissen. Technologische und anthropologische Aspekte, Tübin-gen 2003 (Literatur und Anthropologie; 16), S.45-72; für die Phonographie StefanRieger, »Kunst, Medien, Kultur. Konjunkturen des Wissens«, in: Handbuch derKulturwissenschaften, Bd. 2, Paradigmen und Disziplinen, hg. von Friedrich Jaegerund Jürgen Straub, Stuttgart, Weimar 2004, S. 638-655.

Der Zugriff auf die lebenden Systeme (unter Einbeziehung sei-ner Umwelt, genauer noch, der Jeweiligkeit seiner Umwelt) galt demeinzelnen Lebewesen, also einem jeweiligen Menschen oder Tier.Ob Arbeitsleistungen verbessert oder die berufliche Eignung getestetwurde, ob Seelen radiodurchleuchtet oder Stimmen schallanalysiertwurden, ob der Körper im Spiel oder unter extremer Belastung, inUnterdruckkammern oder auf Hochgebirgstouren vermessen wurde,ist dabei zweitrangig. Bemüht um die Abschottung dieses Körpers– bei Respirations- und Stoffwechselversuchen etwa –, ist eine son-derbare Form seiner Ummantelung oder Isolierung die Folge. Mas-ken, wie sie der große Bonner Physiologe Nathan Zuntz (1847-1920) im Rahmen von Höhenforschung und Ermüdungsmessungnicht nur seinem legendären Versuchspferd Balthasar anlegte, son-dern eben auch menschlichen Probanden über die Köpfe stülpte,stehen für dieses Bemühen als ikonographisches pars pro toto ein.12

12 Hanns-Christian Gunga, Leben und Werk des Berliner Physiologen Nathan Zuntz

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(1847-1920) unter besonderer Berücksichtigung seiner Bedeutung für die Frühge-schichte der Höhenphysiologie und Luftfahrtmedizin, Husum 1989 (Abhandlungenzur Geschichte der Medizin und der Naturwissenschaften; Heft 58).

Das Anliegen ist einfach und stellt daher einen geeigneten Bezugs-punkt dar – um von dort aus von Weizsäckers Neuansetzen sowohlin der Theorie als auch in der praktischen Durchführung sichtbarwerden zu lassen. Forschern wie Nathan Zuntz, Angelo Mosso e tuttiquanti ist es darum zu tun, den Organismus von seiner Umwelt zuisolieren, die Faktoren idealtypisch getrennt voneinander bestim-men und Interaktionen unter Kontrolle halten zu können. Dazu isteine Abschottung nötig, die nicht zuletzt unter den Auspizien öko-nomischer Prozesse stattfindet: Behauptung und Nachweis der ener-getischen Geschlossenheit in Systemen, wie sie 1840 von RobertJulius Mayer im ersten Hauptsatz der Wärmelehre formuliert wur-de, führen zwangsläufig zur Ausformung von bestimmten Expe-rimentalanordnungen, die an den Oberflächen ansetzen. Für diesichtbare Ausgestaltung sperriger Oberflächen steht die Physiologievor allem dort ein, wo sie den Stoffwechsel in all seinen Belangenverrechnen will. In der Geschlossenheit von Atmung, Ernährung,Belastung, Erschöpfung und nicht zuletzt Arbeit, deren Bedingun-gen Zuntz vielfältig variiert, die auf realen Einsätzen in den Alpenoder im Fesselballon ebenso zum Tragen kommen wie in simuliertenEinsätzen auf eigens dazu erfundenen Laufbändern oder in Druck-kammern, sollen die Parameter isoliert beobachtet, gemessen undkontrolliert sowie der Organismus auf ein entsprechendes Prinzipzurückgeführt werden. Geschlossenheit und Abdichtung werden da-bei nicht nur theoretisch behauptet, sondern in Realexperimentenapparativ umgesetzt.

Zuntz bleibt bei aller Detailversessenheit sowohl in der Durch-führung wie auch in der Schilderung seiner Versuche das grundsätz-liche Interesse an der Einbindung in die theoretische Großwetter-lage nicht schuldig. Dazu verweist er expressis verbis auf die Konzepteetwa der Thermodynamik, der Energieerhaltung, und er nennt auchderen wissenschaftlichen Sachwalter beim Namen. Was ihn undandere Forscher interessiert, ist das Auffinden von Äquivalenten, die– wie die calorische Maschine oder die Kalorie – Umrechnungen undVergleichbarkeiten etwa zwischen der Leistung von Maschinen undtierischen bzw. menschlichen Organismen erlauben.13

13 Dazu Nathan Zuntz, »Ueber die Leistungen der menschlichen Muskulatur als

Wollte man

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Arbeitsmaschine«, in: Naturwissenschaftliche Rundschau 5 (1890), S. 337-341, sowieders., »Der Mensch als calorische Maschine und der zweite Hauptsatz«, in: Physi-kalische Zeitschrift (1902), S. 184 f.

für die zu verhandelnde Geschlossenheit der Ummantelung undUmweltisolation Bilder finden, die dann auch eine historische Rei-hung erlaubten, so würde man mit den Versuchen auf der Stoff-wechselwaage beim italienischen Iatrophysiker Santorio in der zwei-ten Hälfte des 16. Jahrhunderts beginnen, seinen Weg über dasIce-Calorimeter Lavoisiers (und dessen Meerschweinchen) nehmenund mit den Respirationsapparaten bei Nathan Zuntz enden. Wasimmer diese Apparate so sorgfältig ummanteln, ob Menschen, Meer-schweinchen oder Pferde, ihr Status als vereinzelte Einheit bleibtweitgehend gleich – untersuchbar sind sie in ihrer Abschottung voneiner Umwelt.

Das verhinderte es selbstredend nicht, daß die am Einzelkörpererhobenen Ergebnisse zu Anwendungen gelangten, die das Terraindes einzelnen verlassen, die kollektiv zu Buche schlagen – etwa alsVorschrift für die Optimierung von Bewegungsabfolgen bei der in-dustriellen Fertigung oder der rationellen Durchformung von Be-wegungsabläufen, an Fließbändern, auf Sportplätzen und an ande-ren Brennpunkten moderner Lebenswelten.14

14 Dazu stellvertretend vgl. Philipp Sarasin/Jakob Tanner (Hg.), Physiologie undindustrielle Gesellschaft. Studien zur Verwissenschaftlichung des Körpers im 19. und20. Jahrhundert, Frankfurt am Main 1998, sowie Stefan Rieger, Die Individualitätder Medien. Eine Geschichte der Wissenschaften vom Menschen, Frankfurt am Main2001.

Was aber diese sehravanciert betriebene und entsprechend auch wahrgenommene Ver-wissenschaftlichung des menschlichen Körpers nicht leistete, auchnicht im Blick hatte, war eine soziale Theorie ihrer Teilelemente,eine soziale Theorie der Kräfteverhältnisse zwischen ihren – isolier-ten oder isolierbaren – Einheiten. Und genau auf eine solche zielt dievon Viktor von Weizsäcker angedeutete Innovation ab. Das neueBlatt der Forschung, das damit aufgeschlagen sein soll, ist genau ander Systemstelle situiert, wo im alten Paradigma der Ausschluß, derAbschluß oder die Grenze angesiedelt sind. Für von Weizsäcker unddie Seinen könnten die Folgen einer solchen Umstellung schwerwie-gender nicht sein, betreffen sie doch mit unterschiedlichen Prakti-ken des Menschenversuchs zugleich auch den Ort der Verwissen-schaftlichung, den Ort also, an dem über die Zugehörigkeit solcher

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Untersuchungen und ihrer Gegenstände entschieden wird. Inner-halb einer scheinbar ausdifferenzierten Wissenschaftskultur zwischenNatur und Geist wird mit dem neu aufgeschlagenen Blatt ein alter-nativer Aussagemodus eröffnet: Dabei zeigt sich, daß die Ebene desPhänomenalen und die Ebene des rational-technisch Erschließba-ren sich nicht länger kategorisch ausschließen müssen oder, andersgesagt, daß Dinge gleichzeitig an unterschiedlichen Ordnungen teil-haben können.

3.

Aufgeschlagen wurde das neue Blatt der Forschung nicht zuletztmit einer Arbeit, die den Titel »Vom Wertbewußtsein im Tun. EinBeitrag zur Psychophysik der Willkürbewegung« trägt. Nur ein Jahrspäter legt ihr Autor, Paul Christian, unter dem Titel Wesen undForm der Bipersonalität vor, was er im weiteren Verlauf als Grundla-gen für eine medizinische Soziologie ausweist – und damit diszipli-näres Neuland erschließt, so daß Wissenschaften wie eine Sozial-physiologie als Desiderat der bisherigen Wissenschaftslandschafterscheinen.15

15 Paul Christian, »Vom Wertbewußtsein im Tun. Ein Beitrag zur Psychophysik derWillkürbewegung«, in: Buytendijk/Christian/Plügge, Über die menschliche Bewe-gung (wie Anm. 6); Paul Christian/Renate Haas, Wesen und Form der Bipersonali-tät. Grundlagen für eine medizinische Soziologie, Stuttgart 1949. Zur Ausweitungder Physiologie vgl. Frederik J. J. Buytendijk, Prolegomena einer anthropologischenPhysiologie, Salzburg 1967.

Auch die Arbeit von der Bipersonalität führt von Weiz-säcker in seiner biobibliographischen Selbstverortung eigens an –unmittelbar nach der Rede vom neu aufgeschlagenen Forschungs-blatt und mit einer Erweiterung, die ihrerseits signifikanter nichtsein könnte.16

16 Zur Formel von der Bipersonalität im Anschluß an Kurt Lewin vgl. Antonio Ferro,Das bipersonale Feld. Konstruktivismus und Feldtheorie in der Kinderanalyse, Gießen2003. Zur Rezeptionsgeschichte von Autoren wie Paul Christian und Alfred Der-wort vgl. auch Wilfried Ennenbach, Bild und Mitbewegung, Köln, 2. Aufl. 1991,(Betrifft: Psychologie & Sport; Sonderband 13).

Was in derlei Menschenexperimenten greifbar wird,ist die Grenze zwischen Physik und Biologie.

Wir beachteten also jetzt die eigentümliche Verklammerung der physiolo-gischen Motorik mit der Dynamik der Außenwelt. Diese Verklammerungist eine solche, daß man keine Grenzpunkte oder Grenzflächen feststellen

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kann, an denen das Organische aufhört und das äußere Physikalische an-fängt. Im Umgang eines Menschen (oder Tieres) mit Pendel, Reibung,Hammer entstehen trotzdem regelmäßig bestimmte Formen der Bewe-gungsdynamik, die wir großenteils ununtersucht vorfanden, die aber durchRegistrierung zu beschreiben und mechanisch zu analysieren sind.17

17 Von Weizsäcker, Der Gestaltkreis (wie Anm. 3), S. 89.

Wie von Weizsäcker ausführt, gehen Menschen und Tiere nicht inihren motorischen Verrichtungen mit Gegenständen auf. Am Hori-zont gemeinsam zu vollbringender Tätigkeiten wie etwa der Hand-arbeit, aber auch in Anordnungen, bei denen Fremd- und Selbstbe-wegung auf intrikate Weise verschränkt sind, wird statt dessen eineTheorie des Sozialen entwickelt, die mit ausgearbeiteten Sozialtheo-rien auf den ersten Blick nur wenig zu tun hat. Der Menschenver-such hat es auf einmal nicht mehr nur mit zuhandenen Hämmernund verbesserten Schaufeln, mit Ballwurfmaschinen und Fließbän-dern zu tun, wie es in den klassischen Arbeiten zur Psychotechnikverhandelt wurde, sondern er hat es sowohl mit dem Verhältnis vonSelbst- und Fremdbewegung wie auch mit den Konsequenzen fürdie Wahrnehmung zu tun.18

18 Zu einem Einblick in die avancierten Experimentalaufbauten vgl. A. P. Auersperg/A. Derwort/M. Schrenck, »Beitrag zur Psychophysiologie der intentionalen Blick-bewegung«, in: Der Nervenarzt 37 (1960), S. 241-253.

Nach den Untersuchungen über die Be-wegungsformen im Umgang mit Werkzeugen, Apparaten und Ma-schinen gelangt von Weizsäcker nun endlich auch der Umgang desMenschen mit seinesgleichen in den Blick. Damit ist der Weg freifür Begriff und Sache der Bipersonalität (Abb. 1-4).

Das zweite Thema, das erst in der experimentellen Untersuchung der Moto-rik gleichsam unvermeidlich wurde, ist dann das, daß wir ja nicht nur mitWerkzeugen und Maschinen umgehen, sondern auch mit unseresgleichen.Das ist zwar in der Wahrnehmung auch so; aber die gemeinsame Handar-beit ist ein im technischen Zeitalter so aufdringliches Problem, da auch In-dustrie, Soziologie, Ökonomie an ihm interessiert sind. Unsere erste Experi-mentaluntersuchung findet man in P. CHRISTIAN und R. HAAS (1949),Motorische Leistungen im Verband zweier Partner in Wesen und Formen derBipersonalität.19

19 Von Weizsäcker, Der Gestaltkreis (wie Anm. 3), S. 90.

Wie im Fall des Umgangs mit Maschinen und Apparaten verlierenauch hier stabile Grenzen von Subjekt und Umwelt zunehmend ihreGeltung. Dieser Befund setzt gängige Vorstellungen von personaler

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Abb. 1: Rudolf Drill, »Der Hammerschlag«,in: Neue psychologische Studien 9 (Motorik), 2. Heft (1934),

S. 139-208, hier: S. 148.

Abb. 2: Rudolf Drill, »Der Hammerschlag«,in: Neue psychologische Studien 9 (Motorik), 2. Heft (1934),

S. 139-208, hier: S. 162.

Einheit oder phänomenaler Identität außer Kraft.20

20 Wie es bei F. Buethe 1946 heißt. Dazu von Weizsäcker, Der Gestaltkreis (wie Anm.3),S.91.

Mit großer Fi-nesse werden dazu Anordnungen wie die vielfach variierten Drehex-perimente ersonnen, die es erlauben, dieses Außerkraftsetzen syste-matisch zu beobachten. Wo sonst vermeintlich mit sich identischeSubjekte am Werke waren, macht sich jetzt eine Grauzone von Über-läufern breit. In diesem Schattenreich hausen Subjekte, die im Ver-

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Abb. 3: Rudolf Drill, »Der Hammerschlag«,in: Neue psychologische Studien 9 (Motorik), 2. Heft (1934),

S. 139-208, hier: S. 172.

Abb. 4: Rudolf Drill, »Der Hammerschlag«,in: Neue psychologische Studien 9 (Motorik), 2. Heft (1934),

S. 139-208, hier: S. 164.

bund gemeinsamen Hantierens und gemeinschaftlich verrichtetenSich-Bewegens unwissentlich zu Verrätern an ihrer eigenen (!) Iden-tität werden. Sie begehen Fahnenflucht an sich selbst, um gerade soihre höchste Produktivität zu bewahrheiten: Daß diese den Subjek-ten unzugänglich ist, tut nicht nur keinen Abbruch, sondern wirdzu Theorien systemnotwendiger (und nicht nur pathologisch veran-schlagter) Selbstverborgenheit ausgearbeitet, die von Weizsäcker fürseine Gestaltkreislehre ins Bild von der Drehtüre kleidet. »Jeder Aktist Wahrnehmen und Bewegen. Aber ich kann im Wahrnehmen diees ermöglichende Bewegung nicht wahrnehmen und kann im Bewe-gen die es bedingende Wahrnehmung nicht vollziehen. Insofern istdas Bewegen ein Es-nicht-Wahrnehmen und das Wahrnehmen einEs-nicht-Bewegen. Sie stehen im Verhältnis gegenseitiger Verbor-genheit.«21

21 Zum Drehtürprinzip vgl. die Begriffserklärung in von Weizsäcker, Der Gestaltkreis(wie Anm. 3), S. 335.

Identität, wie sie maßgeblich in der Moderne allen nurdenkbaren Bedrohungsszenarien ausgesetzt ist, tritt unter der Blick-

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nahme solcher Untersuchungen ausgerechnet als Störfall von Effi-zienz in Erscheinung. Das Terrain zwischen System und Umweltgerät zum militärsoziologischen Sperrgebiet: Fahnenflucht oder dasVon-der-Stange-Gehen werden zu einer Theorieoption. »Man könnteauch von Überläufern sprechen. Drückt man sich konkret aus, soheißt das: Die Frage, wo mein leiblicher und seelischer Besitz be-ginne und meine Umwelt aufhöre, ist nicht an Gegebenheiten derErscheinung abzulesen, sondern sie ist nach der Dynamik der Vor-gänge im Gestaltkreis zu beurteilen.«22

22 Viktor von Weizsäcker, »Der Gestaltkreis, dargestellt als psychophysiologischeAnalyse des optischen Drehversuchs«, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd.4, Frank-furt am Main 1997, S. 54.

Was die Arbeit von RenateHaas und Paul Christian über Wesen und Formen der Bipersonalitätaufscheinen läßt, sind somit Positionen des Dritten, die zwischenden vermeintlich festgefügten Verwissenschaftlichungen von Naturund Geist ihrerseits einen dritten Ort der Aussagen erlaubt.23

23 Dazu Stefan Rieger, Kybernetische Anthropologie. Eine Geschichte der Virtualität,Frankfurt am Main 2003, S. 334 ff.

Nichtsweniger als solche Veränderungen im Aussagesystem der Wissen-schaften vom Menschen soll die Arbeit über die Handarbeit direktbeweisen.

Hier wird nicht zum ersten Male mit der Einführung des Subjektes in diePhysiologie bemerklich, daß nicht nur die Absonderung der Materialität desOrganismus unhaltbar wird, sondern die Beschränkungen der Physiologieaufs Allgemeine und Allgemeingültige ins Wanken gerät. Denn nun hatdoch jeder Organismus sein eigenes Subjekt. Und während man bei der Sin-neswahrnehmung die Hypothese machen kann, daß bei gleicher Organbe-schaffenheit auch alle wahrnehmenden Wesen die Dinge gleich empfindenund wahrnehmen (obwohl dies strenggenommen unbeweisbar bleibt), istbeim motorischen Umgang zweier Lebewesen direkt zu beweisen, daß ihreSubjekte entweder zu einem einzigen (sozusagen neuen dritten) verschmel-zen oder aber (bei Krankheit) getrennt und verschieden bleiben.24

24 Von Weizsäcker, Der Gestaltkreis (wie Anm. 3), Vorrede zur 4. Auflage, S. 90.

Weil das Überläufertum die Regel und nicht die Ausnahme des Men-schen bildet, sind gängige Begründungen dieses Menschen als einesWesens, das in irgendeiner Weise mit sich identisch sein soll, un-ter den Vorgaben der Bipersonalität schlicht außer Kraft gesetzt. ImZeichen von Verschieblichkeit und Variabilität gehen die Subjekteihrer so sorgfältig und nachhaltig betriebenen Verpflichtung auf Iden-

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tität verlustig. Eine Ideologie des Selbst wird unterschwellig annul-liert. Der Mensch untersteht bestimmten Betriebsarten – wie es beiChristian in einer Arbeit über Die Willkürbewegung im Umgang mitbeweglichen Mechanismen heißt, der bis in die Hochlagen der Philo-sophischen Anthropologie und namentlich zu Arnold Gehlen gelan-gen wird –, und diese sind, weil sie an den Umgang des Menschenmit seinesgleichen geknüpft sind, eben relativ.25

25 Zur Rede von der Betriebsart vgl. Paul Christian, Die Willkürbewegung im Umgangmit beweglichen Mechanismen, Berlin, Heidelberg 1948, zum nachgerade enthusia-stischen Bezug auf Gehlens Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt,Wiesbaden 13. Aufl. 1997, S. 192. Zu Gehlens Wissenspolitik vgl. auch BenjaminBühler, Lebende Körper. Biologisches und anthropologisches Wissen bei Rilke, Döblinund Jünger, Würzburg 2004.

Nur im Fall einesMißlingens – etwa bei Krankheit, aber auch in Fällen gezielter Sabo-tage – bleiben Trennung und Verschiedenheit in ihrem Recht. Wiean Untersuchungen mit gezogenen Schlitten oder anderen in Bewe-gung gehaltenen Gegenständen (Rührwerk, Hobel u.a.) deutlichwird, konstituiert sich die Objektvorstellung erst im Zugriff und istnicht vorgängig vorhanden. Das wiederum führt zu Anordnungen,bei denen die Objektzugriffe bei verschiedenen Ausgangsvorausset-zungen untersucht werden, etwa bei Gesunden und Bewegungsge-störten (Parkinson).26

26 Dazu Ennenbach, Bild und Mitbewegung (wie Anm. 16), vor allem S. 61 f.

In wundersamer Verkehrung gängiger Argu-mentationen werden mangelnde Grenzverschieblichkeit und mit ihrein Beharren auf Identität zu einem Indiz des Pathologischen – undnicht wie sonst üblich zum Nachweis einer wie auch immer kulti-vierten Normalität. Ausgerechnet der auf den ersten Blick hochgra-dig spezialistisch wirkende Beitrag »Der Gestaltkreis, dargestellt alspsychophysiologische Analyse des optischen Drehversuchs« bringtdiese Befundlage auf den Punkt. »Diese Beispiele machen anschau-lich, daß die Grenzverschieblichkeit ein Ausdruck der Leistungs-mannigfaltigkeit des Organismus ist.«27

27 Von Weizsäcker, »Der Gestaltkreis, dargestellt als psychophysiologische Analysedes optischen Drehversuchs« (wie Anm. 22), S. 54.

Von Weizsäcker faßt dieseLage und den Stand der Verwissenschaftlichung wie folgt zusam-men:

Die Psychophysik der Willkürbewegung und Wahrnehmung hat sich bisherausschließlich mit dem Einzelsubjekt beschäftigt und niemals nachgeprüft,ob sich Wesen und Gestaltung der Funktionen anders darstellen, wenn manstatt vom isolierten Individuum, einmal von der ›Wirksozietät‹ (dem Zu-

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sammenwirken mehrerer Personen in Arbeit, Sport, Spiel) ausgeht. DieseBeschränkung der physiologischen Forschung auf das Einzelsubjekt hat ver-mutlich verhindert, daß es eine selbständige Medizinische Soziologie, Sozio-pathologie, ferner eine eigene Arbeitspathologie oder Sozialphysiologie [. . .]gibt.28

28 Christian/Haas, Wesen und Formen der Bipersonalität (wie Anm. 15), S. 8.

Beispiele aus der philosophischen Werkzeugkiste und fernab mo-derner Fertigungstechniken weisen den Weg zu einer neuerlichenUntersuchung der Arbeit auf der Grundlage solcher Wirksozietäten:Die oft bemühte Zuhandenheit von Heideggers Hammer wird er-gänzt um interaktiv, weil gemeinschaftlich zu betreibende Werk-zeuge wie im Fall von Wilhelm Dilthey und einer von ihm ins Feldgeführten Säge – vermutlich einer zweigriffigen Baumsäge, die imGegensatz zum Hammer das Wesen der partnerschaftlichen Hand-arbeit so sehr verkörpert, daß sie vor Kirchen und Standesämtern beifrisch Vermählten ausgesprochen symbolstiftend zum Einsatz ge-langt und daher als Modellversuch zur Bestimmung der Bipersona-lität gelten kann.29

29 Zur Aufmerksamkeit auf Sachen aus soziologischer Perspektive vgl. BernwardJoerges, Technik. Körper der Gesellschaft. Arbeiten zur Techniksoziologie, Frankfurtam Main 1996.

Das Holzsägen gewinnt Modellcharakter undwird ausführlich einer physiologischen Analyse unterzogen, »umEinblick zu gewinnen in den Ablauf der beiderseitigen Motorik, indie beiderseits gemachten Wahrnehmungen und die gemeinsam er-zielte Leistung«.30

30 Christian/Haas, Wesen und Formen der Bipersonalität (wie Anm. 15), S. 9.

Von Weizsäcker attestiert dem Gemeinschaftssä-gen nichts weniger als den Status einer Urszene. »Diesmal hat dieExperimentalanalyse der Willkürbewegung einen Fall getroffen, derals Urszene, besser als Darstellung einer Urszene im sozialen Arbeits-leben genommen werden kann.«31

31 Viktor von Weizsäcker, »Zum Begriffe der Arbeit«, in: ders., Gesammelte Schriften,Bd. 8, Frankfurt am Main 1986, S. 222-267, hier S. 249.

Um die Geschichte kurz zu hal-ten und das Resultat vorwegzunehmen: Geglücktes Sägen wie wohlauch geglückte Ehen basieren auf Selbstverlust.

All das erlaubt es Christian und Haas, etwas zu behaupten, dasjenseits der Grenzen einer vergegenständlichen Psychologie liegtund dennoch einen phänomenologischen Tatbestand darstellt, dernachstellbar, präzisierbar und damit eben auch in Zahlenform be-schreibbar ist. Als Effekt solcher Untersuchungen tritt eine Relativi-

193

tät der Personenverhältnisse zutage, die in der Bipersonalität denVersuch ihrer Theoretisierung findet: »Echte Bipersonalität bedeu-tet so freispielende Koreflexivität der Partner im Umgang miteinan-der. Da aber jeder Partner sich selbständig erlebt (und keineswegs alsDoppelgänger des Andern), nichtsdestoweniger jeder sich immer inRücksicht auf den Andern bestimmt, so sind Sinn und Verhaltenjedes Partners notwendig doppeldeutig.«32

32 Christian/Haas, Wesen und Formen der Bipersonalität (wie Anm. 15), S. 18.

Die so behauptete Dop-peldeutigkeit der Person führt zu Umschichtungen im Verhältnisvon Alter und Ego, wie sie von den Sozialtheorien im allgemeinenverhandelt werden. Nur mit dem Unterschied, daß die abstrakte Be-fundlage der Philosophie im Modellmenschenversuch des gemein-samen Sägens auf eine Weise geerdet ist, die zugleich den Anschlußan das physiologische Paradigma der Meßbarkeit erlaubt: In der Auf-zeichnung von Kurven und Diagrammen dürfen die Doppeldeutig-keit von Personenverhältnissen und die korrelativ zusammenspie-lenden Kräfte eindeutig werden.

So ergeben sich unvereinbare Gegensätze: Einerseits abstrakte ›Individuen‹(und deren Mehrheitsbestimmung ›Gesellschaft‹) und konkrete ›Person‹ mitder qualitativen Steigerung ›Gemeinschaft‹). In diesem Zusammenhang müs-sen jene metaphysischen Irrtümer im einzelnen zur Sprache kommen, die dasVerständnis des personalen Daseins hauptsächlich verhindert haben: Das sinddie Lehren von der Identität der Person, der Autonomie der Person; der Exi-stenz in Raum und Zeit; und die numerische Bestimmtheit der Person.33

33 Ebd, S. 28.

Im Zuge dieser Umschichtung wird eine veränderte Semantik in derRede über den Menschen möglich: eine Semantik, in der Wendig-keit und Verschieblichkeit über das Beharren auf Identität herrschenund die auch als erkenntnistheoretische Größe zu Buche schlägt.34

34 Vgl. von Weizsäcker, »Der Gestaltkreis, dargestellt als psychophysiologische Ana-lyse des optischen Drehversuchs« (wie Anm. 22), S. 58.

Derlei Wendigkeiten bedürfen nicht nur einer eigenen Methodolo-gie, sondern eigener Begriffe, eigener Bilder und Veranschaulichungs-strategien. Für die Ununterscheidbarkeit der Grenze zwischen Sy-stem und Umgebung scheinen im Wortsinne flexible Maßbänderbesonders beliebt, weil geeignet zu sein. In der Werkzeugkiste desKybernetikers Gotthard Günther sind sie ebenso zu finden wie beiJakob von Uexküll, der in ihrem Zeichen die Eigenlogik der Biolo-gie gegenüber der Physiologie beschwört:

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Niemand wird es beifallen, ein Metermaß auf ein Gummiband drucken zulassen, weil dieser dehnbare Maßstab jede genaue Messung vereiteln würde.Im Gegenteil haben unsere Ergebnisse des Messens und Wägens eine sohohe Vollkommenheit erreicht, weil die Zuverlässigkeit der Maßstäbe außerFrage steht. Ganz anders ist es um die Hilfsmittel unseres Denkens – dieBegriffe – bestellt, sobald wir sie auf die Fragen der Wissenschaft vom Lebenanwenden wollen.35

35 Jakob von Uexküll, »Biologie oder Physiologie«, in: ders., Kompositionslehre derNatur. Biologie als undogmatische Wissenschaft. Ausgewählte Schriften, hg. und ein-geleitet von Thure von Uexküll, Frankfurt am Main u.a. 1980, S. 122-129, hierS. 122. Vgl. auch Gotthard Günther, Lebenslinien der Subjektivität. KybernetischeReflexionen, CD, Köln 2000, dort der erste Eintrag.

Die Relativität der Personenstände erscheint in der Erfahrung ge-meinsam verrichteter Arbeit als Programm. In Mechanogrammen,also im Aufschreibesystem der alten für die Arbeit zuständigen Wis-senschaften, hinterläßt sie ihre – objektiv-objektivierbaren – Spu-ren. Was da in der Kasuistik eines Menschenversuchs stattfindet,beschreibt von Weizsäcker in seiner Abhandlung »Zum Begriffe derArbeit« systematisch. Am Beispiel der Zusammenarbeit wird dasVersagen fester Grenzen sichtbar – diesmal versehen mit der expli-zierten Option auf eine dritte Person. »Man kann auch sagen, daßaus zwei Personen durch Verschmelzung eine einzige dritte gewor-den sei.«36

36 Von Weizsäcker, »Zum Begriffe der Arbeit« (wie Anm. 31), S. 249.

4.

Der auf theoretischer Ebene immer noch bestrittene Ort des Drittenscheint in bestimmten Bereichen der Phänomene längst eingenom-men. Positionen dieses Dritten, wie sie von Weizsäcker ausgehendvon der Urszene des Sägens erwägt, sind etwa sehr detailliert von derBiologie beschrieben worden. So gelangt der Niederländer FrederikJ. J. Buytendijk, selbst Gewährsmann sowohl der PhilosophischenAnthropologie als auch der Gestaltkreislehre, anläßlich der Beschrei-bung eines Tierkampfes zwischen Mungo und Kobra zu Einschät-zungen, die eben auch das Tier von seiner Identität lösen und zueiner neuen organischen Einheit, zu einem Dritten, verschmelzen.37

37 Dabei wird die Nähe zu Paul Christian, Viktor von Weizsäcker u.a. explizit be-tont. Vgl. F. J. J. Buytendijk, »Das Menschliche der menschlichen Bewegung«, in:Der Nervenarzt 28 (1957), S. 1-7, hier S. 3 ff.

195

Zur Beschreibung dessen, was an Interaktion zwischen den Tierenzu beobachten ist, sind gängige Schemata, wie etwa das von Reizund Reaktion, unzureichend.38

38 Frederik J. J. Buytendijk/Helmuth Plessner, »Die physiologische Erklärung desVerhaltens. Eine Kritik an der Theorie Pawlows«, in: Acta biotheoretica 1 (1935),S. 151-172. Eine alternative Beschreibung des Tierkampfes liefert Norbert Wiener;vgl. ders., Regelung und Nachrichtenübertragung in Lebewesen und Maschine, Rein-bek bei Hamburg 1968.

Im Zuge dieser und ähnlicher Um-stellungen kann Buytendijk das Tier zum phantasierenden Automa-ten erklären – eine Formel, die gängige Unterscheidungsbemühun-gen zwischen den Seinsarten schlicht annulliert.39

39 Frederik J. J. Buytendijk, Wege zum Verständnis der Tiere, Zürich, Leipzig o. J., vorallem S. 135. Vgl. dazu auch Stefan Rieger, »Bär«, in: Benjamin Bühler/Stefan Rie-ger, Vom Übertier. Ein Bestiarium des Wissens, Frankfurt am Main 2006, S. 35-46.

Solchen Verschmelzungsphantasmen, die in einer gewissen Nähezu Ganzheitsbestrebungen in der Biologie oder auch im Alltagssach-verstand stehen, folgen ihrerseits kleinteilig wirkende Anliegen, diezu einer ganz anderen Form der Personenerweiterung greifen: Erwei-tert wird die Person, die in diesem Fall ein Tier ist, allerdings nichtdurch Integration einer endlich abzählbaren Menge anderer Perso-nen, wie bei Christian im Fall der Bi- oder Tripersonalität, sonderndurch Einbezug technischer Externalisierungen. Es ist – erwartbar –der Autor Jakob von Uexküll, der das unternimmt –, allerdings we-niger erwartbar sind Ort und Anliegen: Nicht der theoretische Bio-loge, sondern der Blindenhundpraktiker tritt auf den Plan.40

40 Dazu etwa Jakob von Uexküll, »Das Führhundproblem«, in: Zeitschrift für ange-wandte Psychologie 45 (1933), S. 46-53. Vgl. dazu übergreifend Benjamin Bühler,»Hund«, in: Bühler/Rieger, Vom Übertier (wie Anm. 39).

BeiEmmanuel Sarris, einem Schüler Uexkülls, gerät die adäquate Aus-bildung potentieller Führhunde ins Visier. Dabei versagt das Para-digma von Dressur und Abrichtung, um statt dessen Veränderungenin den System/Umwelt-Beziehungen des Hundes Raum zu schaffen,für die von Uexküll das theoretische Rüstzeug liefert.41

41 Jakob von Uexküll, »Die Umwelt des Hundes«, in: Zeitschrift für Hundeforschung2 (1932), S. 157-170.

Dazu sei esnötig, so Sarris in »Abrichtung oder Ausbildung der Führhunde fürBlinde?«, die Verschieblichkeit des Hundes so weit zu treiben, daßdieser in der Lage ist, Menschendinge zu Hundedingen zu ma-chen.42

42 Zu Hunde- und Libellendingen vgl. Jakob von Uexküll, »Biologie in der Mause-falle«, in: Zeitschrift für die gesamte Naturwissenschaft 2 (1936), S. 213-222, hier

Ein Versuch mit einem Wagen, auf dem ein Kasten befestigt

196

S. 214. Übertragen auf den Menschen differenziert Kurt Lewin nach Kriegs- undFriedensdingen. Vgl. dazu ders., »Kriegslandschaft« (1917), in: Jörg Dünne/Ste-phan Günzel (Hg.), Raumtheorie, Frankfurt am Main 2006, S. 129-140.

Abb. 5: Emmanuel Sarris, »Abrichtung oder Ausbildung der Führhundefür Blinde?« in: Zeitschrift für angewandte Psychologie und

Charakterkunde 48, (1935), S. 341-360, hier: S. 359.

war, macht das deutlich. Solange der Hund die Kopplung an denWagen vergißt, stößt er an, wirft er ihn um. Der Führhund muß ler-nen, die Kopplung mit dem Weg zu integrieren. Gelingt dies, so trittnach Emmanuel Sarris eine »Art Personenerweiterung ein, die neueHindernisse mit einschließt« – der Wagen ist für den Hund ein»eigenes ich-bezogenes Hundeding« geworden43

43 Emmanuel Sarris, »Abrichtung oder Ausbildung der Führhunde für Blinde?«, in:Zeitschrift für angewandte Psychologie und Charakterkunde 48 (1935), S. 341-360,hier S. 359.

(Abb. 5).Was bei aller Kasuistik zutage tritt, ist dem Grundanliegen bei

von Weizsäcker analog. Die Relativität, die sehr gezielt der moder-nen Physik entnommen wird, schlägt auf die Versuche und aufderen Aktanten durch. Der Menschenversuch, wie ihn die neu auf-geschlagenen Blätter der Forschung sichtbar werden lassen, löst sei-nen Gegenstandbereich damit nicht ein, sondern auf. An kaumeinem anderen Ort des modernen Denkens dürfte so sichtbargeworden sein, daß der Versuch und daß all die Versuchsreihen, die

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Abb. 6: Rollstuhlversuch von Held und Mitarbeiternnach Wilfried Ennenbach, Bild und Mitbewegung, Köln, 2. Aufl. 1991

(Betrifft: Psychologie & Sport; Sonderband 13), S. 24.

Abb. 7: Katzenversuch von Held und Hein nach Wilfried Ennenbach,Bild und Mitbewegung, Köln, 2. Aufl. 1991 (Betrifft: Psychologie & Sport;

Sonderband 13), S. 25.

dem Menschen gelten, seinen hochgradig labilen, um nicht zusagen, relativen Status zutage fördern. Fast scheint es, als ob in derNähe des Tieres und in der Nähe von irgendwelchem technischenGerät – zwischen personenerweiterten Hunden und phantasieren-den Automaten – der Menschenversuch seinen Gegenstand verlorenhat (Abb. 6 und 7).

198

Wolfgang U. EckartDie Kolonie als Laboratorium

Schlafkrankheitsbekämpfung und Humanexperimentein den deutschen Kolonien Togo und Kamerun,

1908-1914

An der kolonialen Peripherie des Zweiten Deutschen Kaiserreichswurde das vielfältige Seuchengeschehen zweifellos als eine der be-deutendsten Gefahren für die wirtschaftliche Prosperität der »Schutz-gebiete« und als Haupthinderungsgrund für die wissenschaftlicheund politische Inbesitznahme durch die verspätete Kolonialmachtgedeutet.1

1 In der einschlägigen deutschen Kolonialgeschichtsschreibung ist die ›Seuchenlage‹der Musterkolonie Togo nicht oder nur kursorisch berücksichtigt worden. Vgl.Arthur J. Knoll, Togo under Imperial Germany, Stanford 1978; Peter Sebald, Togo1884-1914, Berlin 1988, oder Horst Gründer, Geschichte der deutschen Kolonien,Paderborn 1991.

Wie sehr der kolonialpolitische und kolonialmedizinischeDiskurs von diesen Problemen beherrscht, wie stark er aber auchdurchwoben war mit emphatisch betonten Weltmachtwünschenund ärztlichen Kampfmetaphern, tritt in der Einleitung zu einemFestvortrag über die Schlafkrankheit vom 26. Juli 1910 zutage. Ortdes Geschehens war der Palast des deutschen Gouverneurs inLome, Anlaß der Besuch seiner Hoheit des Herzogs Adolf Friedrichzu Mecklenburg; Verfasser und Redner war Regierungsarzt Dr.Skrodzki:2

2 Skrodzki, »Etwas über Schlafkrankheit«, Rede vom 26. Juli 1910, in: Archives Natio-nales du Togo [Deutsche Kolonialverwaltung in Togo, Bestandskopie im Bundesar-chiv Koblenz; weiterhin als ANT zitiert], FA 1/5.

Wer immer hier in unsere tropischen Schutzgebiete herauskommt, um inernster Forschung das Dunkel zu lichten, das immer noch über vielen Stel-len unseres Erdteiles ruht, und Kunde zu bringen der Heimat von den Wun-dern deutschen Landes über der See, oder wer hier in zäher Arbeit Bausteinesammelt und werktätig sich mitbemüht, das Fundament zu legen für denwehrhaften Bau der deutschen Weltmacht, der wird empfänglichen Sinnsich bewahren für alles, was dem Wohl oder Wehe unseres Landes dient, undwird an vielen Dingen nicht vorbeigehen können und wollen, die zunächstdem Gegenstande seiner Forschung oder dem Inhalte seiner praktischenTätigkeit fernliegen. Da ist es nur natürlich, dass gerade die Widerstände,

199

die er auf seinem Wege zum Ziele findet, in erster Reihe sein Interesse erre-gen und sein Streben reizen, den Kampf mit ihnen aufzunehmen. Zu denfühlbarsten dieser Widerstände gehören aber die Tropenkrankheiten, unddie zähesten unter ihnen sind die grossen Volksseuchen: Malaria, Pocken,Lepra, Gelbfieber, Pest, und Schlafkrankheit. Dass der Kampf gegen sienicht den Ärzten allein vorbehalten bleiben kann, das bedarf in diesemKreise wohl nicht näherer Begründung. Wollen wir aber Schulter an Schul-ter zusammenstehen im Kampfe, dann ziemt es sich wohl, dass wir gemein-sam unser Rüstzeug prüfen und einander mitteilen, was wir für Kunde vomFeinde haben.

Der Kampf, von dem Regierungsarzt Skrodzki der Festgesellschaftin getragener Rede berichtete, war viele Jahre zuvor an vielen Schau-plätzen des Schutzgebietes bereits heftig entbrannt. Als Gegner, umin der Metapher Dr. Skrodzkis zu bleiben, standen den Ärzten derKolonialverwaltung in erster Linie die angesprochenen »Volksseu-chen« gegenüber. Häufig genug geriet aber auch die Bevölkerungselbst in die Schußlinie, denn primäre Ziele aller Maßnahmen derSeuchenkontrolle waren nicht Heilung und Prävention, sondern dieErhaltung und Wiederherstellung wirtschaftlicher Prosperität in der»Musterkolonie« Togo. Das »Rüstzeug«, von dem Skrodzki sprach,war noch wenig erprobt, und so gesellte sich auch patientenunab-hängiges ärztliches Erkenntnisinteresse zu den Zielen des Kampfes.Die Sondersituation an der kolonialen Peripherie und die Bewer-tung der indigenen Bevölkerung als rassisch und kulturell unterle-gen, lethargisch, ängstlich oder widerstandsbereit, immer jedochfest in der Hand der Kolonialverwaltung, ließ scheinbar Maßnah-men gerechtfertigt erscheinen, die in den Metropolen des Kaiser-reichs nicht hätten durchgesetzt werden können, deren Erfolge aberselbst von den Akteuren – an der kolonialen Peripherie und in derMetropole Berlin – nur gering eingeschätzt wurden.

1. Die Schlafkrankheit

Eine Seuche, deren Bekämpfung der Verwaltung der afrikanischenKolonien des Zweiten Deutschen Kaiserreichs besondere Sorgebereitete, war die Schlafkrankheit. Im folgenden soll versucht wer-den, anhand der organisierten Schlafkrankheitsbekämpfung im deut-schen Schutzgebiet Togo und in Deutsch-Ostafrika die enge Ver-

200

schränkung von öffentlicher Gesundheitspflege, Seuchenbekämp-fung und menschenverachtender Erprobung von neuen Medika-menten im Humanexperiment darzulegen. Bei der Schlafkrankheithandelt es sich um eine heimtückische, unbehandelt immer tödlichverlaufende Krankheit, deren Erreger, das Trypanosoma Gambiense,durch den Stich blutsaugender Fliegen auf den Menschen übertra-gen wird, dort schwerste neurologische Ausfallerscheinungen verur-sacht und schließlich, bedingt durch eine Gehirnhautentzündung,unter dem Eindruck schwerer Benommenheit, anhaltender Schlaf-zustände und schließlich tiefer Bewußtlosigkeit zum Tode führt. DasKrankheitsgeschehen kann sich in wenigen Wochen entfalten, biszur völligen Ausprägung aber auch mehr als fünf Jahre benötigen.Lymphdrüsenschwellungen im Nackendreieck und Trypanosomen-nachweise im Blut, in der Lymphflüssigkeit, im Sternalpunktat oderim Liquor sind erste diagnostische Zeichen. Dies bedeutet aber, daßnach einer problemlosen Ertastung der Drüsenschwellungen nachwie vor invasive und damit nicht immer schmerzfreie diagnostischeMethoden folgen müssen, deren Notwendigkeit bei noch fehlen-dem Krankheitsgefühl und mangelhafter Aufklärung über die Krank-heitsgefahr nicht ohne weiteres vorausgesetzt werden kann. Als nachder Jahrhundertwende die Ätiologie der Schlafkrankheit geklärtwar, konnte eine Vielzahl der tödlichen Epidemien gedeutet wer-den, die allerorten einen »kolonialwirtschaftlich« überaus bedroh-lichen Charakter angenommen hatten, ohne daß man sie in das zu-vor entwickelte bakteriologische Erkenntnisraster hätte einordnenkönnen. Es begann gleichzeitig in allen europäischen Kolonialge-bieten Ost-, Zentral- und Westafrikas eine fieberhafte Suche nachentsprechenden Krankheitsfällen, die bald auch von Erfolg gekröntwar, ohne daß die Ärzte in solchen Situationen genau wußten, wasmit ihren neuen, meist vorsorglich in Lagern internierten Patientenund deren rätselhafter Krankheit nun anzufangen war, denn kausalwirksame, ansonsten aber gefahrlose Chemotherapeutika hatten bis-lang gegen keine der bekannten Infektionskrankheiten entwickeltwerden können. Man wußte aber, daß eine Reihe meist arsenhaltigerSchwermetallpräparate, die – wenngleich mit großen Nebenwirkun-gen – in der Bekämpfung der Syphilis gewisse Erfolge möglich ge-macht hatten, auch in frühen Schlafkrankheitsstadien die Erregeraus dem Blut verschwinden ließen und die Lymphdrüsenschwellun-gen zum Abklingen brachten. Solche Erfolge erforderten aber hoch-

201

dosierte Dauergaben und bewirkten damit zwangsläufig auch schwer-ste Vergiftungserscheinungen.

Als wirksamstes Medikament gegen die Schlafkrankheit standauch in der westafrikanischen »Musterkolonie« des Kaiserreichs zu-nächst nur das im Organismus schwer zersetzliche metallorganischeSyphilistherapeutikum Atoxyl zur Verfügung. Atoxyl aber rief we-gen seines hohen Arsengehaltes bereits bei relativ niedrigen Do-sierungen schwerste Nebenwirkungen hervor und kam daher inDeutschland – etwa bei der Syphilistherapie – nur zurückhaltendzur Anwendung.3

3 Vgl. etwa O. Schmiedeberg, Grundriß der Pharmakologie in Bezug auf Arzneimittel-lehre und Toxikologie, Leipzig, 7. Aufl. 1913, S. 527-528.

Umfangreiche therapeutische Erfahrungen lagennicht vor. Ähnlich stand es mit anderen Schwermetallmedikamen-ten, die ebenfalls in Togo erprobt wurden, und auch mit dem 1909gerade erst von Paul Ehrlich dargestellten Salversan, das zwischen1910 und 1914 dort zum Einsatz kam. Erst 1917 ist es Mitarbeiternder Firma Bayer gelungen, ein hochwirksames organisches Schlaf-krankheitstherapeutikum ohne Arsen oder andere Schwermetalle zusynthetisieren, das seit 1921 – neutral – als »Bayer 205«, unter demEindruck des Weimarer Kolonialrevisionismus aber auch als »Ger-manin« in den Handel kam und noch heute als »Suramin« erfolg-reich vertrieben und in der Frühbehandlung der afrikanischen Try-panosomiasis eingesetzt wird.4

4 Vgl. zur Frühgeschichte des Präparates »Bayer 205« (»Germanin«) etwa L. Haendel/K. W. Joetten, »Ueber chemotherapeutische Versuche mit ›205 Bayer‹, einem neuentrypanoziden Mittel von besonderer Wirkung«, in: Berliner Klinische Wochenschrift57 (1920), S. 821-823; M. Mayer, »Über das neue Trypanosomenheilmittel ›Bayer205‹ und seine Bedeutung für die chemotherapeutische Forschung«, in: A. Wittig(Hg.), Verhandlungen der Gesellschaft Deutscher Naturforscher und Ärzte. 87, Ver-sammlung zu Leipzig, Leipzig 1923, S. 199-307, hier S. 305; vgl. auch H. Unger,GERMANIN, Geschichte einer deutschen Großtat, Berlin, Wien 1943.

Die Entwicklung dieses Präparates,das freilich mit seinen toxischen Vorläufern chemisch nichts mehrgemein hatte, bildete das letzte Glied in einer Kette gefährlicherpharmakotherapeutischer Experimente in Deutsch-Ostafrika, Ka-merun und Togo, die immer wieder durch den Hinweis auf dieunbehandelt absolut infauste Prognose gerechtfertigt wurden. Wäh-rend in der kolonialapologetischen Literatur gerne auf die ostafri-kanischen Schlafkrankheitsstudien5

5 Vgl. Robert Koch, Gesammelte Werke, hg. von J. Schwalbe, Bd. II/1, Leipzig 1912.

Robert Kochs verwiesen wird,ohne daß bislang dessen höchst problematische und folgenschwe-

202

re Experimentierfreude hinreichend kritisch analysiert oder bewer-tet worden wäre, ist es um die gleichen Probleme in der »Muster-kolonie« Togo trotz guter Aktenlage bis heute erstaunlich still ge-blieben.

2. Schlafkrankheitsbekämpfung in Togo

Erste Beobachtungen über das Auftreten der Schlafkrankheit in Togowaren durch die kaiserlichen Regierungsärzte Hintze und Krügerbereits im Jahre 1904 nach Berlin berichtet worden.6

6 K. Hintze, »Die Schlafkrankheit in Togo«, Deutsche Medizinische Wochenschrift 30(1904), S. 776-778, S. 812-813; ders., Medizinal-Berichte über die Deutschen Schutz-gebiete 1903/04, S. 171 f.; Krueger, »Bericht über die Schlafkrankheit in Togo«, in:Archiv für Schiffs-und Tropenhygiene 8 (1904), S. 479-506.

Als geeigneteMaßnahme, vor allem, weil vieles noch »[. . .] für eine direkte Über-tragung von Mensch zu Mensch zu sprechen« schien7

7 Hintze, »Die Schlafkrankheit in Togo« (wie Anm. 6), S. 812.

– wirklichpopularisiert wurde die bereits 1894 durch David Bruce geklärteÜbertragungsweise der Trypanosomiasis erst 1906/07 mit den Schlaf-krankheitsexpeditionen Robert Kochs –, wurde eine kleine Zahl Infi-zierter auf dem 710 Meter hohen Hausberg bei Misahöhe isoliert, woalle Patienten nach kurzer Zeit aufgrund des Fehlens jeglicher Thera-pie, aber wohl auch wegen dürftigster Unterbringungsverhältnisseverstarben.8

8 Denkschrift über die Entwicklung der Schutzgebiete in Afrika und der Südsee im Jahre1908/09. Verhandlungen des Reichstags. Sten. Ber. 271 (1911), S. 675; M. Zupitza, »Tä-tigkeit der Schlafkrankheitskommission«, in: Medizinal-Berichte 1908/09, S.292-313,hier S. 293.

Das Schicksal der auf den Hausberg verbrachten Patien-ten sollte in der Folgezeit zu erheblicher Angst vor Isoliermaßnahmendes Gouverneurs und, dadurch bedingt, zur Verheimlichung vielerErkrankungsfälle führen. Nach dem Tod der Isolierten schien dieSeuche in Togo erloschen; gleichwohl sah sich die Kolonialver-waltung aufgrund beunruhigender Berichte über frühere Seuchen-ausbrüche zu weiterer Sorge veranlaßt. So sollten um 1900 allein ineinem Orte nach Berichten von Häuptlingen mehr als tausend Pa-tienten der Schlafkrankheit erlegen sein.9

9 In Sanrokofi, ca.dreißig Kilometer nördlich Misahöhe, um 1900; vgl. Hintze, »DieSchlafkrankheit in Togo« (wie Anm. 6), S. 277.

Auch hatte man aus ande-ren afrikanischen Kolonialgebieten noch bedrohlichere Nachrich-

203

ten10

10 Insbesondere in Deutsch-Ostafrika, wo in der Region um den Viktoria-See vordem Eintreffen Kochs (1906) in wenigen Jahren mehr als 10 000 Menschen derKrankheit zum Opfer gefallen sein sollen. Vgl. R. Koch, »Über meine Schlafkrank-heits-Expedition«, in: ders., Gesammelte Werke, hg. von J. Schwalbe, Bd. II/1, Leip-zig 1912, S. 563.

erhalten, so daß ein erneuter Ausbruch dieser Krankheit ver-heerende Folgen für das Wirtschaftsleben der »Musterkolonie«befürchten ließ, da ja – im Sinne einer sogenannten »kolonialenMenschenökonomie« – die vorwiegend betroffene »farbige Bevöl-kerung« nach allgemeinem kolonialökonomischen Konsens daseigentliche, das sogenannte »organische Stammkapital«11

1 1 Vgl. zu diesen Vorstellungen etwa den ehemaligen Regierungsarzt Togos (1902-1905), L. Külz, »Die Volkshygiene für Eingeborene in ihren Beziehungen zur Kolo-nialwirtschaft und Kolonialverwaltung«, in: Deutsches Kolonialblatt (1910), S. 12-21,hier S. 12: »Den Eingeborenen, unseren kolonialen Hauptwert, in seiner vollenLeistungsfähigkeit zu erhalten [. . .], ist die vornehmste Aufgabe der Kolonialhy-giene. Ihre berufenen Hüter sind die Kolonialärzte«, oder ders., »Grundzüge derkolonialen Eingeborenenhygiene«, in: Beihefte zum Archiv für Schiffs- und Tropen-hygiene 15/8 (1911), S. 14 f.: »So stellt der Farbige den wertvollsten Besitz unsererKolonien, ihr organisches Stammkapital dar. [. . .] Das lebendige Stammkapitalnicht nur in voller Höhe zu erhalten, sondern rentabel zu verwerten [. . .], ist dievornehmste Aufgabe der Kolonialhygiene.« Konkret auf die Schlafkrankheit inDeutsch-Ostafrika bezogen, exemplifizierte Külz (S. 16): Man nehme an, daß inDeutsch-Ostafrika »[. . .] die Schlafkrankheit nur 10 000 Menschenleben [. . .] for-dern wird. Man normiere den Kapitalwert eines Negers [. . .] auf den kleinenBetrag von 10 M. jährlich und nehme ferner an, daß jeder von der SchlafkrankheitDahingeraffte ohne diese Seuche durchschnittlich noch 10 Jahre gelebt hätte, sohaben wir einen Verlust von einer Million nur für diese Seuche.«

bildete.Für den Fall eines großen Seuchenausbruchs wollte das Gouverne-ment gerüstet sein. Tatsächlich konnten bald einige Schlafkrankeermittelt werden, die man in das alte Lager am Hausberg verbrachte.In einem zweiten Schritt setzte Gouverneur Graf Julius von Zecheine aus drei Ärzten bestehende »Schlafkrankheitskommission« einund bestimmte als deren Leiter Regierungsarzt Dr. von Raven undDr. van der Hellen. Anfang Oktober 1908 konnte M. Zupitza demGouverneur ein grundsätzliches Arbeitskonzept für die Kommis-sion unterbreiten. Zupitzas »Vorschläge für eine rationelle Bekämp-fung der Schlafkrankheit in Togo«12

12 ANT. FA 3/5027, Bll. 1-26; Bericht des Regierungsarztes (Oberstabsarzt) M. Zu-pitza, »Vorschläge für eine rationelle Bekämpfung der Schlafkrankheit in Togo«,Anecho, 7. Oktober 1908.

enthielten einen detaillierten›Schlachtplan‹ für den Kampf gegen die Krankheit, das heißt für die

204

systematische Suche (Massenpunktionen von Lymphdrüsen, Blut-entnahmen) und Isolierung bereits an der Trypanosomiasis Erkrank-ter oder Krankheitsverdächtiger. Mit einer Isolierung in möglichsttsetsefreiem Gelände, so hoffte Zupitza, würde die Epidemie durchdie ›Ausschaltung‹ des Vectors Fliege und durch den Einsatz des bisdahin einzig über längere Zeit wirkenden trypanosomenabtöten-den, aber auch für den Patienten nicht ungefährlichen Arsenpräpa-rates Atoxyl zum Verschwinden zu bringen sein. Erste Aufgabe derKommission sollte es sein, alle vermeintlich Schlafkranken der ver-dächtigen Gebiete ausfindig zu machen, um diese dann zur weiterenBeobachtung, Behandlung und Isolierung in besondere »Sammel-oder Konzentrationslager« zu verbringen, nachdem man sie als Try-panosomen-Reservoire zuvor durch eine Atoxyl-Stoßbehandlung»ungefährlich« gemacht habe. Bei diesem Vorgehen müsse wegender Schmerzhaftigkeit der Untersuchungsmaßnahmen, aber auchwegen der subjektiven Beschwerdefreiheit bei objektivem Krank-heitsbefund der zu Isolierenden mit Widerständen gerechnet wer-den; es habe darum, so der Arzt, die Suche und »Zuleitung der Infi-zierten nach den Lagern« unbedingt »unter polizeilicher Bewachung[zu] erfolgen«, um von vornherein »Fluchtversuche nach Möglich-keit zu verhindern«.13

13 Ebd., Bll. 6 f.: »Die nach 2-3maliger Atoxylbehandlung auf einige Zeit ungefähr-lichen Infektionsträger und Kranken werden nach gewissen Sammel- und Konzen-trationslagern geschafft [. . .].«

Deshalb schlug der Arzt dem Gouvernementdaneben vor, sich die einzelnen Familien »[. . .] durch Anbieten ge-wisser Vorteile, die [. . .] für jedes in Behandlung befindliche Mit-glied zu gewähren« seien, gefügiger bzw. »zur Herausgabe ihrer Kran-ken zugänglicher« zu machen. Auch könne man, im Hinblick aufden für die Familien durch Wegfall einer Arbeitskraft entstehendenVerdienstausfall, »[. . .] als Entschädigung [. . .], wie zugleich als Be-stechungsmittel«, an eine »[. . .] völlige oder doch angemessene Steu-erbefreiung für die Dauer der Krankenbehandlung« denken. Da-neben empfehle sich das »[. . .] versteckte Aussetzen von Prämienfür die Anzeige von Krankenunterschlagungen in jedem Falle, indem die Anzeige« auch nur »[. . .] dem Augenschein nach begründetsein könnte«.14

14 Ebd., Bl. 7.

Auf den Wiederholungsfall von »Krankenverheimli-chung« sei mit »empfindlichen Bestrafungen« zu reagieren, und daim übrigen »vieles, in manchen Gegenden alles« vom Verhalten der

205

3»Häuptlinge, Dorfältesten, Zauberer und sonstigen einflußreichenLeuten« abhinge, sei es von vornherein »Sache der Landesbehörden(Bezirksämter, Stationen)«, auf diese Leute den »erforderlichenDruck auszuüben«.15

15 Ebd.

In den Lagern selbst, so der Arzt, sollte dannmit Atoxyl behandelt werden. Darüber hinaus könnten dort aberauch gut »[. . .] andere gegen Schlafkrankheit wirksam erscheinende[sic!] Medikamente erprobt werden, möglichst nach voraufgegange-nen Versuchen an Tieren«.16

16 Ebd., Bl. 8; Tierversuche (Pferde) sollten in der Folgezeit (seit Anfang 1909) aberlediglich mit dem Arsenpräparat »Arsacetin« im Bezirksamt Misahöhe durch dendortigen Forstassessor Metzger auf Veranlassung des Regierungsarztes Dr. vonRaven angestellt werden. Von Raven war das Präparat »von den Hoechster Farb-werken zur Verfügung gestellt« worden. Eine durch den Regierungsarzt sekun-dierte Bitte (Juli 1909) des stellvertretenden Stationsleiters von Sokode-Bassari,Oberleutnant Haering, dort ebenfalls Tierversuche durchführen zu dürfen, lehntedas Gouvernement in Lome mit dem Hinweis auf noch nicht positiv abgeschlos-sene Tierversuche des Regierungsarztes in Lome, Dr. Krüger, ab. Zu dieser Zeitwaren im Lager am Kluto jedoch Humanversuche bereits angelaufen. – ANT. FA 1/19, Bll. 17-21: Haering an Gouvernement, Station Sokode, 17. Juli 1909; v. Ravenan Gouvernement, Kluto, 31. Juli 1909; Erlaß des Gouvernements vom 16. Okto-ber 1909 [Konzept].

Auf der Basis dieses ärztlichen Programms nahm die Schlafkrank-heitskommission Ende Oktober 1908 mit Elan ihre Arbeit auf undbegann zunächst mit der Durchsuchung der als Epidemiegebiet ver-dächtigen Region in Mitteltogo. Kranke oder auch nur Krankheits-verdächtige, die allein durch Drüsenschwellungen aufgefallenwaren, wurden in Begleitung von Polizeitrupps zunächst dem altenHausberg-Lager zugeführt. Die Bevölkerung zeigte sich weder wäh-rend der unverständlichen, unangenehmen Untersuchungs- undRegistrierungsmaßnahmen noch bei der unter Polizeigewalt vollzo-genen Isolierung auf dem Hausberg besonders kooperativ. Es warden Afrikanern noch gut erinnerlich, daß dort kaum vier Jahre zuvorkein Schlafkranker überlebt hatte. Hinzu traten als negative Begleit-umstände eine schnelle Überfüllung des völlig unzureichenden La-gers, die unsensible Mischung verschiedener Ethnien, Altersgrup-pen und Geschlechter sowie ungewohnt niedrige Temperaturen indem immerhin 710 Meter hoch gelegenen »Konzentrationslager«.Schnell errichtete kleine Strohhütten als provisorische Unterkünftekonnten die Situation auf dem Hausberg, der noch dazu »Sturm

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und Wetter besonders ausgesetzt war«,17

17 Zupitza, »Tätigkeit« (wie Anm. 8), S. 308.

kaum erträglicher gestalten,zumal es an Decken, hinreichenden Nahrungsmitteln, Wasser undFeuerholz18

18 Regierungsarzt van der Hellen an Bezirksamt Misahöhe, Palime, 18. Oktober1908. – ANT. FA 3/2074, Bl. 10.

fehlte. So ist verständlich, daß die Ärzte bereits in denersten Wochen der Kampagne auf die prophezeiten Widerstände inder afrikanischen Bevölkerung stießen und sich das von Zupitza ent-worfene Szenario nicht ganz so problemlos entfaltete. »Schuld« amschleppenden Fortgang der Erfassungs- und Isolierungsmaßnahmensei aber, so rechtfertigte sich Zupitza gegenüber Gouverneur vonZech, allein »das Verhalten der Bevölkerung«. »Bei der Verständnis-losigkeit der Eingeborenen gegenüber den Absichten des Gouverne-ments [. . .], dem völligen Abhandensein von Aufopferungssinn undPflichtgefühl gegenüber der Allgemeinheit« sei es nur zu verständ-lich, daß der lediglich »dem Augenblick lebende Eingeborene«wenig Neigung verspüre, »[. . .] freiwillig den mit der Lagerbehand-lung verknüpften Eingriff in seine persönliche Freiheit in Kauf zunehmen«. Ein übriges, so Zupitza, bewirkten daneben »[. . .] ange-borenes Mißtrauen und abschreckende Gerüchte, wohlgeschürt vonden in ihrem Erwerb beeinträchtigten Zauberern«.19

19 Zupitza, »Tätigkeit« (wie Anm. 8), S. 305 f.

2.1 Widerstand in der Bevölkerung

Wie groß der Widerstand in der Bevölkerung tatsächlich war, läßtsich heute schlecht abschätzen; immerhin sah sich das Gouverne-ment am Jahresende 1908 zu Konzessionen gezwungen. Das nochim Ausbau begriffene Hausberg-Lager wurde überstürzt aufgelöstund auf das tiefere Niveau eines benachbarten Höhenrückens amKluto verlegt.20

20 Zupitza an Gouvernement, 21. November 1908 (mit Lagerkonzept als Anlage);Gouvernement an Bezirksamt Misahöhe (Telegramm), Lome, 29. November1908; Gouvernement an Bezirksamt Misahöhe (Erlaß mit Anhang, Planskizze),Lome, 29. November 1908. – ANT. FA 3/2074, Bll. 97-106.

Es war nun angeblich als »völlig offenes Dorf« kon-zipiert und in Quartiere nach Volksstämmen oder Landschaften auf-geteilt. Um den Aufenthalt im Lager attraktiver zu gestalten, gestanddas Gouvernement – ausdrücklich nicht als »Belohnung«, sondernals »erzieherische Maßnahme« – pro Patient zwanzig Pfennig Ver-

207

pflegungsgeld zu, den Männern darüber hinaus bei Wohlverhal-ten eine Ration Tabak, Frauen und Mädchen Seife und Öl zur Kör-perpflege.21

21 Zupitza, »Tätigkeit« (wie Anm.8), S. 308.

Als weiteren Behandlungsanreiz bewilligte Gouverneurvon Zech seit März 1909 auch bedingte Steuerbefreiung für be-obachtungs-, untersuchungs- und behandlungswillige Patienten.22

22 Gouvernementserlaß an Bezirksamt Misahöhe, i. A. gez. Dr. Meyer, Lome, 23.März 1909. – ANT. FA 3/2074, Bl. 131.

Auch diese Maßnahme war keineswegs nur als Entgegenkommengedacht. Sie führte nämlich in der Folgezeit zur Kriminalisierungsolcher Patienten, die sich der Behandlung oder Drüsenkontroll-punktion durch Flucht entzogen, also ein Steuervergehen begin-gen und damit automatisch einer Verfolgung als Steuerflüchtlingeanheimfielen. Besonders überzeugend können die doppelbödigen›Vergünstigungen‹ freilich nicht gewesen sein, denn bereits EndeMai 1909 mußte Gouverneur von Zech eine »Verordnung [. . .] be-treffend Verhütung und Bekämpfung ansteckender gemeingefähr-licher Krankheiten« erlassen, nach der jede Verheimlichung vonKrankheitsfällen mit Gefängnis und Zwangsarbeit bis zu sechs Wo-chen geahndet werden konnte; Untersuchungs- und Isolierunwillig-keit zogen Gefängnisstrafen bis zu vier Wochen nach sich. Danebenwar der jeweilige Lagerarzt seit Februar 1909 bereits befugt, auf»Disziplinarvergehen« im Lager selbst unmittelbar und ohne Rück-sprache mit dem Bezirksamt durch »körperliche Züchtigung« mitdem in Togo üblichen »Tauende« sowie durch »Einziehung von Geld-strafen« zu reagieren.23

23 Vgl. Amtsblatt für das Schutzgebiet Togo 4/22 (1909), S.305 f.; A. J. Knoll, Togo underImperial Germany 1884-1914. A Case Study in Colonial Rule, Stanford, California,1978, S. 89. Körperliche Züchtigung und Verhängung kleinerer Geldstrafen beiDisziplinarvergehen im Lager regelte zuerst ein Erlaß des Gouverneurs vom 6.Februar 1909; ihm war ein »Tauende zum Vollzug der Prügelstrafe« beigefügt. –ANT. FA 3/2074, Bl. 72.

In den Dörfern der Schlafkrankheitsgebietefreilich vermochten die Zwangsmaßnahmen die Untersuchungswil-ligkeit der Bevölkerung kaum zu beeinflussen, so daß Kommissions-leiter Zupitza in seinem ersten Tätigkeitsbericht 1908/09 frustriertmelden mußte:

Es entzieht sich [. . .] immer ein Teil der Einwohner eines Ortes dem anwe-senden Reisearzt und findet hierin bereitwilligste Unterstützung bei seinenMiteinwohnern oder gar bei den Häuptlingen [. . .]. Und da ja geschwolleneDrüsen leicht zu fühlen [sind], so liegt es auf der Hand, daß gerade die damit

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Behafteten in ihrer Verständnislosigkeit alles daransetzen, sich den Untersu-chungen zu entziehen.24

24 Zupitza, »Tätigkeit« (wie Anm. 8), S. 306.

Um »absichtlichem Fernbleiben vorzubeugen« und auch die wirk-lich verreisten Personen »wenigstens ab und zu« zu einer Untersu-chung »heranzubekommen«, unterzog sich der KommissionskollegeZupitzas, Regierungsarzt van der Hellen, sogar der ›Mühe‹ einerVolkszählung, um so durch »Kreuzverhör aller Erwachsenen [. . .]möglichst lückenlose Familien- und Einwohnerlisten« zu erhalten.Diese Aktion, so Zupitza in seinem Bericht, sei jedoch »derartig zeit-raubend«, daß von ihrer »weiteren Durchführung« habe »Abstandgenommen werden« müssen.25

25 Ebd.

Der Widerstand der Internierten rich-tete sich aber nicht nur gegen die unmenschlichen Isolierungsbedin-gungen oder die schmerzhaften Untersuchungen, sondern zuneh-mend auch gegen die therapeutischen Experimente, denen sie alsProbanden zu dienen hatten. War der erste Lagerarzt, Dr. van derHellen, bis zur interimistischen Übernahme seiner Aufgaben durchRegierungsarzt Dr. von Raven Ende November 1908 noch bemühtgewesen, eine Therapie der Schlafkrankheit allein mit dem arsenhal-tigen Präparat »Atoxyl« in der von Robert Koch vorgeschlagenen vor-sichtigen Dosierung durch subkutane Injektionen zu versuchen,26

26 Vgl. Robert Koch, »Über den bisherigen Verlauf der deutschen Expedition zurErforschung der Schlafkrankheit in Ostafrika«, zuerst in: Deutsche MedizinischeWochenschrift 32 (1906), Nr. 51, wiederabgedr. in: ders., Gesammelte Werke, Bd. II/1,Leipzig 1912, S. 509-524, hier S. 521; und ders., »Schlußbericht über die Tätigkeitder deutschen Expedition zur Erforschung der Schlafkrankheit«, ebd., S. 534-546,hier S. 536; Lehrbuchniederschlag etwa bei Schmiedeberg, Grundriß der Pharam-kologie (wie Anm. 3), S. 539.

soänderte sich dies mit dem neuen Arzt bald.

2.2 Die Experimente

Regierungsarzt Dr. von Raven begann Anfang 1909 anstelle des bis-her in der Regel ausschließlich eingesetzten Atoxyls mit Kombina-tionen mehrerer arsenhaltiger Präparate, u.a. der Firma Hoechst, zuexperimentieren,27

27 Daneben kamen nun auch neue Präparate zur Erprobung, so etwa das von P. Ehr-lich entwickelte und Anfang 1909 in die schlafkrankheitsbetroffenen Schutzge-biete versandte Arsenophenylglycin oder das Hoechster Arsacetin. Als Präparat-

wobei sich die Gesamtmenge des verabreichten

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kombination testete von Raven Arsenophenylglycin plus Atoxyl, Auripigmentplus Atoxyl sowie Kollargol plus Atoxyl. – Vgl. Schlafkrankheitsbekämpfung inTogo, Medizinal-Berichte 1909/10, S. 418-443, hier S. 429.

Arsens erheblich steigerte. Daß es sich nun eindeutig nicht mehr umpatientenorientierte Therapieversuche, sondern primär um phar-makologische Erkenntnisexperimente ohne Rücksichtnahme aufdas Einzelschicksal der Probanden handelte, gab von Raven in ei-nem Lagerbericht des Jahres 1909/10 völlig offen zu: Wenn man»[. . .] noch kein abschließendes Urteil über den Wert« der verschie-denen benutzten Medikamente oder über Präparatskombinationenfällen könne, so liege dies einfach daran, »[. . .] daß bei dem Mangelhinreichender Erfahrungen in der Anwendung« der Mittel »[. . .]beim Menschen zuerst die Dosis maxima bene tolerata, sodann derbestwirkende Anwendungsmodus in einer Reihe von Versuchen fest-zustellen« sei, und zwar, so betonte von Raven ausdrücklich, »[. . .]ohne Rücksichtnahme auf einen zu erzielenden therapeutischenEffekt, wodurch zunächst allerdings das gesamte Endergebnis nachder negativen Seite hin beeinflusst« werde. Ein abschließendes Urteilwerde sich erst »nach lange fortgesetzten Versuchen, wie sie alleindurch den Lagerbetrieb gewährleistet« seien, ermitteln lassen.28

28 Bericht (Jahresbericht) über die Schlafkrankheitsbekämpfung in Togo für die Zeit vom1. April 1909 bis 31. März 1910, Teil II Lagerbericht (Berichterstatter: RegierungsarztDr. v. Raven). – ANT. FA 1/448, Bll. 8-20, hier Bl. 13; vgl. auch Medizinal-Berichte1909/10, S. 422-443.

VonRaven sah dabei seine Experimente ausdrücklich weniger in demWunsch begründet, »[. . .] den Prozentsatz von Erfolgen bzw. Hei-lungen anderen Schlafkrankheitsgebieten gegenüber zu erhöhen«,sondern eine nur durch das Experiment zu erzielende Entscheidungüber die »Therapia magna sterilisans« herbeizuführen. Verglichenmit anderen Schlafkrankheitsgegenden wie etwa in Deutsch-Ost-afrika seien die Voraussetzungen für solche Experimente in Togo»ungleich günstiger« durch »[. . .] eine relativ geringe Zahl von Kran-ken, die eine leichte Übersicht gestatte«, durch »[. . .] kleine räum-liche Entfernungen und eine gut gezogene, willige und in der Handder Verwaltungsbehörden befindliche Bevölkerung«.29

29 Bericht, Bl. 9.

Ganz so »gutgezogen« und »willig«, wie von Raven gehofft hatte, waren die Insas-sen des Sammellagers für Schlafkranke am Kluto freilich doch nicht.Hierzu dürfte insbesondere die Kunde von den Vorgängen im Lager,

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die auch durch »zur Beobachtung« in ihre Heimat entlassene Patien-ten weiterverbreitet wurde, beigetragen haben. So setzte die nunnicht mehr allein durch die Krankheit, sondern auch durch dieÄrzte der Schlafkrankheitskommission bedrohte Bevölkerung –außerhalb wie innerhalb des Lagers – den ihnen unverständlichenund als gefährlich erkannten Therapieversuchen der Reise- und La-gerärzte in den folgenden Jahren erheblichen individuellen und teil-weise auch geschlossenen passiven Widerstand entgegen.30

30 Etwa 1909/10 im Stationsgebiet Kete-Kratschi. Vgl. Allgemeines und die Tätigkeitder Reiseärzte (Berichterstatter: Oberstabsarzt und Regierungsarzt Dr. M. Zupitza),Bll. 1-7, hier Bl. 5. Regierungsarzt van der Hellen, Bericht über an die englische Re-gierung zu stellende Forderungen zu einer gemeinsamen Schlafkrankheitsbekämpfungvom 5. September 1913. – ANT. FA 1/248, Bll. 14-21.

Einigeversuchten durch Flucht in die benachbarte Gold Coast Colony,andere durch, wie es hieß, »willkürlichen Namenswechsel« einerEinlieferung ins Lager zu entgehen. Andere, die trotz zweifelhafterDiagnosestellung das Schicksal der Internierung bereits ereilt hatteund die so vor der unmittelbaren Bedrohung durch gefährliche Ar-seneinspritzungen standen, suchten vermehrt ihr Heil in der Flucht.Im Lager selbst wurden Therapieverweigerungen von Monat zu Mo-nat häufiger. Als Reaktion auf ein sich solchermaßen äußerndes»Abhandensein von Aufopferungssinn und Pflichtgefühl gegenüberder Allgemeinheit« reagierten die Ärzte mit der Verschärfung vonDisziplinierungsmaßnahmen, so daß die Verhängung und Protokol-lierung von Disziplinarstrafen bald mehr ihren Alltag bestimmten alsdie Sorge um die ihnen »anvertrauten« Patienten. Die Einschätzungvon Ravens, daß sich die Bevölkerung Togos uneingeschränkt »in derHand der Verwaltungsbehörden« befinde, wurde an schlafkrankenoder vermeintlich schlafkranken Patienten durch eine Verschärfungder Disziplinierungs- und Verfolgungsmaßnahmen brachial verwirk-licht. Jede »willkürliche« Namensänderung von Nachuntersuchungs-patienten oder gar die Flucht aus dem Lager führten zur sofortigenAusstellung von Verhaftungs- oder Bestrafungsersuchen der Lager-ärzte, die an das jeweilige Heimatbezirksamt der Delinquentengerichtet waren und von dessen »Polizeisoldaten« in der Regel umge-hend ausgeführt wurden.31

31 Vgl. etwa den gesamten Aktenfaszikel ANT. FA 3/5028.

Daneben sind bei Nichterscheinen zurNachuntersuchung auch Strafanträge wegen Steuerhinterziehung(!) gestellt oder »Gefängnis(-Strafen)« mit Zwangsarbeit unmittel-

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bar von den Ärzten verhängt worden. Die Verwaltungsakten derSchlafkrankheitskommission sind übervoll davon. Gehorsamsdelik-ten im Lager, meist Therapieverweigerungen, begegneten die Ärzte,abgesichert durch einen Erlaß des Gouverneurs, mit Geld- und Prü-gelstrafen, die laut Gouvernementsverfügung mit einem »Tauende«vollzogen werden mußten, das das Gouvernement immer gleichmitschickte.32

32 Es wurden seit März 1909 Strafbücher geführt. Allein für den Zeitraum Novem-ber/Dezember 1910 konnte Regierungsarzt van der Hellen beispielsweise auf 101Eintragungen zurückblicken. Straftaten waren in den meisten Fällen »Ungehor-sam gegen ärztliche Anweisung«; die Strafen variierten zwischen 3 und 97 Mark, 15Hieben mit dem Tauende und 14 Tagen Gefängnis mit Zwangsarbeit. – ANT. FA3/2075, Bll. 95-101.

Absolut uneinsichtige Probanden der kombiniertenArsenbehandlung versuchte Regierungsarzt van der Hellen schließ-lich sogar durch das Anlegen von Fußketten an weiteren Versuchenzu entkommen zu hindern, wenn sie als »Gefangene« dem Lagerwieder zugeführt worden waren. Diesem Vorhaben mochte dannaber selbst das zuständige Bezirksamt nicht mehr zustimmen undversagte dem Arzt die Fußketten.33

33 Dr. van der Hellen an Bezirksamt Misahöhe, Kluto, 26. November 1913; Dr. H.Gruner an Dr. van der Hellen, Misahöhe, 3. Dezember 1913; Dr. van der Hellen anBezirksamt Misahöhe, Kluto, 15. Dezember 1913. – ANT. FA 3/2076, Bll. 154-156.

2.3 Bilanz der Experimente in Togo

Eine exakte quantitative Bilanz über Erfolge, Mißerfolge oder Be-handlungsfehler in den Lagern Hausberg und Kluto zu erstellen istaus verschiedenen Gründen nicht mehr möglich. Die von den La-gerärzten van der Hellen und von Raven angefertigten Statistikensind unvollständig, in sich nicht schlüssig und brechen darüber hin-aus im April 1912 ab. »Ambulatorisch behandelte« Patienten tauchenin den Statistiken mit ihrem Posttherapieschicksal gar nicht auf. An-dererseits nahmen bei steigender Kombinationsvielfalt der allesamtgiftigen Präparate die Nebenwirkungen unübersehbar zu: Hatten sichbei der alleinigen Erprobung von Atoxyl an einer Versuchsgruppe nurtheoriebedingte Zustandsverschlechterungen – einschließlich irrever-sibler Erblindungen – von knapp fünf Prozent ergeben, so stieg dieserWert bei einer weiteren Probandengruppe, an der mit Präparatkom-binationen (Auripigment plus Arsenophenylglycin plus Atoxyl oderdem silberhaltigen Gonorrhoemittel Kollargol plus Atoxyl) experi-

212

mentiert worden war, auf fast 17 Prozent. Daneben starben durch-schnittlich aufgrund »intercurrenter Erkrankungen«, die nicht un-wesentlich auf die allgemeinen Lagerbedingungen zurückzuführenwaren, in jeder Versuchsgruppe weitere 15 Prozent der Patienten.34

34 Bericht Teil II: Lagerbericht, Bll. 17-19.

Auch eine qualitative Bewertung der Experimente ist diffizil, weilsie einerseits die Giftigkeit, andererseits aber auch die unstrittig try-panozide Wirkung der Arsenpräparate und hier insbesondere desArsenophenylglycins in Rechnung zu stellen hat; die erprobten Stof-fe waren ja tatsächlich in der Lage, Trypanosomen abzutöten unddamit den Wirtszyklus wenigstens für eine gewisse Zeit zu unterbre-chen. Das von Paul Ehrlich entwickelte Präparat Arsenophenylgly-cin erbrachte – insbesondere in den Frühstadien der Erkrankung –bemerkenswerte Ergebnisse. Gleichwohl war man – trotz aller Ver-suche – dem selbstgesteckten und eigentlichen Ziel, die »Therapiamagna sterilisans« mit einer »Dosis maxima bene tolerata« der be-kannten Arsenpräparate oder ihrer Kombinationen zu erreichen,auch 1912 noch keinen Schritt nähergekommen. Dies mußte Regie-rungsarzt van der Hellen in einem unveröffentlicht gebliebenenBericht über Die Aussichten für die Bekämpfung der Schlafkrankheitin Togo35

35 Dr. van der Hellen, Die Aussichten für die Bekämpfung der Schlafkrankheit in Togo,– ANT. FA 1/5, Bll. 191-211.

vom Dezember 1912 unumwunden zugeben. Zwar habesich das Arsenophenylglycin als »bestes Mittel« unter den bekanntenganz gut bewährt, doch sei es auch bei diesem, selbst noch nachMonaten, zu Rückfällen gekommen. Darum und »wegen der be-sonderen Eigenschaften« des Mittels, »[. . .] die aus ihm leicht eintödliches Gift entstehen« ließen, sei auch an eine Abkehr von derLagerbehandlung nicht zu denken, wozu »zwingende Gründe« imübrigen ja auch nicht vorlägen. »Dank der Tätigkeit der Verwaltungs-behörden, die den Eingeborenen zum Gehorsam erzogen [. . .]« hät-ten, sei es überdies vielleicht doch noch »[. . .] möglich, dass die imGang befindlichen Versuche mit einem neuen Mittel« die Ärzte»dem Behandlungsideal« näher brächten. Die »Entscheidung hier-über« erfordere »jedoch noch ausgedehnte zeitraubende Versuche«.36

36 Ebd., Bl. 211.

Daß der Verfasser des Berichtes trotz dieses Eingeständnisses dieErfahrungen bei der Schlafkrankheitsbekämpfung in Togo dennochgerne veröffentlicht sehen wollte, um sich und seinen Kollegen Zu-

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pitza und von Raven die »Anwartschaft« auf einen von der belgi-schen Regierung ausgesetzten Preis in Höhe von 200 000 Francszu sichern, zeigt darüber hinaus, wie auch ärztliches Geltungsbe-dürfnis die therapeutischen Experimente in Togo bestimmt hat.37

37 Dr. van der Hellen an Reichskolonialamt, Weimar, 8. Februar 1913 (Abschrift). –ANT. FA 1/5, Bll. 227 f.

Die Hoffnungen der Ärzte zerschlugen sich freilich, denn das Reichs-kolonialamt hat sich – wohl wegen der pessimistischen Tendenz desBerichts – nicht zu dessen Freigabe entschließen können.38

38 Staatssekretär des Reichskolonialamtes, i.V. gez. Conze, an Gouverneur von Togo(Herzog Adolf Friedrich zu Mecklenburg), Berlin, 28. Januar 1913. Ebd., Bll. 219 f.

Die La-gerversuche in Togo wurden unterdessen mit kaum verminderterIntensität fortgesetzt. Zwar drängte das Reichskolonialamt seit EndeJanuar 1913 auf eine Verkürzung der Internierung und den »[. . .]Übergang zur ambulanten Behandlung [. . .], um dem schon hervor-getretenen passiven Widerstand der Bevölkerung gegen die ihr un-verständliche Unterbringung und lange Zurückhaltung gesund er-scheinender Personen in ein Krankenlager« entgegenzutreten. Sieempfahl sogar, die in »[. . .] der eingeborenen Bevölkerung mißliebiggewordenen Ärzte tunlichst nicht mehr bei der Schlafkrankheits-bekämpfung zu verwenden«.39

39 Ebd.

Umgesetzt wurde aber die letzte derbeiden Empfehlungen nicht und die erste nur insofern, als man denHäuptlingen des Schlafkrankheitsgebietes im April 1913 eine Ver-kürzung der Internierungszeit auf maximal zwei Monate versprach.40

40 Dr. Zupitza an Bezirksamt Misahöhe, Kluto, 27. März 1913. – ANT. FA 3/2076,Bl. 99.

Ob dieses Versprechen gehalten wurde, ist nicht mehr zu überprü-fen. Jedenfalls hat Regierungsarzt van der Hellen bereits im Juni 1913das Gouvernement in Lome »gehorsamst« darauf »aufmerksam« ge-macht, daß er »mindestens sechs Monate« benötige, um »etwa an20 Personen« ein neues, zu Testzwecken eingesandtes Antimonprä-parat (Trixidin) »auszuerproben«.41

41 Dr. van der Hellen an Gouvernement Lome, Kluto, 25. Juni 1913: »Um eine wirk-lich einwandfreie Prüfung des Mittels vornehmen zu können – die Möglichkeitdazu ist wie vielleicht in keinem anderen Schutzgebiet gegeben –, ist es [. . .] uner-läßlich, dass die damit Behandelten [. . .] mindestens sechs Monate lang [. . .] imLager verbleiben. Da die wirksame Dosis beim Menschen zunächst noch auszuer-proben ist und für den Fall, dass das Mittel wirksam ist, eine zu kleine Zahl vonVersuchspersonen wenig Anhalt dafür geben [!], ob sich die Anwendung in grösse-rem Maßstab [!] empfiehlt, wird man gut tun, es nach Feststellung der wirksamen

Von einer Durchführung der

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Dosis an einer nicht zu kleinen Zahl, ich denke etwa an 20 Personen, in Anwen-dung zu bringen, es sei denn, dass es gleich von vornherein in mehreren Fällen ver-sage« (ANT. FA 1/248, Bll. 1 f.).

Versuche über den gewünschten Zeitraum hinaus muß ausgegangenwerden, da es sich bei der Nachricht des Arztes um eine Mitteilung,nicht aber um eine Anfrage handelte. Erst im Frühjahr 1914 ist voneiner weiteren intravenösen Anwendung der schwerste Nekrosenverursachenden und sich als völlig unwirksam erweisenden öligenAntimon-Suspension Trixidin abgeraten worden.42

42 Vgl. R. Lurz, »Versuche (in Deutsch-Ostafrika) mit dem Trypanosomenheilmittel›Trixidin‹ bei schlafkranken Menschen«, in: Archiv für Schiffs- und Tropenhygiene 18(1914), S.212 f.

Es ist heute nicht mehr exakt festzustellen, wie viele der mit denarsenhaltigen Präparaten Atoxyl, Arsazetin, Arsenophenylglycinund Auripigment, mit Kollargol oder dem Antimon-MedikamentTrixidin behandelte Patienten der Krankheit oder ihrer Behandlungerlegen sind oder auch ›nur‹ unter den Vergiftungserscheinungen,die alle diese Präparate bereits bei geringen Dosierungen hervorrie-fen, gelitten haben. Es sollte bei der Darstellung auch nicht auf eine»Quantifizierung« ärztlichen Fehlverhaltens im Schlafkrankenlageram Kluto ankommen. Der qualitative Aspekt des ärztlichen Han-delns, vor allem aber die Bedingungen, unter denen sich Ärzte imrechtlichen und moralischen ›Freiraum‹ der kolonialen Peripheriedes Kaiserreichs ihr ›Patientengut‹ sichern und für ihre Experimentegefügig machen konnten, ist bedrückend genug.

3. Schlafkrankheitsbekämpfung in Deutsch-Ostafrika

Erste Alarmmeldungen über das Auftreten der Schlafkrankheit inDeutsch-Ostafrika erreichten die Kolonialabteilung des Auswärti-gen Amtes im Jahre 1902, als an der Nordgrenze des Schutzgebie-tes im Bezirksamt Muanza vier tödliche Krankheitsfälle in der Nähedes »Grenzflusses« Gori registriert werden mußten. Aufgrund der un-übersichtlichen Grenzlage sah sich das Gouvernement in Daressa-lam zwar außerstande, eine »Absperrung der bedrohten Gebietenach Uganda hin« durchführen zu lassen, wies jedoch die Bezirks-ämter Muanza und Bukoba an, durch ihre Stationsärzte die weitereAusbreitung der Seuche beobachten zu lassen, verdächtige Erkran-

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kungen sofort zu melden und einen Arzt an die meistgefährdetenOrte zu entsenden. Ein Stabsarzt der Schutztruppe wurde zum Stu-dium der Seuche auf eine Reise in englisches Gebiet nach Ugandaabkommandiert, während die Stationsärzte von Bukoba und Muan-za zunächst nur neue bakteriologische Ausrüstungen erhielten.43

43 Vgl. Medizinal-Berichte über die deutschen Schutzgebiete 1902/03, S. 387.

In den folgenden Jahren erwiesen sich jedoch die getroffenenMaßnahmen als fast unnötig, da nur vereinzelt Schlafkranke in denvermeintlich gefährdeten Grenzbezirken aufgefunden werden konn-ten.44

44 So waren 1903 nur insgesamtzehn Fälle aus dem englischen Gebiet nach Bukobadurch eingeborene Arbeiter eingeschleppt worden, ohne daß sich die Krankheitweiter verbreitet hätte. Dreizehn Patienten dieser Gruppe verstarben. – Vgl. Medi-zinal-Berichte 1903/04, (wie Anm. 6), S. 302.

Lediglich auf der Insel Kome im Viktoria-See war es StabsarztDr. Feldmann 1904 gelungen, die Überträgerfliege Glossina palpalisbzw. das Trypanosoma ugandense als Erreger nachzuweisen. Immer-hin endeten 28 der 33 von Feldmann beobachteten Fälle tödlich, wasauf eine extreme Letalität der Krankheit schließen ließ; von einer en-demischen Verbreitung konnte freilich nach dem Urteil des Schutz-truppenarztes noch keine Rede sein.45

45 Vgl. Medizinal-Berichte über die deutschen Schutzgebiete 1904/05, S. 37 f.

In beängstigendem Maßehatte sich aber inzwischen die Schlafkrankheit in anderen Gebie-ten West- und Zentralafrikas, insbesondere in Uganda ausgebreitet.So waren im Viktoria-Njansa-Gebiet 1903 nach Schätzungen mehrals zwei Millionen Afrikaner der Seuche erlegen,46

46 Vgl. Koch an den Minister der Geistlichen, Unterrichts- und Medizinalangelegen-heiten, Berlin, 30. Juli 1904, in: R. Koch,, Gesammelte Werke, hg. von J. Schwalbe,Bd. II, Teil 2, Leipzig 1912, S. 926-928, hier S. 926. – Nach Informationen Kochswar die Krankheit 1896 durch Ansiedler aus dem Kongo an das Nordufer des Vic-toria-Sees verschleppt worden. Von der Ortschaft Usoga ausgehend, habe sie sichin den folgenden Jahren nach Osten und Westen am Ufer des Sees entlang ausge-breitet. Vgl. auch Wolfgang Genschorek, Robert Koch – Selbstloser Kampf gegen Seu-chen und Infektionskrankheiten, Leipzig 1981, S. 188.

so daß die engli-sche Regierung gezwungen war, »energische Maßregeln gegen dieVerschleppung der Schlafkrankheit von Uganda nach dem Küsten-gebiet«47

47 Koch an den Minister der Geistlichen, Unterrichts- und Medizinalangelegen-heiten, Berlin, 21. September 1904, in: R. Koch, Gesammelte Werke, hg. von J.Schwalbe, Bd. II, Teil 2, Leipzig 1912, S.928. Koch kritisiert das »englische Verbot,Eingeborene mit Symptomen der Schlafkrankheit zur Eisenbahnfahrt zuzulas-

zu treffen. Gleichzeitig hatte man in den europäischen Me-tropolen umfangreiche Anstrengungen zur Erforschung der Schlaf-

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sen«. Der »Zweck« eines solchen Schrittes sei »vollkommen verfehlt«. Lange Zeit,bevor sich »offenkundige Symptome der Schlafkrankheit« zeigen würden, seienPatienten doch schon in der Lage, »die Krankheit durch die in ihrem Blute befind-lichen Trypanosomen« zu »verschleppen«.

krankheit in Angriff genommen. Frankreich schickte sich an, einevon der Academie de Medecine vorgeschlagene Mission zum Stu-dium der Seuche in seine afrikanischen Kolonialgebiete zu entsen-den.48

48 Ebd.

Die berechtigte Sorge, daß die Schlafkrankheit wohl kauman »den Grenzen des deutschen Schutzgebietes« haltmachen wer-de, aber auch die Option, daß »deutsche Wissenschaft [. . .] bei demallseitig aufgenommenen Kampf gegen die Schlafkrankheit [. . .]nicht zurückbleiben«49

49 Ebd. – Trotz dieser Andeutung eines Konkurrenzkampfes schreibt Koch wenigspäter von den »vereinigten Bemühungen der englischen, französischen, portugie-sischen und deutschen Ärzte«, denen es »hoffentlich gelingen« werde, »dieser mör-derischen, auch unsere Kolonien ernstlich bedrohenden Seuche Herr zu werden«(ebd.).

dürfe, veranlaßte die Kolonialabteilung desAuswärtigen Amtes, den Preußischen Minister der Geistlichen, Un-terrichts- und Medizinalangelegenheiten sowie den Reichsgesund-heitsrat, im Jahre 1906 eine eigene Expedition zur Erforschung derSchlafkrankheit nach Deutsch-Ostafrika (im folgenden DOA) zuentsenden. Die Expedition sollte unter Leitung von Robert Kochstehen und ausschließlich der Schlafkrankheit gewidmet sein; die wis-senschaftlichen Voraussetzungen hierfür waren ausgezeichnet, nach-dem Koch bereits bei seinem – wesentlich der Klärung des Te-xas- und Recurrensfiebers sowie Peststudien gewidmeten – zweitenAufenthalt in DOA von Januar bis Oktober 1905 auch eingehen-de Trypanosomiasisstudien aufgenommen und besonders den Ent-wicklungsgang der Trypanosomen in der Überträgerfliege Glossinastudiert hatte. Mit diesen Untersuchungen befand sich Koch in derersten Reihe der durch Bruce und Castellani eingeleiteten interna-tionalen Trypanosomiasisforschung.50

50 Robert Koch, »Vorläufige Mitteilungen über die Ergebnisse einer Forschungsreisenach Ostafrika«, in: ders., Gesammelte Werke, hg. von J. Schwalbe, Bd. II, Teil 1,Leipzig 1912, S.477-486, hier S.483-486; Bernhard Möllers, Robert Koch – Persön-lichkeit und Lebenswerk 1843-1910, Hannover 1950, S. 295-303; Thomas D. Brock,Robert Koch – A Life in Medicine and Bacteriology, Madison, Heidelberg 1988,S.262 f.

Möglicherweise hätte Kochseine einmal begonnenen Schlafkrankheitsstudien in DOA fortge-setzt, doch die Verleihung des Nobelpreises (12. Dezember 1905)

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erzwang eine mehrmonatige Unterbrechung dieser wichtigen Ar-beit.

Nicht ohne die tropenmedizinischen Forschungsergebnisse desVorjahres am 31. Januar vor überfülltem Auditorium der Berlinermedizinischen Gesellschaft51

51 Robert Koch, »Über afrikanischen Recurrens«, in: ders., Gesammelte Werke, hg.von J. Schwalbe, Bd. II, Teil 1, S. 493-508.

und am 7. März in der Kaiser Wil-helms-Akademie in Anwesenheit des Kaisers und des Kriegsmini-sters der Sanitätsführung des Reiches52

52 Möllers, Robert Koch (wie Anm. 50), S. 307.

vorgetragen zu haben, tratKoch zusammen mit Ehefrau Hedwig Ende März 1906 seine dritteReise von Hamburg aus nach DOA53

53 Vgl. ebd., S. 310-340; Brock, Robert Koch (wie Anm. 50), S. 264-266; Genschorek,Robert Koch (wie Anm. 46), S. 188 f.

an und erreichte das Schutzge-biet nach fast 60tägiger Seereise Ende Mai. Begleitet wurde er vonseinem langjährigen Mitarbeiter, dem Königlich Preußischen. Ober-arzt Friedrich Karl Kleine,54

54 Geboren am 14. Mai 1869, Stralsund; gestorben am 22. März 1951, Johannesburg;Studium der Medizin in Halle; Promotion 1904; mit Koch in Rhodesien undÄgypten 1903/04; Schlafkrankheitsexpedition in Deutsch-Ostafrika (DOA) 1906/07; Schlafkrankheitskommission DOA und Kamerun 1908-1914; Trypanosomia-sis-Experiment mit Max Taute in DOA 1911-1914; Kamerun 1914; Internierung1916-1919; Professor und Abteilungsleiter am Robert Koch Institut 1920; Expedi-tion zur Erforschung der Schlafkrankheit in Rhodesien und Belgisch Kongo mit»Bayer 205« [»Germanin«] 1920; 1921-1923 Einführung der »Germanin«-[Sura-min]-Behandlung; Professor für Hygiene in Berlin 1924; Mitglied der Internatio-nalen Kommission des Völkerbundes zur Erforschung der Schlafkrankheit 1926/27; Forschungen im Tanganyika Territory im Auftrag der Notgemeinschaft derdeutschen Wissenschaftler 1929/30; Präsident des Robert Koch Instituts 1933-1945. – G. Olpp, Hervorragende Tropenärzte, München 1932, S. 198 f.; H. Kunert,»F.K. Kleine«, in: Friedrich Karl Kleine, Ein deutscher Tropenarzt, Hannover 1949,S.9-23.

Regierungsrat (Kaiserliches Gesund-heitsamt) Max Beck, Sanitätsrat Libbertz – einem alten Studien-freund – sowie in DOA von den Schutztruppenstabsärzten RobertKudicke und Otto Panse nebst Sanitätsfeldwebel Sacher. Um dieEpidemiologie, vor allem aber die Therapiemöglichkeiten der Schlaf-krankheit umfassend erforschen zu können, mußte zunächst ein –möglichst großer – Seuchenherd gefunden werden, was gar nicht soeinfach war. Der beschwerliche Expeditionsweg führte von Tangaüber das Ostusambaragebirge nach Muansa am Südufer des Victo-ria-Sees und schließlich auf die britisch-ostafrikanischen Sese-Inseln

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(Uganda-Gebiet), wo in wenigen Jahren mehr als 20000 Menschen– annähernd zwei Drittel der Inselbevölkerung – der Schlafkrank-heit zum Opfer gefallen waren. Nach Vorgesprächen mit dem eng-lischen Gouverneur, die Koch zusammen mit Otto Panse AnfangAugust geführt hatte, war der Expedition die Erlaubnis erteilt wor-den, auf der kleinen Inselgruppe nahe Entebbe ihr Forschungslagereinzurichten.55

55 Ebd., S.41.

Da die Ätiologie der Krankheit durch englische For-scher und der Wirtszyklus der Parasiten durch ihn selbst bereitsweitgehend geklärt war, ging es Koch nun vor allem darum, einewirksame Therapie der Schlafkrankheit zu entwickeln, darüber hin-aus aber auch, nach geeigneten Möglichkeiten der Isolierung Er-krankter zu suchen. Auf den Inseln eingetroffen, nahm die Expedi-tion ihre Arbeit mit großem Engagement auf. Friedrich Karl Kleineerinnert sich 1949:

Mikroskopiert wurde in zwei großen vom deutschen Gouvernement in Da-ressalam entliehenen sog. Landmesserzelten. Gegenüber lag die geräumige,grasbedeckte Behandlungsstelle für die Kranken, in der Feldwebel Sacherdie Listen führte, und den Patienten eine große auf Holz geschriebeneNummer um den Hals hing. Ich machte die Drüsenpunktionen, Blutprä-parate und Atoxylinjektionen. Die Kranken, die nicht auf der Insel selbstansässig waren, bauten sich ihre Hütten in der Nähe unseres Lagers. Solangeunsere Krankenzahl sich noch in erträglichen Grenzen bewegte, wurden dieUntersuchungen frisch gefangener Glossinen fortgesetzt. Jeden Morgen inder Frühe zogen die Fliegenboys aus, um gegen Abend ihren Fang heimzu-bringen, der am nächsten Tage zur Untersuchung kam.56

56 Ebd., S. 42.

Täglich wurden schließlich mehr als tausend Patienten untersuchtund mit dem organischen Arsenpräparat Atoxyl behandelt, das baldin »möglichst großen Quantitäten«57

57 Koch an Gaffky, Sese, 15. September 1906, zitiert nach Möllers, Robert Koch (wieAnm. 50), S. 314-316, hier S. 316.

bei der Lanolinfabrik Martini-kenfelde (Vereinigte Chemische Werke Charlottenburg) nachbe-stellt werden mußte, denn Koch ging nicht sparsam mit der nichtungefährlichen Lösung um, wie Kleine berichtet. Koch injizierte»nicht in der Art, wie die Kliniker Arsen zu geben pflegten, d.h. invorsichtig allmählich ansteigenden Dosen, sondern er gab an zweiaufeinanderfolgenden Tagen jedesmal 0,5 Gramm subkutan in be-

219

stimmten Intervallen.«58

58 Kleine, Tropenarzt (wie Anm. 54), S. 43.

Tatsächlich war die kurzfristige klinischeBesserung der Krankheitssymptome verblüffend gut, aus epidemiolo-gischer Sicht wäre allerdings eine vollständige oder doch zumindestlängerfristige Beseitigung der Parasiten im Blut wichtiger gewesen.Ein solcher Effekt freilich war wegen der Toxizität des Präparatesnicht zu erreichen, wie Koch bei einer Steigerung der Dosis auf1 Gramm Atoxyl, gespritzt in Intervallen von sieben bis zehn Tagen,feststellen mußte: »Nicht wenige Kranke entzogen sich sehr bald die-ser stärkeren Behandlung«, die schmerzhaft war und auch Schwindel-gefühle, Übelkeit und Koliken hervorrief. Als schließlich »bei eini-gen Kranken« sogar irreversible Erblindungen auftraten, habe man»sofort mit der starken Behandlung aufgehört« und sei »wieder zuden früheren Halbgrammdosen übergegangen«.59

59 Robert Koch, »Schlußbericht über die Tätigkeit der deutschen Expedition zurErforschung der Schlafkrankheit«, in: ders., Gesammelte Werke, hg. von J. Schwalbe,Bd. II, Teil 1, Leipzig 1912, S. 534-546, hier S. 536.

Neben Atoxyl wur-den auch andere Präparate »geprüft«,60

60 Ebd., S. 537-538.

so etwa arsenige Säure in Formdes Natrium arsenicosum oder die schwächer arsenhaltigen PräparateNucleogen der Firma H. Rosenberg (Berlin) und Arsenferratin vonG. F. Boehringer und Söhne (Mannheim). Bei der subkutanen Verab-reichung der Farbstoffe Trypanrot, von dem Paul Ehrlich die Gruppemit einem »ausreichenden Vorrat«61

61 Robert Koch, »Über den bisherigen Verlauf der deutschen Expedition zur Erfor-schung der Schlafkrankheit in Ostafrika«, in: ders., Gesammelte Werke, hg. v. J.Schwalbe, Bd. II, Teil 1, Leipzig 1912, S. 509-524, hier S. 521.

versorgt hatte, und Afridolblau(Dichlorbenzidin) aus der Farbenfabrik von Fr. Bayer in Elberfeldtraten so starke Schmerzen auf, daß sich eine Wiederholung der In-jektionen bei dem angetroffenen »Krankenmaterial« nicht ausfüh-ren ließ.62

62 Robert Koch, »Schlußbericht« (wie Anm. 59), S. 537 f.

Offensichtlich genoß Koch besonders in den ersten Monaten dieungestörten Forschungsbedingungen auf den paradiesisch fruchtba-ren, durch die Schlafkrankheit aber stark entvölkerten Sese-Inselndes Viktoria-Sees und arbeitete – auch sonntags – mit großer Ener-gie von Sonnenaufgang bis zur Abenddämmerung. Schon am erstenTag nach der Ankunft auf den Inseln hatte er Kleine gefragt: »Kön-nen Sie sich einen schöneren Platz auf der Welt zum Arbeiten vor-

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stellen? Nichts stört uns, keine Besuche und so selten die Post!«63

63 Kleine, Tropenarzt (wie Anm. 54), S. 44.

–Gleichwohl sollten sich Störungen einstellen; nachdem Hedwig Kochwegen einer Malariainfektion bereits frühzeitig hatte DOA verlas-sen müssen, litt ihr Mann am Ende des ersten Expeditionsjahres sehran Lyphangitiden infolge von Sandflohstichen, war wochenlang »anseine Hütte gefesselt und konnte kaum zum Mikroskopierzelt hin-überhumpeln«.64

64 Ebd., S:44.

Nach 18monatigen Trypanosomiasisstudien tratauch er im Oktober des Jahres 1907 die Heimreise an.65

65 Vgl. Genschorek, Robert Koch (wie Anm. 46), S. 192. – Auf der »Prinzregent« reis-te – neben zahlreichen Schachspielern – auch Bernhard Dernburg von einem Be-such im Schutzgebiet zurück. Koch fand unter den Schachspielern gute Unterhal-tung, mied aber einen Journalisten, der besser als er spielte. »Zu verlieren wünschteKoch nicht« (Kleine, Tropenarzt [wie Anm. 54], S. 45).

Als seinenNachfolger und Leiter der Schlafkrankheitsbekämpfung in Deutsch-Ostafrika sollte der Reichsgesundheitsrat zwei Monate später Stabs-arzt Professor Dr. Kleine ernennen und mit weitreichenden Macht-befugnissen ausstatten.66

66 Vgl. Ann Beck, »The Role of Medicine in German East Africa«, in: Bulletin of theHistory of Medicine 45 (1971), S. 170-178, hier S. 175.

Als Erfolg kann die Schlafkrankheitsexpedition Kochs wohl kaumgewertet werden. Die Ermittlung einer dauerhaft wirksamen Che-motherapie war nicht gelungen, statt dessen hatte sich die Toxizi-tät oder Verabreichungsproblematik mit Injektionsschmerzen undunerwünschten Begleitwirkungen der »geprüften« Wirkstoffe klarherausgestellt. Vor diesem Hintergrund ist es nicht überraschend,daß Koch in seinen Schlußfolgerungen auf alte sanitätspolizeilicheIsoliermaßnahmen und sogar auf ökologische Interventionen um-schwenkte. Wenig erklärlich ist allerdings sein Festhalten an der pro-blematischen Atoxyl-Therapie. Insgesamt hatte sich die Vorstellung,die Schlafkrankheit ähnlich wie Malaria mit einem Medikamenttherapieren und ihr gleichzeitig vorbeugen zu können, als Fehlein-schätzung erwiesen.

Zurück in Berlin, entwickelte Koch aus seinen Forschungserfah-rungen Präventions- und Therapiemaßnahmen. So schlug er als al-ternative »Isolierungsmaßnahmen« nach Abschluß der Expeditiondem Reichsgesundheitsrat am 18. November 1907 folgende Mög-lichkeiten67

67 Koch, »Mitteilung über den Verlauf und die Ergebnisse der vom Reiche zur Erfor-

vor: Entweder könne man »dazu übergehen, die ganze

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schung der Schlafkrankheit nach Ostafrika entsandten Expedition, mündlicherBericht auf der Sitzung des Reichsgesundheitsrates vom 18. November 1907« (Vor-sitz: Präsident Dr. Bumm), Abdruck in: ders., Gesammelte Werke, hg. von J. Schwal-be, Bd. II, Teil 2, Leipzig 1912, S. 930-940.

Bevölkerung verseuchter Bezirke in gesunde Gegenden zu versetzen;die infizierten Individuen würden dann, da die Sterblichkeit ohneBehandlung eine absolute sei, ausnahmslos zugrunde gehen, damitwerde dann die Seuche erlöschen, [. . .] es sei aber fraglich, ob diesesehr eingreifende Maßregel, die natürlich große Härten im Gefolgehat, sich in der Praxis durchführen ließe«. Immerhin sei Englanddabei, »gegenwärtig in dieser Richtung bereits Versuche« zu unter-nehmen.68

68 Ebd., S.935-936.

Viel »leichter durchzuführen« und erheblich »schonen-der« sei es aber, »in verseuchten Orten alle Leute genau« zu untersu-chen, die Infizierten »herauszugreifen«, um diese Kranken dann in»Konzentrationslagern« zu vereinigen. Hierbei orientierte sich Kochan »concentration camps, wie sie die Engländer nennen«, in denenzuerst lästige Buren als politische Gegner, später aber auch Infektiö-se isoliert bzw. interniert und damit unschädlich gemacht wordenwaren. Einige Lager dieser Art seien bereits in Betrieb genommenworden. Man könne sie freilich, so Koch, nur an fliegenfreien Orteneinrichten, und »außerdem müsse die Zahl« der Insassen auf höch-stens tausend in einer Niederlassung beschränkt bleiben, da sichsonst »große Schwierigkeiten in hygienischer Beziehung (Verpfle-gung usw.)« ergeben würden.69

69 Ebd., S.936.

Als dritte Hauptmaßnahme müssesofort damit begonnen werden, in gefährdeten Gebieten radikale»Abholzungen« der Waldbestände vorzunehmen.70

70 Ebd.

Im Hinblick aufdie Therapie der Krankheit schlug Koch eine Behandlung mit der»neuen Arsenverbindung« Atoxyl vor. Obwohl das Arsen »in derGestalt des Atoxyls keinswegs ungefährlich« sei, habe er sich imLaufe der Zeit davon überzeugen können, daß dieses Mittel »bei derBekämpfung der Schlafkrankheit ganz vorzügliche Dienste« leiste.71

71 Ebd.

Im Schutzgebiet selbst hat man sich nach der Abreise Kochs des-sen Vorschläge, die vom Reichsgesundheitsrat verabschiedet wordenwaren, bald zu eigen gemacht und am Victoria-See (Kigarama, Schi-rati) sowie am Tanganjika-See (Niansa) drei Schlafkrankenlager ein-

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gerichtet, über 1200 Patienten dort isoliert und nach den Empfeh-lungen Kochs, freilich mit wenig Erfolg, zu behandeln begonnen. Esläßt sich heute nicht mehr feststellen, bei wie vielen der Interniertenes sich nur um Krankheitsverdächtige handelte und wie viele tat-sächlich erkrankt waren. Ebensowenig ist heute eine Aussage dar-über zulässig, ob die Krankheit um 1906/07 im Schutzgebiet selbst,das heißt ortsgebunden, an Häufigkeit zugenommen hatte oder –wie häufig behauptet – vermehrt aus Uganda und dem Kongo-Staateingeschleppt worden war. Sicher muß jedoch davon ausgegangenwerden, daß die diagnostische Sensibilität der Ärzte für das Krank-heitsbild, verglichen mit den Jahren vor 1906/07, erheblich zuge-nommen hatte. Sie erhofften sich, ohne – im Gegensatz zu Koch –von den Erfolgsaussichten ihrer Behandlungsmethoden wirklichüberzeugt zu sein, daß Krankheitsverdächtige oder tatsächlich Kran-ke durch eine Internierung doch zumindest »als Parasitenträgerausgeschaltet«72

72 Kleine, in: Medizinal-Berichte über die deutschen Schutzgebiete 1908/09, S. 25.

wären. Ob aber tatsächlich eine Heilung eintre-te, berichtete Stabsarzt Kleine 1909 nach Berlin, könne »erst dieZukunft lehren«.73

73 Ebd., S.28.

Unterdessen behandle man jedoch alle Patienten»insbesondere mit Atoxyl und anderen Arsenpräparaten«.74

74 Ebd.

Nebendem »Hauptvorteil der Konzentrationslager«, der darin bestehe,»daß sie eine erhebliche Anzahl von Parasitenträgern dem Verkehr«entzögen, würden in den Lagern »zudem neue Medikamente pro-biert und wissenschaftliche Untersuchungen ausgeführt«.75

75 Ebd.

Welchgeringer Erfolg den Therapieversuchen Kleines und anderer Stabs-ärzte der deutsch-ostafrikanischen Schutztruppe im Zeitraum 1908/09 in mittlerweile zehn Schlafkrankenlagern sowie weiteren sechsBehandlungsstationen trotz der optimistischen Äußerungen Kochsbeschieden waren, zeigt eine in den Medizinal-Berichten der Jahre1908/09 veröffentlichte Statistik: Von insgesamt 3033 Schlafkrankenoder Schlafkrankheitsverdächtigen waren lediglich 71 »geheilt« wor-den, während 386 Todesfälle verzeichnet werden mußten und 1010Patienten »anderweitig« dem »Abgang« der Lager und Stationen zu-geschlagen werden mußten. Sie hatten sich in der Regel einer weite-ren »Behandlung« durch Flucht entzogen.76

76 Medizinal-Berichte über die deutschen Schutzgebiete 1908/09, S. 144.

Im darauffolgenden Be-

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richtszeitraum 1909/10 stiegen zwar die »Heilerfolge« auf etwas über38 Prozent; der inzwischen betriebene finanzielle Aufwand für»Zwecke der Schlafkrankheitsbekämpfung« stand jedoch in keinemvernünftigen Verhältnis zum Erfolg aller Bemühungen. Vom April1909 bis zum gleichen Monat des folgenden Jahres waren insgesamt214 000 Mark für den mittlerweile mit ›militärischer Präzision ge-führten Frontalangriff‹77

77 Beck, »The Role of Medicine in German East Africa« (wie Anm. 66), S. 175: »Thecampaign was prepared with military precision as a frontal attack on the enemy.«

auf die Seuche ausgegeben worden. Im fol-genden Berichtszeitraum stieg diese Summe auf 324 000 Mark an,die Heilerfolge aber sanken auf 18,8 Prozent.78

78 Medizinal-Berichte über die deutschen Schutzgebiete 1910/11, S. 338.

Mit allen Mittelnversuchte man im Schutzgebiet nach diesen offensichtlichen Fehl-schlägen, der negativen Entwicklung Einhalt zu gebieten, wobei dieSchutztruppenärzte ihr Heil zunächst – »ohne nennenswerten Er-folg« – in der Erprobung von Kombinationspräparaten suchten,79

79 Ebd., S.60.

um sich dann »mit großen Hoffnungen und Erwartungen [. . .] demim Tierversuch so hervorragend bewährten Arsenophenylglycin«zuzuwenden und mit »kleinen Dosen die von Ehrlich vorgeschla-gene Therapia sterilisans magna« zu erproben.80

80 Ebd.

Dieses Präparat wardem Reichskolonialamt von Paul Ehrlich »in liberalster Weise ko-stenlos zur Verfügung gestellt«81

81 Aufzeichnung [vertraulich] über die Sitzung des Reichs-Gesundheitsrates (Un-terausschuß für Schlafkrankheit) vom 15. Juli 1911, Berlin, Reichsdruckerei Nr.2707.11.IV., 13.

worden und etwa zeitgleich auch inTogo zur Erprobung gekommen. Doch auch diese Versuche schlu-gen fehl und gingen – »erneut« – zu Lasten der afrikanischen Pro-banden, wie Stabsarzt Dr. Wittrock 1911 nach Berlin melden mußte:

Die Versuche wurden von verschiedenen Ärzten der hiesigen Schlafkrank-heitsbekämpfung unabhängig voneinander gemacht, wobei sich der Lager-arzt von Utegi, Oberarzt Dr. Scherschmidt, in ganz besonderer Art derSache annahm. Die gegebenen Dosen stiegen je nach dem körperlichenZustande und dem Gewicht des Patienten bis zu je 2,0 g an zwei aufeinan-derfolgenden Tagen. Wenn schon die äußerlichen Beschwerden, welchedurch die Injektion (meist 10prozentige Lösung in die Haut zwischen dieSchulterblätter) dieser Arzneimenge entstanden, erheblich größer waren alsvom Atoxyl und ein Wiederauftreten der Trypanosomen bei einem verhält-nismäßig hohen Prozentsatz der Behandelten und nach oft recht kurzer Zeit

224

erfolgte, so machte die hohe Sterblichkeitsziffer nach der Darreichung sehrbald eine Weiteranwendung dieses Mittels unmöglich. Schließlich kamnoch dazu, daß auch hier die von anderer Seite erwähnte Tatsache bestätigtwerden konnte, daß der Zustand der mit Arsenophenylglycin behandeltenKranken sich auch ohne Wiederauftreten der Trypanosomen stetig und ste-tig verschlechterte, also die im Körper gesetzten Schädigungen nicht beho-ben wurden.82

82 Medizinal-Berichte über die deutschen Schutzgebiete 1910/11, S. 60 f.

Auf diese Weise starben im Lager Utegi unter der Behandlung Scher-schmidts innerhalb kürzester Zeit von 35 Patienten nicht weniger als15, davon sechs »unzweifelhaft an Intoxikation«. Bei zehn Patientenderselben Gruppe traten schon nach kurzer Zeit wieder Trypanoso-men auf, sechs Krankheitsbilder verschlechterten sich zusehends,während sich der Zustand nur eines einzigen Patienten »etwas« bes-serte. Drei Patienten gelang es, »sich der Beobachtung durch Entlau-fen« zu entziehen.83

83 Ebd., S.61.

Es ist erstaunlich, wie gering die ethische Sensi-bilität der Ärzte gegenüber ihren Patienten auf der einen, wie großaber auf der anderen Seite die Sorglosigkeit gegenüber dem eigenenTun ausgeprägt war, wenn man bedenkt, daß der mehr experimen-tierende denn behandelnde Oberarzt der Schutztruppen, Dr. Scher-schmidt, seine Versuchsergebnisse auch noch in der Deutschen Me-dizinischen Wochenschrift publiziert hat.84

84 Scherschmidt, »Zur Behandlung der Schlafkrankheit mit Arsenophenylglyzin«,in: Deutsche Medizinische Wochenschrift 37 (1911), S. 292-294.

Immerhin wurden dieVorgänge dadurch publik, und sie sollten auch nicht folgenlos blei-ben. Aufmerksam geworden durch die Publikation in der DeutschenMedizinischen Wochenschrift forderte das Reichskolonialamt einengesonderten Bericht Scherschmidts und untersagte unmittelbar nachdessen Eingang telegraphisch jeden weiteren Versuch mit Arseno-phenyglyzin in DOA. Eine eingehende Beratung über die Vorfälle inDOA in einer Sitzung des Reichsgesundheitsrates vom 15. Juni 1911,zu der auch Scherschmidt geladen worden war, bestätigte und be-kräftigte das Verbot für Ostafrika und regelte die weitere Anwen-dung von Arsenophenylglyzin in Togo restriktiv.85

85 Aufzeichnung [vertraulich] über die Sitzung des Reichs-Gesundheitsrates (Un-terausschuß für Schlafkrankheit) vom 15. Juli 1911, Berlin, Reichsdruckerei Nr.2707.11.IV., 13.

Parallel zu den Therapieversuchen hatte man bereits 1911 damit

225

begonnen, das Prinzip der von Koch noch wegen seiner ›großen Här-ten‹ verworfenen »Entvölkerung von Gegenden durch Verlegung«ganzer Ortschaften überall dort in Anwendung zu bringen, wo esunumgänglich erschien. Zwangsmaßnahmen dieser Art wurden als»einfachste und billigste Vorbeugungsmittel« insbesondere am Süd-ufer des Victoria-Sees durchgeführt. Dort war wegen zu dichter»Bewachsung« das dritte Mittel im Kampf gegen die Schlafkrank-heit, »Abholzungen« größeren Umfangs, undurchführbar gewesen.86

86 Medizinal-Berichte übder die deutschen Schutzgebiete 1910/11, S. 58.

Anders als in Togo, wo eine eigens eingesetzte Schlafkrankheitskom-mission mit brutalen Methoden zur gleichen Zeit versuchte, die sta-tionäre Behandlung aller Schlafkranken in »Konzentrationslagern«gegen jeden Widerstand durchzusetzen, sind in Deutsch-OstafrikaDisziplinierungsversuche dieser Art nicht unternommen worden.Frühzeitig wurde im Gegenteil hier versucht, »Eingeborene« als »Drü-senfühler« auszubilden, allmählich die stationäre Behandlung ineine ambulante überzuleiten und an besonderen »Behandlungsstel-len«, die weiträumig über die Endemiegebiete verteilt waren, soge-nannte »Spritztage« – nach dem Verbot des Arsenophenylglyzinsweiterhin mit Atoxyl und mit dem soeben von Paul Ehrlich und sei-nem japanischen Mitarbeiter Sahachiro Hata entwickelten Syphi-lismedikament »Hata 606«87

87 Ebd., S.61.

– abzuhalten. Tatsächlich scheint es inAnsätzen gelungen zu sein, trotz der mangelhaften Therapieerfolgedie »Scheu der Bevölkerung« vor den erheblichen chemischen Ein-griffen zu senken. Überwältigend war die Behandlungsbereitschaftder Bevölkerung jedoch nie, wie Stabsarzt Professor Dr. Kleine be-reits 1910 hatte klagen müssen. »Ein Wechsel hierin«, so Kleine,würde vielleicht eintreten, wenn »offenkundig Schwerkranke durchunsere Medikamente geheilt« würden; »dies« sei aber »bekanntlichnicht der Fall«.88

88 Kleine, in: Medizinal-Berichte über die deutschen Schutzgebiete 1909/10, S. 52.

Kleines Aussage sollte bis zum Ende deutscherKolonialherrschaft in Deutsch-Ostafrika ihre Gültigkeit behalten.

Zusammenfassend muß die seuchenpräventive Gesundheitspoli-tik an der Kolonialperipherie des Zweiten Deutschen Kaiserreichsals wenig erfolgreich charakterisiert werden. Statt dessen bildetenLeidenserfahrungen und koloniale Unterdrückungserlebnisse imZusammenhang mit seuchenpräventiven Maßnahmen eine kollek-tive Erfahrung für die Untertanen der deutschen »Musterkolonie«

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Togo und Deutsch-Ostafrikas. Dieses Gesamtbild kontrastiert starkmit einer deutschen Kolonialmedizin und Tropenhygiene, die sichnach dem Verlust der Kolonien und des Ersten Weltkrieges gern alserfolgreich und menschenfreundlich zeichnete, feierte und feiernließ.

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Keiichi Tsuneishi1

1 Japanische Namen erscheinen mit vorangestelltem Familiennamen, mit Ausnahmedes Namens des Autors, dessen Nachname Tsuneishi lautet (A.d.Hg.).

Die von der japanischen Armeedurchgeführten Menschenversuche

(1932-1945)2

2 Nihon gun ni yoru jintai jikken (1932-45), Originalbeitrag (A.d.Hg.).

1. Die Militärorganisation zur Durchführung vonMenschenversuchen: Das »Ishii kikan«3

3 Ishii-kikan: benannt nach Ishii Shiro (1892-1959), Generalleutnant in der Einheit731 der Kaiserlich Japanischen Armee während des Chinesisch-Japanischen Krieges1937 bis 1945; kikan: wörtl. »Organ«, in der Bedeutung eines (geheimdienstlichen)Netzwerkes; vgl. etwa auch das zu Beginn des Pazifischen Krieges in Bangkok einge-setzte Fujiwara-kikan oder F-kikan genannte Netzwerk des Fujiwara Iwaichi; (A. d.Hg.).

und dieErmittlungen der US-amerikanischen Armee

Unter den Forschern der Medizingeschichte und der Ethik derMedizin ist es weithin bekannt, daß in der Einheit 731 der japani-schen Armee (die korrekte Bezeichnung lautet ›Einheit 731 in derMandschurei‹) Menschenversuche durchgeführt wurden. Allerdingswurden diese Menschenversuche nicht eigenständig von dieser Ein-heit durchgeführt, sondern nach Anweisungen der Abteilung fürSeuchenbekämpfung der Militärschule des Heeres, die das Zentrumdes Ishii kikan bildete. Zu ebendieser Organisation von der Größeeiner Division der japanischen Armee gehörte auch die Einheit 731.Außer der Abteilung für Seuchenbekämpfung und der Einheit 731 be-stand das Ishii kikan aus Einheiten in Peking, Nanking und Guang-zhou; mehr als 10 000 Personen gehörten diesem Netzwerk an. DerAnteil der Ärzte betrug weniger als zehn Prozent. Mit den im vor-liegenden Beitrag erörterten Menschenversuchen sind diejenigengemeint, die dem Ishii kikan zuzurechnen sind. Das Ishii kikan be-auftragte zivile Medizinwissenschaftler wie z.B. Professoren der me-dizinischen Hochschulen, verwertete deren Forschungsfähigkeitenund zog auch deren Schüler als Forscher heran.

Der beste Weg, sich einen Überblick über die Menschenversuche

228

des Ishii kikan zu verschaffen, besteht wohl darin, die zwischen 1945und 1947 von der US-Armee verfaßten Protokolle zu studieren.4

4 Bezugnehmend auf die Materialien der US-Armee veröffentlichte die IWG (Inter-agency Working Group) Anfang 2007 ihre Untersuchungsergebnisse, die haupt-sächlich auf den Materialien der NARA (United States National Archives and Re-cords Administration) beruhen. Details der in dem Text verwendeten Materialiensind auf der folgenden Internetseite abrufbar: <http://www.archives.gov/iwg/japanese-war-crimes/index.html> (24.03.2009).

Dieamerikanische Armee führte ab September 1945 viermal Untersu-chungen zum Ishii kikan durch, konnte jedoch bei den ersten beidenNachforschungen etwaige Menschenversuche nicht nachweisen.5

5 Murray Sanders, »Report of Scientific Intelligence Survey in Japan«, in: Biologi-cal Warfare 5 (1945). (Dieser Bericht wurde von Lt. Col. Murray Sanders, CampDetrick, erstellt und wird Sanders Report genannt.) Arvo T. Thompson, »Report onJapanese Biological Warfare (BW) Activities«, 31. Mai 1946, Army Service Force,Camp Detrick, Frederick, Maryland. (Dieser Bericht wurde von Lt. Col., V.C. ArvoT. Thompson, Camp Detrick, erstellt und ist bekannt als Thompson Report.)

Der Tatbestand des Menschenversuchs kam Ende 1946 erstmaligdurch die Forderung der Sowjetunion nach Auslieferung von Kom-mandanten und Soldaten der Einheit 731 ans Licht.6

6 Memorandum from Generalmajor Vasiliev to Generalmajor Willoughby, 9. Januar1947. Memorandum to AC of S, G-2 from MIS, 17. Januar 1947. Memorandum forRecord, Subject: Request of Russians to Arrest and Interrogate Japanese Bacterio-logical Warfare Experts in whom US has Prior Interest, presented by: AC of S, G-2,GHQ, FEC, 27. März 1947.

Danach über-prüfte die US-Armee im Jahre 1947 zweimal den wirklichen Sachver-halt der Menschenversuche. Eine Untersuchungsmethode bestanddarin, jeden einzelnen Forscher ins Verhör zu nehmen, eine anderein der Analyse der pathologischen Präparate. Die Resultate der Ver-höre und der Analysen der Präparate wurden 1947 in zwei Berichtendokumentiert.7

7 Norbert H. Fell, Brief Summary of New Information about Japanese B.W. Activities,20. Juni 1947. Edwin V. Hill, Summary Report on B.W. Investigations, 12. Dezember1947. Chief, Basic Sciences, Camp Detrick. Ein weiterer Untersuchungsbeauftrag-ter war Joseph Victor.

Nach den Namen der Verfasser wurden diese Fell-Report (Juni 1947) und Hill & Victor-Report (Dezember 1947) ge-nannt.

Das Untersuchungsergebnis der Verhöre von Mitgliedern desIshii kikan sind in »Kapitel 3. Method: A« des Hill &Victor Reportdokumentiert (vgl. Tab.1 am Ende des Beitrags). Die Nachforschun-gen richteten sich auf genau 22 Personen. Darunter waren zwei Pro-

229

fessoren der medizinischen Fakultät der Universität Tokio und einProfessor der medizinischen Fakultät der Universität Kyoto. Beidearbeiteten im Auftrag des Ishii kikan. Die anderen 19 Personen wa-ren Angehörige der Organisation. Kojima Saburo (Tab-K) und Ho-soya Shogo (Tab-M) aus Tabelle 1 waren Professoren der UniversitätTokio und Uchino Senji (ohne Tabelle, interviewt in Muchin) warProfessor der Universität Kyoto.

Die pathologischen Präparate, die die US-Armee untersuchte,wurden von Ishikawa Tachio aus der Einheit in Harbin nach Japantransportiert. Ishikawa war Ingenieur (ein als Offizier eingestufter,jedoch nicht der Armee angehöriger Forscher) der Einheit 731 undwurde 1943 als Professor an der Medizinhochschule in Kanagawa(heute die medizinische Fakultät der Universität Kanagawa) einge-stellt. Fell schrieb über die damaligen Umstände, unter denen dieUS-Armee herausfand, daß die Präparate existierten, Folgendes:

It was disclosed that there were available approximately 8,000 slides repre-senting pathological sections derived from more than 200 human cases ofdisease caused by various B.W. [biological warfare, A.d.Ü.] agents. Thesehad been concealed in temples and buried in the mountains of southernJapan. The pathologist who performed or directed all of this work is engagedat the present time in recovering this material, photomicrographing theslides, and preparing a complete report in English, with descriptions of theslides, laboratory protocols, and case histories. This report will be availableabout the end of August.8

8 Fell Report, 2-i.

Durch die Darstellung aus Kapitel 4 »Results of B« des Hill & Victor-Reports, der der Untersuchung Fells folgte und die ich im folgendenzitiere, ist zu erkennen, daß die im Text erwähnten Präparate dieje-nigen sind, die vom Pathologen Ishikawa 1943 aus Harbin mitge-bracht worden waren. Demnach muß es sich bei dem Ort, der imText mit »in the mountains of southern Japan« bezeichnet wurde,um Kanazawa in Mitteljapan handeln.

The pathological material in Kanazawa was brought from Harbin by Dr.Tachio Ishikawa in 1943. It consists of specimens from approximately 500human cases, only 400 of which have adequate material for study. The totalnumber of human cases which had autopsies at Harbin was less than 1,000in 1945, according to Dr. Kozo Okamoto (Tab R). This number was about200 more than were present in Harbin at the time Dr. Ishikawa returned to

230

Japan. [. . .] Below are tabulated lists of the number of cases for the variousdiseases as well as the number of cases which have adequate material for 401cases and no material for 317 cases. This was explained by Dr. Okamaotowho suspected that not more than 500 cases were taken from Harbin byDr. Ishikawa.9

9 Hill & Victor Report, 3. Method: A.

In Tabelle 2 sind die diesem Zitat angefügte Präparateliste, die Präpa-rateliste der Tab-AJ, die Aussage über Aerosol-Zerstäubungsexperi-mente (Takahashi, Tab-B) und die Aussage über die Zahl der Sektio-nen von 1938 bis 1945 (Okamoto, Tab-R) zusammengefaßt. Dieletzte Spalte »Infectious Experiments« zeigt, welche solcher Men-schenversuche, beruhend auf den Aussagen von Tab-C bis Tab-AI,tatsächlich durchgeführt wurden.

Die Liste im Kapitel 4 »Results of B« beinhaltet »Plague« (»Pest«)und »Plague Epidemic« (»Pestepidemie«). Allerdings weist »Tab-AJ«keine Nummern der pathologischen Präparate auf, die den von derPestepidemie betroffenen 66 Personen zuzuordnen wären. (64 Prä-parate waren verwertbar.)

Über die im Folgenden erörterten Punkte sind bislang noch keineNachweise erbracht worden. Dies wird in Abschnitt 3 »Bericht derUS-Armee: Reports of A, G & Q« mein Anliegen sein. Ishikawaschrieb »The Report of Q« für die US-Armee, wobei er sich die 64pathologischen Präparate von »Plague Epidemic« zunutze machte.Darüber hinaus verfaßte er auf Basis der pathologischen Präparatevon Tab-AJ über »Anthrax« (Milzbrand) und »Glanders« (Rotz)jeweils »The Report of A« und »The Report of G«. Diese drei pa-thologischen Berichte werden jetzt in der Bibliothek des amerikani-schen Kongresses (Library of Congress) aufbewahrt.

2. Japanische Abhandlungen:Forschungen zum epidemischen hämorrhagischen Fieber

und zur Pest

Um die Wirklichkeit der Menschenversuche des Ishii kikan zubeschreiben, ziehe ich die Forschung am Krankheitserreger des epi-demischen hämorrhagischen Fiebers und die Forschungen zu Insek-ten als Krankheitsträgern der Pest als Beispiele heran.

231

2.1 Epidemisches hämorrhagisches Fieber10

10 Epidemisches hämorrhagisches Fieber, EHF; heute: hämorrhagisches Fieber mitrenalem Syndrom (A.d.Hg.).

Diese Krankheit wird in der Tabelle 1 als »Songo« bezeichnet, weilsich im Ort »Songo« (jetzt Stadt Songo) einer der Entstehungsherdebefand, als die Krankheit entdeckt wurde. Der Bericht basiert aufdrei Interviews: mit dem Ingenieur Kasahara Shiro, dem General-major Kitano Masatsugu (Tab-T) und dem Ingenieur Ishikawa Ta-chio (Tab-U). Hier werden wir uns vornehmlich auf einen Aufsatzstützen, der auf der Mitarbeit von Kasahara Shiro und Kitano Ma-satsugu, der ab 1942 für drei Jahre Leiter der Einheit 731 war, beruht.

Das epidemische hämorrhagische Fieber war ursprünglich eineendemische Krankheit im Grenzgebiet zwischen Rußland und Chi-na. Es kam zu Infektionen auch auf der Koreanischen Halbinselnach dem Ausbruch des dortigen Bürgerkrieges im Jahre 1950. 1960infizierten sich in der Präfektur Osaka in Japan 115 Personen, davonstarben zwei Patienten. Auch in den 1980er Jahren tauchte dasKrankheitsbild vereinzelt auf, beispielsweise an der medizinischenFakultät einer Universität. Infektionsquelle waren hier Versuchs-tiere.

Die ersten japanischen Patienten waren vier in China stationierteSoldaten, die sich im Juli 1938 infizierten.11

1 1 Ibuki Tsukio, »Ryukosei shukketsu netsu ni tsuite« (Über das epidemische hämor-rhagische Fieber), in: Gunidan zasshi (Zeitschrift des Militärärztevereins), Medizin-abteilung des Kriegsministeriums, 346 (1942), S. ˜ ˜ - ˜ ˜ .

Die Symptome bestan-den in starken Kopfschmerzen, Appetitlosigkeit, Müdigkeit, Rachen-schmerzen, Atembeschwerden, Albuminurie (Eiweiß im Harn) undFieberattacken mit Temperaturen zwischen 38 und 40 Grad Celsius.Die Zahl der Patienten nahm weiterhin zu, und die Krankheitsherdebreiteten sich aus. Die Sterblichkeitsrate war anfangs ziemlich hoch,etwa bei dreißig Prozent. Das Ishii kikan setzte die Einheit 731 zurAufklärung dieser Krankheit ein, weil diese sich in der Nähe desUrsprungsgebiets der Epidemie aufhielt. Der erste Aufsatz aus denReihen der Einheit wurde 1939 von ihren damaligen Leitern IshiiShiro, Kasahara Shiro u. a. verfaßt.12

12 Ishii Shiro u.a., »Iwayuru Songo netsu no kenkyu« (Forschungen zum sogenann-ten Songo-Fieber), in: Gunidan zasshi (Zeitschrift des Militärärztevereins) 327(1940), S. 1025 f.

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Seit Dezember 1941 bezeichnete das japanische Heer diese Krank-heit als »epidemisches hämorrhagisches Fieber« und gab eine Erklä-rung zur Erstattung der Ausgaben für Behandlung und Forschungab.13

13 In: Rikufu (Zeitschrift für Militärangehörige) 989 (1941), S. ˜ ˜ - ˜ ˜ .

In dem Aufsatz, den Ishii und seine Mitarbeiter veröffentlich-ten, steht:

[. . .], außer der hiesigen Untersuchungsgruppe wird eine Sondergruppe fürForschung und Experimente mit dieser Krankheit innerhalb der Abteilungeingerichtet. Die Gruppe wird mit Sonderaufgaben betraut, welche durch-zuführen am hiesigen Ort nicht möglich ist.

Dazu schrieben sie, daß man noch nicht feststellen könne, ob sichdie Krankheitserreger auf ein Virus zurückführen ließen.14

14 Ishii Shiro u.a., »Forschungen zum sogenannten ›Songo-Fieber«« (»IwayuruSongo netsu no kenkyu«), in: Gunidan Zasshi (Zeitschrift des Militärärztevereins)355 (1942), S. 1755-1758.

Es ist an-zunehmen, daß es sich bei den »am hiesigen Ort nicht möglichenSonderforschungsaufgaben« um Menschenversuche handelte. In ei-nem 1944 veröffentlichten Aufsatz, zu dessen Autoren Kasahara undKitano gehörten, wurde die Tatsache beschrieben, daß der Krank-heitserreger ein Virus war.

Später hatte Kitano über den Verlauf der Entdeckungen seiner ei-genen Forschungsgruppe zum Krankheitserreger Folgendes zu be-richten:

[. . .] Als die Epidemie in Songo ausbrach, begaben wir uns an diesen Ortund führten Experimente durch. Ich hielt es für möglich, daß Milben beimInfektionsweg unter epidemiologischem Aspekt eine große Rolle spielenkönnten. Dieser Hypothese gemäß sammelte der Techniker Asahina, heuteLeiter der Insektenabteilung des Forschungsinstitutes für Präventive Hy-giene, eine Art der Hornmilbe (Lt. Mesostigmata), welche als Parasit in Rat-ten (Apodemus agrarius) lebt. Doktor Kanazawa (heute Leiter der For-schungsabteilung der Firma Takadea Pharmaceutical Co., Ltd.) führte am6. November mit diesen Milben Experimente durch. Doktor Kasahara,heute Leiter der pathologischen Abteilung des Kitasato-Instituts, führte die-se Experimente weiter. Am 14. November des gleichen Jahres erhielt ich denBericht über die pathologischen Beobachtungen Doktor Ishikawas (heuteProfessor der Pathologie an der Kanazawa-Universität) und erfuhr, daß dieExperimente gelungen waren. Dank der mühevollen Bestrebungen DoktorKasaharas und der anderen Mitarbeiter stellte man demnach fest, daß derKrankheitserreger ein Virus war. Nachdem Doktor Ishikawa auf eine höhere

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Position an der Kanazawa-Universität befördert worden war, führte DoktorTokoro, der damals Militärarzt im Rang eines Oberleutnants war und heuteExtraordinarius der Pathologie an der Universität von Tokio ist, die patholo-gischen Forschungen weiter und vervollständigte diese.15

15 Kitano Masatsugu, »Boeki hiwa« (»Die verborgene Geschichte der Epidemieprä-vention«), in: Nihon iji shinpo, Bd. 1, 947 (1961), S. ˜ ˜ - ˜ ˜ .

Obiger Text wurde 1961 geschrieben. Man erkennt an diesem Zitat,daß die ehemaligen Mitarbeiter des Ishii kikan damals durchaushöhere Posten bekleideten, beispielsweise als Leiter von Forschungs-abteilungen einer großen Firma oder als Extraordinarius der Univer-sität von Tokio. Wie aus dem Zitat ersichtlich, schrieb Kitano, daß»die Experimente durchgeführt wurden« oder »die Experimente ge-lungen waren«. Wenn man allerdings seinen Worten aufmerksamund gründlich folgt, stellt man fest, daß der Text so geschriebenwurde, als habe Kitano selbst keine Experimente durchgeführt undnur entsprechende Berichte erhalten. Um welche Art »Experimente«handelte es sich jedoch bei denen, welche vor dem Krieg von denWissenschaftlern, die im Jahre 1961 in der japanischen Gesellschafthöhere Posten bezogen hatten, durchgeführt worden waren? Dies-bezüglich möchte ich den oben erwähnten Aufsatz von 1944 heran-ziehen, in dem man den Krankheitserreger identifiziert hatte. DerAufsatz ist wie folgt gegliedert:

1. Material für die Experimente2. Die Tage nach der Erkrankung und die Infektiosität des Blutes3. Der Zusammenhang zwischen der Anzahl der Tage nach der Erkran-

kung, Infektiosität und pathologischen Veränderungen, insbesondere Nie-renblutungen (typische Nierenveränderungen bei epidemischem hämor-rhagischem Fieber)

4. Infektiosität der Blutbestandteile5. Filtrationsexperimente6. Untersuchung der Bakterien, Protozoen und Rickettsien7. Experimente zur Erhaltung des Krankheitserregers8. Experimente zur Virulenz (Virusüberträger) an der Rückenratte (Apode-

mus agrarius) und der MausZusammenfassung

Im weiteren Verlauf zitiere ich vollständig die Abschnitte 1, 2, 3 und8 und einen Teil der Zusammenfassung.16

16 Kasahara Shiro, Kitano Masatsugu u.a., »Ryukosei shukketsu netsu no byogen-tai no kettei« (»Feststellung des Erregers des epidemischen hämorrhagischen Fie-

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bers«), in: Nihon densen gakkaishi (Bericht von Verband für Epidemiologie Japans)(1944), S. 3.

1. Material für die ExperimenteWie man im Rahmen unserer letzten Jahrestagung berichtete, wurde der

Krankheitserreger von der nordmandschureiischen Hornmilbe (Laelaps jett-mari Vitzthum) aus vierzig Ratten (Apodemus agrarius) abgesondert, die imNovember 1942 in Songo in der Nordmandschurei gefangen wurden. Dasheißt: Die 203 Milben wurden zerrieben. Daraus machte man eine Suspen-sion in physiologischer Kochsalzlösung und führte damit eine subkutaneOberschenkelinjektion an einem Affen durch. Dieser Affe der ersten Gene-ration infizierte sich mittleren Grades und bekam 19 Tage nach der ImpfungFieber bis 39,4 Grad Celsius. Der Affe der zweiten Generation, der mit demBlut des Fieberstadiums geimpft wurde, bekam Fieber nach 12 Tagen derInkubationszeit, und bei ihm trat Albuminurie auf. Durch die Obduktionwurden die typischen Nierenveränderungen des epidemischen hämorrha-gischen Fiebers nachgewiesen. Seither wurden Impfungen mit Blut undBestandteilen innerer Organe aus dem Fieberstadium an Affen mehrererGenerationen durchgeführt. Das ermöglichte die Extraktion des Krank-heitserregers. Mit diesem wurden diverse Experimente durchgeführt.

2. Die Tage nach der Erkrankung und die Infektiosität des BlutesWenn man vom Blut eines Patienten erneut den Krankheitserreger aus-

sondern muß, bzw. wenn man den durch die Impfung der Affen nach meh-reren Generationen erhaltenen Krankheitserreger für längere Zeit aufzube-wahren hat, gibt es eine wichtige Frage hinsichtlich der Feststellung desKrankheitserregers im Bezug auf den Zeitpunkt der Blutentnahme und-verwendung. Die bisherigen Ergebnisse der Experimente zeigen, daß das inder Phase des Fieberanstiegs abgenommene (erster und zweiter Tag der Fie-berattacke) bzw. aus der Zeit unmittelbar vor der Fieberattacke stammendeBlut, besonders aus dem angenommenen Anfangsstadium mit der Körper-temperatur von 38 Grad Celsius, hohe Infektiosität besitzt. In der darauffol-genden Phase verschwindet die Infektiosität des Blutes bis zum Erreichender normalen Körpertemperatur.

3. Der Zusammenhang zwischen den Tagen seit Beginn der Erkrankung,Infektiosität, pathologischen Veränderungen und insbesondere Nierenblu-tungen (den typischen Nierenveränderungen des epidemischen hämorrha-gischen Fiebers)

Wurde die Obduktion in der Phase des Fieberanstiegs (das ist nicht gleich-bedeutend mit dem akuten Krankheitszustand) durchgeführt, so gab es bis-lang keinen Fall, in dem Nierenblutungen auftraten, welche wir aus deranatomischen Beobachtung heraus als eine Besonderheit dieser Krankheitbetonen. Die Nieren zeigten lediglich einen für das bloße Auge sichtbarenBlutandrang. Dennoch waren Niere, Leber und Milz gerade in diesem Sta-

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dium hochgradig infektiös. Im Gegensatz dazu beobachteten wir, daß dieNierenblutungen bei der Obduktion nachweisbar waren, wenn die Krankheitsich im Endstadium bzw. wieder im Stadium der normalen Körpertempera-tur befand, während an den inneren Organen pathologische Veränderungensichtbar waren und sie dennoch ihre Infektiosität bereits verloren hatten. [. . .]

8. Experimente zur Virulenz an der Rückenratte (Apodemus agrarius) und derMaus

Apodemus agrarius: Eine mit 0.5cc virulentem Blut intraperitoneal ino-kulierte Ratte (Apodemus agrarius) hatte auch während 25tägiger Beobach-tungen keine Symptome gezeigt, nahm sogar von Tag zu Tag zu. Man tötetediese Ratte, bereitete daraus eine Suspension in Ringerlösung im Verhältnis1:10 und führte damit eine subkutane Injektion an einem Affen durch. DerAffe infizierte sich mittleren Grades und bekam nach 11tägiger Inkubations-zeit eine starke Fieberattacke mit 40,2 Grad Celsius Körpertemperatur. Derzweite Affe, der mit dem Blut aus dem Stadium hohen Fiebers geimpftwurde, infizierte sich ebenfalls akut. Dies bewies, daß die Ratte keine er-kennbaren klinischen Symptome (subklinische Infektion) bei dieser Krank-heit zeigt. Diese Tatsache läßt vermuten, daß die Ratte permanenter Virus-überträger dieser Krankheit sein könnte, jedoch werden die Einzelheiten zurZeit noch untersucht.

ZusammenfassungIm Winter 1939 brach eine unbekannte Krankheit, in der Region Songo

in der Nordmandschurei aus, als deren Hauptsymptom Blutungen auftra-ten. Unser Heer bezeichnete diese als eine endemische, phasenweise epide-mische Krankheit aus der Region Mandschurei, zu deren Hauptsymptomenheftige Fieberattacken, Blutungen und Alubuminurie gehören, und mannannte diese Krankheit »Songo-Fieber«. Ferner wurde von dem damaligenLeiter der Forschung an dem Krankheitserreger, Kasahara, als Krankheitser-reger bereits ein Virus vermutet. Seitdem wurden bei jedem Ausbruch derEpidemie von mehreren Wissenschaftlern Experimente durchgeführt, umdiese Annahme zu bestätigen. Es ist jedoch auf diese Weise nicht gelungen,den Erreger festzustellen, möglicherweise weil die Materialien für die Ex-perimente nicht angemessen waren; man verwendete für die Experimentebeispielsweise das Blut oder innere Organe nach dem Ende der Phase desTemperaturanstiegs, also, wenn dieses Material bereits seine Virulenz undInfektiosität verloren hatte.

Diesmal wurde der Krankheitserreger aus Hornmilben (Laelaps jettmariVitzuhum), welche parasitär in Ratten (Apodemus agrarius) leben, abgeson-dert. Diese Ratten wurden beim Ausbruch der Epidemie in Songo gefangen.Man stellte fest, daß der Krankheitserreger unsichtbar, aber extrahierbar ist:So gelang es uns, den Sachverhalt des epidemischen hämorrhagischen Fie-bers aufzuklären.

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Aus den vorangegangenen Zitaten sind besonders die Schilderungenüber die »Hornmilbe« (Laelaps jettmari Vitzthum) aus Abschnitt 1und der Zusammenfassung, über die »Ratte« (Apodemus agrarius)aus der Zusammenfassung und über den »Affen« aus den Abschnit-ten 1, 2 und 8 zu beachten. Eines der wichtigsten Versuchstiere fürdiesen Aufsatz ist neben der Hornmilbe und der Ratte der Affe. Zuden Affen sind verschiedene Arten zu zählen, wie der JapanischeAffe, der Langschwanzaffe, der Taiwan-Makak u.a. Dennoch ist imText nicht klar dargestellt, welche Affenart gemeint ist. Das ist unge-wöhnlich für eine naturwissenschaftliche Abhandlung. Falls einMedizinspezialist diesen Aufsatz liest, wird er es als ungewöhnlichempfinden, daß das Versuchstier nicht genau beschrieben ist.Ebenso merkwürdig ist die Darstellung über die Fieberattacken desAffen in Abschnitt 2, in dem steht: »[. . .] aus der Zeit unmittelbarvor der Fieberattacke, besonders aus der anscheinenden Anfangszeitmit der Körpertemperatur von 38 Grad Celsius«. Weiterhin ist son-derbar die Beschreibung aus Abschnitt 8: »[. . .] und bekam nach11tägiger Inkubationszeit eine starke Fieberattacke mit 40,2 GradCelsius«. Denn diese Aussagen lassen vermuten, daß solche Fieber-attacken nicht besonders stark seien, da die gewöhnliche Körper-temperatur eines Affen im allgemeinen höher ist als die des Men-schen.

Bei dem »Affen« im Aufsatz handelt es sich jedoch um Menschen.Ich möchte, daß meine Leser unter Voraussetzung dieser Tatsachedie obengenannten Zitate aus den Abschnitten 1, 3 und 6 abermalslesen. Auch die damaligen Mediziner müssen den Text unter eben-dieser Voraussetzung gelesen haben. Ohne außer acht zu lassen, daßMenschenversuche nicht generell verleugnet bzw. abgelehnt werdenmüssen, zeigen hier die Fakten jedoch sehr deutlich, daß den Tätern,die diese Versuche durchgeführt haben, bewußt gewesen sein muß,daß es sich bei den Experimenten, in denen man Menschen als Affenbezeichnete, um ethisch unzulässige Menschenversuche handelte.

In Abschnitt 3 steht: »Dennoch haben die Niere, Leber und Milzgerade in diesem Stadium hohe Infektiosität.« Das bedeutet, daßman den Menschen unter Fieberqualen diese inneren Organe ent-nommen hat. Diesbezüglich angeführt sei hier auch das Zitat: »daßdie Nierenblutungen bei der Obduktion nachweisbar waren, wenndie Krankheit sich im Endstadium bzw. im Stadium der normalenKörpertemperatur befand«. Das heißt, daß dieser Mensch getötet

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und seziert wurde, nachdem er die Krankheit überstanden hatte undhatte hoffen können zu überleben.

Kitano schrieb 1971 über »Versuchstiere«:

Der Langschwanzaffe vermag sich zu infizieren und bekommt das Fieber,allerdings erkennt man keine deutlichen Nierenblutungen (typische Nieren-veränderungen des epidemischen hämorrhagischen Fiebers), welche manbei Menschen nachweisen kann. Beim Taiwan-Makak zeigt sich keine deut-liche Fieberattacke. Die Forschung zum Krankheitserreger erfordert dies-bezüglich größte Mühe, da hierfür keine normalen Versuchstiere geeignetsind.17

17 Rikugun eiseishi (Hygienegeschichte des Landesheeres), Bd. 7, Rikujo jieitai eisei-gakko (Schule für Sanitätswesen der Boden-Selbstverteidigungsstreitkräfte), 1971.

Die Nierenblutung und die akute Fieberattacke bezeichneten Ki-tano und seine Forschungsgruppe als zwei markante Symptome die-ser Krankheit. Jedoch treten diese Symptome nur bei Menschen auf.

Ferner schrieb Kitano Folgendes: »Smordintiew ist es nicht gelun-gen, mit dem Blut bzw. dem Urin eines Patienten übliche Versuchs-tiere, wie Maus, Ratte, Kaninchen und Affe, zu infizieren. Er führteebenfalls Menschenversuche zur Erforschung des Krankheitserregersdurch« (Hervorhebung K. T.). Ein gleichartiges hämorrhagisches Fie-ber existierte auch in den baltischen Sowjetrepubliken. Smordintiewwar ein sowjetischer Wissenschaftler, der fast zur gleichen Zeit wieKitano selbst Forschungen zu dieser Krankheit (dem hämorrhagi-schen Fieber) durchführte. Etwa 1944 stellte er fest, daß der Erre-ger der Krankheit ein Virus war, und trat mit dieser Tatsache an dieÖffentlichkeit. Die Zeitschrift, in der Kitano seine Menschenversu-che einräumte, ist eine von der japanischen Verteidigungsbehörde(heute Verteidigungsministerium, Boeisho) herausgegebene Publi-kation, die Rikugun eiseishi (Geschichte der Militärhygiene) heißt.

2.2 Die Forschung zum Überträgerinsekt (Hundefloh) der Pest

Es gab drei Forscher im Ishii kikan, die sich mit der Untersuchungvon Flöhen beschäftigten. Zwei von ihnen waren Mitglieder derForschungsabteilung zur Seuchenbekämpfung in Tokio, der dritteMitglied der Einheit 731. Die Forschungsaufgaben waren Massen-produktion und Transport von Flöhen, Untersuchungen zur Über-lebenskraft der Flöhe beim Verstreuen aus der Luft und anderes

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mehr. Die Veröffentlichung von Aufsätzen dazu begann 1940. ImIshii kikan gelang es bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges, die Kör-per der Flöhe zur Infizierung, als Speicher und Transportmediumdes Pestvirus zu nutzen. Man ließ die Flöhe das pestinfizierte Blutaus Mäusen aufsaugen. Im folgenden spreche ich deshalb vom »Pest-floh«.

Zwei Wissenschaftler des Ishii kikan erwarben durch Forschungan den Flöhen den medizinischen Doktortitel.18

18 Murakuni Shigeru, Keopisunezumi nomi ni kansuru jikkenteki kenkyu (Experimen-telle Forschung zu Xenopsylla cheopis); durch diese Arbeit erwarb er am 31. 3. 1946 ander Universität von Tokio den Doktortitel für Medizin. (Diesbezügliche Signaturin der Parlamentsbibliothek [Kokkai toshokan] UT51-60-Q534.) Hirasawa Ma-sayoshi, Inunomi Ctenocephalus canis Curtis no pesuto baikai noryoku ni tsuite nojikenteki kenkyu (Experimentelle Forschung zur Virulenz des Hundeflohs [Ctenoce-phalus canis Curti]); durch diese Arbeit erwarb er am 26. September 1945 an derUniversität von Kyoto den Doktortitel für Medizin. (Diesbezügliche Signatur derParlamentsbibliothek [Kokkai toshokan]: UT51-60-Q534.)

Hier möchte ich die Arbeiten des Stabsarztes der Einheit 731,Hirasawa Masayoshi, erörtern. Der Ausbruch der Pestepidemie inShinkyo (heute Changchun) im September 1940 veranlaßte ihn,diese Krankheit zu erforschen. Die Pestepidemie war Quelle für denspäter an die US-Armee übergebenen Q-Bericht.

Man vermutete damals, daß die Epidemie in einer von Japanernbetriebenen Tierklinik ausgebrochen sei. Der erste Patient war einFamilienangehöriger des Klinikbetreibers, der gleichzeitig auch Mit-arbeiter des Krankenhauses war. So wurde angenommen, daß derEntstehungsherd die Tierklinik war. Allerdings vermutete man, daßder Pesterreger aus irgendeinem Grunde von außen hineingetragenworden sei. Ab Mitte Juni 1940 herrschte die Pest in der etwa sechzigKilometer von Shinkyo entfernten Stadt Noan. Die Einwohner vonNoan brachten infizierte Tiere in die Klinik in Shinkyo. Hirasawastellte die Hypothese auf, daß üblicherweise Xenopsylla cheopis(eine Flohart) die Pest übertrage, daß jedoch auch Hundeflöhe (Cte-nocephalus canis Curtil) Überträger sein könnten. Deshalb sei diePest im Tierkrankenhaus ausgebrochen, so meinte er und beganndamit seine Forschungen, deren Ausgangpunkt ebenjene Frage war,ob auch Hundeflöhe die Pest übertragen können. In seiner Doktor-arbeit steht dazu die folgende Erörterung:

239

Das Ergebnis des dritten Experiments[. . .]

VII. SonderexperimentHundeflöhe wurden drei Tage nach der Übertragung des Erregers in drei

Gruppen, wie untenstehend, geteilt: die erste Gruppe mit drei Flöhen, diezweite mit fünf Flöhen und die dritte mit zehn Flöhen. Man ließ diese Flöheam Oberschenkelbereich der Affen anhaften und erzielte das folgendeErgebnis:

Gruppe Zahl der Zahl der infizierten InzidenzrateExemplare Exemplare (Häufigkeitsrate)

Ein Floh 3 0 (0 %)

Fünf Flöhe 3 1 (33 %)

Zehn Flöhe 3 2 (60 %)

Die infizierten Affen zeigten innerhalb von sechs bis acht Tagen Kopfschmer-zen, hohes Fieber und Appetitlosigkeit. Gleichzeitig waren geschwollene,druckempfindliche Leistenlymphknoten, Zungenbelag, Blutandrang an derBindehaut und andere typische Symptome der Beulenpest sichtbar.

Ein infizierter Affe, der von zehn Flöhen gebissen worden war, starb nachdreizehn Tagen, nachdem er an einer sechstägigen Fieberattacke gelitten hat-te, bei der er fünf Tage lang eine Körpertemperatur von 39 Grad Celsius auf-wies. Nach der Obduktion wurden erhebliche pathologische Veränderun-gen durch die Pest an Milz, Leber und Leistenlymphdrüsen nachgewiesen.

Durch Abstrichkulturen der jeweiligen Organe erhielt man zahlreichePesterreger aus Milz, Leber, Lunge und Lymphdrüsen.

In dieser Serie vergewisserte man sich der durch Hundeflöhe hervorgeru-fenen Infektion, Krankheitsbilder und Todesursache der Affen.19

19 Hirasawa, Experimentelle Forschung (wie Anm. 18).

»[. . .] die Affen zeigten innerhalb von sechs bis acht Tagen Kopf-schmerzen, hohes Fieber und Appetitlosigkeit«, besagt das Zitat.Festzustellen, ob ein Affe hohes Fieber hat, ist möglich. Auch ob erunter Appetitlosigkeit leidet, läßt sich erkennen. Wie kann manjedoch wissen, ob ein Affe unter Kopfschmerzen leidet? Diese Affenstarben an der Pest, wurden seziert, und pathologische Veränderun-gen durch die Pest konnten festgestellt werden, so daß sie damit ih-ren Zweck erfüllt hatten.

Die Schlußfolgerungen Hirasawas in seinem Aufsatz sind fol-gende.

240

1) Als Sonderexperimente wurden Versuche zur Infektion an Affen durch-geführt. Die normale Körpertemperatur dieser Affen beträgt etwa 36,7 GradCelsius.2) Die Hundeflöhe verfügen ebenfalls über Infektiosität. Jedoch nimmt dieZahl der Pesterreger im Körper der Hundeflöhe schneller ab als im Körperder Xenopsylla cheopis. Die Zahl der Pesterreger in einer Xenopsylla cheopisbegann zu dem Zeitpunkt, an welchem die Zahl der Pesterreger in Hunde-flöhen abzunehmen beginnt, zuzunehmen.

Zunächst, bezogen auf Punkt 1) kann ein »Affe« mit einer normalenKörpertemperatur von 36,7 Grad Celsius kein Affe sein.

Aus der Schlußfolgerung 2) kann man annehmen, daß das ZielHirasawas nicht nur die Feststellung der Übertragbarkeit der Pestdurch Hundeflöhe ist, sondern auch die Beantwortung der Frage,ob man die Hundeflöhe als Transportmedium der Pest verwendenkann.

Weil Xenopsylla cheopis nicht immun gegen Kälte sind, ließ diePestepidemie im kalten Winter im nordöstlichen China nach. Manhatte wohl die Erwartung, daß die Hundeflöhe aus dieser Regiongegen die Kälte widerstandsfähiger wären und daß man aus die-sem Grunde aus Hundeflöhen Pestflöhe machen könnte. Allerdingswurde diese Erwartung anscheinend nicht erfüllt. Dennoch zeigt dieSchlußfolgerung 1), daß Hundeflöhe auch Pestflöhe werden kön-nen, in dem Sinne, daß man Hundeflöhe den Pesterreger übertragenläßt, um damit Menschen infizieren zu können.

Für diesen Aufsatz verlieh die medizinische Fakultät der Universi-tät Kyoto Hirasawa Masayoshi einen Doktortitel.

Ich möchte an dieser Stelle auf einige formale Besonderheiten derDoktorarbeit Hirasawas hinweisen. Die Arbeit ist gegliedert in einenHauptaufsatz, den ich teilweise oben bereits zitiert habe, und vierNebenaufsätze. Der Hauptaufsatz ist auf Briefbögen mit der Auf-schrift »Rikugun binsen« (Militärbriefbogen des Heeres, geliefertvon Tokyo Ozu), gedruckt. Auf dem Deckblatt steht neben demTitel: »Hirasawa Masayoshi, Militärarzt der Einheit 731 des Heeresin der Mandschurei, unter der Leitung des Militärarztes Ishii Shiro«;darüber hinaus trägt die Arbeit den Stempel »Militärgeheimnis«.Der Hauptaufsatz ist kurz und besteht aus nur etwa zwanzig Seiten.Die vier Nebenaufsätze sind die folgenden:

1. Forschungen zum Potential der Hungerflöhe2. Forschungen zum Potential der Schadensflöhe

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3. Forschungen zur Überlebenszeit von aus der Luft verstreuten Flöhe unterverschiedenen Bedingungen

4. Forschungen zur Bewegungsbeschränkung der Ratten zum Zwecke derZüchtung von Flöhen

Die oben genannten Aufsätze wurden am 20. März 1944 übergebenund im ersten Kapitel des Bulletins der Forschungsabteilung zurSeuchenbekämpfung der Militärmedizinschule veröffentlicht. DasDeckblatt des ersten Kapitels trägt, soweit ich festgestellt habe, inallen Auflagen den fettgedruckten Stempel »Militärgeheimnis«.

Die Universität Kyoto verlieh also, obwohl man sich dessen be-wußt war, den Doktortitel für einen Aufsatz, in welchem der Autorsich veranlaßt sah, Menschen als Affen auszugeben, mithin für Tex-te, denen medizinische Experimente zugrundelagen, die als ethischunzulässige Experimente anzusehen sind.

3. Die Berichte der US-Armee: »Reports of A, G and Q«

3.1 Die Herkunft der Berichte A, G und Q

Hier möchte ich die drei pathologischen Berichte A (insgesamt 406S.), G (372 S.) und Q (744 S.) erörtern, die am Ende von Abschnitt1 erwähnt wurden. Die Auffassungen über deren Herkunft und Funk-tion gehen bisher auseinander, insbesondere in zwei wichtigen Punk-ten: zum einen in der Behandlung dieser Materialien aus der Sichtvon Sheldon H. Harris, der die drei Berichte entdeckt hat; zum an-deren in der Bezeichnung durch die Bibliothek des amerikanischenKongresses (Library of Congress, LC), die diese Berichte aufbewahrt.

Hier möchte ich zuerst auf das Problem der Bezeichnung durchdie LC, dann auf die Verwirrung in der Erfassung dieser Materialiendurch Harris sowie auf deren Ursache eingehen. Dabei werde ich diewesentlichen Unterschiede zwischen den drei Berichten klarstellen.Dies wird in der Folge zeigen, daß die Titel der LC dem realen Sach-verhalt nicht entsprechen.

Die Berichte A, G und Q befinden sich als Protokolle über »Japa-nese Medical Experiments during World War II« in Aufbewahrungder LC und wurden im Juli 2004 zur Einsichtnahme vorbereitet,indem man deren Farbkopien binden ließ. Worin nun besteht dasProblem der Bezeichnung der Berichte? Die Berichte A und G sind

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inhaltsgemäß Protokolle über »Menschenversuche«. Das ProtokollQ allerdings ist ein Bericht über die Beobachtung einer Epidemieund deren Patienten, also kein Bericht über Experimente. Die Tatsa-che, daß die Tab-AJ keine Liste der im Bericht Q verwendeten pa-thologischen Präparate enthält, weist darauf hin. In dem in Fußno-te 4 bereits erwähnten Text der IWG (Interagency Working Group)gibt es ähnliche Verwirrung. Die Berichte A, G und Q haben diegleichen Erläuterungen, gleichwohl unterscheiden sie sich hinsicht-lich des jeweiligen Krankheitserregers als Forschungsgegenstandund auch hinsichtlich der Seitenzahl. Bezüglich des Berichts Q wirdFolgendes angemerkt:

Report of »Q« [Plague] [copy from Dugway Proving Ground] (744 pages)744 page study [some initial pages missing] of detailed »microscopical

investigation« of specific human body organs to plague. Reports producedby the Army BW labs at Ft Detrick from Japanese human experiments.20

20 Select Documents on Japanese War Crimes and Japanese Biological Warfare, 1934-2006, Compiled by William H. Cunliffe. <http://www.archives.gov/iwg/japanese-war-crimes/index.html> (24.03.2009).

Hier wird nicht nur angegeben, daß alle drei Berichte auf japani-schen Menschenversuchen (»Japanese human experiments«) beru-hen, sondern auch, daß sie von den »Army BW labs at Ft Detrick«erstellt wurden.

Ich werde im folgenden aufweisen, daß dies »verwirrend« ist. Zu-nächst möchte ich jedoch erörtern, wie die Berichte auftauchten:Die drei Berichte wurden anläßlich einer Fernsehreportage des Sen-ders NHK (Nihon Hoso Kyokai) im April 1992 über das Ishii kikanzum ersten Mal an die Öffentlichkeit gebracht. In der Fernsehrepor-tage wurden sie als Berichte über Menschenversuche durch die Ein-heit 731 ohne verifizierende Nachweise vorgestellt. Harris schreibt inFußnote 26 im Kapitel 7 seines Buches Factories of Death über dieFernsehsendung Folgendes:

»The Report of ›A‹« English translation given to Fort Detrick, MD, scientistsin 1948 [. . .] The autopsy reports were discussed in a program in Japan thatwas broadcast on NHK Television on two consecutive evenings, April 13 and14, 1992. Photographs of the colored drawings were aired in this documen-tary which was part of a weekly series known as Modern History Scoop.21

21 S. H. Harris, Factories of Death. Japanese Biological Warfare, 1932-1945, and theAmerican Cover-up, New York 2002, revidierte Ausgabe, S. 125 f.

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Im Text dieser Fußnote stellte Harris klar, daß der Bericht A nichtsmit der Einheit 731 zu tun habe; darauf komme ich noch einmalzurück. Harris’ Buch wurde ins Japanische übersetzt und veröffent-licht. Kondo Shoji, der Übersetzer des Textes, schrieb in seinemNachwort über den Prozeß der Auffindung der Berichte:

1992 wurden drei anatomische Berichte in den entlegenen »Dugway ProvingGrounds« (Versuchsgelände von Dugway) in Utah/USA durch die Zusam-menarbeit von NHK und dem Verfasser (Harris), der nach Originalmateria-lien der Einheit 731 geforscht hatte, entdeckt.«22

22 S.H. Harris, Japanische Ausgabe von Factories of Death (1. Aufl.), Tokio: Kashiwa-shobo 1999, S. 345.

Harris, der Entdecker der Materialien, war über die Herkunft derdrei Berichte anderer Auffassung als der NHK und Kondo.

Diese Differenzen stammen aus der von Harris erzeugten Verwir-rung über die Herkunft der Berichte; denn ich wage zu behaupten,daß es sich hier nicht um Fakten, sondern um Erdichtung handelt.

Dugway, Utah, [. . .] is a US Army chemical and biological warfare base [. . .](here) is a technical library [. . .]. Tucked away in an unmarked box in thetechnical library were more than twenty reports compiled by Americanscientists from their postwar interviews with Ishii, Kitano, and other sur-viving Unit 731 authorities. This box also contained three extraordinary au-topsy reports that cover glanders, plague, and anthrax. The autopsy reportsrange in length from 350 pages to more than 800 pages. Each autopsy reportcontains hundreds of pastel-colored drawings of human organs in variousstates of disintegration. At one time, these reports were designated as topsecret, but advances in BW research make the findings obsolete, if notarcane. They were declassified in 1978.23

23 Ebd., S.84.

Hier kommen solche Bezeichnungen wie »Bericht A, G und Q«nicht vor. Er schreibt lediglich, daß er drei Berichte der Einheit 731aufgefunden habe, deren Themen jeweils Milzbrand (Anthrax),Rotz (Glanders) und Pest (Plague) seien. Man erfährt jedoch nicht,wer die drei Berichte verfaßte. So muß man annehmen, daß dieBerichte auf den von der Einheit 731 stammenden Daten beruhenund von amerikanischen Wissenschaftlern verfaßt worden sein könn-ten wie auch die anderen Berichte, welche die aufgefundene Boxbeinhaltete. Die Erklärung der IWG folgte dieser Beschreibung.Übrigens wurde die Schweigepflicht über die drei Berichte am 6. Mai1960 aufgehoben.

244

Im Kapitel 7, vierzig Seiten nach diesem Zitat, tauchen die Be-zeichnungen »Bericht A, G und Q« erstmals auf. Mit dem Titel desBuches, The Factories of Death, ist die Einheit 100 in der Mandschu-rei (Abteilung zur Seuchenbekämpfung bei Kriegsdienstpferden derKanto-Armee) gemeint. Diese Einheit, welche ebenfalls zur japani-schen Armee gehörte, unterschied sich von der zum Ishii kikan ge-hörenden Einheit 731. Harris war sich dessen bewußt.24

24 Ebd., S. 114-116.

Two reports, one on glanders, the other on anthrax, illustrate the incredibledegree of thorough study pathologists at Changchun dedicated to their sub-jects and to the diseased under review. The glanders report, entitled »TheReport of ›G‹«, discussed twenty-one cases in 372 pages. This report con-tained numerous pastel-colored illustrations and hundreds of photographsof body cells. The anthrax report, listed as »The Report of ›A‹«, analyzedthirty cases in 406 pages, complete with pastel illustrations and photographsof cellular structures.

[. . .]Shinko city lost eighteen persons to the disease in a few days in mid-Sep-

tember. The city and Noan County contributed forty-nine patients to theJapanese pathologists during the period from September 29 to November 5.Several dozen other victims went to their deaths unrecorded, escaping theskilled postmortem examinations of Unit 100’s pathologists.25

25 Ebd., S. 125-129.

In diesem Zitat ist mit »Shinko« die Stadt Shinkyo gemeint, dieheute Changchun heißt. Von den 49 Patienten (»forty-nine pa-tients«) steht nichts im Bericht Q. Die Zahl der Patienten aus derStadt und dem Gebiet Noan (»the city and Noan County«) im Be-richt Q beträgt 39 plus 18, also 57 Personen.

Die Verfasser der Berichte A und G finden bei Harris keineErwähnung. Er wies lediglich darauf hin, daß die Pathologen inChangchun (»pathologists at Changchun«) die pathologischen Prä-parate hergestellt hätten, welche wiederum als Quelle dieser Be-richte dienten und daß japanische Pathologen (»the Japanese patho-logists«) und Pathologen der Einheit 100 (»Unit 100’s pathologists«)die Pestpräparate fertigstellten. Deren Namen wurden allerdings auchnicht genannt.

In der Darstellung über die Pest wurde der Bericht Q nicht er-wähnt. Dennoch berichtet die Fußnote 30 Folgendes: »Der BerichtQ, der ursprünglich im Camp Detrick gelagert und später in der

245

Technical Library in Dugway untergebracht war [. . .]« (»The Reportof »Q« originally on deposit at Camp Detrick, Frederick, MD, laterhoused in the Technical Library, Dugway [. . .]«).26

26 Ebd., S. 134.

Daraus erkenntman, daß der Bericht Q nach dem von Harris erwähnten patholo-gisch-anatomischen Protokoll über die durch die Pest gestorbenenPatienten in Shinkyo und Noan verfaßt wurde. In der Einheit 100wurden Krankheiten von Dienstpferden erforscht. Die Einheit hatteSpezialisten für Anthrax (Milzbrand) und Glanders (Rotz), alsoInfektionskrankheiten von Tieren und Menschen, jedoch keine fürPest, an der nur Menschen erkranken.

Harris schrieb zu den drei Berichten:

Die drei Berichte wurden ursprünglich im Camp deponiert und später inder Technical Library im Erprobungsgelände Dugway in Utah unterge-bracht. (»originally on deposit at Camp Detrick, Frederick, MD, later hou-sed in the Technical Library, Dugway Proving Grounds, Dugway, Utah.«)27

27 Ebd., Fußnoten 26, 27, 30 in Kapitel 7.

Das sollte wohl heißen, daß er drei auf den Materialien der Einheit100 beruhende Berichte fand und gleichzeitig am selben Ort auchdrei Berichte entdeckte, die aus den Materialien über Milzbrand,Rotz und Pest vom Ishii kikan stammten.

Eine Aufklärung über die Mißverständnisse im Zusammenhangmit den Berichten A, G und Q kann man erreichen, indem man dieHerkunft der Berichte klarstellt. Ich möchte nachweisen, daß dieseBerichte nicht von den Pathologen der Einheit 100 in Shinkyo, son-dern von einem Pathologen des Ishii kikan, genauer der Einheit 731,verfaßt wurden.

Zuerst möchte ich auf die Berichte A und G eingehen. Die Tabel-len 3 und 4 beinhalten die Informationen zu den Präparaten dieserBerichte und die Liste der pathologischen Präparate aus Anthrax(Milzbrand) und Glanders (Rotz) der Tab-AJ des Hill & Victor Re-ports. Wenn man beide Tabellen und die Präparateliste der Tab-AJmiteinander vergleicht, erkennt man, daß das Präparat 411 nur imBericht A der Tabelle 3 vorkommt, in Tab-AJ aber nicht. Im Gegen-satz dazu treten die Präparate 53, 394*, 408* und 743* nur in derTab-AJ auf, im Bericht A jedoch nicht. Das Präparat 778* gibt es nurin Tab-AJ, nicht im Bericht G (* insuffizient oder keine Präparate inTab-AJ).

246

Die Präparate aus den Berichten A und G und die Präparatelisteaus der Tab-AJ stimmen jeweils nicht vollkommen überein. Die Prä-parate, die nur in Tab-AJ und weder in Bericht A noch in Bericht Gerscheinen, sind Nummer 53, 394, 408 und 743 aus Bericht A und778 aus Bericht G. Diese Proben sind entweder insuffizient oder alsPräparate nicht vorhanden. Daß sie aus diesem Grund nicht in denBerichten erwähnt wurden, ist denkbar. Folglich sind die nur ineinem Bericht oder in Tab-AJ auftretenden Exemplare lediglich dieNummer 411 aus Bericht A und Nummer 53 aus der Tab-AJ. Alleanderen Präparate aus den Berichten A und G entsprechen denender Tab-AJ. Daher läßt sich vermuten, daß Bericht A und Bericht Gauf der Grundlage jener Präparate verfaßt worden sind, die vomPathologen der Einheit 731, Ishikawa Tachio, 1943 nach Kanazawagebracht wurden, wie in Kapitel 4.B des Hill & Victor Reportserwähnt. Darüber hinaus kann man vermuten, daß der Verfasserdieser Berichte Ishikawa ist, da Fell diesbezüglich von einem »derPathologen [. . .] welcher einen vollständigen Bericht in Englischverfaßte« (»the pathologist [. . .] prepraring a complete report inEnglish«) schrieb, wie ich bereits in Abschnitt 1 erwähnte.

Im Fall des Berichts Q zeigt es sich noch deutlicher, daß Ishikawamit seinen selbst zusammengestellten Materialien diesen Berichtschrieb. Die erste Seite des Berichts Q beinhaltet folgendes Zitat:

Foreword1943. (25th Sept.–7th Nov), I have investigated plague-epidemics in two re-

gions (Shinkyo-city andNoan-prefecture in Manchuria). Noan-prefecturewascontaminated frequentlywith repeatedplague-epidemics everyyear,buton thecontrary, Shinkyo-city had not been contaminated with plague-epidemics.

1943. June. occurred suddenly plague-epidemics in Noan-region by somemeans.

These epidemics spread to the neighboring districts gradually, and at lastinvaded to Shinkyo-City by means of communications about the middle ofSept., and caused explosive epidemics among the towns peoples, who hadnot sufficient herd-immunities of plague disease, and all 18 patients had diedseveral days after infection.

Dr. Takahashi and others had carried out epidemiological and bacterio-logical investigations. Those reports, printed in Japanese were presented toUS army already Jul. 1948.

I and others had investigated patho-anatomically all cases, who had diedin these two regions between 29th Sept and 5th Nov.

I will insert these results in following capitals.

247

Im folgenden möchte ich auf den im Jahre 1944 veröffentlichtenAufsatz Ishikawas über die Pest eingehen.Im Herbst des Jahres 1940 führte einer der Verfasser während der Pestepide-mie im Landkreis Noan in der Mandschurei die Obduktion an 57 an derPest Gestorbenen durch. Dies ist weltweit die bislang größte beschriebeneFallzahl. Hier werde ich versuchen, die Merkmale dieser Epidemie kurzzusammenzufassen. Sie zeigte die typische Art und Weise einer Pestepidemiein der Mandschurei der Gegenwart. Die Besonderheit war, daß die Epide-mie in zwei Regionen ausbrach, das heißt, daß die Krankheit nach einerbereits verseuchten Region anschließend auch noch in einer anderen Regionausbrach. Hieraus ergab sich das epidemiologische Interesse, diese beidenGegebenheiten zu vergleichen und genauer zu betrachten.28

28 Ishikawa Tachio, »Ensho (koto ni pesuto) ni kansuru kenkyu« (»Untersuchungenzu Entzündungen [mit besonderer Berücksichtigung der Pest]«), in: Nihon byori-gakkai kaishi (Nachrichten der Japanischen Gesellschaft für Pathologie) 34 (1944),S.17.

Dem Bericht Q ist als Anlage »eine kurze Darstellung eines Ent-wurfs aller untersuchten Fälle« (»Brief out-line of all investigatedcases«) (1) und (2), die Listen der Pestopfer betreffend, angefügt.Nach diesen Listen gab es 39 Tote in Noan und 18 Tote in Shinkyo.Der Bericht Q verfügt über pathologisch-anatomische Beobachtun-gen zu 57 Fällen. Identisch sind dabei zwei Punkte: der Entstehungs-herd Noan und die Ausbreitung der Infektion bis nach Shinkyo, woes aber bislang eine solche Epidemie nicht gegeben hatte. Dennochbesteht ein Unterschied: Im Bericht Q ist das Ausbruchsjahr mit1943 angegeben, anders als in Ishikawas Aufsatz von 1940. Allerdingswar Ishikawa im Herbst 1943 schon nach Kanazawa umgezogen, alsowar es nicht möglich, daß er in Shinkyo eine Untersuchung zur Pestdurchgeführt haben konnte. Darüber hinaus gab es im Jahre 1943keinen akuten Ausbruch der Pest in Shinkyo. Aus diesen Betrach-tungen ist zu erkennen, daß der Satz »ich habe die Pestepidemie inzwei [. . .] erforscht« (»I have investigated plague-epidemics in two[. . .]«) aus Bericht Q von Ishikawa stammen könnte.

Ein anderes Indiz dafür, daß die »Ich-Person« (»I«) Ishikawa seinmüßte, findet sich im Aufsatz von Takahashi über die Pest, welcherim Bericht Q erwähnt wurde: »Dr. Takahashi und andere führtenepidemiologische [. . .] durch [. . .]« (»Dr. Takahashi and others hadcarried out epidemiological [. . .]«).29

29 Takahashi Masahiko, Boeki kenkyu hokoku (Bericht zur Epidemiepräventionsvor-schung 2), Nr. 515.

In Tabelle 5 werden die Liste der

248

18 gestorbenen Patienten vom Bericht Q und die Liste der 28 japani-schen und chinesischen Patienten, die in Takahashis Aufsatz überdie Pest in Shinkyo untersucht wurden, verglichen.

Alle 18 Pesttoten, die im Bericht Q erwähnt wurden, kommenauch in der Patientenliste in Takahashis Aufsatz vor. Die Informatio-nen über diese 18 Personen, wie Initialen, Alter, Zahl der Tage vomAusbruch der Krankheit bis zum Tod, Art der Krankheit und Infek-tionswege, sind vollkommen identisch. Auch aus den Adressen dergestorbenen Patienten von Tabelle 5 kann man erkennen, daß sichmehrere Pestpatienten eines Haushaltes infizierten.

Die Zahl der Patienten, die in Takahashis Aufsatz, nicht aber imBericht Q aufgeführt werden, beträgt bei den Geheilten zwei undbei den Toten acht Personen. Weil sechs der Toten schon vor derAnkunft Ishikawas starben und zwei erst, nachdem er Shinkyo ver-lassen hatte, vermute ich, daß diese acht Verstorbenen nicht im Be-richt Q vorkommen. Unter den Ärzten des Ishii kikan gab es wohlkeinen Informationsaustausch.

Aus den bisher betrachteten Fakten ziehe ich die Schlußfolge-rung, daß die drei Berichte vom Ishii kikan stammen.

3.2 Zum Charakter und wissenschaftlichen Wertder Berichte A, G und Q

Im weiteren Verlauf möchte ich erörtern, unter welchen Umständenman der pathologischen Präparate habhaft wurde, das heißt, wie dieVersuchsobjekte infiziert wurden und starben. Hierzu betrachten wirdie Berichte A und G. Die Informationen über Milzbrand und Rotzder Tab-B und der Tab-R vom Hill & Victor Report habe ich in Ta-belle 6 zusammengefaßt.

Im Bericht A, dessen Thema Milzbrand (Anthrax) ist, werdendrei Infektionswege genannt. Jedoch wurden nur die orale und nasa-le30

30 Wie aus der genaueren Darlegung auf der folgenden Seite hervorgeht, handelt essich ungeachtet der etwas unpräzisen Bezeichnung »pernasal Infection« im Origi-naltext tatsächlich um die Inhalation von mit Milzbrandmaterial kontaminierterAtemluft (Anmerkung Peter Schmucker).

Übertragungsmethode konkret dargestellt, wie aus dem untenaufgeführten Zitat zu entnehmen ist. In beiden Fällen handelt essich um eine künstliche Übertragung. Die im folgenden zitiertenWerte sind mit den Daten der Sektionsprotokolle aus Tabelle 3 iden-

249

tisch. Als Übertragungsmethoden wurden Aufnahme des Erregersüber die Atmung, Injektion und orale Infektion genannt. Aus dieserSchilderung ist zu erkennen, daß die perkutane Infektion (über dieHaut) eine Übertragung durch Injektion ist. Dies könnte auch fürBericht G gelten.

I have investigated 30 cases of anthrax disease, which could be classified into3 groups:a) Percutaneous infection: 1 caseb) Peroral infection: 9 casesc) Pernasal infection: 20 cases[. . .]b) Peroral infection:9 cases were infected perorally with some food stuffs, which contain somequantity of anthrax bacillus and all patients died definitely after several daysby acute abdominal symptoms and severe hemorrhagic ascites.[. . .]c) Pernasal infection:It occurred suddenly an epidemic of anthrax disease in some prison. About20 men in the prison were affected successively with soiled air, who whichcontaminated some quantity of anthrax bacillus and died all of them defini-tely after several days by severe thoracal or abdominal symptoms.31

31 Erste Seite des Berichts A, siehe S. 1-9.

In den Abschnitten b) und c) kommt der Ausdruck: »starb [. . .] nacheinigen Tagen [. . .]« (»died [. . .] after several days [. . .]«) vor. Faktischwaren es mindestens zwei, höchstens sieben Tage. Im Hinblick aufdie jeweilige Übertragungsmethode läßt sich sagen, daß PatientNummer 54, der perkutan infizierte Patient, nach etwa sieben Tagenstarb. Nach oraler Übertragung gab es größtenteils Todesfälle nachzwei bis drei Tagen, nach nasaler Übertragung im Verlauf von dreibis vier Tagen.

Als nächstes möchte ich auf den Bericht G zum Thema Rotz(Glanders) eingehen. Weil Tabelle 6 nur einen groben Überblickgibt, kann man diese nicht exakt mit dem folgenden Inhalt verglei-chen. Dennoch weisen die Obduktionszahlen aus dem Bericht unddie Tabelle große Differenzen auf. Die medizinischen Werte der Ver-suchsobjekte aus den Experimenten mit nasalen Infektionen weisenebenfalls große Unterschiede auf.

I have investigated microscopically 21 cases of glanders-disease. These caseare divided into 2 groups:

250

a) Percutaneous infection andb) Pernasal infectiona) 16 cases and b) 5 cases* (* Some of them not sure)[. . .]I have classified the course of the disease into 4 stages:1. Acute stage 0 --- 14 days2. Subacute stage 14 days --- 28 days3. Subchronic stage 28 days --- 7 weeks4. Rather chronic stage 7 weeks --- several months

Acute stage Subacute Subchronic Ratherstage stage chronicstage

Percutaneousinfection 5 cases 7 cases 3 4

Pernasalinfection 3 cases 0 0 2

(a) Acute stage:(-) Some cases (8 cases of 21 cases) died in acute stage with some septicemic-toxic symptoms and some adjacent septicemic changes of organs. Not yetaccompanied with remarkable organic changes.[. . .](d) Rather chronic stage:In this stage I have recognized many metastatic changes, due to generalmetastasis: in lung, liver, intestines, lymph-nodes, kidney, muscles andthyroid and etc.32

32 Siehe Seiten 1 f. des Berichts G.

Den drei Beispielen mit den Nummern 256, 727 und 731 aus d) wur-den jeweils die Präparate mit pathologischen Veränderungen innererOrgane zugeordnet. Diese Präparate zeigen, daß die inneren Organeder Patienten durch die langwierige Krankheit erheblich geschädigtwurden und die Patienten starben.

Die konkreten, an diesen Patienten angewandten Übertragungs-methoden werden nicht geschildert. Deshalb läßt sich nicht genaubeurteilen, ob es sich um Fälle künstlicher Infektion handelt. Mankann jedoch davon ausgehen, da die Patienten ausdrücklich in zweiGruppen, nämlich unterschieden nach perkutaner und nasaler Über-tragung, eingeteilt wurden. Das deutet mit hoher Wahrscheinlich-keit auf eine künstliche Übertragung hin. Die Infektionswege pa-

251

thologisch zu analysieren ist möglich und üblich. Dennoch ist derInfektionsweg stets nur bei einer künstlichen Übertragung eindeu-tig zu bestimmen.

Allerdings sind nur zwei (Nr. 176 und 178) der fünf Fälle, die sichangeblich durch nasale Übertragung infizierten, identisch mit derBeurteilung der Pathologen. Zu diesen beiden Exemplaren wurdenaußerdem Fragezeichen hinzugefügt (z.B. »pernasal?«). Einer (Nr.229) der anderen drei Patienten wurde in Anmerkungen dahinge-hend beschrieben, daß er sich durch »perkutane Übertragung« infi-ziert habe. Die anderen beiden wurden mit »percutaneous?« kom-mentiert. Wie soll man diese Daten interpretieren? Kann man ver-muten, daß die Infektionsexperimente nicht positiv verlaufen sind?Angenommen, es wurde eine nasale Übertragung beabsichtigt, ohnedaß das Ergebnis den typischen Symptomen dann entsprochen hät-te, so hieße dies, daß alle Infektionsexperimente misslungen waren.Den Hintergrund dazu bildet folgender Tatbestand, zu dessen Erör-terung ich im folgenden den Teil eines Berichtes zitieren möchte: Eshandelt sich dabei um den 60-Page Report. Er gilt als bedeutenderals die Berichte A, G und Q. Man hat Kenntnis von seiner Existenz,jedoch ist diese bislang nicht bestätigt worden. Es erscheint lediglichseine Zusammenfassung im Fell Report.

GlandersThe Japanese did not do very much work with this organism because they

definitely were afraid of it. They had 7 cases of laboratory infections, ofwhich 2 died, 2 were cured by amputation and 3 received effective serumtherapy.33

33 Zitiert aus dem Fell Report.

Wenn man die Infektionsexperimente in den Berichten A und Gunter dem Aspekt der Qualität wissenschaftlichen Arbeitens be-trachtet, so weisen sie nicht die richtige Form auf, da die genaueMenge der auf den Patienten übertragenen Krankheitserreger nichtangegeben wurde. Aus dieser Sicht kann man die Berichte A und Gauch dahingehend interpretieren, daß sie die Beschreibung einesLehrbuchs der Inneren Medizin, in dem erklärt wird, wie Krank-heitserreger einen menschlichen Organismus zerfressen, durch Men-schenversuche bestätigten. Die MID50 (Minimum Infectious Do-ses) des jeweiligen Krankheitserregers, die das Ishii kikan durchMenschenversuche festgestellt hat, wurden in The 60-Page Report

252

beschrieben, aber diese Informationen spiegeln sich in den Berich-ten A und G nicht.

Am Ende dieses Abschnitts möchte ich versuchen zu bestimmen,wer der Verfasser der Berichte A und G sein könnte. Als Verfasser desBerichts Q stellte ich bereits Ishikawa fest. Hier zitiere ich die Einlei-tungen der jeweiligen Berichte A, G und Q.

A I have investigated 30 cases of anthrax disease, which could be classifiedinto 3 groups:

G I have investigated microscopically 21 cases of glanders-disease.

Q I have investigated plague-epidemics in two regions (Shinkyo-city andNoan-prefecture in Manchuria).

Deren Ähnlichkeit läßt vermuten, daß sie von der gleichen Person,nämlich Ishikawa Tachio, verfaßt wurden.

3.3 Gesicherte und verfälschte Daten

Welches ist die Ursache der Konfusion um die Berichte A, G und Qvon Harris? Harris ist es irgendwie gelungen, die drei Berichte alsProtokolle der Tätigkeiten des Ishii kikan und der Einheit 100 er-scheinen zu lassen. Meines Erachtens ist diese Konfusion höchst-wahrscheinlich beabsichtigt. In Kapitel 6 wurden die Berichte A, Gund Q noch nicht konkretisiert. Auch wurden ihre Verfasser nichtausgewiesen. Harris schrieb, daß die drei vom Ishii kikan stammen-den Berichte gleichzeitig mit den Protokollen der Interviews (u.a.mit Ishii) entdeckt wurden, daß die pathologischen Protokolle aufMenschenversuchen beruhen, und nannte die Anzahl der jeweiligenBerichte. In Kapitel 7 werden die Bezeichnungen der Berichte kon-kret genannt, allerdings keine Verfasser erwähnt und die Berichteals auf Menschenversuchen beruhende pathologische Protokolle be-zeichnet.

Der erste Versuch, ein Material mißverständlich zu gebrauchenund doppelt nutzbar zu machen, bestand darin, die Erwähnung derVerfasser zu vermeiden und die Verfasser nicht zu bestimmen, ob-wohl dies möglich gewesen wäre. Denn hätte man die Verfasser be-stimmt, wäre herausgekommen, daß die drei Berichte mit den dreipathologischen Berichten identisch sind, die Harris aber als vomIshii kikan stammende beschrieb, »declassified in 1978«. Eine wei-

253

tere Manipulation besteht in Harris’ Behauptung, daß alle dreiBerichte auf Menschenversuchen beruhende pathologische Proto-kolle seien. Dies ist vielleicht eine Frage der Fähigkeit Harris’, klini-sche Texte zu verstehen. Wenn man den Bericht Q sorgfältig liest,kommt man zur Erkenntnis, daß es sich bei dem Aufsatz nicht umAufzeichnungen über Menschenversuche handelte, sondern um dasProtokoll über eine Epidemie. Dies führte dazu, daß Kapitel 4-B desHill & Victor Reports in »Plague« und »Plague Epidemic« unterglie-dert wurde: Bei den Fällen von »Plague« handelt es sich um Men-schenversuche und bei denen von »Plague Epidemic« um Patientendes Berichts Q. Danach kann man herausstellen, daß der Bericht Qein pathologisches Protokoll über die durch eine Pestepidemie ver-storbenen Menschen ist. Deshalb kann es nicht sein, daß der BerichtQ von der Einheit 100, die nie Behandlungen und Forschungen anMenschen durchführte, stammt.

Harris vermied es, die Verfasser auszuweisen, und schrieb, indemer die Materialien mißbräuchlich verwendete, immer nur von ›Pa-thologen‹. Hier möchte ich meine Leser bitten, sich an das Beispielaus Abschnitt 2 (»Japanische Abhandlungen«) zu erinnern: Es gingdort um ungenaue Angaben über vorgebliche Versuchstiere wie Af-fen, bei denen es sich aber in Wahrheit um Menschen handelte. Die-ses Beispiel, das konkrete und wichtige Informationen verbirgt oderabsichtlich nicht angibt, scheint ein typisches Beispiel für einenMißbrauch von Materialien zu sein. Liest man aus dieser Perspektivedie Berichte A, G und Q, gelangt man zu der Erkenntnis, daß es beider Angabe der Patienten im Bericht Q und in den Berichten A undG entscheidende Unterschiede gibt. In den Berichten A und G wur-den nur Nummer, Geschlecht und Alter der Patienten angegeben,wobei die an ihnen vorgenommenen Experimente zum Tode führ-ten. Darüber hinaus wurde das Alter der Patienten in den einzel-nen Fällen nicht konkret genannt, wie »ca. (about) 30 Jahre alt« oder»young man«. Andererseits wurden im Bericht Q Initialen, Ge-schlecht, Alter, Herkunft – die Toten waren Japaner und Chinesen –und sogar die Tage bis zum Tod der Patienten verzeichnet. Ver-gleicht man den Bericht mit dem Aufsatz Takahashis, erfährt manden Wohnsitz der Patienten und daß die geheilten Patienten nichtseziert wurden.

Wenn es darum geht, die Frage der Menschenexperimente zubehandeln, muß ein erster Schritt darin bestehen, äußere Unter-

254

schiede zu erkennen, etwa hinsichtlich individueller Informationenüber die Versuchspersonen und der Angabe der Versuchstiere. Indiesem Punkt war die Manipulation durch Harris sorgfältig ausgear-beitet, während die durch die Wissenschaftler des Ishii kikan leichtdurchschaubar war.

Es gibt noch ein Mißverständnis, die Berichte A, G und Q betref-fend. Dieses beruht auf der hohen Bewertung dieser Dateien durchdie Mitarbeiter der US-Armee, die diese schließlich in Händen hiel-ten.

Fell, der das erste Protokoll über Menschenversuche vom Ishiikikan verfaßte, bewertete die von ihm gesammelten Informationenals Medizinwissenschaftler mit Einschränkungen wie folgt:

The results obtained with human beings were somewhat fragmentary be-cause a sufficiently large number of subjects to permit statistically valid con-clusions was not used in any of the experiments [. . .] the data on humanexperiments, when we have correlated it with data we and our Allies have onanimals, may prove invaluable, and the pathological studies and other infor-mation about human diseases may help materially in our attempts at develop-ing really effective vaccines for anthrax, plague and glanders.34

34 Fell-Report.

Mit dem hier zitierten Satz »The pathological studies and other in-formation about human diseases [. . .] for anthrax, plague and gland-ers« scheinen die Berichte A, G und Q gemeint zu sein. Am Endevon Kapitel 3-2 im Fell Report wird ein Satz aus dem 60-Page Reportzitiert: »4. A brief summary of the many details given in the 60-pagereport on B. W. activities directed against man is as follows.« Hierwurde auch dargestellt, daß man Pest, Milzbrand und Rotz an Men-schen erforscht hat: »Infectious (or lethal*) dose, Immunization ex-periments, Bomb trials, Spraying experiments« (*except the case ofglanders). Allerdings verfügt der 60-Page Report nicht über patho-logische Details.

Willoughby, der Offizier des Nachrichtendiensts war, beurteilteFells Untersuchungen und die dadurch erlangten Informationen alspositiv und umfassend. In einem Brief an den »Chief of Staff, FEC«von 17. Juli 1947, der »Report of Bacteriological Warfare« betiteltwar, schrieb er Folgendes:

Your attention is invited that these really important results, for the benefit ofthe United States in critically serious form of warfare, were only obtainable

255

through the skillful, psychological approach to top-flight pathologists, whowere bound by mutual oath not to incriminate each other in these disclo-sures. They were assisted by direct payments, payments in kind (food, mis-cellaneous gift items, entertainment), hotel bills, board (in areas of search forburied evidence, etc.) All of these actions did not amount to more than 150/200,000 Yen, netting the US the fruit of twenty years’ laboratory tests andresearch.35

35 Brief von C. Willoughby an Chief of Staff, FEC vom 17. Juli 1947, Kap. 3.

Willoughby versuchte, als im Herbst 1945 die US-Armee ihre Unter-suchungen aufnahm, die Wissenschaftler des Ishii kikan zu entlastenund auf diesem Wege an die gewünschten Informationen zu gelan-gen.36

36 Niizuma Seiichi, File of communication documents to and from GHQ/SCAP 1945.

Man kann feststellen, daß er gleich zu Beginn der Untersu-chungen mit allen Mitteln beabsichtigte, der Daten und Informa-tionen des Ishii kikan habhaft zu werden.

Aber diese Hast wurde zur Falle, da das Ishii kikan und die Mit-arbeiter des Nachrichtendienstes der japanischen Armee sich dieszunutze machen konnten und die US-Armee im ersten Jahr derNachforschungen den Tatbestand der Menschenversuche und denEinsatz biologischer Waffen gegen China nachzuweisen noch nichtin der Lage waren, während diese Tatbestände durch die Sowjet-union Ende dann 1946 überraschend aufgedeckt wurden.

Um Willoughbys Fiasko zu verdecken und an die aus den Men-schenversuchen resultierenden Daten sowie das durch Anwendungerlangte Know-how der biologischen Kriegführung durch die japa-nische Armee zu gelangen, veranlaßte man neben den Schuldentla-stungen – in diesem Stadium wäre ein Freispruch wohl von geringerWirkung geblieben – noch finanzielle Begünstigungen. Nun bliebden Amerikanern nur die Möglichkeit, die gewünschten Daten, dievon der US-Armee benötigten Informationen, mit finanziellen Mit-teln zu erkaufen, um gleichzeitig Willoughbys Blamage zu vertu-schen. Der jedoch verriet diesen Sachverhalt hinter den Kulissen, dadas Dispositionsbudget des Geheimdienstes der Military Intelligen-ce Section (MID) im Kriegsministerium, welcher die Kosten für die-sen Fall trug, beschränkt wurde. Dem Leiter der Military Intelli-gence Section berichtete Willoughby dies hinreichend deutlich:

The information contained in Dr. Fell’s report was obtained for 150/200,000 Yen (approximately $ 3/4,000, including payment in kind, i. e.,

256

rations. A mere pittance. Such expenditures are now restricted. Dr. Fellstates in his report that with this complete admission from the Japaneseabout their B. W. research we may be able to get equally useful informationon other intelligence targets. I contend that with new restrictions on the useof MID funds we shall find it successively more difficult to induce thesepeople to disclose information.37

37 Brief von C. Willoughby an Major General S. J. Chamberlin (Director of Intel-ligence) vom 22.Juli 1947.

Auf der letzten Seite des Hill & Victor Reports, der Fells Untersu-chung folgte, steht Folgendes:

Information has accrued with respect to human susceptibility to these dis-eases as indicated by specific infectious sources of bacteria. Such infor-mation could not be obtained in our own laboratories because of scruplesattached to human experimentation. These data were secured with a totaloutlay of ¥ 250,000 to date, a mere pittance by comparison with the actualcost of the studies.38

38 Hill & Victor Report.

Fell und seine Nachfolger, Hill und Victor, erlangten die medizi-nischen Informationen vom Ishii kikan durch die Forderungen derim Fernen Osten stationierten US-Streitkräfte an das Geheimdienst-budget und durch den Versuch, unter dem Vorwand von Fells Un-tersuchung die Kürzung der finanziellen Mittel auszusetzen. Darausentstand wohl die »Überzeugung« bzw. eine »Erwartung«, daß dieDaten von unschätzbarem Wert wären. Der Kern dieser Einschät-zung als »einmalige Gelegenheit« lag wohl in den Menschenversu-chen, die so in den in den USA unmöglich hätten durchgeführt wer-den können.

Schlußbemerkung

Die in diesem Text erörterten Menschenversuche wurden innerhalbeiner militärischen Organisation namens Ishii kikan durchgeführt.Alle Versuchspersonen wurden in einem speziellen Raum festgehal-ten, der als Sondereinrichtung für Testpersonen bezeichnet wurdeund in dem Experimente an ihnen verübt wurden. Zuweilen wur-den sie im Verlauf einer Krankheit ermordet und ihre Leichen se-ziert, um den Verlauf der Krankheit zu studieren; und selbst wenn

257

(sie die Versuche an sich überlebten, wurden sie schließlich dochumgebracht. Dies unterscheidet sie erheblich von den nach demKrieg in Japan vorgenommenen unzulässigen Menschenversuchen,die in normalen medizinischen Einrichtungen, also in öffentlichenRäumen, durchgeführt wurden, abgesehen davon, daß auch dieseOrte für Patienten nicht alltäglich sind.

Der grundlegende Unterschied besteht in den zentralen Anliegender Experimente. In ersteren liegt der Schwerpunkt auf einer Artvon Infektionsexperimenten, bei denen schon nach kurzer Zeit einResultat vorliegt, wie z.B. bei der Beobachtung der Infektiosität derKrankheitserreger und des Verlaufs nach einer Infektion. In letzte-rem hingegen war mitunter eine langwierige Beobachtung erforder-lich, wie z.B. bei der Erforschung einer Behandlungsmethode. DasIshii kikan entwickelte verschiedene Vakzine (Impfstoffe aus leben-den oder toten Krankheitserregern) auch für die allgemeine Verwen-dung. Man kann vielleicht sagen, daß Vakzine im Ishii kikan durchMenschenversuche in vergleichsweise kurzer Zeit entwickelt wur-den; die Nebenwirkungen und langfristigen Folgen wurden dann inder praktischen Verwendung an japanischen Menschen beobachtet.Diese Konstellation trifft nach meiner Auffassung auf die Erfor-schung des Trocken-BCG39

39 Das Bacille Calmette-Guerin (BCG), ein von Albert Calmette und Camille Guerinzu Beginn des 20. Jahrhunderts aus Rindertuberkelbazillen von normaler Virulenzdurch dauernd wiederholte Fortzüchtung entwickelter abgeschwächter Lebend-impfstoff gegen Tuberkulose (A.d.Hg.).

zu.

Aus dem Japanischen von Masako Kodama und Birgit Griesecke;wir danken Peter Schmucker für die Durchsicht des Manuskripts.

258

Anhang

Tab. 1: Interviewliste von Hill & Victor

259

Summary Report on B. W. Investigations, 12. Dezember 1947, EdwinV. Hill, Chief, Basic Sciences, Camp Detrick.

Human Cases Tab-B Tab-R Infectious(pp. 3 f.) Aerozol Dissected Experiments

experiments cases

Disease Adequate TotalMaterial

Anthrax 31 36 10 times 30 cases Yeson 4-5 cases

Botulism 0 2 Yes

Brucellosis 1 3 2-3 times Yeson 1-2 cases

Carbon Monoxide 50 135 2-3 times 50 caseson 1-2 cases

Dysentery 12 21 2-3 times > 20 cases Yes

Glanders 20 22 5-6 times > 5 cases

Meningococcus 1 5 Yes

Mustard Gas 16 16

Plague 42 180 4 times 50 casesof 4-5 cases

Plague Epidemic 64 66

Poisoning 0 2

Salmonella 11 14

Song 52 (30) 101 (103) 2-3 times Yeson 1-2 cases

Small Pox 2 4 1 time Yeson 1-2 cases

Streptococcus 1 3

Suicide 11 30

Tetanus 14 32 Yes

Tick Encephalitis 1 2

Tsutsugamushi 0 2

Tuberculosis 41 82 1-2 times Yes

Typhoid 2 63 > 8 cases Yes

260

Human Cases Tab-B Tab-R Infectious(pp. 3 f.) Aerozol Dissected Experiments

experiments cases

Disease Adequate TotalMaterial

Typhus 9 26 1 time 5 cases Yeson 2 cases

Vaccination 2 2

Index of Slides(Tab-AJ)

Dengue 1

?????sion 5

Frostbite 1 2

Malaria 1

Paratyphoid C 1 2

Recurrence fever 1 1

Other diseases

Cancer of liver 1 4

Sarkom 1

Liver-cirrhosis 1

Acute nephritis 2 2

Icterus 2

Tab. 2: Grundlage Hill & Victor Report

All cases below conducted HE.Tab-K: Kojima, vaccinesTab-L: Gas gangreneTab-N: InfluenzaTab-Y: Tick EncephalitisTab-AB: Tularemia

261

The report of A

No of slide Infectious root Days of course(age & sex, pp. 31-95) (pp. 2-28)

17 (38, m) Per-oral infection ca. 2 days

18 (29, m) Per-oral infection ca. 2 days

26 (25, m) Per-oral infection ca. 3 days

54 (ca. 25, m) Per-cutaneous infection ca. 7 days

225 (35, m) Per-oral infection 2 days

318 (ca. 30, m) Per-oral infection 2 days

320 (ca. 30, m) Per-oral infection 2 days

325 (about 25, m) Per-oral infection about 2 days

328 (32, m) Per-oral infection ca. 2 days

383* (ca. 40, m) Per-oral infection ca. 3 days

388 (27, m) Per-nasal infection about 2 days

389 (ca. 25, m) Per-nasal infection 3 days

390 (25, m) Per-nasal infection 3 days

393 (34, m) Per-nasal infection 4 days

396 (29, m) Per-nasal infection 3 days

397 (27, m) Per-nasal infection 4 days

399 (26, m) Per-nasal infection 3 days

400 (32, m) Per-nasal infection 3 days

401 (37, m) Per-nasal infection 2 days

403 (34, m) Per-nasal infection 3 days

404 (27, m) Per-nasal infection 3 days

405 (27, m) Per-nasal infection ca. 2 days(Per-bronchial infection\\)

406 (31, m) Per-nasal infection ca. 2 days

407 (28, m) Per-oral spred 3 days

409 (32, m) Per-nasal infection 2 days

410 (27, –) Per-nasal infection 3 days

411 (28, m) Per-nasal infection 4 days(Per-oral spread)

412 (27, m) Per-nasal infection 3 days(Per-bronchial infection\\)

262

No of slide Infectious root Days of course(age & sex, pp. 31-95) (pp. 2-28)

413 (37, m) Per-nasal infection 3 days

414 (29, –) Per-nasal infection ca. 2 days

416 (31, –) Per-nasal infection 4 days

417 (27, –) Per-nasal infection 3 days

Tab. 3: Slide list of Tab-AJ and of the report of A Tab-AJ

The report of G

No of slide Infectious root Days of course(age & sex, pp. 26-72)

16 (ca. 24, m) Per-cutaneous infection 13 days

50 (ca. 30, –) Per-cutaneous infection 16 days

85 (ca. 25, m) Per-cutaneous infection 21 days

146 (ca. 35, m) Per-cutaneous infection 39 days

152 (ca. 40, m) Per-cutaneous infection 46 days

167 (ca. 40, m) Per-cutaneous infection 15 days

176 (ca. 38, –) Per-nasal infection? 12 days

178 (–, –) Per-nasal infection? 10 days

180 (ca. 28, –) Per-cutaneous infection 12 days

190 (ca. 30, m) Per-cutaneous infection 10 days

193 (ca. 35, m) Per-cutaneous infection 25 days

205 (ca. 23, m) Per-cutaneous infection 37 days

207 (ca. 30, m) Per-cutaneous infection 18 days

221 (young man) Per-cutaneous infection 24 days

222 (ca. 25, m) Per-cutaneous infection 10 days

224 (33, m) Per-cutaneous infection 4 days

229 (ca. 32, –) Per-cutaneous infection 9 days

254 (ca. 27, –) Per-cutaneous infection 20 days

256 (25, m) Per-cutaneous infection 45 days

727 (25, m) Per-cutaneous infection 105 days

731* (ca. 25, m) Per-cutaneous infection ca. 3 months

Tab. 4: Slide list of of Tab-AJ and of the report of G Tab-AJ

* is indicated as ›Insufficient or no slides‹ in Tab-AJ.

263

Tab. 5: Ergebnis des Vergleichs zwischen der Liste der Totenaus Takahashis Aufsatz Nr. 515 (A) und der Liste aus dem Bericht Q (B)

Nummer Nummer Initiale Namen Alter Geschlecht Anzahl derder der der der der Tage von derToten Toten Toten Toten Toten41 Erkrankungin (B) in (A) in (B) in (A)40 bis zum

Todeseintritt42

S-1 3 KF 8 � 8 (7)

S-2 8 TT 8 � 5 (4)

S-3 7 SK 25 � 5 (4)

S-4 6 MM 23 � 5 (4)

S-5 13 MY 21 � 3 (5)*

S-6 14 FT 12 � 6 (2)*

S-8 17 TL 10 � 3 (2)

S-9 15 GS 56 � 6 (5)

S-10 18 KK 45 � ?

S-11 19 HC 55 � (18) ?

S-1244 20 TF 27 � 3 (2)

264

Krankheitstyp Infektionsweg Infektionsweg Nationalität °, †, ††, &, … :(Krankheitstyp in (B) in (A) Zeichen geben an,in Tabelle daß die Patienten2-4)43 im gleichen

Gebäude lebten.)

Drüsenpest linke Leisten- Drüsen der Japan °gegend linken Leisten-

gegend

Drüsenpest rechter Unter- Drüsen des Japan †Sepsis kieferbereich rechten Unter-(Drüsenpest) kieferbereichs

Drüsenpest rechte Leisten- Drüsen der China †gegend rechten Leisten-

gegend

Drüsenpest linke Achsel- China †(vermutlich Pest) höhle

Drüsenpest rechte Leisten- Drüsen der Japan ††

gegend rechten Leisten-gegend

Drüsenpest rechte Achsel- Drüsen der Japan &Sepsis höhle rechten Achsel-(Drüsenpest) höhle

Sepsis China …

Lungenpest China primäreLungenpest†

Sepsis China unmittelbar durchEpidemie gestorben,Ursache durch Sek-tion entdeckt

Drüsenpest rechte Leisten- Drüsen der Chinagegend rechten Leisten-

gegend

Drüsenpest linke Leisten- Drüsen der Japan †gegend rechten Leisten-

gegend

265

Nummer Nummer Initiale Namen Alter Geschlecht Anzahl derder der der der der Tage von derToten Toten Toten Toten Toten41 Erkrankungin (B) in (A) in (B) in (A)40 bis zum

Todeseintritt42

S-1445 22 TN 37 � 4 (?)

S-15 21 US 18 � ? (3)

S-19 23 YT 58 � 12 (6)

S-22 12 MT 3 � 21 (20)

S-26 25 HK 31 � 7 (5)

S-2846 26 FS 44 (40) � 2 (1)*

S-38 2 YO 33 � 7 (6)

40 Die Namensangaben sind lückenhaft, deshalb nicht ins Deutsche zu übertragen (A.d.Ü.).41 Die Zahl in Klammer gibt das Alter des Toten in (A) an.42 Die Zahl in Klammer gibt die Anzahl der Tage von der Erkrankung bis zum Todeseintritt

in (A) an, jeweils ein Tag weniger als in (B) erwähnt.* In einem weiteren Aufsatz Takahashis mit der Nummer 525 wurde die Anzahl der Tage von

der Erkrankung bis zum Todeseintritt bei dem Patienten Nr. 13 mit 2 angegeben und beidem Patienten Nr. 14 mit 5 Tagen.

43 Mit Tabelle 2-4 ist die erste Tabelle des zweiten Teils in Takahashis Aufsatz Nr. 515 gemeint.Beim Krankheitstyp sind kaum Abweichungen zwischen den Dateien in (B) und denen in(A) zu finden.

44 Beim Infektionsweg des Patienten Nr.S-12 ist folgender Unterschied zu sehen: Bei (B) wer-den die Lymphdrüsen der rechten Leistengegend genannt, während es in (A) die der linkensind.

45 Es wäre möglich, daß die Anzahl der Tage von Erkrankung bis Todeseintritt des PatientenNr.S-14 mit der des Patienten Nr.S-15 verwechselt wurde.

266

Krankheitstyp Infektionsweg Infektionsweg Nationalität °, †, ††, &, … :(Krankheitstyp in (B) in (A) Zeichen geben an,in Tabelle daß die Patienten2-4)43 im gleichen

Gebäude lebten.)

Bubonenpest Phlegmone China unmittelbar durchEpidemie gestorben,Ursache durchSektion entdeckt

Drüsenpest linke Leisten- Drüsen der China †gegend linken Leisten-

gegend

Sepsis Japan &

Drüsenpest linker Unter- Drüsen des Japan °kieferbereich Kieferbereichs

Hautpest Phlegmone Japan

Drüsenpest rechte Leisten- Drüsen der Chinagegend rechten Leisten-

gegend

Sepsis Japan

46 Bezüglich des Patienten Nr.S-28 in (B) gibt es eine Unklarheit: die Altersangabe 33 wurdedurchgestrichen und durch 44 ersetzt. Darüber hinaus wurde dessen Krankheitstyp mitSepsis bezeichnet. Das läßt eine Verwechslung mit Patient Nr. S-38 vermuten.

Tab. 6: Tab-B & R

Tab-B Tab-R

Disease Aerozol experiments Dissected cases Mode of Infection

Anthrax 10 times on 4-5 cases 30 Respiratory, injection and oral

Glanders 5-6 times > 5 Injection?

Injektion weist möglicherweise auf eine Hautinfektion hin.Das folgende Material enthält Informationen zur Tabelle 5, der Patientenliste vonShinkyo in (Q), S. 5.

267

Tabelle TSongo

Epidemic Hemorrhagic FeverNovember 13, 1947

Interview with:Shiro Kashara andMasaji Kitano

. . .203 mites picked from field mice in that area were emulsified in 2 cc saline and injecteds.c. in one man with positive results. Another emulsion containing 60 mites produced noeffect in another subject. In this way, the subsequent human material was derived fromthe first case which had been injected with 203 mites. In general, the incubation periodwas between 2 and 3 weeks. Some cases have a spike of fever for one day at two weeks afterinjection and a subsequent elevation of temperature 2 days to a week. Blood from the firstexperimental case was drawn during fever 20 days after injection of the mites. Two ccwere injected s.c. into the second case; 13 days after this injection, the second case devel-oped fever. On the 13th day, 5 cc drawn from this second case were injected into a 3rd manas well as into white mice and monkeys. Subsequent cases were produced either by bloodor blood free extracts of liver, spleen or kidney derived from individuals sacrificed at vari-ous times during the course of the disease. Morphine was employed for this purpose.

Results may be summarized as follows:1. Only during fever does blood contain virus --- 5 experiments.2. During fever a mixture of kidney, spleen and liver contain virus --- 5 experiments ---ever though these organs reveal no histological change in this time.3. In 5 of 7 experiments with each of the following: blood, serum, plasma, w.b.c., r.b.c.,platelets and filtrates of the above through Chamberlain L2, L3, L5, L9 and Seitz EK werepositive results seen.4. On the other hand, after natural death, which usually coincides with a rapid fall ontemperature, extracts of concentrated liver and spleen were not infectious although theseorgans show severe histological changes --- 10 experiments.5. Mites fed on sick people did not transmit disease --- 2 cases.6. Virus grew on mouse and chick embryo which were on agar slants in horse serum, onepositive result in 3 experiments tested in man. However, no growth of virus was observedin chorionllantoic membrane and yolk sack --- 3 experiments.7. Blood from febrile man was infected s.c. into horses. After incubation period of 30-50days, fever appeared lasting 5 to 7 days in 6 of 15 experiments. Blood of febrile horses wasinjected into other horses with positive results in one of two cases. Conversely, blood offebrile horses injected into man was positive in 2 of 8 experiments. These last experimentswere undertaken because coincident with human epidemic an unidentified disease ap-peared in horses. The disease produced approximately resulted that found naturallyduring the epidemic.

Mortality of the natural disease in Japanese soldiers was 30 % when the disease was firstdiscovered. By symptomatic treatment, i.e. forcing fluids, i.v., Ringer’s solution and 10%glucoses, insulin, etc., mortality was reduced to 15%. However, mortality in experimentalcases was 100% due to proceeding of sacrificing experimental subjects.Mites transmitting the disease live on field mice. Although they bite man, they cannotlive on him. These mites are found only at the time of the epidemics which are seasonaland described in Masuda’s report. At this time, mites are full of larve and contain no . . .47

. . .

47 Eintrag unleserlich.

268

Birgit GrieseckeFolter ohne Schmerz?

Am Beispiel von Anästhesie und Menschenexperimentin Deutschland und Japan

während des Zweiten Weltkriegs1

1 Ich danke Werner Kogge für zahlreiche Diskussionen und Anregungen und KlaraElixmann für die mühevolle Beschaffung entlegener Materialien. – Erstmals wurdedieser Text in dem von Karin Harrasser, Thomas Macho und Burkhardt Wolf her-ausgegebenen Band Folter. Politik und Technik des Schmerzes (München: Fink 2007)abgedruckt, allerdings in einer von mir nicht autorisierten, fehllektorierten Fas-sung. Mit diesem – aktualisierten – Wiederabdruck ergreife ich zudem die Gelegen-heit, mich von den in meinen Augen unverantwortlichen Einlassungen der Heraus-geber zu meinem Text zu distanzieren. Vgl. dazu auch Birgit Griesecke: »Sprachge-brauch und Tatbestand. Zum Kriterium des Schmerzes im Begriff der Folter«, in:Bonner Rechtsjournal 1 (2008), S. 12-17, hier S. 12.

1.

Definitionen von Folter scheinen ohne das Kriterium des Schmerzesnicht auszukommen – vielmehr sind im fachspezifischen nichtweniger als im alltäglichen Sprachgebrauch Folter und Schmerz of-fenbar so unabdingbar aneinandergeknüpft,2

2 Vgl. die Anti-Folter-Konvention der Vereinten Nationen aus dem Jahr 1984, Bun-desgesetzblatt II, 247, Art. I, Abs. 1: »(1) Im Sinne dieses Übereinkommens bezeich-net der Ausdruck ›Folter‹ jede Handlung, durch die einer Person vorsätzlich großekörperliche oder seelische Schmerzen oder Leiden zugefügt werden, zum Beispielum von ihr oder einem Dritten eine Aussage oder ein Geständnis zu erlangen, umsie für eine tatsächlich oder mutmaßlich von ihr oder einem Dritten begangene Tatzu bestrafen oder um sie oder einen Dritten einzuschüchtern oder zu nötigen, oderaus einem anderen, in irgendeiner Art auf Diskriminierung beruhenden Grund,wenn diese Schmerzen oder Leiden von einem Angehörigen des öffentlichen Dien-stes oder einer anderen in amtlicher Eigenschaft handelnden Person, auf deren Ver-anlassung oder mit deren ausdrücklichem oder stillschweigenden Einverständnisverursacht werden. Der Ausdruck umfaßt nicht Schmerzen oder Leiden, die sichlediglich aus gesetzlich zulässigen Sanktionen ergeben, dazu gehören oder damitverbunden sind.« Siehe auch Art. 7, Abs. 1 f.) Römisches Statut des InternationalenStrafgerichtshofes (in Kraft getreten am 1. Juli 2002).

daß es geradezu wi-dersinnig und auch provozierend erscheinen muß, die Frage nacheiner Folter ohne Schmerz zu stellen – und doch muß sie gestelltwerden, wenn wir uns mit Fällen von Mißhandlungen konfrontiert

269

sehen, für die sich uns das Wort Folter aufdrängt, wenngleich sie mitSchmerztilgung einhergehen.

Ich werde im folgenden die schmerzkonzentrierten Definitionenvon Folter einer zugleich kritischen und kriteriologischen Untersu-chung unterziehen und versuchen, an die Grenze des phänomena-len und begrifflichen Zusammenhangs von Schmerz und Folter zugehen, und zwar von Fällen aus, wo das Unsägliche der Folter zu-sammentrifft mit dem – wie Robert Musil es einmal ausgedrückthat – »unsagbaren Segen der Narkose«.3

3 Robert Musil, Der Mann ohne Eigenschaften (1930), Reinbek b. Hamburg 1999,S.299.

Wir werden dabei an Über-gangslinien von Schmerz zu Angst, Terror und Trauma gelangen.Ziel dieses Unterfangens, in dem es um die Befragung von begriff-lichen Übereinkünften geht, kann es nicht sein, etablierte Definitio-nen von Folter auszuhebeln oder zu ersetzen oder gar die juridisch-politische Notwendigkeit des Definierens von Foltertatbeständenüberhaupt in Zweifel zu ziehen; vielmehr fordert gerade der Um-stand, daß der Foltertatbestand in der internationalen Rechtsspre-chung durchaus einem Prozeß fortwährender und weitreichenderRevisionen unterworfen ist – etwa demjenigen, daß im Artikel 7 desRömischen Statuts des Internationalen Strafgerichtshofes aus demJahr 2002, anders als noch in der Anti-Folter-Konvention von 1984,eine Folterung nicht länger von in amtlicher Eigenschaft handeln-den Personen ausgeführt werden muß und auch nicht mehr die Ver-folgung irgendeines Folterzwecks (weder den der Geständniserpres-sung noch eines anderen) verlangt4

4 Vgl. dazu Stephan Meseke, Der Tatbestand der Verbrechen gegen die Menschlichkeitnach dem Römischen Statut des Internationalen Strafgerichtshofes. Eine völkerstraf-rechtliche Analyse, Berlin 2004, S. 211-216.

–, dazu heraus, in diesen offenenReflexionssprozeß Überlegungen auch hinsichtlich anderer Tatbe-standsmerkmale einzubringen, eben nicht zuletzt das des Schmer-zes, um das es im Folgenden gehen wird.

Anhand von ganz verschiedenen, von bekannten und unbekann-ten, von vertrauten und unvertrauten, von nahe- und fernliegenden,von realen und fiktiven Fällen sollen mögliche Verkürzungen undAusblendungen geläufiger Auffassungen im Komplex von Schmerzund Folter aufgewiesen werden – nicht im Dienste einer haltlos-beliebigen Ausweitung dessen, was mit Fug und Recht im Dienstepolitischer Handlungsfähigkeit einmal auf den Punkt (zur völker-

270

rechtlichen Ratifizierung) gebracht worden ist, sondern um Präzisie-rungen willen; Präzisierungen, die allerdings zur Folge haben könn-ten, daß der Begriff der Folter dann auch für Fälle zur Verfügungstünde, die wir vielleicht intuitiv als Folter ansehen, aber schwerlichin die gängigen Definitionen einpassen können, oder umgekehrt,die wir intuitiv nicht der Praxis des Folterns zuordnen wollten unddie sich dennoch, im Zuge einer genaueren Untersuchung, als sol-che erweisen.5

5 Was Trutz von Trotha für Analysen der Gewalt allgemein zu bedenken gibt, gilt alle-mal für den speziellen Fall der Folter: »Die Gewaltanalyse steht in besonderer Weiseunter den Anforderungen einer Ethik der Genauigkeit. In der Gewaltanalyse mußnach allen Möglichkeiten sprachlicher Genauigkeit gesucht werden, um Ambiva-lenzen in Beschreibung und Begrifflichkeit, so weit es irgend geht, nicht offenzulas-sen. Wer in Fragen der Gewalt ungenau wird, hat nicht nur wissenschaftlich verlo-ren, sondern begibt sich politisch und moralisch auf suspekte Wege« (siehe Trutzvon Trotha, »Zur Soziologie der Gewalt«, in: ders. [Hg.], Soziologie der Gewalt,Opladen 1997, S.9-56, hier S. 24).

Darauf, daß dieses Vorgehen eine Methode ist, die ichaus der Philosophie Wittgensteins beziehe und die dort den leichtmißverständlichen Titel der ›grammatischen Betrachtung‹ führt,kann ich an dieser Stelle nur kurz verweisen und dabei einen derstärksten Punkte dieser philosophischen Methode hervorheben,nämlich den, daß sie sich keineswegs als scholastische Begriffsarith-metik gefällt, sich vielmehr unumgänglich in konkreten Feldernrealer und möglicher Fälle entfaltet, in denen wiederum die Krite-rien des jeweiligen Sprachgebrauchs, der Gebrauchszusammenhän-ge, erkundet und im Hinblick auf begriffliche Nähen, Übergängeund Ausschlüsse ausgelotet werden.6

6 Vgl. dazu ausführlicher Birgit Griesecke, »Pathologische Sprachspiele? Zur Norma-lisierung von Rausch und Schmerz«, in: Cornelius Borck/Volker Hess/HenningSchmidgen (Hg.), Maß und Eigensinn. Studien im Anschluß an Canguilhem, Mün-chen 2005, S. 91-107; sowie Birgit Griesecke/Werner Kogge, »Ein Arbeitspro-gramm, kein Abgesang. Wittgensteins grammatische Methode als Verfahren experi-mentellen Denkens«, in: Matthias Kroß (Hg.), Die Aufgaben der Philosophie. Einneuer Wittgenstein, Frankfurt am Main 2009 (im Erscheinen).

Was würden wir auch, was wür-den wir schon, was würden wir nicht mehr Folter(n) nennen? Inwie-fern macht der Schmerz die Folter, inwiefern die Angst? Ist jeweilseines oder sind beide Kriterien unabdingbar? Oder ist eines, sindbeide überschreitbar? Wie verlaufen die Grenzen zu Willkür, Terrorund Trauma? Und schließlich: Wie können diese Überlegungen indie internationale Rechtsprechung einhaken?

Höchste Bedeutung hat dieses Fragefeld für die Benennung des-

271

sen, was in den Konzentrationslagern der Nationalsozialisten statt-fand,7

7 Es ist erstaunlich und bezeichnend für einen engen, an Geständniserpressung orien-tierten Folterbegriff, daß, obgleich, wie schon Amery betont hat, die im Zeichen desNationalsozialismus verübte Folter »kein Akzidens, sondern seine Essenz« gewesensei, »nicht seine Erfindung, aber seine Apotheose«, nach wie vor mit dem national-sozialistischen Deutschland nicht der Begriff der Folter, sondern der des Lagersassoziiert wird. Siehe Jean Amery, Jenseits von Schuld und Sühne. Bewältigungsversu-che eines Überwältigten, Stuttgart 1977, S. 50, 59. Vgl. dazu Jan Philipp Reemtsma,»Zur politischen Semantik des Begriffs ›Folter‹«, in: ders. (Hg.), Folter. Zur Analyseeines Herrschaftsmittels, Hamburg 1991, S. 239-263, hier S. 258; und Hubert Thü-ring, »Ambivalenz des Gedächtnisses, Leere des Schmerzes. Die Spur der Scham imSchreiben«, in: Roland Borgards (Hg.), Schmerz und Erinnerung, München 2005,S.226.

und es ist symptomatisch, daß etwa Wolfgang Sofsky, wenn erin seinem Buch Die Ordnung des Terrors darum ringt, die Systemati-zität dieser Gewalttaten als ›Exzesse‹ zu beschreiben, um sie einer-seits von blindem Haß, von der triebhafter Zerstörungswut, vonBlutgier und purem Sadismus abzugrenzen, wie sie in Totschlag undMord am Werk sind, und andererseits auch von Strafe, Hinrichtungund eben Folter, in begriffliche Schwierigkeiten gerät: Von der Fol-ter als »kalkulierende und vergleichende Operation, die eine Aussageerpressen will«, so Sofsky, trenne diese Gewalttaten eine »Kreativitätdes Exzesses, die kaltblütige Grausamkeit des Eingreifens und Aus-probierens«.8

8 Wolfgang Sofsky, Die Ordnung des Terrors. Das Konzentrationslager, Frankfurt amMain 1997, S.257.

Gleichwohl muß er dabei – und wie könnte es auchvermieden werden? – auf ein Begriffsfeld von Qual, Tortur, Macht,Kontrolle zurückgreifen, das gerade für die Folter kennzeichnendist. Und dennoch, ich teile diese Intuition, scheint das Wort Folterhier nicht auszureichen. Es herrschen Sprachnot und Begriffsverwir-rung.

2.

Auch die Fälle, anhand deren ich nun meine Überlegungen im frag-lichen Feld von Schmerz, Schmerzlosigkeit und Folter anstellenwerde, entnehme ich historischen und literarischen Dokumentenüber Gewalttaten in deutschen, allerdings auch in japanischen La-gern zur Zeit des Zweiten Weltkriegs.9

9 Diese Parallelisierung kann die Betonung der Unvergleichlichkeit von Auschwitzprovozieren. Ich meine (und folge damit auch den an Levinas anschließenden Über-

Ich konzentriere mich auf die

272

legungen Waldenfels’, daß sich durchaus vergleichen läßt, wie Gewalt in deut-schen KZs und japanischen Lagern ausgeübt wurde – solange dabei jene spezifi-sche Singularität nicht getilgt wird, die eben nicht besteht, weil das Leiden derOpfer [von Auschwitz] »ganz anders, ganz verschieden ist, sondern weil es ›andersals Sein‹ ist, dem Raum der normalen Sagbarkeit und Berechenbarkeit entrückt.Es findet niemals seinen Ort in der Welt, und es findet niemals seinen Platz in derGeschichte [. . .]. In diesem Sinne also ist Auschwitz, das selbst ein Name für un-gezählte Orte der Gewalt ist, unvergleichlich, über alle Vergleiche erhaben, einschwarzes Loch im Gewebe der Geschichte. Diese Singularität tritt durchaus imPlural auf«. Siehe Bernhard Waldenfels, »Aporien der Gewalt«, in: Mihran Dabag/Antje Kapust/Bernhard Waldenfels (Hg.), Gewalt. Strukturen, Formen, Repräsenta-tionen, München 2000, S. 9-24, hier S. 20 f.

an den Lagerinsassen vorgenommenen medizinischen Experimente,genauer: auf die Praxis willkürlicher Operationen, also chirurgischerEingriffe und Vivisektionen, die aus rassenideologisch motiviertenForschungs- und Übungszwecken, nicht etwa aus therapeutischenGründen an den Lagerinsassen durchgeführt wurden.10

10 Ich ziehe diese Materialien heran, weil ich es problematischer finde, eine Erörte-rung ohne solche Zeugnisse durchzuführen als es mit der Brutalität, die sie durch-zieht, mit der problematischen Verteilung von Täter- und Opfernamen u.a. auf-zunehmen.

›Experiment‹, dies ist – angesichts des Umstands, daß das Experi-mentieren eine weitverbreitete epistemische Praxis ist, die sich alssolche keineswegs zwangsläufig selbst diskreditiert,11

1 1 Zu den Implikationen von herkömmlichen und neueren Experimentaltheoriensiehe Griesecke, »Pathologische Sprachspiele?« (wie Anm. 6); sowie Griesecke/Kogge, »Ein Arbeitsprogramm« (wie Anm. 6).

eine sicherlichzu weite, zu ungenaue und zweifellos verharmlosende Bezeichnungfür das, was deutsche und japanische Ärzte in den Lagern durchge-führt haben, wenngleich der Schrecken, den das Wort ›Menschen-experiment‹ auch heute noch verbreitet, wohl in hohem Maße eineFolge dieser ›willkürlichen Operationen‹ ist. Und das Wort ›Ope-ration‹ nun wiederum ist für uns in der alltäglichen medizinischenPraxis kaum mehr zu trennen von der schmerzstillenden Wirkungder Anästhesie. Dabei steht uns die moderne Narkose – seit der er-folgreichen Demonstration der desensibilisierenden Wirkung vonÄther im Massachusetts General Hospital Boston 1846 – erst geradeeinmal 160 Jahre zur Verfügung. Die Schmerzen, die Patienten zu-vor bei chirurgischen Eingriffen auszuhalten hatten, müssen ent-setzlich gewesen sein, und dennoch unterschied diese von der Folterums Ganze der medizinische Rahmen, in denen sie durchgeführt

273

wurden: Ein Leben war zu retten, und es galt derjenige als der besteArzt, der das Messer schnell zu führen wußte, um den Patientenunnötige Qualen zu ersparen.12

12 Zur Geschichte der Anästhesie vgl. Birgit Griesecke, »Rausch als Versuch. Uner-zählerisches in der Vorgeschichte der Anästhesie«, in: Jürgen Trinks (Hg.), Mög-lichkeiten und Grenzen der Narration, Wien 2001, S. 135-163; und Griesecke, »Pa-thologische Sprachspiele?« (wie Anm. 6).

Wie anders stellen sich solche Situationen nach der Einführungder Inhalationsnarkose dar: Zwar gab und gibt es auch weiterhinNotlagen, Notoperationen, in denen Ärzte sich gezwungen sehen,ohne Anästhesie durch chirurgische Eingriffe den Tod abzuwen-den – die also insofern den Gegebenheiten vor 1846 ähneln; dochwas, wenn trotz Verfügbarkeit den Patienten Anästhetika vorenthal-ten werden?

In seiner Erzählung Der Verdacht von 1951 hat uns Friedrich Dür-renmatt auf die Spur einer solchen Monstrosität gesetzt. Wenn dortder Arzt Emmerberger als einer figuriert, der zwar – ganz in Ein-klang mit dem Ethos seines Berufes – einmal, noch zu Studienzei-ten, seinem Kommilitonen mit einer Notoperation ohne Narkosedas Leben gerettet hat, allerdings durch seine augenscheinliche Lustdaran dem peinigenden Szenario einen zutiefst unheimlichen, ja un-geheuerlichen Anstrich gegeben hat und später dann, als Arzt inden Lagern der Nationalsozialisten, deren Insassen reihenweise ohneNarkose zu Tode operierte, erscheint uns das Credo, mit dem Dür-renmatt seinen Protagonisten zitiert, nämlich, daß er an nichtsglaube »als an das Recht, den Menschen zu foltern«,13

13 Friedrich Dürrenmatt, Der Verdacht (1951), Reinbek b. Hamburg 1961, S. 110.

als eine äu-ßerst zutreffende Formulierung – können wir uns doch wohl kaumetwas Qualvolleres vorstellen als in vollkommener Ausweglosigkeitbei lebendigem Leibe allmählich und systematisch seziert zu wer-den. Emmerberger ist sicherlich ein Sadist und zweifelsohne einMassenmörder, aber wir können in ihm auch den Folterknecht einervollkommen pervertierten ärztlichen Kunst im Dienste eines ent-hemmten Regimes erkennen. Seine Foltermethode zeichnet sichdabei, wie wir im Fortgang des Romans erfahren, durch eine beson-dere Fürchterlichkeit aus, die nicht in den Schnitten seiner Messerliegt, sondern in einem psychologischen Kalkül; er verspricht even-tuell Überlebenden die Freiheit. »Seine Experimente«, so berichteteiner, vielleicht der einzige, der sie überlebt hat, später,

274

zeichneten sich nicht durch erhöhte Quälereien aus; auch bei den anderen[Ärzten] starben die kunstvoll gefesselten Juden brüllend unter den Messernam Schock, den die Schmerzen auslösten, und nicht an der ärztlichenKunst. Seine Teufelei war, daß er all dies mit der Zustimmung seiner Opferausführte. So unwahrscheinlich es ist, er operierte nur Juden, die sich frei-willig meldeten, die genau wußten, was ihnen bevorstand, die sogar, dassetzte er zur Bedingung, den Operationen beiwohnen mußten, um die vol-len Schrecken der Tortur zu sehen, bevor sie ihre Zustimmung geben konn-ten, nun dasselbe zu erleiden.14

14 Ebd., S. 35.

Was wird hier beschrieben? Das Experiment als Folter oder die Fol-ter als Experiment? Was können solche Experimente überhaupt zuwissen geben? Etwas über den Freiheitswillen, den Selbsttäuschungs-willen, die Hoffnungsfähigkeit des Menschen? Über die Beschaf-fenheit der inneren Organe? Über die Intervalle von Schmerz undOhnmacht?

Ich habe aus einem Stück Nachkriegsliteratur zitiert, doch wirwissen alle, daß hier die Fiktion eine uns schier unausdenkbar er-scheinende Wirklichkeit nicht mehr überbieten, nur mit ihren Mit-teln bearbeiten konnte. Vielmehr waren – in düsterstem Sinne – dieLager der Nazis selbst, um eine Formulierung Hannah Arendtsaus ihrer Totalitarismus-Studie aufzugreifen, ein Versuch, »festzu-stellen, was überhaupt möglich ist, und den Beweis zu erbringen,daß schlechthin alles möglich ist«.15

15 Hannah Arendt, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. Antisemitismus, Impe-rialismus, totale Herrschaft (1951), München 2005, S. 907.

Ja, es hat sie gegeben, die, wie sie später genannt wurden, »will-kürlichen Experimentaloperationen«; ja, es gab unter dem Eindruckfalscher Versprechungen sogar Einwilligungen dazu; ja, es gab Vivi-sektionen; und es gab solche Praktiken nicht nur in deutschen La-gern, sondern auch in den Lagern der japanischen Armee, insbeson-dere denen der berüchtigten »Einheit 731« in der Mandschurei, wochinesische Gefangene zur beliebigen Verfügung gehalten wurden.16

16 Vgl. hierzu Harris Sheldon, Factories of Death. Japanese Biological Warfare 1932-45and the American Cover-up, London 1994; Hal Gold, Unit 731 Testimony. Japan’sWartime Human Experimentation, Tokio 1996; Gerhard Baader u.a., »Pathwaysto Human Experimentation, 1933-1945: Germany, Japan, and the United States«,in: Carola Sachse/Mark Walker (Hg.), Politics and Science in Wartime. Comparative

Die Liste der Gewalttaten in beiden Regimen ist kaum faßbar –weder im rein materialen, geschweige denn im emotionalen Sinne.

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International Perspectives on the Kaiser Wilhelm Institute, Chicago 2005, S.205-231,und insbesondere den Beitrag von Keiichi Tsuneishi in diesem Band.

Ich werde an dieser Stelle nur auf wenige Beispiele zurückgreifen;sie beruhen auf Materialien, die zum einen Katja Sabisch aus denArchiven des Frauenkonzentrationslagers Ravensbrück zugänglichgemacht hat,17

17 Vgl. dazu die von Katja Sabisch verfaßte Einführung in die Sektion Vernichten inNicolas Pethes/Birgit Griesecke/Markus Krause/Katja Sabisch (Hg.), Menschen-versuche. Eine Anthologie 1750-2000, Frankfurt am Main 2008, S. 641-658.

und zum anderen auf Materialien, die ich aus denwenigen Dokumentationen der Menschenexperimente, die in japa-nischen Lagern durchgeführt wurden, beziehe.18

18 Vgl. z.B. Foreign Languages Publishing House, Materials on the Trial of FormerServicemen of the Japanese Army Charged with Manufacturing and Employing Bacte-riological Weapons, Moskau 1950; sowie Gold, Unit 731 Testimony (wie Anm. 16).

Seit 1941 begannen experimentelle Vorarbeiten für Massenste-rilisationen; sie sollten vornehmlich als eine »neue wirkungsvolleWaffe« gegen die osteuropäische Bevölkerung eingesetzt werden, sodaß »Arbeiter zur Verfügung stünden, aber von der Fortpflanzungausgeschlossen wären«.19

19 So der Arzt Adolf Pokorny in einem Schreiben an Heinrich Himmler vom Okto-ber 1941; in: Alexander Mitscherlich/Fred Mielke, Medizin ohne Menschlichkeit.Dokumente des Nürnberger Ärzteprozesses (1948), Frankfurt am Main 1995, S. 307.

Nach einer längeren Diskussion über dieMöglichkeiten medikamentöser Sterilisierung durch den Saft desSchweigrohrs (Caladium seguinum), dessen Züchtung in großemMaßstab sich allerdings als schwierig erwies, verlegte man sich aufdie Idee, Sterilisationen mit Röntgenstrahlen bzw. intrauterinenEinspritzungen einer Mischung aus Silbernitrat und einem Kon-trastmittel durchzuführen, und erhandelte bei Himmler die Geneh-migung zu diesbezüglichen Versuchen.

Es ist bislang nicht eindeutig zu klären gewesen, wann genauCarl Clauberg im Verein mit anderen Ärzten, insbesondere PercivalTreite, die Sterilisationsexperimente, mit denen er nachweislich imJanuar 1943 bei in Auschwitz internierten jüdischen Frauen begon-nen hatte, im Frauenkonzentrationslager Ravensbrück fortführte,aber sicher ist, daß es dort Anfang 1945 zu experimentellen Massen-sterilisierungen kam; dies wird durch eine Reihe von Aussagen u.a.derjenigen der Häftlingsärztin Mlada Tauferova bezeugt:

Während des Winters 1944-45 begann man von einer Sterilisierung derZigeunerinnen zu sprechen, die soeben mit Mann und Kindern ins Lagergekommen waren – es waren ganze Familien. [. . .]

276

Ich arbeitete damals als Röntgenärztin im Revier, und zuweilen war ichZeuge erschütternder Szenen, die sich zwischen Familienmitgliedern ab-spielten [. . .]

Im Januar oder Februar 1945 begann man die Räume, wo wir die Rönt-genaufnahmen machten, anders einzurichten. Wir waren drei Frauen: eineRöntgenschwester und Laborantin, Olga Balaskova, eine Stenotypistin,Marie Pavlacka und ich als Ärztin. Wir wussten nicht, weshalb diese Ver-änderungen vorgenommen wurden und niemand sagte uns den wahrenGrund.

Eines Tages befahl uns ein SS-Mann, der Dr. Treite, Chefarzt des Reviers,die übliche Arbeit zu unterbrechen und den Röntgenapparat in der Mittedes Zimmers in horizontaler Lage aufzustellen [. . .]; als wir fertig waren, ver-ließen wir unser Kabinett. Dr. Treite erklärte uns, er benötige die Räume füreine Spezialarbeit.

Während diese Vorbereitungen stattfanden, wurde unter den Zigeune-rinnen eine Überzeugungskampagne [sic]; wie das geschah, weiss ich nichtgenau, die Kameradinnen, die in der Schreibstube des Reviers gearbeitethaben, können berichten, was sie darüber wissen. Ich weiss, dass man denZigeunern die Freiheit versprochen hatte, wenn sich die Frauen sterilisierenliessen.

Die Frauen erklärten sich einverstanden, und die Mütter erklärten sichauch für die jungen Mädchen einverstanden. Wir drei Frauen von der Rönt-genstation sprachen mit mehreren Zigeunerinnen und versuchten, sie da-von zu überzeugen, dass sie die Sterilisierung ablehnen müssten.

Wir erklärten ihnen, dass die SS ihr Versprechen, ihnen die Freiheit zu-rückzugeben, nicht halten würde. Wir sagten zu den Müttern, sie könntennicht das Leben ihrer jungen Töchter und deren Aussicht, Mutter zu wer-den, aufs Spiel setzen. Es war jedoch alles umsonst, die sehr zurückgebliebe-nen Zigeuner glaubten unseren Worten nicht, sondern glaubten den Ver-sprechungen der SS.

Ich weiss, dass mehrere meiner Kameradinnen in diesem Sinne mit denFrauen sprachen, und dass sogar unsere Kameraden in den Männerlagernmit den Zigeunern sprachen, aber es war nichts zu machen, die Zigeunerwollten ihre Freiheit haben und waren bereit, zu geben, was man von ihnenverlangte.

Im Februar 1945 kam ein SS-Arzt ins Lager, denn [sic] Namen ich nichtgenau weiss (Rosenthal?), der bekannte Spezialist für die Sterilisierung derGefangenen. Er leitete alle Arbeiten. Die Aktion wurde folgendermassenorganisiert: Die Zigeunerinnen wurden namentlich ins Revier gerufen. Sietraten in unser Kabinett ein, das als Umkleideraum diente, und nachdem siedie Hose ausgezogen hatten, gingen sie in den Raum, in dem sich der Rönt-genapparat befand.

Nach der Sterilisierung kamen sie allein heraus, oder sie wurden geführt

277

(besonders die kleinen Mädchen); alle bei den Frauen und Mädchen unter-nommenen Eingriffe wurden von den SS-Ärzten (Treite – Orendi – Rosen-thal) und von zivilen SS-Schwestern ausgeführt.

Keine Gefangene durfte das Kabinett betreten.Ich erinnere mich gut eines Augenblicks des Tages, an dem die Sterilisie-

rungen begannen. Ich stand in der Nähe des Fensters vor der Tür unseresRöntgenkabinetts, um alles zu beobachten. Die Situation war sehr drama-tisch; wir hörten das Weinen und das Geschrei der jungen Mädchen undsahen, wie sie blutend in ein anderes Zimmer des Reviers getragen wurden,wo man sie auf den Fussboden legte. Ich war sehr erschüttert, all das zusehen, ohne etwas tun zu können. Eine SS-Krankenschwester (namensGerda), die zu den Gefangenen nicht bösartig war, kam und blieb einenAugenblick lang neben mir stehen; ich konnte mich nicht beherrschen undsagte zu ihr: »Manchmal ist es sehr schwer für eine Frau, Gefangene zu sein«,und sie antwortete mir: »Manchmal ist es auch sehr schwer, keine Gefan-gene zu sein.« Dann ging sie fort und kam mit einem Narkosemittel wieder,das sie ins Kabinett brachte«.20

20 Archiv der Mahn- und Gedenkstätte Ravensbrück, Buchmann-Sammlung, Bd.29, Bericht 533; vgl. Pethes/Griesecke/Krause/Sabisch, Menschenversuche (wieAnm. 17), S.680-684.

Als wenige Tage später Mlada Tauferova und ihrer Kollegin Balas-kova befohlen wurde, die während der Sterilisierungen aufgenom-menen Röntgenfilme zu entwickeln, erkennen sie, worin die Technikdieser Operationen bestand: Kontrastmittel wurde in den Uterusund in die Eileiter eingeführt, so daß die Ergebnisse mit dem Rönt-genapparat verfolgt werden konnten.21

21 Vgl. Archiv der Mahn- und Gedenkstätte Ravensbrück, Bd. 35, Bericht 668, Bl. 71;siehe auch Mitscherlich/Mielke, Medizin ohne Menschlichkeit, S. 318-321.

Wie können wir begreifen, was im Krankenlager von Ravens-brück passiert ist? Ein Staat betreibt mörderische Rassenideologie,interniert die von ihm diskriminierten Bevölkerungsgruppen undliefert sie dem Forschungsdrang von Medizinern aus, die das Ergeb-nis ihrer Experimente wiederum in den Dienst der Bevölkerungspo-litik ihres Staates stellen. Ist es die Farce des mit Freiheitsversprechenerpreßten Einverständnisses, das uns, immer noch, davon abhaltenkönnte, hier mindestens im juridischen Sinn von Folterungen zusprechen? Oder der Umstand, daß keine Geständnisse, sondern ein– gynäkologisches – Wissen erpreßt wird? Oder spricht nicht einigesdafür, diese systematischen Zufügungen von Schmerz und Leid, diedauerhafte körperliche Schädigungen und nicht selten den Tod mit

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sich brachten, die zudem in einer kontrollierten experimentellenAnordnung stattfanden, Folter zu nennen?

Wir müssen genau hinsehen, welche Rolle Schmerz in diesen Fäl-len spielt. Bezeugt von Überlebenden ist, daß die Schmerzen ent-setzlich waren. Wenn jene SS-Krankenschwester dann doch einmalein Narkosemittel holt, um die letzten zehn Mädchen und Frauenin einer Reihe von Hunderten zu betäuben, kann uns dies vor demHintergrund, daß, wie die Zeugen immer wieder betont haben, na-hezu alle Eingriffe »bei vollem Bewußtsein«, »ohne Narkose« durch-geführt wurden, wie ein launenhafter Akt des Mitleids erscheinen,nicht weniger willkürlich als die Operationen selbst. Doch würdeder Umstand, daß diese zehn betäubten Menschen die Experimentean ihnen nicht bei Bewußtsein und unter Schmerzen erfuhren, unsdazu bringen können, in ihren Fällen dann nicht mehr von Folter,sondern etwa »nur« von scheinfreiwilliger Sterilisierung zu spre-chen? Verlangt, um Folter genannt zu werden, das Foltern ein vollesBewußtsein seiner Opfer? Was ist den Narkotisierten erspart geblie-ben? Wahrscheinlich der schlimmste physische Schmerz; nicht da-gegen die postoperativen Schmerzen, nicht der Schmerz um denVerlust der Fruchtbarkeit, der Perspektive, eine Familie gründen zukönnen – und auch nicht die Angst, die sie vor der Operation heim-suchte. Denn, unabhängig davon, ob die willentliche Nichtanwen-dung der Narkose eine Sparmaßnahme an Menschen war, die manin keiner Weise für wert befand, geschont zu werden, oder hier undda auch eine sadistische Lust befriedigte, war ganz sicher die Wahr-nehmbarkeit dieser und aller weiteren Torturen auf den Operations-tischen der Nazi-Ärzte, war die allgegenwärtige Möglichkeit, ihrOpfer zu werden, ohne irgend etwas tun zu können, dazu geeignet,die Insassen zu terrorisieren. Zu der Angst vor dem Schmerz, die jaselbst Züge des Schmerzes tragen kann,22

22 Wichtig in diesem Zusammenhang ist, daß offenbar Angst in ähnlicher Weise ei-nen radikalen Weltentzug bewirkt, wie dies für den Schmerz in der Folter gilt. InElaine Scarrys berühmter Studie Der Körper im Schmerz haben wir lesen können,wie intensiver Schmerz Welt (und die Sprache in dieser Welt) tilgt: Wenn einemMenschen in stetiger Steigerung Schmerz zugefügt wird, dieser zudem objekti-viert, für andere sichtbar gemacht wird und schließlich als Macht des Folterersumgedeutet wird, dann bedeutet dies, daß diese Gewaltsamkeit nicht nur Sicher-heit, sondern die Welt stiehlt: Die »Falten und Kanten der Emotionen, die nichtSchmerz sind, verschwinden genauso wie die materiellen Gegenstände in der Zel-le, die konkretesten Objekte des Bewußtseins verlieren ihr Relief werden schatten-

gesellt sich angesichts der

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haft und konturenlos« (Elaine Scarry, Der Körper im Schmerz. Die Chiffren derVerletzlichkeit und die Erfindung der Kultur, Frankfurt am Main 1992, S. 47); siewerden dem »Waffenarsenal des Folterers einverleibt« (ebd., S.69). – Wie ähnlichdie Angst wirkt, können wir erkennen, wenn wir Heideggers Beschreibungen in§ 40 von Sein und Zeit danebenstellen: In der Angst sinkt die Welt in sich zusam-men. Vgl. Martin Heidegger, Sein und Zeit, Tübingen 1993, S. 186. Gerade diesunterscheidet sie von der Furcht, die mit den innerweltlichen Bewandtnissen wei-terhin rechnet. In der Angst dagegen hat eine Bedrohung nicht länger »den Cha-rakter einer bestimmten Abträglichkeit [. . .]. Nichts von dem, was innerhalb derWelt zuhanden und vorhanden ist, fungiert als das, wovor die Angst sich ängstet;in der Angst vermögen die Welt und auch das Mitdasein Anderer nichts mehr zubieten« (ebd., S. 187). Vgl. zur Verwandtschaft von Schmerz und Angst auch Chri-stian Grüny, Zerstörte Erfahrung. Eine Phänomenologie des Schmerzes, Würzburg2004.

Tatsache, daß es neben den von Himmler angeordneten Sterilisa-tionsversuchen in Ravensbrück (wie in anderen Lagern auch) vonder Ärzteschaft eigenmächtig geplante und durchgeführte Experi-mentaloperationen gab, die Angst vor der Ungewißheit, ob, wannund wie man Opfer dieser ungezügelten und ungeheuerlichen Expe-rimentallust wird. Müßte an dieser Stelle Angst als Kriterium an dieStelle des Schmerzes rücken? Mit anderen Worten: Fängt hier dieFolter an? In dem Wissen und der Erwartung dessen, was Ärzte heu-te diesem antaten, morgen jenem, der Familie, den Freunden, einemselbst jederzeit antun konnten?23

23 Vgl. dazu auch Stefan Hesper, »Sterben lassen. Zur Indifferenz von Macht undGewalt in ›Das Menschengeschlecht‹ von Robert Antelme«, in: Mihran Dabag/Antje Kapust/Bernhard Waldenfels (Hg.), Gewalt. Strukturen, Formen, Repräsenta-tionen, München 2000, S. 327-342, hier S. 330, der anhand einer Lektüre vonRobert Antelmes Das Menschengeschlecht herausarbeitet, wie sehr eine »Gewalt derUngewißheit beziehungsweise geradezu umgekehrt eine Ungewißheit der Gewalt,die ständige Sichtbarmachung der Willkür, Menschen leben oder sterben zu las-sen«, zur Struktur des nationalsozialistischen Lagers gehörte.

Der bereits erwähnte Arzt Percival Treite etwa (dies bezeugt derBericht 986, Bl. 26 f., aus Bd. 42 der Buchmann-Sammlung im Ar-chiv der Mahn- und Gedenkstätte Ravensbrück) erstrebte eine Per-fektionierung seiner ärztlichen Technik und führte aus Übungs-zwecken systematisch willkürliche Operationen an verschiedenenOrganen durch; sogenannte Routineeingriffe wie Kropf und Blind-darm anfänglich, dann zumeist tödlich endende Magenoperationenund Transplantationen. Dr. Richter, wie aus demselben Bericht her-vorgeht, war ebenfalls ein Lernender:

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Er war kein Chirurg, verstand die Chirurgie nicht, operierte jedoch. Un-fachgemäss, jedoch eifrig. Er operierte selbst im Untersuchungsraum. DasErgebnis solcher Operationen? Je nach dem fachlichem Niveau des Operie-renden. Richter starb eine der ersten Operierten unter dem Messer, diezweite kurz nach der Operation. Die dritte, eine Polin, lag so lange imRevier, mit einem Drän im Rücken, aus dem unaufhörlich gelber, dünnerEiter in ein Gefäss unter dem Bett floss, bevor sie starb. Ebenso wie das jungebelgische Mädchen, die beinahe 10 Monate litt bevor sie starb.24

24 Archiv der Mahn- und Gedenkstätte Ravensbrück, Buchmann-Sammlung,Bd. 42, Bericht 986, Bl. 26 f.

Weitere Berichte führen aus, daß den Lagerinsassen Sehnen und gan-ze Nervenbündel, sogar das Rückenmark herausgenommen wur-den. Die nicht mehr Lebensfähigen kamen dann in den Gaskam-mern um.25

25 Ebd., Bd. 35, Bericht 668, Bl. 71.

So konnte der Befehl, sich im Krankenrevier zu melden, allesbedeuten – wie Anja Lundholm, eine Ravensbrück-Überlebende, esin ihrem Buch Das Höllentor, in dem sie ihre eigenen Erfahrungenverarbeitet hat, offenkundig werden läßt:

Nach dem Morgenappell stehen wir, unsere Kleider über dem Arm, nacktvor dem Revier Schlange. Regen, der endlich seinen Weg durch die trägeWolkendecke gefunden hat, prasselt auf uns nieder. Wir frösteln. Angstmacht uns zittern. Nach langer Wartezeit eingelassen, müssen wir an einerGruppe von SS-Ärzten vorbei. Sie debattieren, scheinen uneinig über etwas,das vor ihnen auf dem Tisch liegt, beugen sich abwechselnd über ein Mikro-skop, um es näher in Augenschein zu nehmen. – Der schlauchenge Gang istvoll häßlicher Leiber, gequollen von Hungerödemen, streifig geplatzterHaut, Wunden, eitrigen Geschwüren, bloßgelegten Knochen. Es stinktmörderisch nach Tod und Verwesung. Der Gang hat keine Fenster. [. . .]Nummern werden aufgerufen. Die Aufgerufenen, jeweils zehn, treten durchdie Tür in den Krankensaal. Daß sie nicht mehr zurückkommen, verstärktdie Unruhe unter den draußen Wartenden. Für kurze Augenblicke verläßteine junge Ärztin den Raum. Wir suchen in ihrem Gesicht zu lesen, was dadrinnen vor sich geht. Sie versteht, lächelt müde: Mes pauvres amies, keineAngst. Ihr bekommt nur eine Spritze. Gegen Typhus, ergänzt sie, als siesieht, daß diese Ankündigung unsere Angst eher verstärkt als abschwächt.26

26 Anja Lundholm, Das Höllentor. Bericht einer Überlebenden, Reinbek b. Hamburg1991, S. 55 f.

Völlig ungewiß ist es, ob ein Mittel zur Typhus-Abwehr oder töd-liches Benzin injiziert wird, ob man noch einmal davonkommt, oder

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zum Opfer verstümmelnder Operationen wird – heute noch? Odermorgen? In der nächsten Woche? Die Angst vor diesen Prozedurenist, wie wir abermals dem Buch Anja Lundholms entnehmen kön-nen, größer als die vor dem Tod.

Ich spüre meine Angst durch das heiße Geflatter der verwirrten Sinne hin-durch. Sie werden etwas bei mir finden, sicher bin ich angesteckt mit irgend-einer der Seuchen, die im Lager grassieren. Dann behalten sie mich gleichhier. Abzuschreiben. Bis zum Exitus noch Versuchskarnickel für ihre Experi-mente im Dienst einer obskuren Wissenschaft. Nein, nur das nicht. Ich binschon tot, seht ihr nicht, ich atme nicht mehr, mich könnt ihr nur noch se-zieren.27

27 Ebd., S. 84 f.

An dieser Stelle ist wiederum an Hannah Arendts Beschreibung dernationalsozialistischen Konzentrations- und Vernichtungslager als»Laboratorien des totalen Herrschaftsapparates« in Elemente undUrsprünge totaler Herrschaft zu erinnern, Laboratorien, in denen, wiesie ausführt, »experimentiert wird, ob der fundamentale Anspruchder totalitären Systeme, daß Menschen total beherrschbar sind, zu-treffend ist«. Sie argumentiert, daß

demgegenüber [. . .] alle anderen Experimente, vor allem medizinischer Na-tur, über deren Ungeheuerlichkeit die Prozesse gegen die Ärzte des DrittenReiches so ausführlich berichten, sekundär [sind], wenn auch charakteri-stisch bleibt, daß Laboratorien eben für Experimente aller Art verwendetwurden.28

28 Hannah Arendt, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft (wie Anm. 15), S. 907.

Dies ist jedoch gerade nicht so aufzufassen, daß die Reviere undKrankenlager in ihrer durch Ungewißheit, Ausweglosigkeit und De-gradierung zum reinen Körpermaterial terrorisierenden Wirkungnicht konstitutiv für die Erprobung der totalen Beherrschbarkeit desMenschen gewesen wären:29

29 In einem noch unveröffentlichten Manuskript: »Labore der Macht. MedizinischeExperimente im Frauenkonzentrationslager Ravensbrück«.

als Teilexperimente eines übergreifen-den sozialen Experimentes,30

30 Anders als meine Kollegen Nicolas Pethes und Katja Sabisch in ihren Beiträgen zudiesem Band halte ich es für inadäquat, Hannah Arendts Darstellung als eineMetaphorisierung des Geschehens in den Konzentrationslagern und nicht als einekonkrete Beschreibung dessen, was dort geschehen ist, zu begreifen: Denn es stelltsich für mich die Frage, vor dem Hintergrund welcher Buchstäblichkeit eine Meta-phorisierung zu lesen wäre. Dafür, daß Arendt die konventionelle Folie des natur-

dessen epistemischer Kern jedoch die

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wissenschaftlichen Experiments heranzieht, gibt es keinerlei Hinweis. In ihrer Redevon der »sekundären Bedeutung« der medizinischen Experimente einen »Fingerzeigauf die Metaphorisiering« (Sabisch) zu sehen geht meines Erachtens schon alleindeshalb nicht auf, weil dies dann so zu verstehen wäre, daß die medizinischen Expe-rimente von der primär gesetzten Buchstäblichkeit des sozialen GroßexperimentsNationalsozialismus abgeleitet wären – und nicht umgekehrt. Meines Erachtensführt es in die Irre, eine Teil-Ganzes-Relation in eine Figur metaphorischer Über-tragung umzuinterpretieren, um daraus eine Lanze für die Faktizität zu brechen.

Frage nach dem Menschenmöglichen, präziser: dem den in Machtstehenden Menschen Menschenmöglichen bildete. Zu diesem Settinggehörten auch medizinische Experimente, in denen das Weltvertrau-en der von Schmerzen und Ängsten Unterworfenenen oder Heim-gesuchten zerstört wurden;31

31 Und zwar wird sie dauerhaft zerstört, wie Jean Amery es in seiner Formulierung zuverstehen gibt, daß, wer gefoltert wurde, gefoltert bleibt: »Wer der Folter erlag, kannnicht mehr heimisch werden in dieser Welt.« Siehe Jean Amery, Jenseits von Schuldund Sühne. Bewältigungsversuche eines Überwältigten, Stuttgart 1977, S. 64 und 73.

eine Zerstörung, die in einem perfidenGegensatz zu der – das hat diese Verbrechen so unfaßbar gemacht –kalten Routine (insofern sie eine eminente Vertrautheit mit denLäuften dieser Welt impliziert) stand, mit der die Lagerärzte ihreVersuche durchführten, ihrem ›Hantieren‹ (Sofsky) mit namenlo-sen, durchnumerierten Körpern. In den japanischen Lagern wurdendie internierten Menschen, an denen man die Wirkung biologischerKampfstoffe und chirurgischer Methoden erprobte, maruta (Holz-stück, Feuerholz) genannt.

Wie bestimmend für den Begriff der Folter könnte diese Allgegen-wärtigkeit der Angst sein, eine Angst, die mit maßlosem Schmerzzu rechnen hat, und wenn nicht unbedingt mit dem maßlosenSchmerz, so doch mit irgendeiner unter Betäubung durchgeführtenVerstümmelung? Mit anderen Worten: Führen uns nicht die ange-führten Fälle vor Augen, daß das Kriterium des Schmerzes für dieFolter auf die Angst hin überschritten, ich meine – bei aller phäno-menalen Verwandtschaft – damit nicht: ersetzt werden? Dann wäreauch eine in physisch-physiologischen Zusammenhängen stehendeFolter allein durch Angst, ohne aktuelle, instrumentelle Schmerzzu-fügung denkbar, und eine heuristische Formel wie: »Es gibt eine Fol-ter ohne Schmerz, aber keine Folter ohne Angst« könnte sich auf-drängen. Aber trifft dies zu?

Wir dürfen auch an diesem Punkt im Sinne einer kriteriologi-schen Betrachtung noch nicht locker lassen, sondern müssen weiter-

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fragen: Wenn wir eine willkürliche Verstümmelung zu Forschungs-oder Übungszwecken auch dann Folter nennen wollten, wenn sieunter Narkose geschieht; vielleicht sogar immer noch Folter nennenwollten, wenn sie gar nicht durchgeführt, sondern »bloß« als Mög-lichkeit allgegenwärtig wäre, ist dann nicht auch die Frage aufzuwer-fen, ob es, wenn somit eine Folter ohne Schmerz denkbar wäre, diesauch für die Angst, die ›Erwartungsangst‹, gelten könnte. Dies wäreder nächste Schritt: Ist eine Folter ohne Schmerz- und ohne Angst-empfinden vorstellbar?

Ich werde an dieser Stelle einige Passagen aus dem Bericht desehemaligen Militärarztes Yuasa Ken zitieren, der gut fünfzig Jahrenach den Verbrechen, die japanische Ärzte an internierten Chinesenverübt haben, sein Schweigen darüber gebrochen und erzählt hat,wie er – in der Ideologie, daß das japanische Volk aufgrund seinerAuserwähltheit den Führungsanspruch in Asien innehabe bzw. ihndurchzusetzen habe, erzogen – im Jahr 1942 in ein Krankenhaus inder chinesischen Provinz versetzt wurde:

[. . .] The hospital head told us: Today we will have surgery practice. I wasstartled. It was an order. There was no getting out of it. Normally, we dissec-ted people who had died of diseases as typhoid fever, dysentery, and tubercu-losis. Now we were being taken to the dissection room for a different type ofexercise. Soldiers came along as observers.

When we opened the door, there was a colonel waiting. We saluted. In theroom were two Chinese who had been brought in by the kenpeitai [Militär-polizei, B. G.] One looked like a soldier, the other was a farmer. There weretwo operating tables, and doctors and nurses; there were saws for cuttingbones, and scissors and other equipment. [. . .]

Everything started with a signal from the hospital head. One Chinese hadbig tighs and walked slowly and calmly. He lay down and had no signs offear, no stress on his face. He was composed. Someone else used him forsurgery practice.

I went over and pushed the other one to the operating table. I had no fee-ling of apology or of doing anything bad. The farmer resigned to his fate,and he lowered his head and walked forward. I didn’t want to get my clothesdirty from him; I wanted to look sharp. He went as far as the operating tablebut didn’t want to lie down. A nurse using broken Chinese told him, »Wereusing ether; it won’t hurt, so lie down.« She gave me a wry smile when shesaid that. She had been working there for a long time, and when I happenedto meet her again much later and asked her about it, she didn’t remember.She was handling so many vivisections it was a routine. [. . .]

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The scene in the room was not a typical one of preparating for an opera-tion, but a clamor. [. . .] Surgery began. The man was given ether and dis-sected. His appendix was so small that it was like looking for a burrowingworm. I had to cut and search repeatedly.

The blood flow was stopped, nerves were cut, bones were cut with a saw,and a trachetomy was performed. Blood and air escaped from his body, andblood came foaming up. Practice time was two hours. The man died, and hisbody was thrown into a hole and buried. The burial area near the operatingroom was full, so we had to dig a hole farther away. [. . .]

The other man, the soldier, was still panting. The hospital head used himfor hypodermic practice and injected air into him. Then to kill him, heinjected the same liquid used for anesthesia.

That was my first crime. After that, it was easy. Eventually I dissectedfourteen Chinese.32

32 Hal Gold, Unit 731 Testimony (wie Anm. 16), S. 208-210.

Hat Yuasa Ken diese Menschen gefoltert? Sie haben wenig Zeichenvon Angst gezeigt; sie sind vor den chirurgischen Eingriffen narkoti-siert worden; sie haben, anders als andere Vivisektionen ohne Anäs-thesie, von denen Yuasa ebenfalls berichtet – wahrscheinlich – denihnen systematisch zugefügten physischen Schmerz nicht gespürtund haben das ihnen zugefügte Leid auch im nachhinein nicht er-fahren. Sind sie also – bloß – einem Mord zum Opfer gefallen?

Es gilt gerade hier, an dem schwierigen Punkt eines Täterberich-tes, zumal aus einer uns fremden Kultur, einen Augenblick inne-zuhalten und zu überlegen, was eigentlich gemeint sein kann, wennvon »Zeichen« der Angst oder des Schmerzes, von der »Wahrschein-lichkeit« eines Schmerzes oder Nichtschmerzes gesprochen wird:Wie können Empfindungen wie Schmerz (und Angst) überhauptbestimmt, gemessen und bewertet werden?33

33 Mit den folgenden Ausführungen gehe ich kurz auf ein Argument aus Sven Werk-meisters Respondenz zu meinem Beitrag ein; ich danke für die verschiedenen Kri-tikpunkte aus dieser Respondenz, die mich zu einigen Klarstellungen und Präzisie-rungen angeregt haben; vgl. Sven Werkmeister, »Keine Folter ohne Schmerz! ZurDefinition des Begriffs der Folter«, in: Karin Harrasser/Thomas Macho/BurkhardtWolf (Hg.), Folter. Politik und Technik des Schmerzes, München 2007, S. 268-274.

Angesichts des maßlosen Schmerzes eines gefolterten Körperskann es geradezu zynisch erscheinen, auf den Gemeinplatz der mo-dernen Schmerzforschung zu verweisen, daß Schmerzempfindennicht nur jeweils kulturell kodiert, sondern auch intrakulturell höchstvariabel ist und sich nicht in berechenbare Maßeinheiten hinein-

285

sortieren läßt;34

34 Vgl. dazu auch Christian Grüny, »Zur Logik der Folter«, in: Burkhardt Liebsch/D.Mensink (Hg.), Gewalt Verstehen, Berlin 2003, S. 79-115, hier S. 91, der von einer»Vereindeutigung« des Schmerzgeschehens in der Folter spricht.

oder darauf, daß es das physiologische Phänomenvon weitgehender Indolenz gibt wie auch das stärkster Operations-schmerzen unter einer anscheinend gelungenen Anästhesierung. Esbleibt die Tatsache, daß immer dann, wenn in den Debatten umPhänomen und Begriff der Folter nicht die Gefolteren selbst ihreStimme erheben können, wir von fremdem Schmerz oder Nicht-schmerz sprechen und tatsächlich auf Zeichen angewiesen sind undbleiben, was – wie Wittgenstein mit größter Klarsicht, die ihn gleich-wohl nicht vor zahlreichen fälschlichen Bezugnahmen gefeit hat,ausgeführt hat – allerdings gerade nicht bedeutet, daß der Schmerzanderer uns immer grundsätzlich verborgen und somit höchst zwei-felhaft bleibt, wohingegen wir in unserem Inneren alles über deneignen Schmerz wüßten.35

35 Vgl. dazu auch Michel Ter Hark, »Wittgenstein und Russell über Psychologie undFremdpsychisches«, in: Eike von Savigny/Oliver R. Scholz (Hg.), Wittgenstein überdie Seele, Frankfurt am Main 1995, S. 84-106; Hans-Johann Glock, »Innen undAußen: Eine ganze Wolke von Philosophie kondensiert zu einem Tröpfchen Sprach-lehre«, in: Eike von Savigny/Oliver R. Scholz (Hg.), Wittgenstein über die Seele,Frankfurt am Main 1995, S. 233-252.

Wittgenstein stellt diese gemeinplatzhaf-te Asymmetrie: »Nur ich kann wissen, ob ich wirklich Schmerzenhabe; der Andere kann es nur vermuten«36

36 Ludwig Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, in: ders., Werkausgabe, Bd. 1,Frankfurt am Main 1993, § 246.

auf den Kopf, indem ervorführt, daß beobachten, zweifeln, wissen nichts mit der eigenenSchmerzerfahrung zu tun haben, wohl aber mit der Einstellung ei-nes Anderen zu meinem Schmerz (oder Nichtschmerz bzw. geheu-cheltem Schmerz). Während ich Schmerzen habe oder nicht habe(und eben nicht »Evidenz« darüber habe37

37 Ders., Letzte Schriften über die Philosophie der Psychologie. Das Innere und dasÄußere. 1949-1951, Frankfurt am Main 1993, S. 92.

), beruht der Umgang mitden Schmerzen Anderer, da uns eine Art »Fieberthermometer« zurgenauen Leidenserfassung nicht zur Verfügung steht,38

38 Ebd., S. 125.

auf einer Evi-denz, die es damit aufnimmt, daß die »die äußern Zeichen [. . .] inäußerst komplizierter Weise [bedeuten], manchmal unzweideutig,manchmal unsicher: Schmerz, Verstellung und manches andre«.39

39 Ebd., S. 82.

Diese ›unwägbare Evidenz‹ hat sich herzustellen inmitten der Ver-

286

wickeltheit unserer Lebensvollzüge, »nie bloß in Verbindung miteiner einzelnen Handlung, sondern mit dem ganzen Gewimmel dermenschlichen Handlungen«,40

40 Ebd., S.78.

wozu auch die Sprachspiele uns frem-der Kulturen gehören, in denen unsere gängige Verknüpfung be-stimmter Zeichen mit bestimmten Begriffen radikal herausgefordertwerden kann. Sie bewegt sich daher zwangsläufig in einem Spek-trum von Fällen, in denen Begriffe einander »schneiden«,41

41 Vgl. Ludwig Wittgenstein, Zettel, in ders., Werkausgabe, Bd.8, Frankfurt am Main,§ 380: »Ein Stamm hat zwei Begriffe, verwandt unserm ›Schmerz‹. Der eine wirdbei sichtbaren Verletzungen angewandt und ist mit Pflege, Mitleid, etc. verknüpft.Den andern wenden sie bei Magenschmerzen, z.B. an, und er verbindet sich mitBelustigung über den Klagenden. ›Aber merken sie denn wirklich nicht die Ähn-lichkeit?‹ – Haben wir denn überall einen Begriff, wo eine Ähnlichkeit besteht?Und die Frage ist: Ist ihnen die Ähnlichkeit wichtig? Und warum sollte nicht ihrBegriff unsern Begriff ›Schmerz‹ schneiden?«

Fällen,wo nur ein Wahnsinniger den Ausdruck der Schmerzen (z.B.) fürunecht halten könnte42

42 Wittgenstein, Das Innere und das Äußere (wie Anm. 37), S. 48; vgl. ebd., S. 36 undnahezu gleichlautend Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen (wie Anm. 36),(II, XI), S. 568: »Wen ich, in offenbarer Ursache, sich in Schmerzen winden sehe,von dem denke ich nicht, seine Gefühle seien mir doch verborgen.«

und solchen, wo unsere Kriterien haltloswerden: »Jemand stöhnt in der Narkose oder im Schlaf. Man fragtmich ›Hat er Schmerzen?‹ Ich zucke die Achseln oder sage ›Ich weißnicht, ob er Schmerzen hat‹.«43

43 Ebd., S.79.

Beide, Folterknecht und Narkose-arzt, sind auf diese unwägbare Evidenz angewiesen und operierenmit ihr; in der Regel in gegenteiliger Intention, wenn sie nicht, wiein den hier angeführten Fällen, auf fürchterliche Weise fusionieren.

Diese eingefügten Überlegungen dazu, wie gewiß uns die Emp-findungen (Schmerz, Angst) Anderer (in der eigenen wie aus einerfremden Kultur) überhaupt sein können, entheben uns nun aber kei-neswegs der hier begonnenen kriteriologischen Erörterung, ob will-kürliche Experimentaloperationen Foltersituationen sind und auchdann noch waren und wären, wenn nicht nur der akute Schmerzwegnarkotisiert wird, sondern auch die Angst (vor Verstümmelung,Tod) keinen strategischen Folterpunkt mehr darstellt. Mit anderenWorten: Was, wenn selbst die Angst kaum, weniger noch als in demsoeben angeführten Beispiel einen Ort in dem Versuchsprogrammhätte, weil das Opfer gar nicht weiß, was ihm bevorsteht?

287

In seinem Roman Meer und Gift (Umi to dokuyaku, 1958) hatEndo Shusaku – ähnlich wie sein eingangs zitierter deutschsprachi-ger Kollege Friedrich Dürrenmatt – verbrecherische Experimental-operationen im Zweiten Weltkrieg zum Thema gemacht:44

44 Der Roman lehnt sich an Berichte über im Frühsommer 1945 an der Kyushu-Uni-versität zu Fukuoka durchgeführten experimentellen Vivisektionen an. Vgl. denEintrag »Kyushu daigaku igakubu no seitaikaibojiken« (»Vivisektionen in dermedizinischen Fakultät der Kyushu-Universität«), in: Hata Ikuhiko/Sase Masa-mori/Tsuneishi Keiichi u. a., Sekai senso hanzai jiten (Enzyklopädie der Weltkriegs-verbrechen), Tokio 2002, S. 185 f.

Naivitätund Loyalität lassen junge Ärzte und Krankenschwestern in einemKrankenhaus in der japanischen Provinz in eine grauenhafte Ver-suchsanordnung geraten, wo sie bei Vivisektionen an amerikani-schen Kriegsgefangenen assistieren, die – unter dem Vorwand einergründlichen Untersuchung, bevor man sie in ein Gefangenenlagereinweisen lassen würde – den Ärzten vorgeführt und möglichst raschund ohne Ankündigung narkotisiert werden.45

45 Endo Shusaku, Meer und Gift, Frankfurt am Main 1984, S. 119.

Einer der Versuche,die aus der Sicht des jungen Arztes Toda geschildert werden, bestehtdarin festzustellen, wie weit man bei einer Lungenresektion gehenkann: Wieviel kann von der menschlichen Lunge entfernt werden,bis der Tod eintritt? Der Narkotisierte liegt auf dem Operations-tisch, nicht nur das medizinische Personal, sondern auch militäri-sches ist anwesend:

Hat einen guten Schlaf, der Bursche, sagte einer der weiter hinten stehendenOffiziere lachend, wohl mit der Absicht, der Atmosphäre etwas von ihrerGespanntheit zu nehmen. Der ahnt nichts davon, daß er schon in der näch-sten halben Stunde tot sein wird . . .

Hohl hallte dieses ›tot sein‹ in Todas Brust wider. [. . .] Einen Menschenentkleiden, ihn auf den Operationstisch legen, ihm eine Narkose geben – alldas hatte er aus den Tagen, da er Medizin zu studieren begann, schon werweiß wie oft erlebt. Und heute war es nicht anders als sonst. Gleich würdeder Chef mit leiser Stimme dazu auffordern, sich vor dem auf dem Opera-tionstisch Liegenden zu verbeugen, und dann damit beginnen, den Brust-korb zu öffnen. Das Elektroskalpell würde mit trockenem Knistern eineEllipse in diese mit kastanienbraunem Haar bedeckte Brust schneiden.Scheren und Pinzetten würden klirren. Wo ist denn da der Unterschied zwi-schen einer ganz normalen Operation und der Vivisektion hier? [. . .] [Toda]war ganz erfüllt von dem Gedanken, daß alles routinemäßig und mecha-nisch erledigt werden würde.

288

Langsam führte er das dünne Rohr des Katheters in die Nase des Gefan-genen ein. In die an der Spitze leicht gerötete Nase eines Weißen! Nunbrauchte nur noch der Sauerstoffapparat angeschlossen zu werden, und dieVorbereitungen waren zu Ende. Die Äthernarkose tat offensichtlich ihreWirkung. Der Gefangene schlief. Nur ein leises Röcheln war zu hören. Seinein der grasgrünen Hosen steckenden Beine und Arme waren mit dickenLederriemen festgeschnallt. Sein Gesicht, auf das sich die Augen der Umste-henden richteten, schaute zur Decke und wirkte so gelöst, daß man fastglauben konnte, ein Lächeln spiele um den Mund. [. . .]

Es geht los, rief Dr. Asai. Es wurde so still im Raum, daß man sogar deut-lich hören konnte, wie jemand schluckte. Beginn der Sektion fünfzehn Uhracht. Toda, notieren Sie! [. . .] Im Unterschied zu sonst herrschte jetzt imOperationssaal nicht jene gespannte, erregte Atmosphäre, die von der Furchtvor plötzlichen Veränderungen des Pulses und der Atmung des Patientenund auch von der Furcht davor, daß er durch einen Schock zu Tode kom-men könnte, herrührt. Ein jeder wußte, daß der Gefangene bald sterbenwürde. [. . .]

Der Gefangene auf dem Operationstisch begann heftig zu husten, weilihm Sekrete in die Luftröhre flossen. Toda hörte, wie Doktor Asai durch dieMaske hindurch den Chef leise fragte: Sollen wir Kokain geben? – Wozu dieVerschwendung! schimpfte der Chef ungehalten und richtete sich auf.Schließlich handelt es sich nicht um einen Patienten! [. . .]

Die linke Lunge des Gefangenen ist vollständig entfernt. Jetzt wird derobere Lappen der rechten Lunge abgetrennt. Bei allen bisher bekannten Fäl-len trat der Tod sofort ein, sobald mehr als die Hälfte beider Lungen entferntwar.

Vierzig . . . fünfunddreißig . . . dreißig, las Toda laut vom Blutdruckmes-ser ab. Dreißig . . . fünfundzwanzig . . . zwanzig . . . fünfzehn . . . zehn . . . vor-bei!46

46 Ebd., S. 128-134.

Kein Schmerz, keine Angst, kein erpreßtes Geständnis, nur medizi-nisch-technisches Können am Rande des Wissens vom mensch-lichen Körper und ein fast lächelnder Mensch inmitten der töd-lichen Vivisektion, die an ihm vorgenommen wird. Können wir hiernoch in irgendeinem Sinne von Folter sprechen? Oder ist hier derBegriff der Folter endgültig an seine Grenzen gekommen? Habenwir es hier vielleicht mit einer besonders perfiden Ausprägung dermodernen Folter zu tun, die nach Rejali47

47 Darius M. Rejali, Torture & Modernity. Self, Society, and State in Modern Iran,Boulder 1994, S. 72.

›klinisch‹ ist und nichtmehr ›rituell‹? Besonders perfide, weil sie noch nicht einmal mehr

289

eindeutig als das »perverse Gegenbild zur Schmerzklinik«48

48 Christian Grüny, Zerstörte Erfahrung. Eine Phänomenologie des Schmerzes, Würz-burg 2004, S. 207; vgl. ders., »Zur Logik der Folter« (wie Anm. 34), S. 88 f.

konzep-tualisiert werden kann, in dem die Folterer auf ebenjenen »Registernder Verletzbarkeit [spielen], an denen auch die Therapie ansetzt undihr Wissen um diese Verletzbarkeit ihnen höchste Effektivität« ver-schafft, sondern sich ein Stück weit, in der Schmerztilgung, selbsttherapeutisch gibt, um ihre Gewaltakte, die kaum mehr auf irgend-eine Informationsgewinnung, sondern auf das Trauma zielen,49

49 Hans Rudolf Wicker, »Macht schafft Wahrheit. Ein Essay zur systematischen Fol-ter«, in: Thomas Fillitz/Andre Ginrich/Gabriele Rasuly-Paleczek (Hg.), Kultur,Identität, Macht: Ethnologische Beiträge zu einem Dialog der Kulturen der Welt,Frankfurt am Main 1993, S. 257-269, hier S. 263.

ineiner sterilen, selbst von Schmerzensschreien nicht länger kontami-nierten Umgebung durchführen zu können und auf diese Weise dieUnheimlichkeit des Ausgeliefertseins der Opfer noch einmal zu stei-gern.50

50 Vgl. auch Grüny, »Zur Logik der Folter« (wie Anm. 34), S.87 f. – Roland Borgardshat mich darauf hingewiesen, daß offenbar eine der effizientesten Foltermethodenin südamerikanischen Regimen darin bestand, Amputationen unter Narkose vor-zunehmen, selbst vergleichsweise geringe Verletzungen, wie die Amputation einerFingerkuppe, zeitigten die gewünschten traumatischen Effekte.

Und insofern hier die Rituale der Klinik, wie wir den ange-führten Beispielen entnehmen konnten, keineswegs ausgesetzt, son-dern instrumentalisiert werden, kann man – davon ausgehend, daßdas Rituelle weniger für Opfer als für die Täter und Zuschauer auf-gerufen wird – sogar sagen, daß diese moderne Folter klinisch undrituell – und damit inszenierend ist.51

51 Damit antworte ich ebenfalls in aller Kürze auf einen Einwand von Werkmeister,»Keine Folter ohne Schmerz« (wie Anm. 33).

Müssen wir also nicht eine Tötung, die in einer Situation totalerKontrolle, in einer systematischen Prozedur als eine Sukzession vonGewaltakten an einem lebenden Körper verübt wird, trotz weitge-hender Angst- und Schmerztilgung als Folter bezeichnen? Es liegt,gerade in den hier vorgeführten Fällen, keine geringe Gefahr darin,den Prozeß der Degradierung zum bloßen Versuchsmaterial, in dendiese Opfer willkürlicher Experimentaloperationen getrieben wer-den, gewissermaßen zu unterschreiben, indem man ihre Schmerzlo-sigkeit, ihr Unempfindlich-gemacht-worden-Sein, in ein Kriteriumgegen die Anwendung des Folterbegriffs umdeutet. Diese narkoti-sierten Körper werden aber eben nicht nur operiert, getötet, ermor-

290

dert. Und somit stellt sich, wenn ein anderes Wort diese Taten nichtträgt, immer dringlicher die Frage, welches Maß an Bewußtsein undSchmerzempfindungsfähigkeit den Opfern solcher Handlungendenn tatsächlich zugerechnet werden muß, um von Folterungensprechen zu können, und wie die Dimension solcher experimentell-klinischer Gewalthandlungen überhaupt zu erfassen ist.

3.

Vor dem Hintergrund der Grenzfälle, die ich aus historischen Doku-menten und aus literarischen Texten zur Auslotung des Begriffs Fol-ter angeführt habe, möchte ich sagen: Selbst dort, wo die Opfer diemit medizinischer Professionalität ausgeführten Verletzungen nichtmehr spüren, selbst dort, wo sie kein Bewußtsein haben von denTorturen, denen ihre Körper unterworfen sind, und dem Schaden,der ihnen zugefügt wird, und selbst dann noch, wenn sie wederErwartungsangst noch Nachschmerz quälen können, wäre es hochproblematisch, nicht mehr von ›foltern‹ zu sprechen und mangelsadäquater Bezeichnung auf Unbestimmtes wie »Greueltaten« o. ä.auszuweichen.

Die Dimension des Unfaßbaren, mit der uns diese Taten ange-hen und die uns nach Worten müssen suchen lassen, übergreiftdas schmerzsteigernde und schmerzgetilgte Gewalthandeln. DerSchmerz und die Angst von Gefolterten werden in keiner Weisegeringgeschätzt, wenn wir sie nicht als solche kriteriologisch zentralsetzen, sondern stattdessen die kontrollierte Systematizität der Ge-waltakte, denen Menschen ausgesetzt sind, als begriffskonstituti-ven Aspekt ansehen. Wer errechnen möchte, ob sie diesen brutalenÜbergriffen nun bei stärkstem oder gemäßigtem, bei vollem, beischwachem Bewußtsein oder ohne Bewußtsein/Empfindungsfähig-keit ausgeliefert sind, bewegt sich auf einem gefährlichen Grat. Ge-rade diese prekären Fälle, diese Grenzfälle, in denen Menschen unterstrategischer Tilgung von Angst und Schmerz zu Tode gefoltert wer-den, kann uns deutlich vor Augen stellen, daß Folterungen niemalsnur auf individueller Verletzung und individueller Gewalt basie-ren,52

52 Vgl. Pascal Delhom, »Verletzungen«, in: Mihran Dabag/Antje Kapust/Bernhard

sondern in den Zeugnissen und Spuren dieser Taten als War-

291

Waldenfels (Hg.), Gewalt. Strukturen, Formen, Repräsentationen, München 2000,S. 279-296, hier S. 295.

nung, Drohung und Angriff nicht nur gegen eine einzelne Person,sondern gegen eine Gemeinschaft, eine Gesellschaft gerichtet sind.53

53 Man könnte sagen, daß es sich hier um einen immer schon erweiterten »Adressen-dativ« (Bühler) handelt, der in das dreistellige Verb foltern (jemand tut jemandemetwas an) eingelassen ist. Vgl. Bernhard Waldenfels, »Aporien der Gewalt«, in:Mihran Dabag/Antje Kapust/Bernhard Waldenfels (Hg.), Gewalt. Strukturen,Formen, Repräsentationen, München 2000, S. 9-24, hier S. 13 f.

Auch für die Schrecken, die von den willkürlichen, ›terminalen‹medizinischen Experimenten in deutschen und japanischen Lagernausgingen, kann gelten, was Reemtsma formuliert hat, nämlich daßder Schrecken der Folter sich nicht nur vom Individuum auf diegemeinte Gruppe weiterträgt: »Was einem, was einigen zugefügtworden ist, hinterläßt auch im Kollektiv Spuren, und zwar über dienotwendigen Spuren hinaus die von der jeweiligen Tatbeteiligungherrühren, und über Generationen.«54

54 Jan Philipp Reemtsma, »Wir sind alles für dich! An Stelle einer Einleitung: Skizzeeines Forschungsprogramms«, in: ders. (Hg.), Folter. Zur Analyse eines Herrschafts-mittels, Hamburg 1991, S.7-23, hier S. 18; vgl. dazu auch Gustav Keller, Die Psycho-logie der Folter, Frankfurt am Main 1981, S. 64.

Darauf, daß es letztlich nichtweniger als die Menschheit selbst ist, die Schaden nimmt,55

55 Oder präziser ausgedrückt: die ganze Menschheit betroffen ist, und zwar im kom-plexen Sinne des Wortes, also auch in dem, daß, wie Jean-Luc Nancy es einmalausgedrückt hat, die Menschheit zwar »nicht als solche schuldig ist, aber infam«.›Infam‹, das heißt verschrien, der Achtung unwürdig, gemein, der Anerkennungund Würde verlustig. Infam: das, was nicht gesagt, verkündet, gerühmt werdenkann«. Siehe Jean-Luc Nancy, »Un souffle/Ein Hauch«, in: Nicolas Berg/JessJochimsen/Bernd Stiegler (Hg.), Shoah. Formen der Erinnerung. Geschichte, Philo-sophie, Literatur, Kunst, München 1996, S. 122-129, hier S. 127.

wenngefoltert wird, stößt uns der völkerrechtliche Straftatbestand dercrimes against humanity, dessen die Hauptverantwortlichen auch sol-cher Experimente wie der hier angeführten in den Kriegsverbrecher-prozessen von Nürnberg und Tokio angeklagt wurden56

56 Waren ›Verbrechen gegen die Menschheit‹ auch bereits in der Präambel der Zwei-ten Haager Landkriegsordnung von 1907 und in einer von den RegierungenFrankreichs, Großbritanniens und Rußlands ausgehenden Protestnote gegen denVölkermord an den Armeniern aufgerufen worden (History of the United NationsWar Crimes Commission, 35), so wurde er doch erstmals in diesen Tribunalen vonNürnberg und Tokio juristisch definiert und benutzt. Die Definitionen unter-schieden sich an einigen Punkten, etwa dem, daß im Falle Japans eine Verfolgungaus religiösen Motiven ausdrücklich ausgeklammert wurde (s. Fußnote 54), auchwurde der ›Tatbestand‹ nicht auf das ›Tatobjekt‹ einer Zivilbevölkerung beschränkt,

– allerdings

292

zudem stellten die crimes against humanity im Gegensatz zu der NürnbergerAnklageschrift keinen eigenständigen Anklagepunkt dar, sondern wurden mitkonventionellen Kriegsverbrechen zusammengefaßt, und es kam nicht zu einerspezifischen Verurteilung wegen Verbrechen an der Menschheit. Vgl. dazu im ein-zelnen Gisela Manske, Verbrechen gegen die Menschlichkeit als Verbrechen an derMenschheit. Zu einem zentralen Begriff der internationalen Strafgerichtsbarkeit, Ber-lin 2003, S. 73-78, sowie Meseke, Der Tatbestand der Verbrechen (wie Anm. 4),S.22-26.

nur dann, wenn nicht die verharmlosende deutsche Übersetzung»Verbrechen gegen die Menschlichkeit« akzeptiert wird, die, wieHannah Arendt57

57 Hannah Arendt, Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen(1963), München 1986, S. 324.

es ausgedrückt hat, »wahrhaftig das Understate-ment des Jahrhunderts« darstellt –, »als hätten es die Nazis lediglichan »Menschlichkeit« fehlen lassen, als sie Millionen in die Gaskam-mern schickten«; als hätten sie, muß man ergänzen, es lediglichan »Menschlichkeit« fehlen lassen, als sie in äußerster Willkür Tau-sende zu experimentellem Material herabwürdigten.58

58 Ähnlich problematisch ist die japanische Version »jindo ni han suru tsumi«, »gegendie Menschlichkeit [wörtl.: gegen den Weg des Menschen] verstoßende Verge-hen«.

In den dieVerbrechen gegen die Menschheit spezifizierenden Katalog der »un-menschlichen Handlungen« (inhumane acts) im Statut des Interna-tionalen Militärgerichtshofs Nürnberg vom 6. Oktober 1945, der»Mord, Ausrottung, Versklavung, Deportation« namentlich ent-hielt, wurden Folterungen (neben Freiheitsberaubung und Verge-waltigung) erst mit dem Kontrollratsgesetz Nr. 10 vom 20. Dezem-ber 1945 aufgenommen59

59 Definition nach Art. II, Abs. 1c) des Kontrollratgesetzes 10: »Verbrechen gegen dieMenschlichkeit. Gewaltverbrechen und Vergehen, einschließlich der folgenden,den obigen Tatbestand jedoch nicht erschöpfenden Beispiele: Mord, Ausrottung,Versklavung, Zwangsverschleppung, Freiheitsberaubung, Folterung, Vergewalti-gung oder andere an der Zivilbevölkerung begangene unmenschliche Handlun-gen, Verfolgung aus politischen, rassischen oder religiösen Gründen, ohne Rück-sicht darauf, ob sie das nationale Recht des Landes, in welchem die Handlungbegangen worden ist, verletzen.« Bemerkenswert ist, daß hier die Bindung dercrimes against humanity an eine Zeit direkt vor oder während eines Krieges wegge-fallen ist. Vgl. Meseke, Der Tatbestand der Verbrechen (wie Anm. 4), S. 25 f.

– womit natürlich noch nicht geklärt war,wodurch wiederum die Tatbestandsmerkmale von Folter erfülltsind. Deutlich wird – Dilemma und Chance zugleich –, in welchemMaße die fortwährende Klärung und Überprüfung der Implikatio-nen von Einzeltatbeständen, von Unterfällen, in unserem Fall also

293

›Folter‹, zum Gehalt des Rahmens crimes against humanity beizutra-gen haben, eines Rahmens, der wiederum auch die Einzeltatbe-stände zweifellos schon in ein spezifisches Licht setzt: eine unabläs-sige wechselseitige Herausforderung, die verhindern kann, daß derdurchaus gebotene Universalismus im Begriff der Verbrechen ge-gen die Menschheit sich nicht in einer repräsentativen Funktion fürspektakuläre Fälle erschöpft oder zu bloßer Formelhaftigkeit ge-rinnt, die dann ähnlich glatt über die Lippen oder in die Drucker-schwärze geht wie eine allgemeine Rede von Menschenrechtsverlet-zungen, die nichts mehr spezifiziert und konkretisiert.60

60 Vgl. Reemtsma, der zeigt, wie sich Folterungen in der Geschichtsschreibung ver-flüchtigt: »Im Falle Griechenlands weiß [der Große Ploetz] nur noch, daß es, umeinen Ausschluß wegen Menschenrechtsverletzungen zuvorzukommen, aus demEuroparat austrat; in der Türkei gab es ›innenpolitischen Druck‹; die iranischeInnenpolitik existierte ohne den Savak; aus Paraguay werden ›willkürliche Verhaf-tungen‹ berichtet; von Uruguay erfahren wir, daß auch nach 1978 eine ›politischeRepression‹ anhalte, von der wir aber zuvor nur vernahmen, daß irgendwelcheGrundrechte außer Kraft gesetzt worden waren, nicht aber, daß zu denen dasRecht auf Leben und körperliche Unversehrtheit gehörte. In Guatemala werdenErdbebentote gezählt, aber keine anderen [. . .].« Vgl. Jan Philipp Reemstma, »DasHeer schätzt den Menschen als solchen. Ein neues Jahrhundert der Folter«, in:ders. (Hg.), Folter. Zur Analyse eines Herrschaftsmittels, Hamburg 1991, S. 25-36.

So gesehen,ist das eingangs bereits zitierte Übereinkommen gegen Folter undandere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlungoder Strafe vom 10. Dezember 198461

61 Bundesgesetzblatt 1990 II, S. 247.

ein wichtiger Schritt gewesen,obwohl die Folter dort – anders als die Apartheid etwa in der Vorläu-ferkonvention von 1973 – nicht ausdrücklich als Verbrechen gegendie Menschheit bezeichnet wird. Im Römischen Statut des Interna-tionalen Strafgerichtshofs dagegen, das am 1. Juli 2002 in Kraft trat,wurde mit der Kodifizierung des Tatbestands der »Verbrechen gegendie Menschlichkeit« die Folter in Anlehnung an das Kontrollratsge-setz nicht nur als ein solcher Fall angesehen, sondern es werde dar-über hinaus festgestellt, daß schon die Folterung eines Menschenden Tatbestand der crimes against humanity erfüllt; auch muß dieFolterung, wie bereits eingangs erwähnt, nicht mehr notwendig voneiner in amtlicher Eigenschaft handelnden Person ausgeführt wer-den; weiterhin wurde bestimmt, daß zwar vorsätzlich körperlicheoder seelische Schmerzen oder Leiden zugefügt werden müssen, umvon Folterungen sprechen zu können, doch wird nicht mehr die

294

Verfolgung eines verbotenen Folterzwecks verlangt.62

62 Vgl. Meseke, Der Tatbestand der Verbrechen (wie Anm. 4), S. 215.

Der Umstand,daß in der Rechtsprechung der internationalen Strafgerichtshöfedas Erfordernis eines verbotenen Folterzwecks dagegen bislang aus-drücklich aufrechterhalten bleibt,63

63 Ebd., S. 217.

verweist auf die ungemeine Zäh-lebigkeit einmal etablierter politisch-semantischer Normierungen.Es hat lange Zeit gebraucht, bis die Aussagen- bzw. Geständniser-pressung als Hauptmerkmal in der Legaldefinition der Folter zu-rückgestuft und schließlich aufgehoben wurde. Eine äußerst not-wendige Revision, wenn man sich vor Augen hält, daß eine derartenge Definition nahelegen könnte, in den Konzentrationslagern derNazis wäre kaum jemals gefoltert worden64

64 Vgl. Jan Philipp Reemtsma, »Zur politischen Semantik des Begriffs ›Folter‹«, in:ders. (Hg.), Folter. Zur Analyse eines Herrschaftsmittels, Hamburg 1991, S. 239-263,hier S.240.

und auch jetzt würdeüberall dann nicht gefoltert werden, wenn bei der sukzessiven undkontrollierten Ausübung von Gewaltakten Aussagen oder Geständ-nisse nicht von Belang sind oder sich zu keiner Absicht bekanntwird.65

65 Vgl. ebd., S. 242.

Daß es eine alarmierende Anzahl von Fällen gibt, in denenFolter als gesteigerte Verhörstufe durchgeführt und euphemisiertwird, kann keine neuerliche, einsinnige Begrenzung des Begriffsauf dieses Tatbestandsmerkmal rechtfertigen. – Vor diesem Hinter-grund und auf der Grundlage der hier diskutierten Materialien plä-diere ich nun dafür, auch das Kriterium des Schmerzes im Rahmeneiner Legaldefinition von Folter zu revisionieren.

Es ist wichtig zu beachten, daß die Schärfung einer Definitionnicht in ihrer Verengung liegt, sondern in ihrer Präzisierung, unddiese Präzisierung kann durchaus darin bestehen, daß bestimmteMerkmale ausgeweitet (andere zugespitzt) werden. Präzision liegtsozusagen diesseits der Dichotomie von definitorischer Enge undWeite. So wird sich auch die Brauchbarkeit eines jeglichen Folter-begriffs daran erweisen, ob ihm semantische Normierungen odersemantische Erkundungen unterliegen. Wenn Auseinandersetzun-gen mit der Reichweite von Begriffen, die mit historischen und lite-rarischen Beispielen arbeiten, zu Revisionen politisch-semantischerNormierungen taugen, wird sich diese Tauglichkeit an aktuellen Pro-blemlagen erweisen – man denke beispielsweise an die nun schon

295

jahrelang andauernde Diskussion um die Beteiligung von Anäs-thesisten an vorgeblich schmerzfreien Hinrichtungen in US-ame-rikanischen Gefängnissen, in der die Frage zur Debatte steht, obärztliches Personal rekrutiert werden darf, um den Delinquenteneine politisch und medizinisch korrekte Scheidelinie zwischen Stra-fe und Folter einzuspritzen. Hinrichtung ohne Folter? Folter ohneSchmerz?

296

Katja Sabisch»Die Katastrophe, krank zuwerden«

Medizinische Experimente in den Krankenrevieren dernationalsozialistischen Konzentrationslager

»Besonders im Revier konnte man feststellen, daß man sich in einemVernichtungslager befindet.«1

1 Französisches Büro des Informationsdienstes über Kriegsverbrechen (Hg.), Konzen-trationslager Dokument F 321 für den Internationalen Militärgerichtshof Nürnberg.Frankfurt am Main 1998, S. 119 (Erstveröffentlichung 1945 unter dem Titel Campsde Concentration. Crimes contre la personne humaine).

Diese Aussage des ehemaligen Kriegs-gefangenen Octave Rabate, der das Konzentrationslager Mauthau-sen überlebte, verweist auf ein eklatantes Desiderat der aktuellenKonzentrationslagerforschung. Denn die Rolle der Krankenrevierefür das »Ereignis Auschwitz«2

2 Dan Diner (Hg.), Zivilisationsbruch. Denken nach Auschwitz, Frankfurt am Main1988, S. 9.

steht in einem eigentümlichen Miß-verhältnis zu der ihnen beigemessenen Bedeutung. So beschränktsich der Soziologe Wolfgang Sofsky in seinem grundlegenden WerkDie Ordnung des Terrors. Das Konzentrationslager von 1997 auf eineAnalyse der in den Revieren vorgenommenen Selektionen – obwohlsein Konzept der absoluten Macht,3

3 Wolfgang Sofsky, Die Ordnung des Terrors. Das Konzentrationslager, Frankfurt amMain 1997, S. 276 f. Zum Begriff der »absoluten Macht« vgl. Kapitel 2.

mit welchem er in Abgrenzungzu etablierten soziologischen Machtbegriffen die institutionalisierteGrausamkeit innerhalb der Konzentrationslager beschreibt, vorallem im Hinblick auf die Ereignisse in den Baracken der Kranken-reviere zu greifen scheint. »Seid nicht krank, geht nicht ins Lazarett,sagt nicht, daß ihr krank seid«,4

4 Französisches Büro des Informationsdienstes über Kriegsverbrechen, Konzentra-tionslager Dokument F 321 (wie Anm. 1), S. 124.

warnten die Häftlinge in Auschwitzjeden, der neu eintraf.

Die jüngsten Studien über die nationalsozialistischen Konzentra-tionslager zeichnen sich jedoch nicht nur durch das Verkennen dermachtgenerierenden und -stabilisierenden Funktion des Krankenre-viers aus, sondern ebenso durch eine Metaphorisierung dessen, wassich in den Revieren ereignete.5

5 Grundlegend zur Metaphorisierung von Auschwitz vgl. Elisabeth Weber/GeorgChristoph Tholen (Hg.), Das Vergessene. Anamnesen des Undarstellbaren, Wien 1997.

So beschreibt Wolfgang Sofsky das

297

Lager als ein »Laboratorium der Gewalt«, in dem »fast alles erprobt,wiederholt, gesteigert oder abgebrochen werden [konnte], ohneBindung an Normen oder Ziele«,6

6 Sofsky, Die Ordnung des Terrors (wie Anm. 3), S. 35.

während der italienische Phi-losoph Giorgio Agamben in seiner 2003 erschienen MonographieWas von Auschwitz bleibt von dem Lager als dem Ort eines »nochnicht gedachten Experiments«7

7 Giorgio Agamben, Was von Auschwitz bleibt. Das Archiv und der Zeuge, Frankfurtam Main 2003, S. 45.

spricht. Die Begriffe »Laborato-rium« und »Experiment« fungieren hier als reine Periphrasen, die imwahrsten Sinne des Wortes eine rhetorische Wendung meinen: Siewenden sich ab von den tatsächlichen Experimenten in den tatsäch-lichen Lager-Laboren. Die Abstraktion des Konkreten scheint dersoziologischen und philosophischen Disziplin als Vehikel für eineReformulierung ihrer Theorien zu dienen. Denn Sofsky zufolge ma-nifestierte sich im Konzentrationslager eine historische und anthro-pologische Zäsur in der Geschichte der Macht, die einen »radikalenWechsel des theoretischen Ausgangspunkts«8

8 Sofsky, Die Ordnung des Terrors (wie Anm. 3), S. 27.

erfordere; Agambenverortet diese Zäsur in der Geschichte des Rechts, da mit dem Lagerder juristische Ausnahmenzustand zur Regel wurde.9

9 Giorgio Agamben, Homo sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben, Frank-furt am Main 2002, S. 177.

In Ermange-lung einer Sprache über Auschwitz,10

10 »[. . .] man stellt fest, daß die Unfähigkeit der Sprache, gewissen Ereignissen ge-recht zu werden, zugenommen hat. Das begann lange vor Auschwitz, vielleicht mitdem Ersten Weltkrieg, um dann bei Auschwitz seinen Höhepunkt zu erreichen,[. . .] doch die Ereignisse entwickelten sich schneller als die Sprache. Seit Auschwitzerscheint die Distanz zwischen beiden unüberbrückbar« (Saul Friedländer, Kitschund Tod. Der Widerschein des Nazismus, München, Wien 1984, S.80 f.). Vgl. eben-so Theodor W. Adorno, »Ob nach Auschwitz noch sich leben lasse«. Ein philosophi-sches Lesebuch, hg. von Rolf Tiedemann, Frankfurt am Main 1997.

in Ermangelung einer Termi-nologie, die ein »Verstehen von Auschwitz«11

1 1 Agamben, Was von Auschwitz bleibt (wie Anm. 7), S. 72.

gestattet, wird demzu-folge auf Begriffe zurückgegriffen, die Möglichkeiten versinnbild-lichen – das Labor als ein Ort, das Experiment als eine Praxis desMöglichen. Die Politikwissenschaftlerin und Philosophin HannahArendt verwendet in ihrem Standartwerk Elemente und Ursprüngetotaler Herrschaft von 1955 den Begriff des Möglichen in ebendiesemSinne:

298

Die Konzentrations- und Vernichtungslager dienen dem totalen Herr-schaftsapparat als Laboratorien, in denen experimentiert wird, ob der fun-damentale Anspruch der totalitären Systeme, daß Menschen total be-herrschbar sind, zutreffend ist. Hier handelt es sich darum, festzustellen, wasüberhaupt möglich ist, und den Beweis dafür zu erbringen, daß schlechthinalles möglich ist.12

12 Hannah Arendt, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. Antisemitismus, Impe-rialismus, totale Herrschaft, München 2000, S. 907.

Arendt, die als eine der ersten Wissenschaftlerinnen das Experimentals paradigmatischen Terminus zur Beschreibung der Konzentra-tionslager verwendete, gibt jedoch in Form der nachstehenden Pa-renthese einen Fingerzeig auf die Metaphorisierung:

(Demgegenüber sind alle anderen Experimente, vor allem medizinischerNatur, über deren Ungeheuerlichkeit die Prozesse gegen die Ärzte des Drit-ten Reiches so ausführlich berichten, sekundär, wenn auch charakteristischbleibt, daß Laboratorien eben für Experimente aller Art verwendet wur-den.)13

13 Ebd., S. 907 (Hervorhebung K.S.).

Daß die medizinischen Experimente keinesfalls von sekundärerBedeutung für die absolute Macht der SS waren, sondern vielmehrals das Konstituens des institutionalisierten Terrors hervorzuhebensind, wurde bereits an anderer Stelle gezeigt.14

14 Vgl. zur machtgenerierenden und -stabilisiereden Funktion medizinischer Versu-che in den Konzentrationslagern Katja Sabisch, »Vernichten«, in: Nicolas Pethes/Marcus Krause/Birgit Griesecke/Katja Sabisch (Hg.), Menschenversuche. Eine An-thologie 1750-2000, Frankfurt am Main 2008, S. 641-658.

Der vorliegende Bei-trag macht es sich daher zur Aufgabe, die vermeintlich ›sekundärenExperimente‹ innerhalb des ›primären Experiments‹ aufzuspürenund darzustellen. Eine solche Entmetaphorisierung des Diskursesüber die Konzentrationslager wird durch die Erinnerungen derÜberlebenden ermöglicht und nähert sich gleichzeitig dem Wunschnach einer »unmissverständlichen Sprache« an, den die ÜberlebendeJona Laks im Sommer 2001 auf dem Symposium »Biowissenschaf-ten und Menschenversuche an Kaiser-Wilhelm-Instituten« in Berlinformulierte. Jona Laks, die 1944 mit ihrer Schwester Miriam nachAuschwitz deportiert und Opfer der Experimente Josef Mengeleswurde, fügte hinzu: »Wir waren dort. Jemand, der nicht dort warund aus zeitlicher und psychologischer Entfernung Forschungsar-

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beiten über Auschwitz unternimmt, wird von der Metapher ver-führt. Wir waren dort.«15

15 Jona Laks, »Erinnerung gegen das Vergessen«, in: Carola Sachse (Hg.), Die Verbin-dung nach Auschwitz, Göttingen 2003, S. 52-58, hier S. 55.

Im Folgenden soll das ›Wir waren dort‹ ausbuchstabiert werden,indem die Abstrakta ›Labor‹ und ›Experiment‹ in die Konkreta Kran-kenrevier und medizinischer Versuch übersetzt werden (Abschnitt 1).Diese Perspektive wird durch eine detaillierte Dokumentation derSterilisationsversuche im Krankenrevier des Frauenkonzentrations-lagers Ravensbrück ergänzt (Abschnitt 2). Damit soll den Interpreta-tionen von Erinnerungen die Erinnerung selbst entgegensetzt wer-den – nicht zuletzt, um Auschwitz und Ravensbrück als »greifbareTatsachen«16

16 Ebd.

zu entmystifizieren.

1. Medizinische Experimente in den Revierender Konzentrationslager

Während die jüngsten Studien über das System der Konzentrations-lager Begriffe wie Experiment oder Labor im Sinne eines Tropus ver-wenden und den medizinierten Terror in den Krankenrevieren weit-gehend unberücksichtigt lassen, begegnet uns in den Analysen, diekurz nach der Befreiung von ehemaligen Häftlingen verfaßt wur-den, ein anderes Bild: Hier ist das Experiment ein medizinisches,keinesfalls ein metaphorisches.17

17 Ruth Klüger mißt in ihrem autobiographischen Roman weiter leben den frühenMonographien eine große Bedeutung bei: »Es ist unsinnig, die Lager räumlich sodarstellen zu wollen, wie sie damals waren. Aber fast so unsinnig ist es, sie mit Wor-ten beschreiben zu wollen, so als liege nichts zwischen uns und der Zeit, als es sienoch gab. Die ersten Bücher nach dem Krieg konnten das vielleicht noch [. . .]«(Ruth Klüger, weiter leben. Eine Jugend, Göttingen 1992, S. 79). Der Auschwitz-Überlebende Primo Levi verwendet den Begriff des Experiments im Sinne derexperientia, wenn er schreibt: »Man erwäge einmal, daß das Lager, und zwar imbeachtlichen Maße, auch eine riesige biologische und soziale Erfahrung gewesenist.« Er fährt fort, indem er nachstehende Versuchsskizze zeichnet: »Tausende vonIndividuen, voneinander verschieden nach Alter, Stand, Herkunft, Sprache, Kul-tur und Sitten, sperre man hinter Stacheldraht und unterziehe sie dort einerLebensweise, die konstant, kontrollierbar, für alle identisch ist und unterhalb allerBedürfnisse liegt.« So ist es nichts Geringeres als die von Kant formulierte Fra-ge »Was ist der Mensch?«, die dieser Versuchsanordnung zugrunde liegt und die

So veröffentlichte die französische

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Primo Levi angesichts von Auschwitz in Ist das ein Mensch? übersetzt. Denn »keinExperimentator könnte sich etwas Rigoroseres ausdenken, um zu ermitteln, wasvom Verhalten des Lebewesens Mensch im Kampf ums Leben wesensbedingt undwas erworben ist« (Primo Levi, Ist das ein Mensch?, München 1992, S. 104).

Ethnologin Germaine Tillion bereits 1946 eine Monographie überdas Frauenkonzentrationslager Ravensbrück, in der sie dem Revier einganzes Kapitel widmet und detailliert die Ereignisse im »Block 32«,dem Block, in dem Professor Dr. Karl Gebhardt Sulfonamid-Versu-che an 86 inhaftierten Frauen vornahm, beschreibt.18

18 Vgl. Germaine Tillion, Frauenkonzentrationslager Ravensbrück, Lüneburg 1998,S.180 f.

Der Soziologeund Politikwissenschaftler Eugen Kogon, der Buchenwald überlebteund 1946 das Standardwerk Der SS-Staat. Das System der deutschenKonzentrationslager verfaßte, leitet den Abschnitt über die sanitärenVerhältnisse im Konzentrationslager mit der Überschrift »Die Kata-strophe, krank zu werden« ein. Denn für Kogon steht fest, dass esnur vier Wege gab, den Gefahren innerhalb der Lager zu entrinnen:»erstens nicht krank werden, zweitens für die illegale Lagergemein-schaft etwas leisten und politisch gegen die SS etwas darzustellen,drittens gute Beziehungen zu den richtigen Personen im Lager un-terhalten, viertens selbst dem Kommando Krankenbau angehören«.19

19 Eugen Kogon, Der SS-Staat. Das System der deutschen Konzentrationslager, Mün-chen 1946, seither zahlreiche Neuauflagen, S. 167 (Hervorhebung K.S.).

Zu Beginn seiner Abhandlung über das Revier zitiert er den SS-Standartenführer und Lagerkommandanten Karl Otto Koch, derverlauten ließ: »In meinem Lager gibt es keine Kranken. Hier gibt esnur Gesunde oder Tote!«20

20 Ebd., S. 157.

Überleben konnten Kogon zufolge nurdiejenigen, die nicht mit dem Revier in Berührung kamen. Dabeibetont er, dass gezielte Tötungen durch Giftinjektionen (»Absprit-zen«) weitaus häufiger vorkamen als die tödlichen Experimente derSS-Ärzte. Dennoch war die Angst vor den medizinischen Versuchenallgegenwärtig, da Ärzte wie Dr. Eisele sich ihre Opfer »wahllos vonder Lagerstraße weg«21

21 Ebd., S. 165.

holten und sie ohne Narkose operierten undverstümmelten.

Kogons Werk entstand im Dezember 1945 und gründete aufeinem von ihm angefertigten Bericht für die alliierten Streitkräfteüber die Verhältnisse im Konzentrationslager Buchenwald. Seinesystematische Studie ist insofern paradigmatisch für die frühe Lite-

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ratur über die Konzentrationslager, als sie mit einem aufklärerischenImpetus Fakten darstellen will. Aber auch die später publizierten Er-innerungen von Überlebenden,22

22 Zur Periodisierung der Literatur über die Konzentrationslager vgl. BernhardMoltmann/Doron Kiesel/Cilly Kugelmann, Erinnerung, Frankfurt am Main 1993,sowie Michael Pollack, Die Grenzen des Sagbaren. Lebensgeschichte von KZ-Überle-benden als Augenzeugenberichte und als Identitätsarbeit, Frankfurt am Main, NewYork 1988.

die vornehmlich der literarischenAufarbeitung des Erlebten dienen und weniger im Sinne eines Zeit-zeugnisses zu verstehen sind, räumen den Revieren, Laboren undExperimenten in den Lagern einen zentralen Stellenwert ein.23

23 Vgl. Ruth Elias, Die Hoffnung erhielt mich am Leben. Mein Weg von Theresienstadtund Auschwitz nach Israel (1988), München, Zürich 2002; Anja Lundholm, DasHöllentor. Bericht einer Überlebenden, Reinbek bei Hamburg 1991; Ceija Stojka,Wir leben im Verborgenen. Erinnerungen einer Rom-Zigeunerin, Wien 1995; WandaSymonowicz (Hg.), Über menschliches Maß. Opfer der Hölle Ravensbrück sprechen,Warschau 1970, und Wanda Poltawska, Und ich fürchte meine Träume (1964),Abendsberg 1994.

Soschildert Imre Kertesz in seinem 1996 erschienenen autobiographi-schen Buch Roman eines Schicksallosen das Revier als den Ort, andem das Sterben neu definiert wurde:

Zum Beispiel ließ sich ein früher oft gehörter Ausdruck wie »sterblicheÜberreste« nach meinem vormaligen Wissen ausschließlich auf einen Ver-storbenen beziehen. Ich jedoch, daran war kein Zweifel, lebte noch, wennauch flackernd, ganz hinuntergeschraubt gewissermaßen, aber etwas brann-te noch in mir, die Lebensflamme, wie man so sagt – andererseits war damein Körper, ich wusste alles von ihm, nur war ich selbst irgendwie nichtmehr in ihm drin.24

24 Imre Kertesz, Roman eines Schicksallosen, Reinbek bei Hamburg 1998, S. 203.

Kertesz beschreibt aus der Perspektive des 15jährigen György dieEreignisse im Krankenrevier von Buchenwald. Die ihm eigentüm-liche arglose, ja geradezu verständnisvolle Erzählweise multipliziertdie ›Katastrophe, krank zu werden‹:

Vielleicht – so magst du grübeln, wie etwa ich es tat – ist das auch so ein Ort,von dem wir noch in Auschwitz gehört haben, wo die Pfleglinge bei Milchund Butter gehalten werden, bis man ihnen – zum Beispiel – Stück für Stücksämtliche Eingeweide herausnimmt, zwecks Weiterbildung, zum Wohle derWissenschaft. Aber das ist natürlich – du musst es einsehen – nur eine An-nahme, eine von vielen Möglichkeiten; ja und vor allem, von Milch undButter habe ich im Übrigen keine Spur gesehen. [. . .] Gehegt, gepflegt, mit

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allem versorgt – nur nicht mit Essen, nehmen wir einmal an. Wenn manwill, dann lässt sich zum Beispiel vielleicht sogar das beobachten, auf welcheArt jemand verhungert – schließlich mag auch das auf seine Art interessant,in höherem Sinn nützlich sein, warum denn nicht, das musste ich zugeben.Wie ich es auch drehte und wendete, die Idee kam mir immer wirklichkeits-näher, immer brauchbarer vor: sie konnte also auch schon einem Zuständi-geren als mir gekommen sein, fand ich.25

25 Ebd., S. 223 f.

Kertesz’ Fingerzeig auf die Experimente Mengeles in Auschwitz-Bir-kenau werden in dem 1990 erschienenen Erlebnisbericht Die Hoff-nung erhielt mich am Leben von Ruth Elias gegenständlich. Ruth Elias,die in Theresienstadt, Ravensbrück und Auschwitz inhaftiert war,wurde aufgrund ihrer Schwangerschaft im Revier von Auschwitzuntergebracht. Als sie dort ein Mädchen zur Welt bringt, ordnetMengele die Bandagierung ihrer Brüste an. Er befiehlt, dass dasKind nicht gestillt werden dürfe. Mithäftlinge mutmaßen, daß essich um ein Experiment handeln könnte. Um sich und das Kind vorMengele zu bewahren, tötet sie ihre Tochter mit einer Morphium-injektion. Ihre Freundin Berta faßt denselben Entschluß:

Maca [Maca Bleyer, geb. Steinberg, eine Häftlingsärztin in Auschwitz, K. S.]war auch da, als Berta ihre Wehen bekam, und Maca und ich beschlossen,Berta alle Qualen, welche ich hatte erleiden müssen, zu ersparen. Macabesorgte sofort das Morphium für Berta und stahl wieder eine Injektions-spritze. Unter denselben Umständen wie ich überstand Berta die Entbin-dung. Es war wieder ein Junge, doch sie bekam diesen gar nicht zu Gesicht,denn er starb einige Stunden nach seiner Geburt durch die Spritze. Als Men-gele zur Visite kam, wurde ihm gemeldet, dass Berta eine Totgeburt gehabthabe. So konnte diesmal Mengeles medizinisch-wissenschaftlicher Wissens-drang über die Lebensfähigkeit eines Neugeborenen und über die Lebens-verkürzung durch Aushungern nicht befriedigt werden.26

26 Ruth Elias, Die Hoffnung erhielt mich am Leben (wie Anm. 23), S. 192 f. Auch dieAuschwitz-Überlebende Anna Mettbach berichtet über Mütter, die ihr Kind solange an sich drückten, bis es erstickte. Vgl. Anna Mettbach, Wer wird die nächstesein? Die Leidensgeschichte einer Sintezza, die Auschwitz überlebte, Frankfurt amMain 1999, S. 43.

Es existieren nur wenige Zeugnisse von Menschen, die Opfer vonmedizinischen Versuchen waren. Die meisten Häftlinge überlebtendie Operationen, Injektionen oder Sterilisationen nicht oder wur-den im Anschluß an die Experimente getötet. Eine Ausnahme bil-

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dete die Gruppe der Versuchspersonen, an denen Professor Geb-hardt von August 1942 bis August 1943 Sulfonamidversuche imKonzentrationslager Ravensbrück vornahm. Gebhardt wollte dieBehandlung kriegsbedingter Wundinfektionen erforschen, indemer zum einen Infizierungsoperationen, zum anderen Knochentrans-plantationen und Nervenexperimente vornahm.27

27 Bei den Infizierungsoperationen wurden den Frauen die Beine an der Wade aufge-schnitten. Um die kriegsbedingte Wundinfektion zu simulieren, verunreinigteGebhardt die Wunden mit Glas- oder Holzsplittern. Vor der Transplantation vonKnochensplittern wurden den Frauen mit mehreren Hammerschlägen die Beinegebrochen. Gebhardt verpflanzte sodann die Knochensplitter in den Beinmuskel,um die Regeneration von Muskelgewebe beobachten zu können. Vgl. Dunja Mar-tin, »Menschenversuche im Krankenrevier des KZ Ravensbrück«, in: Claus Füll-berg-Stolberg u.a. (Hg.), Frauen in Konzentrationslagern: Bergen-Belsen, Ravens-brück, Bremen 1994, S. 99-112.

Fünf Polinnenund zwölf Häftlinge anderer Nationen starben infolge der Verstüm-melungen. Durch eine beispiellose Solidaraktion wurden jedoch dieüberlebenden »Kaninchen«28

28 Der polnische Begriff Kroliki (Kaninchen) ist dem Begriff Krolowie (von Krol =König) ähnlich und diente als Selbstbezeichnung der Opfer, vgl. Poltawska, Undich fürchte meine Träume (wie Anm. 23), S. 83.

am 4.Februar 1945 vor der drohendenHinrichtung gerettet: Zunächst unterbrachen die russischen Kriegs-gefangenen am Morgen des 4. Februars die Stromzufuhr, so daß derMorgenappell nicht planmäßig durchgeführt werden konnte. Da-nach stürmte eine Gruppe Häftlinge auf den Block der Polinnen zu,um einen Tumult auszulösen. Im allgemeinen Durcheinander gelangden »Kaninchen« die Flucht in umliegende Gebäude. Hier konntensie mit Hilfe der Blockältesten und den in der »Politischen Abteilung«arbeitenden Häftlingen die Identitäten von toten Kameradinnen an-nehmen. Im Verlauf dieser Aktionen ist es zu keiner Denunziationgekommen, so daß Maria Kusmierczuk, Jadwiga Dzido, Wladysla-wa Karolewska und Maria Plater stellvertretend für die 86 Frauen alsZeuginnen im Nürnberger Ärzteprozeß auftreten konnten.29

29 Vgl. Bernhard Strebel, »Sabotage ist wie Wein. Selbstbehauptung, Solidarität undWiderstand im FKL Ravensbrück«, in: Claus Füllberg-Stollberg u.a. (Hg.), Frauenin Konzentrationslagern. Bergen-Belsen, Ravensbrück, Bremen 1994, S. 167-192.

1970 publizierte Wanda Symonowicz die Erinnerungen der »Ka-ninchen« in dem Buch Über menschliches Maß. Hier schildern dieFrauen detailliert die Operationen, die Professor Gebhardt an ihrenBeinen vornahm: »Auch ich blickte mein Bein an«, berichtet Euge-nia Mikulska-Turowska,

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das die Schwestern inzwischen vom Verband befreit hatten, und sah es zumersten Mal nach zwei Wochen. Ich blickte hin und erschrak. Ich sah auf demganzen Raum von der Kniegegend bis zur Ferse den Knochen völlig freilie-gen und zu beiden Seiten zwei Rollen grünen, mit stickendem Eiter bedeck-ten Fleisches. Auf der Außenseite war dann noch eine Wunde vom Knöchelbis zum Knie, mit mehreren Nähten. Der Anblick war so schrecklich, daßmir schwach wurde. Ich konnte nicht begreifen, daß dies mein Bein war.30

30 Wanda Symonowicz, Über menschliches Maß (wie Anm. 23), S. 132 f.

Die Opfer der Versuche leiden in der Folgezeit unter Depressionen,starken Schmerzen, Lähmungserscheinungen, Entzündungen, Eite-rungen, Rheuma oder Rückgratverkrümmungen. Die Bundesregie-rung konnte sich jedoch erst im Jahr 1962 zu einer einmaligen Zah-lung von mehreren tausend Mark an die Frauen entschließen, umihnen eine medizinische Behandlung zu ermöglichen.

Während der Leidensweg der »Kaninchen« ausführlich aufge-arbeitet werden konnte, steht dies für die im Krankenrevier vonRavensbrück vorgenommenen experimentellen Sterilisationen nochaus. Im folgenden soll ein erster Versuch unternommen werden,anhand von Zeuginnenaussagen die Ereignisse im Revier von Ra-vensbrück zu rekonstruieren.

2. Sterilisationsexperimente im Krankenrevier desFrauenkonzentrationslagers Ravensbrück

Da die SS in den Wochen vor der Befreiung des Konzentrationsla-gers Ravensbrück Dokumente, Akten und medizinisches Gerät ver-nichtete, wird eine Dokumentation der Experimente im Revier vonRavensbrück ausschließlich auf die Zeugnisse von Überlebendenzurückgreifen müssen. Neben mehreren in Buch- oder Romanformerschienenen Erinnerungen liegen dem Archiv der Mahn- und Ge-denkstätte Ravensbrück mehr als tausend Erlebnisberichte von ehe-mals inhaftierten Frauen vor, die von der Kommunistin Erika Buch-mann zusammengetragen worden sind. Der Buchmann-Bestandstellt heute eine der wichtigsten Quellen für die Ravensbrück-For-schung dar, ist jedoch einer kritischen Lesart zu unterziehen. Ger-maine Tillion formuliert das Problem wie folgt:

Eines Tages werden wir die Zeugenaussagen über die Konzentrationslagerzu einer Sammlung vereinigen, und an diesem Tag werden wir uns daran

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erinnern müssen, daß es tausend verschiedene Lager in jedem KZ gab unddaß für einige Leute Dinge, die sie nicht unmittelbar betrafen, auch nichtexistierten.31

31 Tillion, Frauenkonzentrationslager Ravensbrück (wie Anm. 18), S. 203.

Eindrücklich belegen dies zwei Veröffentlichungen von überleben-den Frauen, wie sie unterschiedlicher nicht sein könnten: Der Er-lebnisbericht Ceija Stojkas, das einzige in Buchform erschieneneSelbstzeugnis einer Romni, sowie die Erinnerungen Isa Vermehrens,die als »Sippenhäftling« nach Ravensbrück verschleppt wurde. Beidescheinen ein ähnliches Szenario zu schildern:

Kathi und Mitzi, Mama und Chiwe hielten sehr zusammen. Sie teilten alles,was sie hatten. Ich und Burli gingen immer hamstern. Die Russinnen warengerade mit dem Kartoffelkochen fertig, da sagten ich und Burli zu einer Rus-sin. ›Bist du eine schöne Frau! Du hast so schöne blonde Haare. Können wirdir helfen?‹ Sie lachte und sagte: ›Hier sind die Kartoffel, nehmt sie schnellund verschwindet, daß euch die SS-Männer nicht sehen!‹ Überall stecktenwir uns die Kartoffel hinein. Wir liefen zu unseren Mamas. Sie lachten undfreuten sich.32

32 Ceija Stojka, Wir leben im Verborgenen. Erinnerungen einer Rom-Zigeunerin (wieAnm.23), S. 59.

Während Ceija Stojka in ihrem Buch immer wieder betont, nurdurch den Zusammenhalt der Sinti- und Romafamilien Auschwitz,Ravensbrück und Bergen-Belsen überlebt zu haben, schreibt Isa Ver-mehren über die »Zigeuner« des Lagers:

Ihre Gesten, ihre Nasen, ihre Hautfarbe, ihre dunklen, schnellen Augen, dieArt, wie sie das Schultertuch trugen – ein möglichst buntes Schultertuch –,wie sie mit hexenhafter Schnelligkeit und drei entwendeten Kohlköpfenunter dem Arm um die Ecke huschten, das alles machte sie ganz unverkenn-bar. Natürlich legten sie auch die Karten, lasen aus der Hand, stahlen wie dieRaben und lehrten ihre Kinder das gleiche. Sie genossen als einzige den Vor-zug, ihre Nachkommenschaft bei sich zu führen, und es wimmelte auf ihrenBlocks von kleinen und kleinsten Kindern, alle sehr, sehr niedlich, alle sehr,sehr schmutzig, alle sehr, sehr verwahrlost und alle entsetzlich verdorben.Alle diese Kinder sind am 5. Februar 1945 sterilisiert worden.33

33 Isa Vermehren, Reise durch den letzten Akt. Ravensbrück, Buchenwald, Dachau: eineFrau berichtet, Hamburg 1999, S. 118 f. Es ist hinzuzufügen, daß zu den sterilisier-ten Kindern auch eine Freundin Ceija Stojkas gehörte, die die Sterilisation nichtüberlebte (vgl. Kapitel 1). Isa Vermehrens Tagebuchnotizen lösten bereits kurz vorder Veröffentlichung 1946 eine Kontroverse aus, die bislang nicht dokumentiertwurde. Rita Sprengel, eine in Ravensbrück inhaftierte »Politische«, schreibt im Juni

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1946 an den Hauptausschuß Opfer des Faschismus in Berlin, daß der »Veröffent-lichung dieser Tagebuchnotizen [. . .] m. E. in größter Öffentlichkeit widerspro-chen« werden sollte (Archiv der Mahn- und Gedenkstätte Ravensbrück, Samm-lung Erika Buchmann, Bd. 42, Bericht 991).

Die tausend verschiedenen Lager von Ravensbrück manifestierensich hier in den Aussagen zweier Frauen, von denen die eine denroten Winkel der »Politischen«, die andere den schwarzen Winkelder »Asozialen« trägt. Die Taxonomie der Farben bestimmte dieÜberlebenschance. Als privilegierte Gefangene unter den Lagerin-sassen stellten die Politischen zwar die verschwindende Minderheit,unter den Überlebenden, unter denen, die berichten können, je-doch die Mehrheit.34

34 Wolfgang Sofsky, Die Ordnung des Terrors. Das Konzentrationslager, Frankfurt amMain 1997, S. 26; vgl. hierzu auch Bernhard Strebel, Das KZ Ravensbrück. Ge-schichte eines Lagerkomplexes, Paderborn 2003, S. 29.

So dokumentiert auch der Buchmann-Bestandin erster Linie die Erinnerungen von Frauen, die aufgrund ihrer po-litischen Gesinnung inhaftiert waren. Hinzu kommt das Schweigender Überlebenden anderer Verfolgtengruppen, die aus Angst vorStigmatisierung oder erneuten Repressalien nicht berichten wol-len.35

35 Bernhard Strebel (ebd.) verweist vor allem auf die als »asozial« und »kriminell« Ver-folgten.

Für die Opfer der Sterilisationen gilt dies in besonderem Maße,da sie die Scham über die »verborgene Verstümmelung« und die da-mit verbundene Angst, »keine Frau mehr zu sein«,36

36 Fania Fenelon, Das Mädchenorchester in Auschwitz, Frankfurt am Main 1980, S. 108.

verstummen läßt.Der Buchmann-Bestand ist demzufolge die einzige Möglichkeit, dem»Ungesagten zuzuhören«,37

37 Giorgio Agamben, Was von Auschwitz bleibt (wie Anm. 7), S. 9.

da er den unmittelbarsten Zugang zu dem›Wir waren dort‹ bietet. Neben dieser Sammlung ist ein weiteres wich-tiges Dokument erhalten: die Dienstvorschrift des Lagers, welche ver-mutlich aus dem Jahr 1939 stammt. Die 43 Seiten umfassende Schriftbeinhaltet neben der Lager- und Strafordnung für die Häftlinge auchdie Arbeitsplatzbeschreibung des Standortarztes. Diese legte fest, daßder Arzt »erbkranke Häftlinge« zu identifizieren und dann »das er-forderliche Verfahren zur Unfruchtbarmachung einzuleiten« habe.38

38 Archiv der Mahn- und Gedenkstätte Ravensbrück, II/3-1-15, S. 21. Grundsätzlichzu Zwangssterilisation vgl. Gisela Bock, Zwangssterilisation im Nationalsozialismus.Studien zur Rassenpolitik und Frauenpolitik, Opladen 1986.

Zudem wurden im Revier I des Frauenkonzentrationslagers Ravens-brück zwei Sterilisationsmethoden erforscht: die Sterilisation durch

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Röntgenstrahlen sowie die Sterilisation durch intrauterine Reizwir-kung. Beide Praktiken sollten eine unbemerkte Sterilisation der ost-europäischen Bevölkerung garantieren und galten als eine »neuewirkungsvolle Waffe«, die gewährleisten sollte, daß »Arbeiter zurVerfügung stünden, aber von der Fortpflanzung ausgeschlossen wä-ren«.39

39 Brief Dr. Adolf Pokornys an Himmler im Oktober 1941, zitiert in Alexander Mit-scherlich/Fred Mielke, Medizin ohne Menschlichkeit. Dokumente des NürnbergerÄrzteprozesses, Frankfurt am Main 1995, S. 307.

Dr. Rudolf Brandt, SS-Standartenführer und persönlicherReferent des Reichsführers-SS Heinrich Himmler, wendete sich imJuli 1942 mit folgender Bitte an den Gynäkologen Carl Clauberg:

Sehr geehrter Herr Professor!Der Reichsführer-SS hat mich heute beauftragt, an Sie zu schreiben und

Ihnen seinen Wunsch zu übermitteln, doch einmal nach voriger Absprachemit SS-Obergruppenführer POHL und dem Lagerarzt des Frauenkonzen-trationslagers in Ravensbrück nach Ravensbrück zu fahren, um dort die Ste-rilisierung von Jüdinnen nach Ihrem Verfahren durchzuführen.

Bevor Sie mit Ihrer Arbeit beginnen, würde der Reichsführer-SS nochWert darauf legen, von Ihnen zu erfahren, welche Zeit etwa für die Sterilisie-rung von 1000 Jüdinnen in Frage käme. Die Jüdinnen selbst sollen nichtswissen. Im Rahmen einer allgemeinen Untersuchung könnten sie nach An-sicht des Reichsführers-SS die entsprechende Spritze verabreichen.

Über die Wirksamkeit der erfolgten Sterilisierung müssten dann auch ein-gehende Versuche durchgeführt werden, größtenteils in der Art, dass nacheiner bestimmten Zeit, die Sie dann bestimmen müssten, vielleicht durchRöntgenaufnahmen, festgestellt wird, welche Veränderungen eingetretensind. In dem einen oder anderen Fall dürfte aber auch ein praktischer Ver-such in der Weise durchgeführt werden, daß man eine Jüdin mit einemJuden für eine gewisse Zeit zusammensperrt und dann sieht welcher Erfolgdabei auftritt.40

40 Trials of War Criminals before the Nürnberg Military Tribunals, No. 213, Pros. Ex.171, hier zitiert nach Alexander Mitscherlich/Fred Mielke, Medizin ohne Mensch-lichkeit (wie Anm. 39), S. 319. Eine ausführliche Dokumentensammlung zum FallClauberg findet sich in Jan Sehn, »Carl Claubergs verbrecherische Unfruchtbar-machungs-Versuche an Häftlings-Frauen in den Nazi-Konzentrationslagern«, in:Hefte von Auschwitz 2 (1959), S. 3-32, S. 51-88.Der in dem Brief formulierte projektive Befehl »daß man eine Jüdin mit einem Ju-den für eine gewisse Zeit zusammensperrt und dann sieht welcher Erfolg dabeiauftritt«, diente Alexander Kluge als Vorlage für seinen Text Ein Liebesversuch, vgl.den Beitrag von Nicolas Pethes in diesem Band.

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Zunächst experimentierte Clauberg jedoch im Block 10 des Konzen-trationslagers Auschwitz. Hier spritzte er mehreren hundert Frauen41

41 Vgl. Stanisław Sterkowicz, Eksperymenty medyczne w obozie koncentracyjnym Ra-vensbrück (Medizinische Experimente im Konzentrationslager Ravensbrück, unüber-prüfte Übersetzung aus dem Polnischen), sowie Dunja Martin, »Menschenver-suche im Krankenrevier des KZ Ravensbrück«, in: Claus Füllberg-Stolberg u.a.(Hg.), Frauen in Konzentrationslagern: Bergen-Belsen, Ravensbrück, Bremen 1994,S. 103, die von mehreren tausend Frauen ausgeht.

eine Reizflüssigkeit in die Gebärmutter, die eine schwere Entzün-dung zur Folge hatte. Um die Unfruchtbarkeit feststellen zu kön-nen, vermischte er die Chemikalie mit einer Kontrastflüssigkeit undfertigte dann Röntgenbilder an. Clauberg berichtete am 7. Juli 1943:

Was die Frage anlangt, die Sie, Reichsführer, mir vor fast Jahresfrist stellten,nämlich in welcher Zeit es etwa möglich sein würde, 1000 Frauen auf dieseWeise zu sterilisieren, so kann ich diese heute voraussehend beantworten.Nämlich:

Wenn die von mir durchgeführten Untersuchungen so weiter ausgehenwie bisher – und es besteht kein Grund anzunehmen, daß sie es nicht tun –so ist der Augenblick nicht mehr sehr fern, wo ich sagen kann ›von einementsprechend eingeübten Arzt an einer entsprechend eingerichteten Stellemit vielleicht 10 Mann Hilfspersonal (die Zahl des Hilfspersonals der ge-wünschten Beschleunigung entsprechend) höchstwahrscheinlich mehrerehundert – wenn nicht gar 1000 – an einem Tage.42

42 Mitscherlich/Mielke, Medizin ohne Menschlichkeit (wie Anm. 39), S. 319.

Etwa zur gleichen Zeit experimentierte der Arzt Horst Schumannim Block 30 des Krankenreviers von Auschwitz. Schumann er-forschte die Sterilisation durch Röntgenstrahlen, die bei den Ver-suchsopfern zu schwersten Verbrennungen führte. Ein Häftling be-richtet:

Wir mußten uns ausziehen und die Geschlechtsteile wurden unter einenApparat gebracht und für 15 Minuten unter dem Apparat gehalten. Der Ap-parat hat die Geschlechtsteile und Umgebung stark gewärmt, und nachherhaben sich diese Teile schwärzlich gefärbt. Nach dieser Aktion mußten wirsofort wieder arbeiten. Im Verlaufe von einigen Tagen haben die Geschlechts-teile bei den meisten Kameraden geeitert, und sie hatten sehr große Schwie-rigkeiten beim Gehen. Sie mußten aber trotzdem arbeiten, bis sie umfielen.Die Umgefallenen kamen zur Vergasung.

Ich selbst habe nur eine Nässe gehabt, aber keine Eiterung. Nach 2 Wo-chen, ungefähr im Oktober 1943, hat man 7 Mann unserer Gruppe nachAuschwitz 1 geführt. Diese Strecke mußte zu Fuß zurückgelegt werden. Sie

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hatten sehr große Schmerzen beim Gehen, weil die Geschlechtsteile schmerz-ten. Wir kamen nach Auschwitz 1 in den Krankenbau, Block 20. Dort hatman uns operiert. Wir bekamen eine Spritze in den Rücken, worauf dieuntere Körperhälfte gefühllos wurde, während der obere Teil des Körpersvollkommen normal blieb. Beide Hoden wurden entfernt. Es erfolgte keinevorherige Untersuchung über Samenflüssigkeit. Ich habe den Vorgang imSpiegelglas einer chirurgischen Lampe beobachten können. Es wurde auchkeine Einwilligung zur Operation eingeholt. Man hat uns nur gesagt »Dugehst«. Daraufhin wurde man wortlos auf den Operationstisch geschickt.Der Leiter der Sterilisierungs- und Kastrierungsexperimente in Auschwitzwar ein Dr. Schumann. [. . .]

Entschuldigen Sie, daß ich weine, ich kann mich nicht enthalten. Da warich 3 Wochen im Krankenhaus Auschwitz. Nachher war eine Selektion undman hat 60% von unserem Block zum Vergasen genommen.43

43 Mitscherlich/Mielke, Medizin ohne Menschlichkeit (wie Anm. 39), S. 315. HorstSchumann arbeitet bis 1951 als Knappschaftsarzt in Gladbeck. Als er identifiziertwird, flieht er, wird jedoch 1966 von Ghana ausgeliefert. 1972 wird er als verhand-lungsunfähig eingestuft und aus der Untersuchungshaft entlassen.

Der Häftlingsarzt Dr. Samuel Steinberg, der im Block 21 arbeitenmußte und die Verstümmelungen beobachten konnte, fügt hinzu:

Einige Wochen oder Monate nach dieser Sterilisation wurden die jungenMänner in das Lager von Auschwitz, Block 21 (Chirurgie), geholt. Sie wur-den ins Labor gebracht, wo man sie über ihre Störungen seit der Sterilisationbefragte: sexuelle Bedürfnisse, nächtliche Pollutionen, Störungen des Ver-dauungsprozesses, des Gedächtnisses, des seelischen Zustandes usw. . . . Dannzwang man sie zu onanieren und fing einen Tropfen Sperma auf einem klei-nen Plättchen zur mikroskopischen Untersuchung auf. Wenn die physiolo-gische Voraussetzung zur Masturbation fehlte, rief man die Erektion durchFingermassage der Prostata hervor.

Nach einigen solcher Behandlungen fanden die Deutschen, daß die Mas-sage den Masseur ermüdete; man erfand daher ein anderes System mittelseiner Kurbel, die in den After des Unglücklichen eingeführt wurde; einigeKurbeldrehungen genügten, um die Erektion und den Austritt der Sperma-flüssigkeit hervorzurufen.44

44 Französisches Büro des Informationsdienstes über Kriegsverbrechen, Konzentra-tionslager Dokument F321 (wie Anm. 1), S. 134.

Schumann wie Clauberg reisten in der Folgezeit in das Frauenkon-zentrationslager Ravensbrück, um ihre Experimente dort fortzufüh-ren. Allerdings ist bislang unklar, wann welcher Arzt im Krankenre-vier von Ravensbrück sterilisierte. Über die Sterilisationen, die im

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Winter 1944/45 stattfanden, weiß die Häftlingsärztin Zdenka Ned-vedova-Nejedla:

Ich habe gefangene Zigeunerfrauen gesehen, wie sie ins Röntgenzimmer gin-gen und wie sie wieder herauskamen, wo sie nach einer Methode sterilisiertwurden, die meines Wissens in Oswiecim (Auschwitz) ausprobiert wordenwar. Die Methode beruhte darauf, dass eine entzündende Flüssigkeit in denUterus gespritzt wurde, höchstwahrscheinlich Silbernitrat zusammen miteiner kontrastierenden Flüssigkeit um eine Röntgenkontrolle der durchge-führten Operation zu ermöglichen.

Alle sterilisierten Frauen wurden sofort nach der Sterilisation geröngt. Ichhabe diese Bilder mit der Ärztin Dr. Mlada Tauferova untersucht und bindaher in der Lage zu bezeugen, dass bei den meisten der oben erwähntenFälle die Füllung bis in das Ende der Eileiter eingedrungen war; in mehrerenFällen sogar bis in die Bauchhöhle. Nur ungefähr den letzten zehn wurdedurch das Eingreifen der SS-Schwester Gerda eine Narkose gegeben. Ichhabe die Kinder die ganze Nacht nach der Operation gepflegt. All dieseMädchen bluteten aus den Geschlechtsteilen und hatten solche Schmerzen,dass ich ihnen heimlich Beruhigungsmittel geben mußte. Am Morgen vordem Appell brachte ich die Kinder mit Hilfe von Mädchen die im Revierarbeiteten, in ihre Blocks.45

45 Archiv der Mahn- und Gedenkstätte Ravensbrück, Sammlung Erika Buchmann,Bd. 34, Bericht 619.

Aufgrund der medizinischen Diagnose Zdenka Nedvedova-Nejed-las kann davon ausgegangen werden, daß es Professor Clauberg war,der im Januar oder Februar 1945 die Sterilisationen der Sinti undRoma vornahm. An dieser Stelle ist allerdings auf ein eklatantes For-schungsproblem hinzuweisen, das in früheren Untersuchungen undVeröffentlichungen keine Berücksichtigung fand: Schumann wieClauberg experimentierten gleichermaßen mit Röntgenstrahlen –Schumann, um eine direkte Unfruchtbarkeit zu erzielen, Clauberg,um neue Kontrastmittel zu erforschen. Sterkowicz gibt den entschei-denden Hinweis:

Neben den Sterilisationsversuchen widmete sich Clauberg auch der Erfor-schung der Bedeutung neuer Kontrastmittel zu Röntgenzwecken. Ziel die-ser Versuche war es, eine effektive Zusammensetzung für ein zuverlässigesKontrastmittel zu ermitteln, das für Deutlichkeit auf den Aufnahmen sorg-te. Zu diesem Zweck wurde u.a. entsprechend präpariertes Bariumsulfatverwendet.46

46 Sterkowicz, Eksperymenty medyczne w obozie koncentracyjnym Ravensbrück (wieAnm. 41), S. 4 f.

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Die wenigsten Überlebenden kennen die Namen der Ärzte, die ausAuschwitz nach Ravensbrück kamen, und angesichts der Tatsache,daß Clauberg und Schumann mit der gleichen Apparatur in Verbin-dung gebracht werden können, scheint es nicht länger möglich, vonder experimentellen Methode auf den experimentierenden Arzt zuschließen.

In ihrer Vernehmung durch den Staatsanwalt am 20. Januar 1946geht Zdenka Nedvedova-Nejedla näher auf die Geschehnisse im Re-vier ein:

Ich sah in dem Raum, dass wir Stübchen nannten, 2 kleine Zigeunerinnen,ungefähr 10 Jahre alt, die höchstwahrscheinlich nach der Operation vonTreite waren und diese beiden Kinder waren sterelisiert [sic] worden durchseine Indektions-Methode [sic]. Diese beiden Kinder waren schon einmalsterelisiert worden. Nach Weihnachten 1944 wurden Zigeuner-Frauen mitihren Kindern in das Revier gerufen, und alles war für eine Operation indem Röntgen-Zimmer vorbereitet worden. Keine von uns Gefangenen durftehineingehen. 2 Männer gingen in den Raum und dann kamen die Zigeune-rinnen einer [sic] nach der anderen hinein.

Wenn diese beiden Kinder also vorher bereits sterelisiert waren, warum stere-lisiert sie man noch einmal?

Der Doktor von Auschwitz machte eine Röntgen-Aufnahme und hatfestgestellt, dass die erste Sterelisation nicht genügte. Ich habe die Röntgen-Aufnahmen selber gesehen.

Wer hat sie das zweitemal sterelisiert?Triete! [sic]47

47 Archiv der Mahn- und Gedenkstätte Ravensbrück, Sammlung Erika Buchmann,Bd. 12, Bericht 16, Blatt 3, 4. Mit »Triete« ist der SS-Arzt Dr. Percival Treite ge-meint, der Anfang September 1943 seinen Dienst in Ravensbrück antrat. Er wur-de 1947 im ersten Hamburger Prozeß zum Tode verurteilt und beging daraufhinSelbstmord.

An das Schicksal der zwei kleinen Mädchen, die nach ihrer zweitenSterilisation im Stübchen des Reviers liegen, erinnert sich auch dieNorwegerin Sylvia Salvesen:

Kurz darauf kamen zwei Kinder ins Revier, ihre Familiennamen weiss ichnicht, beide hiessen Elisabeth. Sie waren 8 und 10 Jahre. Sie schrieen: ›Mutti,wir sind doch schon sterilisiert, warum ruft man uns nochmals‹? Wir nah-men sie in ein Zimmer, entkleideten sie und legten sie in ein Bett. Ich gingzu Emmi, einem Häftling, die die Sekretärin von Dr. Treite war, und sagte:»Kannst Du nicht sofort zu Dr. Treite gehen und bitten, dass man aufhört,so etwas zu unternehmen«! Sie kam zurück und sagte: ›Es hat keinen Sinn,

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Dr. Treite sagte, es ist ein Befehl von Berlin!‹ Die beiden Kinder lagen indem Stübchen und warteten, dass sie operiert werden sollen, haben wahr-scheinlich vorher mehr gelitten, als während der Operation. Eine kam zu-rück und als sie zu sich kam fing sie an zu weinen, in einer Art hysterischenKrampf. Dieses Weinen hat das andere Mädchen, das vor der Operationstand, in einen solchen Angstzustand versetzt, dass ich dieses mehr tröstenmusste, als das andere. Als das zweite Kind zu sich kam, öffnete es die Augen,lächelte und berührte seinen Bauch und sagte, es tue gar nicht so weh. Ichglaube, dass mich nichts so tief erregt hat wie dies. Diese Kinder sind fürimmer verdorben wie alle Frauen die sterilisiert wurden. Wir sind keineRichter darüber, wer Kinder haben soll und wer nicht.48

48 Ebd., Bd. 12, Bericht 5.

So ist davon auszugehen, daß die beiden Elisabeths bereits im Som-mer 1944 sterilisiert und nach Weihnachten 1944 nochmals operiertwurden. Von den frühen Sterilisationen im Sommer 1944 ist nurwenig bekannt. Außer einer Aussage der Häftlingsärztin Mlada Tau-ferova, in der sie zu Protokoll gibt: »Im Sommer 1944 waren bereitschirurgische Operationen (Sterilisationen) vorgenommen worden.Treite, ein fremder Arzt, zwei unbekannte Frauen und die SS-Schwe-ster Martha waren zugegen«,49

49 Ebd., Bd. 29, Bericht 501, Blatt 3 f.

existiert nur noch folgender Bericht,der sich auf die Sterilisationen des Sommers 1944 bezieht:

Das Massen-Sterilisieren darf nicht vergessen werden. Im Sommer 1944 ent-rollte sich eine neue Tragödie. Eines Sonntags, wir saßen ahnungslos in un-seren Arbeiteräumen im Revier und hofften auf einen etwas ruhigen Sonn-tag nach dem Hexenkessel der Woche – Scharen von Zigeunern wälzen sichzum Revier mit ihrem bekannten Temperament. Aus war es mit der Stille –aber was sollte das nun wieder bedeuten? Arbeitsuntersuchungen? Nein, eswaren ja so viele Kinder ab 12 Jahren dabei. Keiner wusste etwas. Ein Autofährt vor – Ärzte steigen aus? Wie Schuppen fällt es mir von den Augen.Einige Tage vorher war ich zufällig auf der politischen Abteilung. Viele Zi-geuner waren da. Endlich bekam ich heraus, daß sie unterschreiben sollten,damit einverstanden zu sein, daß ihre Kinder ab 12 Jahren sterilisiert werdenund sie auch. Wenn sie auch jammerten und klagten, letzten Endes mußtensie doch ihre drei Kreuze geben. »Freiwillige Unterschrift«. Der ganze Zigeu-nerstamm sollte aussterben, hieß es. – Zu diesem schändlichen Handwerkgaben sich deutsche Ärzte her! Am laufenden Band ging die Sache vor sich.Die Frauen und Kinder bekamen Spritzen in die Seite und mußten sofortohne Ruhepause das Revier verlassen. Geschrei und Weinen den ganzenTag. Wir konnten es schon nicht mehr mit anhören, so unerträglich war es.

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Und diese anklagenden Bilder. Kleine, schwache Mädchen, wirklich nochKinder – unterernährt – schlichen vor Schmerzen gekrümmt an uns vor-bei – eine nach der anderen. Die Augen wie bei einem todwunden Tier, wuß-ten sie doch überhaupt nicht, was mit ihnen vorgegangen war. Was nützte es,wenn wir sie trösteten und ihnen Kleinigkeiten zusteckten – ihre Schmerzenkonnten wir nicht abnehmen, das Verlorene nicht wiedergeben. Einige wur-den so schwer krank, dass sie noch lange das Bett hüten mußten – und wirhaben noch heute den Klang ihres angstvollen Wimmerns und ihre Schmer-zenschreie in den Ohren – und doch ist auch dies nur ein so kleiner Teil allerGrausamkeiten, die wir miterleben mußten!50

50 Ebd., Bd. 25, Bericht 362, Blatt 115.

Neben diesen wenigen Berichten, die im Archiv der Mahn- und Ge-denkstätte Ravensbrück dokumentiert sind, finden sich in dem 1988veröffentlichten Roman Das Höllentor der Schriftstellerin Anja Lund-holm wichtige Hinweise auf die Sterilisationen im Sommer 1944.Anja Lundholm, die ab 1944 bis zur Befreiung im April 1945 in Ra-vensbrück inhaftiert war, rekonstruiert die Massensterilisationen überdie Figur der Ich-Erzählerin Ruth:

Vom Bettkantenplatz unter mir kommt die tiefe Knurrstimme der Bien-hold: Ihr Sintis solltet vorsichtiger sein.

Ich beuge mich herab: Was meinst Du damit, Bienhold?Sie sind im Lager besonders gefährdet. Noch mehr als wir.Glaub ich nicht. Denen lassen sie doch sogar ihre Kinder.Das hat seinen Grund! Sie sagt es so bedeutungsvoll, daß sie mich bei

aller Müdigkeit neugierig macht. Die Bienhold hat schon Dachau undAuschwitz hinter sich, sie kennt sich gründlich aus.

Ich beuge mich noch tiefer herunter: Was für einen Grund?Paß auf, Du verlierst das Gleichgewicht, sagt sie und dann: Der Suhren

wartet auf das Eintreffen von Doktor Schuhmann, dann geht’s los.Wer ist Schuhmann, und was geht los?Schuhmann ist der, der das Euthanasieprogramm leitet. Wenn der hier

eintrifft, werden alle Zigeunerkinder sterilisiert. Deshalb läßt man sie bisdahin noch bei ihren Müttern. Um keinen Verdacht zu erwecken.51

51 Anja Lundholm, Das Höllentor (wie Anm. 23), S. 32.

Ruth beobachtet im Juli/August 1944, wie die Sinti und Roma vondem Lagerarzt Treite zum Revier gebracht werden:

Der Schuhmann muß eingetroffen sein. [. . .]Wir schweigen, bis eine Polin sagt: Die Zigeunerinnen heute morgen –

was wird er mit ihnen machen? Und mit den Kindern?

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Das gleiche. Er wird die Frauen und Kinder ohne Narkose sterilisieren, sievermutlich im Revier von der Oberheuser abspritzen lassen und ihre Lei-chen nach bewährter Methode zerschnibbeln.52

52 Ebd., S.49 f.

War also der »fremde Arzt«, den Mlada Tauferova im Sommer 1944sah, der Röntgenspezialist Dr. Horst Schumann? Wenn ja, ist auf-grund der folgenden Berichte davon auszugehen, daß sich seine Ver-suchsreihen bis in den Januar 1945 erstreckten. Eine erste Zeuginberichtet:

Ungefähr 6 Wochen vor Weihnachten wurde eine Kinderbaracke eingerich-tet. Die Mütter wurden von den Kindern getrennt, sie kamen in den Sie-mens-Baracken außerhalb des eigentlichen Lagers unter und mußten imSiemensbetriebe arbeiten. Nach einiger Zeit mußte ein Teil der Mädchen,ungefähr im Alter von 10-12 Jahren ins Krankenrevier kommen. Sie wurdenbei vollem Bewusstsein mit Elektrizität sterilisiert. Die Kinder lagen nach-her im Korridor der Krankenbaracke und wimmerten. Sie hielten sich denUnterleib vor Schmerzen. Verantwortlich hierfür war der SS-Arzt Treide[sic].53

53 Archiv der Mahn- und Gedenkstätte Ravensbrück, Buchmann-Sammlung, Bd.21,Bericht 207, Blatt 101.

Die zweite Zeugin, Dr. Maria Grabska, liefert eine detaillierte Be-schreibung der Experimente im Januar 1945. Allerdings ging siedavon aus, daß Schumann an einer wissenschaftlichen Abhandlungüber die weiblichen Geschlechtsorgane arbeitete und aus diesemGrund die Röntgenaufnahmen anfertigte. Von den Sterilisations-versuchen scheint sie nichts zu wissen:

Eine andere Art von Experimenten wurde im Januar 1945 vorgenommen,und zwar von Professor Schumann, dem Röntgenspezialisten aus Auschwitz.Es handelte sich um Salpingographie bei Mädchen von 8 bis 18 Jahren, d.h.um die Auffüllung der Gebärmutter-Höhle und der Eileiter mit einer Kon-trastflüssigkeit und die dazu gehörigen Röntgenaufnahmen. Dieses alles warwohl als Material zu einem wissenschaftlichem Werk über die Entwicklungweiblicher Geschlechtsorgane gedacht. Das Material dazu lieferten Zigeu-nerkinder in dem entsprechendem Alter. Diese Zigeunerkinder waren imSpätsommer und im Herbst 1944 bei der teilweisen Räumung von Auschwitznach Ravensbrück herübergekommen. Das schrecklichste bei dem ganzenVerfahren war, dass alle diese Kinder vor der Auffüllung der Gebärmutterdefloriert werden mussten, und Zigeunermädchen sich in dieser Beziehungsehr selten etwas vergeben. Nach den Röntgenaufnahmen liess man die Kin-

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der auf den Zigeunerblock zurückbringen und sie dort alle Nachkrankhei-ten und alle Unzuträglichkeiten ohne jede Betreuung ertragen. Die Anzahldieser Kinder, die binnen 4 Tagen, vom 4. bis zum 7. Januar 1945 geröntgtwurden, betrug ungefähr 120-140. Es sind ziemlich viele danach gestorben,teilweise an den Folgen der Eileiter-Auffüllung (Bauchfellentzündung), teil-weise an anderen Krankheiten, denen sie in schlechtem Allgemeinzustanderlegen waren. Bei diesem Verfahren halfen 2 SS-Ärztinnen, die ProfessorSchumann mitgebracht hatte. Die Häftlinge von Ravensbrück nahmen nichtdaran teil.54

54 Archiv der Mahn- und Gedenkstätte Ravensbrück, Buchmann-Sammlung, Bd. 15,Bericht 4a, Blatt 44 f. Diese präzisen Angaben über Daten und Opferzahlen findensich auch in dem 1999 publizierten Kalendarium der Ereignisse im Frauen-Konzen-trationslager Ravensbrück 1939-1945, Metropol Verlag, Berlin. Hier wird jedoch da-von ausgegangen, daß es ausschließlich Clauberg war, der die Experimente vom4. bis zum 7. Januar vornahm.

In diesem Zeitraum wurde auch die Sintezza Wanda P. Opfer einerSterilisation. Wanda P. ist 19 Jahre alt, als sie mit ihrer Familie inAuschwitz inhaftiert wird. Dort stirbt ihr fünf Monate alter Sohnan Unterernährung. Kurz vor der Auflösung des »Zigeunerlagers« inAuschwitz-Birkenau am 1. August 1944 wird WandaP. nach Ravens-brück deportiert. Sie identifiziert Professor Clauberg als den Arzt,der sie sterilisierte:

Dann sind wir in Ravensbrück sterilisiert worden. 19-, Anfang 1945. Von ei-nem Professor Clauberg. Und dieser Clauberg, musste alle aus diese Blöcke,die, diese Pfleger, was da sind, alle raus. Da war eine große Blondine beige-wesen, und der Professor Clauberg war so 1,45 groß gewesen, der war ausKönigsberg und eine Blondine. Und da hab ich mich vorgestellt, meineNummer und hab gesagt, ich bin doch noch so jung. Aber was soll manmachen? ›Hinlegen, nur ’ne Untersuchung!‹ Und dann hat man uns sterili-siert. Chlorkalk eingespritzt, nich, das alles verbrennt denn, und zehn Tagehaben wir Blockschonung gekriegt. Und auch zwölfjährige Kinder. War’nvon meine Cousine zwei Kinder beigewesen, [. . .] die haben ’ne Spritzebekommen, wir alle bei vollem Verstand und dann haben die Eltern gesuchtund haben se gefunden in so’n Waschraum, da lagen auf so Fliesen, wie so’nWaschraum, die haben zwischen die Beine geblutet und, die Kinder jetzt,und haben geschrien. Haben wir se gekriegt alle, auf ’ne Schubkarre, dieKinder, und haben se nach’n Block geschoben. Und dann sind wir allegeröntgt worden, wie das nu auch hingehauen hat. [. . .] Und bei ein kleinesWaisenkind ist es nicht gelungen, denn hat man aufgeschnitten und mitToilettenpapierverband, die starb ja auch. [. . .] Und eine Wöchnerin war beimir, da war das Kind vierzehn Tage alt, mit der hat man das auch gemacht,

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die ist in ein Ohnmacht nach die andere gefallen. Wir sind uns erst alle nak-kend ausziehen, und dann kam der Befehl, nicht, nur den Schlüpfer, unddann haben wir zehn Tage Blockschonung. Und die Männer sind im Män-nerlager auch sterilisiert worden. Da war ich alt, 22 Jahr’ alt. War ’ne ge-sunde Frau.55

55 Aussage von Wanda P., zitiert in Heike Krokowski, Bianca Voigt, »Das Schick-sal der Wanda P. – Zur Verfolgung der Sinti und Roma«, in: Claus Füllberg-Stol-berg u.a. (Hg.), Frauen in Konzentrationslagern: Bergen-Belsen, Ravensbrück (wieAnm.27), S.267.

Den Zeuginnen zufolge halten sich Schumann und Clauberg etwazur gleichen Zeit in Ravensbrück auf. Auch Sterkowitz geht davonaus:

Als Clauberg und Schumann Anfang Januar 1945 nach Ravensbrück kamen,wurden sämtliche Häftlinge aus dem Revier entlassen und statt dessen 120junge Zigeunerinnen untergebracht, von denen die jüngste 8 Jahre alt war.Alle Frauen wurden Sterilisierungsexperimenten unterworfen und nachderen Abschluß in den Gastod geschickt.56

56 Sterkowicz, Eksperymenty medyczne w obozie koncentracyjnym Ravensbrück (wieAnm.41), S.4 f.

Nach Sterkowitz sind Clauberg und Schumann jedoch nicht die ein-zigen, die im Krankenrevier von Ravensbrück mit verschiedenenSterilisationsmethoden experimentieren. In seiner Monographie Ek-sperymenty medyczne w obozie koncentracyjnym Ravensbrück datiertSterkowitz die ersten Sterilisationen zu Versuchszwecken, die mittelsder Einspritzung einer intrauterinen Reizflüssigkeit durchgeführtwerden, auf den Herbst 1943. Ob der experimentierende Arzt mitClauberg zusammenarbeitete, ist unklar. Sicher ist, daß diese frühenSterilisationen an Jüdinnen durchgeführt wurden. Sterkowitz zitiertden Bericht einer betroffenen Frau:

Am 7. September 1943 wurde mir durch den SS-Arzt Dr. Sonntag mittelseiner größeren Spritze eine bronzefarbene Flüssigkeit in die Gebärmuttergespritzt. Mit mir waren 11 andere Jüdinnen aus dem gleichen Block. DerUntersuchungsraum, in dem diese Eingriffe vorgenommen wurden, befandsich im Keller des Hauptgebäudes. Nach der Spritze spürte ich ein lästigesBrennen im Unterleib. Nach zwei Tagen musste ich zurück zur Arbeit.Dann bekam ich 40 Grad Fieber und furchtbare Schmerzen. Dr. Treite ver-legte uns in den Versuchsblock. Dort befanden sich ungefähr 60 Frauen, dieeine Injektion in die Gebärmutter erhalten hatten. Viele von uns warenbewusstlos, da wir sehr hohes Fieber hatten. In der Zeit, in der ich mich im

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Versuchsblock befand, starben 8-10 Frauen. Einige Frauen wurden in einenanderen Raum verlegt, weil dort weitere Versuche mit ihnen gemacht wur-den. Wenn die bewusstlosen Frauen hinausgetragen wurden, wußten wir,daß sie durch den Kamin gejagt werden würden.57

57 Ebd., S. 30 f. Ob Dr. Sonntag die Experimente durchführte, ist fraglich, da Sonn-tag 1943 bereits Erster SS-Standortarzt im Konzentrationslager Natzweiler-Strut-hof war.

Das »Krankenmaterial«,58

58 Brief an Professor Clauberg, zitiert in: Dunja Martin, Menschenversuche im Kran-kenrevier des KZ Ravensbrück (wie Anm. 27), S. 110.

das zur Erforschung der effektivsten Ste-rilisationsmethode diente, setzte sich ausschließlich aus rassisch ver-folgten Frauen zusammen. Da für Jüdinnen, Sinti und Roma einmedizinisches Behandlungsverbot galt, kündigte der Befehl, sich imRevier zu melden, das Experiment an ihrem Körper an. Über dieSterilisationen, die noch kurz vor der Befreiung des Lagers stattfan-den, berichtet die Zeugin Violette de Coq:

Im März 1945 sah ich, dass auf dem Boden des Untersuchungsraumes imRevier alte und junge Zigeunerinnen auf dem Fussboden sassen, die schrienund sich vor Schmerzen auf dem Boden wälzten. Nach dem, was ich sah undvon der vor der Tür stehenden tschechischen Lagerpolizistin sah, waren dieOberschwester Marschall, Dr. Treite und Dr. Trommer im Zimmer.59

59 Archiv der Mahn- und Gedenkstätte Ravensbrück, Buchmann-Sammlung, Bd. 19,Bericht 165, Blatt 113.

Sie gibt in ihrer Vernehmung durch den Staatsanwalt im Dezember1946 zu Protokoll:

Haben sie jemals die Patientinnen im Operationszimmer gesehen?Im März 1945 hatte ich einen Grund um ins Revier zu gehen, und ich ver-

suchte in das Krankenzimmer zu gehen, aber ich konnte nicht hinein kom-men, es war geschlossen. Ich klopfte an die Tür und eine tschechische Polizi-stin stürzte sich auf mich, sie sprach französisch und sagte mir ich sollschnell weg gehen. Sie sagte mir, dass sie zur selben Zeit dabei waren, einigeZigeunerinnen zu streleriesiren [sic].

Sind sie da geblieben oder sind sie weg gegangen?Ich bin weg gegangen. Noch eine Zeit blieb ich stehen und konnte hören

wie die Oberschwester eine Tür öffnete und hinaus schrie wie ich es gewagthatte an diese Tür zu klopfen. In diesem Moment sah ich Zigeunerinnen,alt und jung die auf dem Fussboden sassen, die schrien und welsten [sic]sich auf dem Boden vor Schmerz. Ich bin zum Block zurück gegangen undbrachte zwo meiner Kameradinnen mit, um zu sehen was sich dort ab-

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spielte. Es war eine allgemeine Tatsache im Lager, dass zu dieser Zeit dieZigeunerinnen sterelisiert wurden.

Sie sagten uns, dass sie die Oberschwester in der Tür und die Zigeunerinnen indem Zimmer sahen, stimmt das?

Ich sah die Oberschwester in der Tür und die Zigeunerinnen auf demFussboden, nachdem die Operation ausgeführt war. Die tschechische Polizi-stin sagte mir, dass Treite und Trommer in dem Zimmer waren.60

60 Ebd., Bd. 12, Bericht 14.

So kann davon ausgegangen werden, daß sich die zumeist tödlichenExperimente über einen Zeitraum von insgesamt anderhalb Jahrenerstreckten.

3. Schluß

Erinnerte Geschichte birgt eine Vielzahl von Fallstricken. GermaineTillion reflektiert diese Problematik im 11. Kapitel ihrer Monogra-phie Frauenkonzentrationslager Ravensbrück. Hinter den Überschrif-ten »Erinnerungsvermögen«, »Lug und Trug« und »Kontrolle« ver-bergen sich methodologische Vorschläge und Instrumentarien, wieman den Berichten der Überlebenden Fakten entlocken kann. Denn»die Möglichkeiten, eine falsche oder eine wahrheitsgemäße Zeu-genaussage zu erhalten, hängen nicht vom Zufall ab«.61

61 Tillion, Frauenkonzentrationslager Ravensbrück (wie Anm.18), S. 318-331, hierS. 320; Lutz Niethammer, Lebenserfahrung und kollektives Gedächtnis. Die Praxisdes »Oral History«, Frankfurt am Main 1980; Gregor Spuhler (Hg.), VielstimmigesGedächtnis: Beiträge zur Oral History, Zürich 1994.

Im Gegensatz zu Tillions historiographischer Studie verfolgt dieDokumentation der experimentellen Sterilisationen ein anderes Ziel:Sie will jenseits der Frage nach dem Wer und dem Wann eine Nah-sicht auf die Geschehnisse im Krankenrevier von Ravensbrück er-möglichen, indem sie diejenigen zu Wort kommen läßt, die dortwaren. Das Präzipuum ›Wir waren dort‹ ist damit der größtmög-lichen Unmittelbarkeit verpflichtet. Diese Unmittelbarkeit erklärtjedoch nicht nur den Metaphern »Labor« und »Experiment« eineklare Absage, sondern auch der Chiffre »Auschwitz«, die als Klassemfür die Vernichtung fungiert. ›Wir waren dort‹ führt also nicht nurzu einer Entmetaphorisierung, sondern auch zu einer Faktisierungdes Diskurses – denn »Auschwitz liegt in Polen, westlich von Kra-kau«.

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Nicolas PethesDokumentationsversuche

Menschenexperimente in den Konzentrationslagernzwischen Archiv und Literatur

Das Projekt einer kulturwissenschaftlichen Einordnung der ver-schiedenartigen experimentellen Beobachtungen an lebenden Men-schen ist nicht als Konkurrenz, sondern als Ergänzung der wissen-schaftsgeschichtlichen Rekonstruktion von Versuchsanordnungenoder des ethischen Einspruchs gegen sie zu verstehen. So unerläßlichbeide sind, so wenig vermögen sie die gesellschaftlichen Kontexte,anthropologischen Implikationen und symbolischen Dimensionensolcher Experimente in den Blick zu nehmen.

Aber eine kulturgeschichtliche Perspektive bedingt nicht nur einesolche Weitung des Interesses, sie zielt auch auf eine gänzlich andereMaterialität der Geschichte: Wenn sich epistemologische Fragen aufdie Bedingungen des Wissens und ethische auf die Legitimität vonPraktiken richten, so geht es einer kulturwissenschaftlichen Analyseum den Vergleich der verschiedenen Formen der symbolischen Re-präsentation von Wissen. Die ›Kultur‹ eines Experiments zu beschrei-ben meint auf diese Weise zum einen, sich von einem vermeintlichabstrahierbaren Gehalt der Forschung ab- und den Bedingungenihrer Konstruktion und Vermittlung zuzuwenden.1

1 Vgl. Timothy Lenoir (Hg.), Inscribing Science. Scientific Texts and the Materiality ofCommunication, Stanford 1998; Henning Schmidgen/Peter Geimer/Sven Dierig(Hg.), Kultur im Experiment, Berlin 2004.

Zum anderenbedeutet der Blick auf Kulturen des Wissens, die verschiedenen Wei-sen dieser Konstruktion und Vermittlung untereinander zu verglei-chen, und das heißt, ihren Geltungs- oder Objektivitätsanspruch zurelativieren.2

2 Zu einem derartigen, auf der Grundlage einer systemtheoretischen Soziologie for-mulierten Kulturbegriff vgl. Dirk Baecker, Wozu Kultur?, Berlin 1998.

Im Fall medizinischer oder psychologischer Menschenexperimen-te geraten so die Formen und Funktionen ihrer Darstellung in denBlick. Das betrifft Beobachtungsprotokolle, statistische Schemataund Tabellen, fotografische oder filmische Dokumentationen sowieVersuchsberichte oder Fallgeschichten, kann aber auch auf Darstel-

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lungsweisen außerhalb der Wissenschaft ausgeweitet werden. Vor al-lem aber vermag eine Analyse dieser Repräsentationen wissenschaft-licher Beobachtungen in Text oder Bild Aspekte an den Tag zu brin-gen, die einer lediglich auf den unmittelbaren Forschungsbeitragzielenden Lektüre verborgen bleiben. Auf diese Weise schließt diekulturhistorische Perspektive auf Darstellungsformen von Wissen-schaft an diejenige auf die Kontexte der Wissenschaft an.

Einer der zentralen Aspekte, die in der fachwissenschaftlichenKommunikation von Menschenversuchen notorisch unterbelichtetbleiben, sind die Erfahrungen der Versuchspersonen selbst. DieseErfahrungen betreffen ihren Status als – unter Umständen instru-mentalisiertes und verdinglichtes – Objekt eines Versuchs;3

3 Vgl. zur Auswahl bzw. Konstruktion von Versuchspersonen Susanne Lederer, Sub-jected to Science. Human Experimentation in America before the Second World War,Baltimore, London 1995, und Katja Sabisch, Das Weib als Versuchsperson. Medizini-sche Menschenexperimente am Beispiel der Syphilisforschung, Bielefeld 2007.

und siebetreffen ihre Schmerzen, Ängste und Versehrungen im Versuchs-verlauf selbst. Kein Geringerer als Claude Bernard, der die Notwen-digkeit der experimentellen Erforschung lebender Organismen ve-hement eingefordert hatte, gestand in seiner Introduction a la etudede la medicine experimentale von 1865 ein: »Der Physiologe ist keinMensch des öffentlichen Lebens, er ist ein Forscher, ein Mensch, dervon einem wissenschaftlichen Gedanken, den er verfolgt, gepacktund ausgefüllt ist; er hört nicht die Schreie seiner Versuchstiere, ersieht nicht das Blut fließen, er sieht nur seine Gedanken und Orga-nismen mit verborgenen Problemen, die er aufklären will.«4

4 Claude Bernard, Einführung in das Studium der experimentellen Medizin, Leipzig1961, S. 145.

Die Hierarchie zwischen beobachtendem Versuchsleiter und be-obachteter Versuchsperson findet mithin nicht zuletzt darin ihrenNiederschlag, daß Versuchsberichte nur die Version des Versuchslei-ters über die experimentellen Geschehnisse enthalten. Insofern dieseVersion aber nicht an den Erfahrungen, sondern an den organischenReaktionen der Versuchspersonen interessiert ist, scheinen wissen-schaftliche Versuchsberichte kaum zur Rekonstruktion dieser Di-mension eines Menschenexperiments geeignet: Die Versuchsperso-nen bleiben in diesen Berichten ohne eigene Stimme. Hinzu kommt,daß diejenigen Menschenversuche, die zu den erwähnten Versehrun-gen der Versuchspersonen führen, auch unabhängig von der Berichts-

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perspektive an Grenzen der Darstellbarkeit führen: Schmerzen, umdiese Erfahrung von Versuchspersonen metonymisch für alles an-dere Denkbare einstehen zu lassen, sind eine Grenzerfahrung, diesich dem sprachlichen Ausdruck entzieht und die auf diese Weiseauch nicht Gegenstand eines Berichts oder einer Erzählung werdenkann.5

5 Am Beispiel der Folter diskutiert Elaine Scarry diese »inexpressibility« und »resi-stance to language« des Schmerzes in ihrer Studie The Body in Pain. The Making andthe Unmaking of the World, Oxford 1985, S. 3 f.

Damit erweist sich die Ebene der Repräsentation als Gegenstandeiner Kulturgeschichte des Menschenversuchs zugleich als derenGrenze: Texte über Experimente sind die zu analysierenden Vermitt-lungsformen der wissenschaftlichen Praxis und andererseits perspek-tivisch gelenkt sowie medial beschränkt, was die über diese Praxishinausgehenden Kontexte des Wissens angeht. Dieses Dilemma wirdpotenziert, nimmt man diejenigen Menschenversuche in den Blick,die innerhalb eines Kontexts durchgeführt wurden, der selbst voneiner derartigen Darstellungsproblematik geprägt ist. Die Rede istvon den Menschenexperimenten, die in den nationalsozialistischenKonzentrationslagern vorgenommen wurden. Auch für die Geschich-te der Lager gilt, was oben für eine einzelne Versuchsanordnung fest-gehalten wurde: Die Opfer des Genozids sind ohne Stimme, unddem Auftrag, an sie zu erinnern, steht die Unmöglichkeit, ihre Er-zählung zu rekonstruieren, entgegen. Jean-Francois Lyotard hat ausdiesem Grund argumentiert, die Konzentrationslager seien kein Ge-genstand einer historischen oder juristischen Aufarbeitung, da sichdas Geschehene der Darstellbarkeit, Nachvollziehbarkeit und Ver-mittelbarkeit entziehe.6

6 Jean-Francois Lyotard, Der Widerstreit, München 1989.

Das heißt, die Geschichte der Opfer von Auschwitz ist nicht re-konstruierbar, wie Lyotard im Anschluß an den Unsagbarkeitsto-pos der Ästhetik des Erhabenen oder Autorinnen wie Sarah Kof-mann unter Bezugnahme auf psychoanalytische Traumatheorienfesthalten.7

7 Vgl. Carsten Zelle, Die doppelte Ästhetik der Moderne. Revisionen des Schönen vonBoileau bis Nietzsche, Stuttgart, Weimar 1995, bzw. Sarah Kofmann, Erstickte Worte,Wien 1988.

So bedacht diese Ansätze auch argumentieren, so ste-hen ihnen doch mindestens drei Aspekte entgegen: Erstens leistetdie Chiffrierung von ›Auschwitz‹ als »Inkommensurabilität mit sich

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selbst«8

8 Georg Christoph Tholen/Elisabeth Weber (Hg.), Das Vergessen(e). Anamnesen desUndarstellbaren, Wien 1997, S. 13 (Einleitung der Herausgeber).

unfreiwillig der Mythisierung, wenn nicht gar Sakralisierungder konkreten historischen Ereignisse Vorschub. Zweitens droht derUndarstellbarkeitstopos umzuschlagen in eine Absage an den Auf-trag, an die Verbrechen des Nationalsozialismus zu erinnern. Unddrittens verlangt er zumindest nach einer Überprüfung all derjeni-gen Darstellungsversuche, die von Augenzeugen des Holocausts inGestalt von Tagebüchern, autobiographischen Erzählungen, Aussa-gen vor Gericht oder sonstigen Textformen existieren.

Der Unmöglichkeit der Darstellung stehen mithin, pointiert ge-sprochen, ihre Notwendigkeit und Faktizität entgegen. Und ins-besondere das Zeugnis der Überlebenden scheint dabei geeignet,Begrenztheit der Darstellbarkeit durch den Garanten der Authenti-zität auszugleichen. So hat zuletzt Giorgio Agamben gefordert, daßnur anhand dieser Figur des Zeugen die in den Archiven auffindbarestatistische »Wahrheit« der Lager um die Dimension ihrer erlebten»Wirklichkeit« zu vervollständigen sei.9

9 Giorgio Agamben, Was von Auschwitz bleibt. Das Archiv und der Zeuge, Frankfurtam Main 2005, S. 9.

Was beide Versionen, dieRekonstruktion der Daten aus den Archiven wie die Bewahrung desZeugnisses der Überlebenden, verbindet, ist das Bekenntnis zu einerdokumentarischen Annäherung an die Ereignisse.

Was nun aber die diesseits des theoretischen Diskurses über dieAporien der Darstellbarkeit existierenden Texte über die Erfahrun-gen in den Lagern angeht, so scheint dieser Anspruch des Doku-mentarischen allerdings in Widerspruch zu der Beobachtung zu ste-hen, daß ein Großteil der mehr oder weniger autobiographischenErinnerungstexte zur Literatur gerechnet werden und also mituntereher fiktionalen als dokumentarischen Charakters sind.10

10 Vgl. Stephan Braese (Hg.), In der Sprache der Täter. Neue Lektüren deutschsprachigerNachkriegs- und Gegenwartsliteratur, Opladen 1998; Manuela Günter (Hg.), Über-leben schreiben. Zur Autobiographik der Shoah, Würzburg 2002.

Die Frage,ob eine solche Literarisierung des Grauens möglich oder zulässig sei,begleitet die literaturwissenschaftliche Debatte seit Adornos Absagean alle Lyrik ›nach Auschwitz‹ beständig. Der amerikanische Ho-locaustforscher James E. Young hat allerdings in seinem zentralenBuch Writing and Rewriting the Holocaust. Narrative and the Conse-quences of Interpretation von 1988 die Relevanz literarischer Darstel-

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lungsversuche des Grauens betont: Den Bedenken gegenüber einermöglichen Ästhetisierung oder Sinngebung des Grauens stehe diean Hayden White geschulte Einsicht gegenüber, daß jede Rekon-struktion des Geschehenen auf rhetorischen Mustern und sprach-lichen Tropen aufruhe: Geschichte ist Konstruktion und ihr Mediumdie Metapher, und die Unterscheidung zwischen (literarischer) Fik-tion und (historischen) Fakten bezieht sich daher ausschließlich aufdiejenige zwischen Text und Ereignis, nicht jedoch notwendig aufdie zwischen verschiedenen Textsorten.11

1 1 James E. Young, Beschreiben des Holocaust. Darstellen und Folgen der Interpretation,Frankfurt am Main 1992. Young bezieht sich insbesondere auf Hayden WhitesEssay »The Fictions of Factual Representation«, in: Angus Fletcher (Hg.), The Lite-rature of Fact. Selected Papers from the English Institute, New York 1976, S. 21-44.

Das heißt auf der einen Seite, daß auch historische Dokumenta-tionen Interpretationen sind und der Unterschied zwischen Akten,Tagebuchaufzeichnungen, autobiographischen Erzählungen und fik-tionalen Texten ein lediglich gradueller ist. Auf der anderen Seiteaber beobachtet Young die Tendenz der Holocaust-Literatur, »fik-tionale Diskurse mit einer eigenen Autorität des Zeugnisses auszu-statten«.12

12 Young, Beschreiben des Holocaust (wie Anm. 11), S. 91.

Möglicherweise ist die Literatur daher der Ort, an demhistorische Dokumentation und individuelles Zeugnis eine Einheitbilden und den jeweiligen Mangel des anderen kompensieren: Do-kumentationen vermessen die quantitativen Dimensionen der La-gerexperimente, ohne die Perspektive der Betroffenen ermessen zukönnen. Zeugenaussagen und Oral History ergänzen diese Perspek-tive für Einzelfälle, die aber nicht ohne weiteres generalisiert oderobjektiviert, geschweige denn auf die ermordeten Opfer übertragenwerden können.

In jedem Fall läßt sich aber literaturhistorisch beobachten, daßdie Darstellungsprobleme eines Erzählens ›nach Auschwitz‹ in derdeutschsprachigen Nachkriegsliteratur zu einer grundsätzlichen Re-vision des formalen Inventars geführt haben. In einer Traditionsli-nie, die sich von Bertolt Brecht über Peter Weiss, Rolf Hochhuthund Rainer Kipphardt bis hin zu Alexander Kluge, Uwe Johnsonund Wolfgang Kempowski verfolgen läßt,13

13 Diese Reihe signalisiert bereits, daß hier nicht mit Blick auf sozialkritische Repor-tageliteratur von der »Wiederkehr des Dokumentarischen in der westdeutschenLiteratur« (so der Untertitel von Matthias Ueckers Beitrag »Aus dem wirklichenLeben«, in: Weimarer Beiträge 39/2 [1993], S.266-282) die Rede ist, sondern Fragen

hat sich diese Nach-

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der historischen Rekonstruktion im Rahmen literarischer Texte im Zentrum ste-hen.

kriegsliteratur einem Gestus des dokumentarischen Schreibens ver-pflichtet, der in seinem Verzicht auf die literarische Autonomie vonNarration, Fiktion und Rhetorik dem Undarstellbaren mit einemEthos der Materialmontage und Interpretationslosigkeit begegne-te, so daß W.G. Sebald in seinen Züricher Poetik-Vorlesungen von1997 resümieren konnte: »Im Dokumentarischen [. . .] kommt diedeutsche Nachkriegsliteratur eigentlich erst zu sich und beginnt mitihren ernsthaften Studien zu einem der tradierten Ästhetik inkom-mensurablen Material.«14

14 W.G. Sebald, Luftkrieg und Literatur, München 1999, S. 65.

Allerdings ist diese Feststellung nicht dahingehend mißzuverste-hen, daß die genannten Autoren tatsächlich Dokumentationen imjournalistischen oder juristischen Sinne angefertigt hätten. Vielmehr,und darauf weist Sebalds Redeweise vom »Dokumentarischen« be-reits hin, geht es um einen bestimmten Schreibgestus, der in un-mittelbarer Auseinandersetzung mit herkömmlichen Erzählformenkonstruiert wird und sich in erster Linie durch den Verzicht auf die-se Formen auszeichnet. Dieser dokumentarische Schreibstil ist aufdiese Weise aber, und das betont insbesondere Young, selbst einerhetorische Technik, die lediglich darin besteht, den Eindruck derrhetorischen Gestaltung der Wirklichkeit zu vermeiden: Der do-kumentarische Realismus der deutschen Nachkriegsliteratur folgteiner »Rhetorik des Tatsächlichen«, innerhalb deren die Bezugnah-men auf eine, beispielsweise durch die Montage von Fotografien ver-bürgte, Realität selbst zum zentralen »Tropus« wird.15

15 Young, Beschreiben des Holocaust (wie Anm. 11), S. 108, S. 100.

Das »Dokumentarische« darf daher nicht als faktische Umset-zung eines sprachlichen Objektivitätsideals begriffen werden – alssolches fiele es weit hinter die skizzierten Aporien der Undarstellbar-keit zurück. Young ersetzt die Unterscheidung zwischen ›fiktiv‹ und›authentisch‹ durch diejenige zwischen einer Literatur, die ihre Rhe-torik der Authentizität verschleiert, um den Authentizitätseffekt zusteigern, und einer solchen, die die Konstruiertheit ihrer Dokumenta-tionen reflektiert. Diese zweite dokumentarische Darstellungsformführt vor Augen, daß sie eine Entscheidung ist, die gezielt getroffenwird. Sie kann getroffen sowie – auf seiten des Rezipienten – nach-vollzogen werden, weil es ganz bestimmte Konventionen gibt, an-

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hand deren Dokumentationen beispielsweise von Fiktionen unter-schieden werden. Das bedeutet aber nicht, daß fiktionale Texte dieseKonventionen nicht ebenfalls inszenieren oder simulieren könntenoder daß dokumentarische Texte sich fiktionaler Elemente bedien-ten. Vielmehr besteht das Dokumentarische gerade in einem spezifi-schen, diskursiv erzeugten und reflektierten Hinweis eines Texts aufdie unmittelbare Abbildungsfunktion seiner Zeichen. Das Doku-mentarische ist mithin weniger Abbild der Wirklichkeit als ein Dis-kurs über das Bild bzw. die Konstruktionsweisen dieser Wirklich-keit. Entsprechend bietet auch die dokumentarische Literatur nichteine Beobachtung der Welt, sondern eine Reflexion ihres Beobach-tetwerdens.16

16 In der Terminologie der soziologischen Systemtheorie spricht man vom Wechseleiner Beobachtung erster zu einer Beobachtung zweiter Ordnung: Vgl. NiklasLuhmann, Die Kunst der Gesellschaft, Frankfurt am Main 1995, Kapitel 1.

James Youngs Kritik an der Holocaust-Literatur zielt nun aufden Anspruch des dokumentarische Realismus der 1960er Jahre, dieWirklichkeit der Lager authentisch abbilden zu können.17

17 Young, Beschreiben des Holocaust (wie Anm. 11), S. 121: »Das heißt, indem sie sich alsAbschnitt oder Verlängerung der Realität versteht, die sie nun bezeichnet, nimmtdie dokumentarische Montage rhetorisch für sich in Anspruch, direkt und aus-schließlich durch die umfassende Wirklichkeit determiniert zu sein, aus der sieentnommen wurde.«

Insbeson-dere Peter Weiss’ auf den Frankfurter Auschwitz-Prozessen basieren-des ›Oratorium‹ Die Ermittlung von 1965 wirft er dabei vor, dieRhetorizität dieses Anspruchs nicht zu reflektieren und auf diesenaiv-positivistische Weise letztlich den faschistischen Sprachge-brauch fortzuschreiben.18

18 Ebd., S. 133: »Indem er aber seine eigene Rhetorik des Faktischen ausbaut, hat derKritiker Weiss offenkundig nicht nur die Fähigkeit eingebüßt, zwischen seinerRhetorik und den Fakten zu unterscheiden, sondern nun entgeht ihm vielleichtsogar der Unterschied zwischen der Rhetorik der Nazis bezüglich der Konzentra-tionslager und den teuflischen Realitäten, die sie mit dieser Demagogie tarnenwollten.«

Obgleich Weiss’ Stück aufgrund seinesmarxistischen Ansatzes, der die antisemitische Seite des Faschismuszugunsten seiner kapitalistischen ausblendet, von Beginn äußerst kri-tisch rezipiert wurde,19

19 Vgl. als Überblick über Entstehungskontext, Poetik und Rezeption von Weiss’Dokumentarstück Christoph Weiß, Auschwitz in der geteilten Welt. Peter Weiss unddie ›Ermittlung‹ im Kalten Krieg, 2 Bde., St. Ingbert 2000, zum Stellenwert desDokumentarischen Christian Rakow, »Fragmente des Realen. Zur Transformation

ist das natürlich ein erheblicher Vorwurf, der

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des Dokuments in Peter Weiss’ ›Die Ermittlung‹«, in: Weimarer Beiträge 50/1(2004), S. 266-279.

die aufklärerische wie die ästhetische Dimension der Ermittlung äu-ßerst pauschal aburteilt.

Denn nur auf den ersten Blick ist Die Ermittlung ein Stück, dasWeiss’ Notizen und Gedächtnisprotokolle, die er sich als Besucherder Frankfurter Auschwitz Prozesse 1964 und 1965 gemacht hat,unmittelbar wiedergibt. Zwar folgt der Ablauf der jeweils in dreiAbschnitte zerfallenden elf Gesänge des ›Oratoriums‹ den auch imProzeß verhandelten Verbrechen in den Lagern und gibt strecken-weise wörtlich zitiert Richterfragen und Zeugenaussagen wieder.Allein die Tatsache aber, daß Weiss sein Stück vor der Urteilsverkün-dung abgeschlossen hatte, legt nahe, daß es ihm nicht um eine Pro-zeßdokumentation zu tun war.

Diese Distanz zwischen dokumentierter Realität und dokumen-tierender Literatur betont Weiss auch in seinen theoretischen Aus-führungen zum Dokumentartheater. Dieses habe »authentischesMaterial [. . .] im Inhalt unverändert, in der Form bearbeitet« zu prä-sentieren.20

20 Peter Weiss, »Das Material und die Modelle«, in: ders., Stücke II, Frankfurt amMain 1977, S. 598-606, hier S. 599.

Wenn aber auf diese Weise »das Faktenmaterial sprach-lich bearbeitet« wird, dient literarisches Dokumentieren nicht derschieren Rekonstruktion des Gewesenen, sondern führt statt dessen»Fakten zur Begutachtung« vor.21

21 Ebd., S.604, S. 600.

Auf diese Weise wird das Theaternicht zur Darstellung eines Tribunals über Verbrechen, sondernselbst zu einem Tribunal über die Rekonstruierbarkeit von Realitätbzw. der Möglichkeit, sie durch eine diskursive Rekonstruktion zuverzerren.

Als eine solche Reflexion der Grenzen des Sprechens überAuschwitz wird auch die ja geradezu paradoxe Formgebung, dieWeiss der Prozeßdokumentation gibt, erklärbar: Die strukturelleAnlehnung an Dantes Divina Commedia, die kontraintuitive Zu-ordnung von deren »Paradiso-Topos« für die unschuldigen Insassendes KZs sowie die Gattungsbezeichnung ›Oratorium‹ sind keineÄsthetisierungen der Menschheitsverbrechen und ihrer Aufarbei-tung, sondern vielmehr Bestandteile derjenigen formalen Bear-beitung, durch die das dokumentierte Material die nötige Distanzgegenüber seinem Versprechen von Authentizität und Evidenz ge-

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winnt. Die formale Geschlossenheit wie die inhaltliche Heilsgewiß-heit, die ein Oratorium prägen, treten dadurch in die denkbar wei-teste Gegenposition zu dem in Frankfurt Verhandelten. Gerade,indem Die Ermittlung Recht, Religion und Kunst als Referenzsy-steme zitiert, markiert das Stück, wie sehr das aus Auschwitz Berich-tete sich jeglichem Sprechen, jedem Urteil und jeglicher Transzen-denz entzieht. Weiss’ Dokumentartheater dokumentiert auf dieseWeise vor allem die Vergeblichkeit des Dokumentierens.22

22 Vgl. Anke van Kempen, Die Rede vor Gericht. Prozeß, Tribunal, Ermittlung: Foren-sische Rede und Sprachreflexion bei Heinrich von Kleist, Georg Büchner und PeterWeiss, Freiburg 2005, S. 177-248, bes. S. 186, 192 und 241.

Was nun den Dokumentationsversuch der Menschenversuche inden Lagern angeht, so bilden sie einen Anklagepunkt unter vielen:Der dritte Abschnitte des vierten Gesangs, der »Gesang von denMöglichkeiten des Überlebens«, beginnt dabei zunächst mit einemostentativen Verweis auf die Grenzen des Sagbaren angesichts derExperimente:

RICHTER Frau ZeuginSie verbrachten

einige Monateim Frauenblock

Nummer Zehnin dem medizinische

Experimente vorgenommen wurdenWas können Sie uns

darüber berichtenZEUGIN 4 schweigt 23

23 Peter Weiss, Die Ermittlung, in: ders., Stücke I, Frankfurt am Main 1980, S. 257-449, hier S. 338.

In der anschließenden Befragung aber werden die fraglichen Ver-suche von der Zeugin durchaus angesprochen und charakterisiert.Es handelt sich um die von Ärzten wie Karl Clauberg und HorstSchumann in Auschwitz und Ravensbrück tatsächlich erprobtenVerfahren zur Massensterilisierung durch Röntgenbestrahlung ei-nerseits, durch Injektionen andererseits.24

24 Vgl. die Dokumentation dieser Versuchsserien bei Alexander Mitscherlich/FredMielke, Medizin ohne Menschlichkeit. Dokumente des Nürnberger Ärzteprozesses,Frankfurt am Main 1960, S. 183-248.

Diese Sterilisationsexperi-

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mente wurden zumeist an Sinti und Roma, aber auch an den vonHeinrich Himmler so genannten »Ostvölkern« vorgenommen undstanden somit deutlich im biopolitischen Kontext der Rassen- undLebensraumpolitik des NS-Regimes.25

25 Vgl. die Einleitung zur Sektion »Vernichten« von Katja Sabisch in: Nicolas Pethes/Birgit Griesecke/Marcus Krause/Katja Sabisch (Hg.), Menschenversuche. Eine An-thologie 1750-2000, Frankfurt am Main 2008, S. 641-658.

Eine auf diese spezifischen Zusammenhänge gerichtete Lektüreder Ermittlung führt nun allerdings zu irritierenden Ergebnissen.Denn dasjenige, was Weiss’ Stück an dieser Stelle an Fakten bzw. de-ren ideologischer Vereinnahmung präsentiert, ist derart wenig, daßder dokumentarische Gestus hier eher als stichwortartige Verknap-pung denn als repräsentationskritischer Reduktionismus wirkt. Mög-licherweise rührt der Eindruck der Unangemessenheit von Weiss’Dokumentarliteratur daher nicht von ihrem von Young beklagtenAuthentizitätsanspruch her, sondern von der Tatsache, daß die ein-zelnen Gesänge des ›Oratoriums‹ nur in der Summe genommen dasPhänomen ›Auschwitz‹ erzeugen, für sich genommen hingegen äu-ßerst stereotyp bleiben. Der Einwand, der gegen Die Ermittlung zuerheben wäre, beträfe dann den Versuch einer Gesamtschau auf dasLager, der die konkrete Ebene der einzelnen Praktiken in den ver-schiedenen Lagern verfehlt und anstelle von deren ›dichter Beschrei-bung‹ abstrakten Chiffrierungen wie ›Holocaust‹ oder ›Auschwitz‹Vorschub leistet.

Tatsächlich nennt Weiss in seinen Notizbüchern die Kontinuitätzwischen Nationalismus, Faschismus und Kapitalismus im 20. Jahr-hundert »das universale KZ«26

26 Peter Weiss, Notizbücher 1960-1971, Frankfurt am Main 1982, Bd. 1, S. 308.

– eine Generalisierung, die frappie-rend an die ahistorische Hypostasierung des Lagers als »nomos derModerne« bei Giorgio Agamben erinnert.27

27 Giorgio Agamben, Homo Sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben, Frank-furt am Main 2002, S. 175; als pointierte Kritik vgl. Niels Werber, »Die Normali-sierung des Ausnahmefalls. Giorgio Agamben sieht immer und überall Konzentra-tionslager«, in: Merkur 56/7 (2002), S. 618-622.

Der Analogisierung desKZs mit einem biopolitischen Prinzip korrespondiert die Homoge-nisierung aller in ihm begangenen Verbrechen zu einem einzigen,umfassenden. Die Besonderheit der Menschenversuche innerhalbder Lager gerät auf diese Weise nicht in den Blick.

Genausowenig angemessen erscheint aber umgekehrt die von

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Hannah Arendt vorgenommene metaphorische Generalisierung derLager insgesamt als Sozialexperiment.28

28 Vgl. Hannah Arendt, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, München 1986,S.908.

Die medizinischen Men-schenversuche sind vielmehr als eine eigenständige Praxis innerhalbder Lager zu betrachten,29

29 Vgl. hierzu den Beitrag von Katja Sabisch in diesem Band.

womit strukturelle Parallelen zwischendem Lagersystem insgesamt und den Menschenversuchen in ihmnicht geleugnet werden: So, wie für Auschwitz diskutiert wurde, obes in der Kontinuität einer rassistischen Gesellschaftslehre gestandenhabe oder als gänzlich exorbitant und singulär zu betrachten sei,haben auch die Experimente der KZ-Ärzte die Kontroverse provo-ziert, ob sie in Kontinuität mit der medizinhistorischen Entwick-lung seit dem Ende des 19. Jahrhunderts stehen oder als radikalerBruch mit dem Selbstverständnis der Medizin anzusehen sind.30

30 Die These der Beispiellosigkeit der NS-Experimente vertreten u. a. Victor vonWeizsäcker,»Euthanasie« und Menschenversuche, Heidelberg 1947; Peter-FerdinandKoch, Menschenversuche. Die tödlichen Experimente deutscher Ärzte, München1996; Ernst Klee, Auschwitz, die NS-Medizin und ihre Opfer, Frankfurt am Main1997. Für die Kontinuität der NS-Medizin mit Vor- und Nachkriegsgeschichteargumentieren Volker Roelcke, »Wissenschaften zwischen Innovation und Ent-grenzung. Biomedizinische Forschung an den Kaiser-Wilhelm-Instituten, 1911-1945«, in: Martin Brüne/Theo R. Payk (Hg.), Sozialdarwinismus, Genetik undEuthanasie. Menschenbilder in der Psychiatrie, Stuttgart 2004, S. 92-109; ders.,»Die Entwicklung der Medizingeschichte seit 1945«, in: NTM – InternationaleZeitschrift für Geschichte und Ethik der Naturwissenschaften, Technik und MedizinN.S., Bd. 2, 1994, S. 193-216; Anna Bergmann, Der entseelte Patient. Die moderneMedizin und der Tod, Berlin 2004.

Und auch die Aporie der Undarstellbarkeit, die sich angesichts derOpfer der Lager grundsätzlich ergibt, wiederholt sich mit Blick aufdie Geschichte der Versuchspersonen. Die Alternative, entwederden Archiven statistische Daten zu entnehmen oder sich auf indi-viduelle Zeugnisse von Überlebenden zu stützen, prägt die Rekon-struktion der sogenannten terminalen Experimente in den Lagernseit der Dokumentation des Nürnberger Ärzteprozesses 1946 und1947 durch Alexander Mielke, die bis heute die zentrale Referenz füralle Beschäftigungen mit dem Thema bildet.

Vor dem Hintergrund einer solchen Perspektive auf Singularitätund Parallelität der Menschenversuche in den Lagern, läßt sich auchdie Frage nach der Funktion literarischer Dokumentationsversucheder Experimente genau stellen: Betreffen sie das Lager als Gesamt-

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komplex (wie bei Weiss) oder das Experiment als einzelne Praxisinnerhalb der Lager (wie anhand von Alexander Kluge zu sehen seinwird)? Wie vermitteln sie die Forderung nach Rekonstruktion desGeschehenen mit dem Einwand der Undarstellbarkeit und Inkom-mensurabilität, und in welcher Relation stehen dabei dokumentari-sche und fiktionale Elemente? Schließlich: In welcher Kontinuitätoder Diskontinuität zu Ästhetik und Geschichte der Literatur ste-hen die Dokumentarfiktionen über Lagerexperimente selbst?

Was die letztgenannte Frage angeht, so ist festzuhalten, daß litera-rische Repräsentationen von Menschenversuchen diese nicht nur alsSujet aufgreifen. Zwar gibt es eine Motivgeschichte des Menschen-versuchs, die sich im anthropologischen Roman der Spätaufklärungoder angesichts der romantischen Faszination des tierischen Magne-tismus ebenso nachweisen läßt wie in den Beschreibungen physiolo-gischer oder psychologischer Versuche in Büchners Woyzeck oderStrindbergs Vivisektionen. Aber auch populärliterarische Verarbeitun-gen des Behaviorismus oder der Biomedizin von Elizabeth Phelps’Trixy über Hanns Heinz Ewers’ Alraune und Norbert Jacques’ Dr.Mabuse bis zum Medical-Thriller der Gegenwart schlagen erzähle-risches Potential aus der experimentellen Beobachtung des Men-schen. Die NS-Medizin ist u.a. in Friedrich Dürrenmatts Verdacht,Ingeborg Bachmanns Der Fall Franza oder Marcel Beyers FlughundeGegenstand der Literatur geworden.

Über eine solche Funktion als Sujet hinaus bedingt und impliziertder Menschenversuch in der Literatur aber stets auch eine Reflexionder formalen Aspekte wissenschaftlichen wie literarischen Darstel-lens: Im 18. Jahrhundert kommt literarischen Fiktionen die Funk-tion zu, empirisch noch nicht mögliche Beobachtungen von Men-schen fiktiv zu simulieren und in ihren Folgen auszugestalten; im19. Jahrhundert bildet das Genre der Fallgeschichte eine erzähltech-nische Schnittmenge zwischen Medizin, Psychologie und Literatur;und in der Populärliteratur des 20. Jahrhunderts sind es rhetorischeTopoi, die es erlauben, die Zukunft der Reproduktion und Kontrol-le des Menschen vorstellbar zu machen.31

31 Vgl. dazu die Ausführungen des Verfassers in Zöglinge der Natur. Der literarischeMenschenversuch des 18. Jahrhunderts, Göttingen 2007; »›Viehdummes Individu-um‹, ›unsterblichste Experimente‹: Elements of a Cultural History of HumanExperimentation in Georg Büchner’s Fictional Case Study Woyzeck«, in: Monats-hefte 98/1 (2006), S.68-82; »Die Topik des Unvorstellbaren. Anthropotechnik und

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Biopolitik in medizinischer Science Fiction«, in: Nicolas Pethes/Sandra Pott(Hg.), Medizinische Schreibweisen. Ausdifferenzierungen und Transfer zwischenMedizin und Literatur (1600-1900), Tübingen 2008, S. 223-336.

Eine solche Verbindung inhaltlich-dokumentarischer und for-mal-reflektierender Aspekte bietet auch Alexander Kluges kurzerText »Ein Liebesversuch«, der 1962 in der Prosasammlung Lebens-läufe publiziert wurde.32

32 Alexander Kluge, »Ein Liebesversuch«, in: ders., Lebensläufe (1962), Frankfurt amMain 1986, S. 142-145.

Ein Jahr bevor in Frankfurt die Auschwitz-Prozesse beginnen, jedoch gestützt auf Alexander Mitscherlichs undFred Mielkes Dokumentation des Nürnberger Ärzteprozesses von1948, skizziert Kluge hier ein Gespräch über einen Menschenver-such in einem nationalsozialistischen Konzentrationslager. Der Textist als Protokoll einer Befragung gestaltet. Es handelt sich dabei umeinen Kontrollversuch zu einem anderen Experiment, eine Art Me-taexperiment also, dessen Ausgang über Erfolg und Mißerfolg deseigentlichen Experiments entscheidet. Dieses ›eigentliche‹ Experi-ment ist die bei Weiss angesprochene Erprobung von Verfahren zurMassensterilisation von KZ-Häftlingen. Das Experiment, das Klu-ges Text vorstellt, überprüft die Wirksamkeit dieser Verfahren, in-dem zwei Häftlinge nach erfolgter Sterilisation zum Geschlechtsver-kehr animiert werden sollen. Das Eintreten oder Ausbleiben einerSchwangerschaft in diesem ›Metaversuch‹ könnte auf diese Weiseüber die Wirksamkeit der Eingriffe im zugrunde liegenden Experi-ment entscheiden.

Diese Differenzierung eines zugrunde liegenden und eines Kon-trollexperiments wird weiter vertieft durch die Tatsache, daß es sichim ersten Fall um eine dokumentierte Versuchsserie und also um einhistorisch belegtes Ereignis handelt. Die zweite Versuchsanordnunghingegen, das Metaexperiment, stellt eine Fiktion dar. Zwar führtMitscherlich/Mielkes Dokumentation der Sterilisationsexperimen-te einen Brief des SS-Offiziers Karl Brandt vom 10. Juli 1942 an, indem der »praktische Versuch [. . .], daß man eine Jüdin mit einemJuden für eine gewisse Zeit zusammensperrt«,33

33 Mitscherlich/Mielke, Medizin ohne Menschlichkeit (wie Anm. 24), S. 247.

vorgeschlagen wird.Die Umsetzung dieses Vorschlags und zumal die präzise Rekon-struktion seines Verlaufs in Kluges Text sind jedoch fiktionale Zu-sätze. Zusätze allerdings, die Kluge ganz und gar in einer Rhetorikder Authentizität verfaßt: einer nüchternen, beschreibenden Prosa,

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die die Ereignisse frei von Empathie oder Empörung referiert – undauf diese Weise den Anspruch des Dokumentarischen aus Mitscher-lich/Mielkes Prozeßbericht, der von einem expliziten ethischen Dis-kurs durchzogen ist, noch radikalisiert.

Man wird also sagen können: So wie der Versuch, zwei Häftlingezum Geschlechtsverkehr zu animieren, das Experiment ihrer vorher-gehenden Sterilisierung zugleich ergänzt und überprüft, supplemen-tiert der fiktionale Anteil von Kluges Text die historische Prozeß-dokumentation der Lagerexperimente durch Mitscherlich/Mielke.Damit wirft »Ein Liebesversuch« ganz explizit die Frage nach derFunktion und Rolle der Literatur für die Rekonstruktion der Men-schenexperimente im Rahmen der NS-Medizin auf.34

34 Vgl. hierzu Michael Müller, »Gefangen vom Text. Überlegungen zur Lesersteue-rung am Beispiel eines Textes von Alexander Kluge«, in: Der Deutschunterricht IV(1988), S. 59-67, hier S. 64 f., sowie Jürgen Nieraad, »Shoah-Literatur: Weder Fik-tion noch Dokument – Alexander Kluges Liebesversuch und Heimrad Baeckersnachschrift«, in: Stephan Braese (Hg.), In der Sprache der Täter. Neue Lektürendeutschsprachiger Nachkriegs- und Gegenwartsliteratur, Opladen 1998, S. 137-148.Eine erste Einordnung von Kluges Text in den Kontext der Versuchspraxis der Ste-rilisationsversuche hat Leo Finndegen, »Alexander Kluge: Ein Liebesversuch«, in:Freibeuter 1 (1979), S. 88-93, unternommen.

Und schonder Titel des Texts zeigt, daß diese Funktion auf der Ebene der Spra-che zu suchen sein wird: Die Sterilisation von KZ-Insassen steht imKontext einer biopolitischen Sexualmedizin, die die Überschrift»Ein Liebesversuch« auf provokante Weise mit einer Semantik derIntimität konfrontiert. Die literarische Strategie, mittels der Kon-stellation von Sexualität und Liebe die Konfrontation von Biopoli-tik und Intimität zu evozieren, wirft als zweite Frage auf, welcherOrt den verschiedenen Dimensionen der Sexualität – Geschlechts-unterschied, Fortpflanzung, Bevölkerungspolitik, Liebe – innerhalbder medizinischen Menschenversuche des Nationalsozialismus zu-kommt.35

35 Diese Fragen ergänzen die verschiedenen Blickwinkel auf Sexualität als Experiment,die der gleichnamige Sammelband (hg. von Nicolas Pethes und Silke Schicktanz,Frankfurt am Main, New York 2008) diskutiert.

Diese Fragen eröffnet »Ein Liebesversuch« in Gestalt von 19 Fra-gen und den dazugehörigen Antworten zu dem einleitend skizzier-ten ›Metaexperiment‹. Ob es sich dabei um ein Verhör, ein Interviewoder ein erinnerndes Selbstgespräch handelt, bleibt offen. Die Fra-gen zielen, ebenso wie die Antworten, auf den ›technischen‹ Ablauf

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des Versuchs und versuchen Gründe ausfindig zu machen, die fürdas Ausbleiben des anvisierten Versuchsziels – den Geschlechtsver-kehr zwischen den Versuchspersonen – verantwortlich gemacht wer-den könnten.

Dabei wahren Frager wie Befragter durchweg eine beschreibendeDistanz zu den Vorgängen. Einzig die vorletzte Frage, »Wurden wirselbst erregt?«, leistet durch die erste Person Plural eine Identifika-tion, die die Antwort »Andererseits wäre uns das verboten gewesen«aufgreift. Spätestens hier wird die Beteiligung beider Gesprächspart-ner an dem fraglichen Versuch suggeriert und unter Umständen so-gar der Leser als Beobachter zweiter Ordnung in den Versuchsablaufinkludiert.36

36 Vgl. zu einer Analyse der didaktischen Lesesteuerung des Textes Müller, »Gefangenvom Text« (wie Anm. 34), S. 60.

Die letzte Frage des Texts – »Soll das besagen, daß aneinem bestimmten Punkt des Unglücks Liebe nicht mehr zu be-werkstelligen ist?« – bleibt unbeantwortet. Es ist das einzige Mal,daß der Text den Titelbegriff ›Liebe‹ aufgreift, und das Fehlen einerAntwort ist ein neuerlicher Leserappell.

Dieser Appell könnte in der didaktisch-aufklärerischen Weiseeines Lehrstücks darauf zielen, den Leser zu einer Reflexion aufzuru-fen. Eine solche Annahme setzte allerdings voraus, daß die Instanz,die die letzte Frage stellt, nicht identisch mit der Instanz aller vor-angehenden Fragen ist. Das wäre insofern bemerkenswert, als derText ansonsten durchweg von der Perspektive der Versuchsleiterbeherrscht wird. Diese radikale Monoperspektivität einer ›objekti-ven‹ Dokumentation legt das eigentliche – wenngleich nicht minderdidaktische – narrative Verfahren Kluges offen: Indem die Sicht derVersuchsleiter an keiner Stelle durchbrochen wird, identifiziert derLeser sie mit der Erzählerhaltung und macht sich im Vollzug derLektüre unwillkürlich die Sichtweise zu eigen, daß der Versuch ›ge-scheitert‹ sei. Der denkbar kleine Hinweis, daß sich noch die letzteFrage keineswegs einer kritischen Außensicht verdankt, besteht indem Wort »bewerkstelligen«, das den Bereich der Liebe der Logikder Machbarkeit und des Funktionierens unterwirft.

Auf diese Weise erzeugt Kluges Simulation einer dokumentari-schen Rhetorik nicht nur »fiktive Authentizität«.37

37 So z.B. Nieraad, Shoah-Literatur (wie Anm. 34), S. 140, der von einer »Fiktion inder Ausdrucksform des Dokumentarischen« spricht, sowie Finndegen, AlexanderKluge (wie Anm. 34), S. 90, der formuliert: Kluge »protokolliert in der Fiktion«.

Die Simulation

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einer Zeugenaussage dient nicht der Vermeidung ästhetischer Über-formungen beim Versuch, dem Ungeheuerlichen der NS-Verbre-chen gerecht zu werden.38

38 Dieser Impuls dominiert die Tradition dokumentarischer Schreibweisen nachdem Zweiten Weltkrieg, zu der Kluge etwa mit seinen Schlachtbeschreibungen oderdem Luftangriff auf Halberstadt beträchtlich beigetragen hat.

Es ist ganz im Gegenteil eine Kopie derSprachform der Täter, die sich – etwa bei der Auswahl von Versuchs-personen – auf Archivdokumente stützt und der experimentellenLogik von Reiz und Reaktion verhaftet bleibt.39

39 Vgl. Finndegen, Alexander Kluge (wie Anm. 34), S. 93: »Die Sprache, die in diesemText gesprochen wird, ist unsere und zugleich die entmenschte Sprache der Nazis.«

Der ›objektive‹, ›neutrale‹ und ›dokumentarische‹ Ton von Klu-ges Text verdeutlicht damit, wie noch der vermeintliche Auswegeiner Literatur nach Auschwitz, sich ästhetischen Überformungenzu verweigern, in der Totalität der Täterperspektive gefangen bleibt.Kluges dokumentarischer Realismus ist damit nicht als Einsatz, son-dern als kritische Reflexion ›authentischer‹ Schreibverfahren zu le-sen.40

40 Zu Kluges Realismuskonzept, das danach verlangt, Ereignisse nicht nur mime-tisch abzubilden, sondern auch in ihren Konsequenzen auszubuchstabieren, vgl.Alexander Kluge, »Die schärfste Ideologie: daß die Realität sich auf ihren realisti-schen Charakter beruft« (1975), in: ders., In Gefahr und größter Not bringt der Mit-telweg den Tod. Texte zu Kino, Film, Politik, hg. von Christian Schulte, Berlin 1999,S. 127-134, für den vorliegenden Kontext v. a. S. 127: »Die Liebesszene ist aber nurdann realistisch, wenn z.B. die künftige Abtreibung gleich in sie eingeschnittenwird.«

Diese kritische Reflexion besteht nun nicht allein in dem an-hand der Ratlosigkeit der Gesprächspartner geführten Nachweis,daß auch die Sprache der Dokumente auf Lücken und Interpreta-tion beruht. Vielmehr betrifft diese Reflexion das Medium desDokumentierens selbst: Immer wieder trifft der Bericht über dietechnische Einrichtung, den Prozeß der Beobachtung sowie dieKausalitätsunterstellungen des Versuchs auf den Widerstand seinersprachlichen Vermittlung.

Diesen Widerstand erzeugt in erster Linie die Semantik von Se-xualität, Erotik und Liebe, die im Laufe des Gesprächs in immergrößere Nähe zur Semantik des Experimentierens gebracht wird:Um den erwünschten Geschlechtsverkehr herbeizuführen, werdenPersonen ausgewählt, zwischen denen man ein wechselseitiges »er-hebliches erotisches Interesse« voraussetzen darf. Damit rekurrie-ren die Versuchsleiter auf eine biographisch verbürgte Liebe, die im

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Laufe der Erzählung zunehmend selbst zum Gegenstand des Ver-suchs wird. Denn in der gleichen Weise, wie die Sterilisationsexperi-mente einen Metaversuch in Gestalt des Geschlechtsverkehrs not-wendig machen, setzt dieser Liebesversuch seinerseits die Erprobungeiner ganzen Reihe von Variablen voraus. So, wenn der erotisieren-de Effekt der bereits zu Beginn »hochzeitlich ausgestalteten Zelle«durch den Einsatz romantischer Aphrodisiaka auf der einen Seite –weiche Teppiche, Musik, intime Beleuchtung, Champagner –, phy-siologischer Stimulantien auf der anderen Seite – Eiweißgaben, Käl-teduschen, Alkoholeinreibungen41

41 Die Dokumentation von Mitscherlich/Mielke, Medizin ohne Menschlichkeit (wieAnm. 24), S. 54, berichtet im Rahmen der Unterkühlungsversuche von Fällen, indenen die Stimulation zum Geschlechtsverkehr tatsächlich Bestandteil der Experi-mente gewesen ist.

– intensiviert werden soll.Durch diese Beschreibung der Versuchsanordnung erzeugt Klu-

ges Text eine semantische Schnittmenge, in der sexuelle Erregungmit experimentellen Eingriffen zusammenfällt. Das Konzept der›Stimulation‹ hat zu gleichen Teilen eine erotische und eine expe-rimentalwissenschaftliche Konnotation, und genau dieses Zusam-menfallen beider Bedeutungsdimensionen macht sich Kluges Textnarrativ zunutze.

Diesen Zusammenhang macht Kluges Text auf der Ebene dersprachlichen Aussagen deutlich, indem er die Instanz des Wissensüber Erotik mit der Instanz der experimentellen Befehlshierarchiezusammenfallen läßt. Auf die Frage, ob man denn alles »versucht«habe, um die Versuchspersonen zu der erwünschten Handlung zubewegen, führt der Gefragte an: »Ich kann garantieren, daß alles ver-sucht worden ist. Wir hatten einen Oberscharführer unter uns, deretwas davon verstand. Er versuchte nach und nach alles, was sonsttodsicher wirkt.«

Dieses Zitat verdeutlicht erstens die doppelte Semantik von ›ver-suchen‹, es weist zweitens den Bereich der Erotik einem spezifischenSachverstand zu und artikuliert drittens das Vertrauen auf garan-tierte Kausalzusammenhänge in diesem Bereich. Der Oberscharfüh-rer ist in allen drei Hinsichten Sexualwissenschaftler. Und gerade dieVerbindung der drei Hinsichten – der ars erotica und der scientiasexualis, wie Foucault sie unterschieden hat,42

42 Michel Foucault, Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit 1 (1976), Frank-furt am Main 1977, S. 74 f.

sowie des experimen-

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tellen Blicks – zeigt, wie wenig letzterer in einer reinen Wissen-schaftspraxis aufgeht.

Das verdeutlicht der Text dadurch, daß die Beobachtung des Ver-suchverlaufs, der in Theorien des Experiments eine epistemologi-sche Schlüsselstellung zukommt, im Falle eines Liebesversuchs un-weigerlich in Voyeurismus umschlägt: Die Zelle der Versuchsper-sonen ist mit einem »Bullauge, das der Beobachtung von außendiente«, versehen. Dieses Bullauge ist zentral, weil es auf die Realitätder Beobachtung verschiedener Lagerversuche – etwa im Fall derUnterdruckexperimente – verweist. Derartige Gucklöcher warenaber zugleich Bestandteil derjenigen Heterotopie, auf die Sexualitätinnerhalb der Konzentrationslager verschoben wurde, die Lagerbor-delle nämlich, die es sowohl für die SS als auch für männliche Häft-linge gab. Auch in den Häftlingsbordellen war die SS aber gegenwär-tig, und zwar in derselben Rolle, in der bei Kluge die Versuchsleitererscheinen. Ich zitiere aus dem Vernehmungsprotokoll eines Häft-lings: »Die Gruppe SS-Offiziere war deshalb im Bordell erschienen,um durch ›Spione‹ dem Treiben in den einzelnen Zimmern zuzuse-hen. Offensichtlich vergnügten sie sich an dem Gesehenen, denn siemachten wiederholt schmutzige Bemerkungen.«43

43 Christa Paul, Zwangsprostitution. Staatlich errichtete Bordelle im Nationalsozialis-mus, Berlin 1994, S. 74. Vgl. Robert Sommer, Das KZ-Bordell. Sexuelle Zwangsar-beit in nationalsozialistischen Konzentrationslagern, Paderborn 2009.

Das Zugeständnis des Befragten in Kluges Text, beim Blick durchdas »Bullauge« möglicherweise »erregt« worden zu sein, steht in ei-nem Kluge seinerzeit wahrscheinlich kaum bekannten Verhältniszur zwangsprostituierten Sexualität in den Lagern. Auf diese Weisewird kenntlich, wie das Versuchsziel, bei den Probanden sexuelleErregung zu erzeugen, seinerseits das Objekt eines nicht mindersexuellen Begehrens auf seiten der Versuchsleiter ist.

Diese Sexualisierung des experimentellen Blicks spiegelt sich inder kürzesten Dialogsequenz von Kluges Text: »Waren die Versuchs-personen nicht willig? / Grundsätzlich waren sie gehorsam. Ich möch-te also sagen: willig.« Die durch den definitorischen Einschub er-zeugte Synonymie der Worte »gehorsam« und »willig« ordnet die inder Versuchsanordnung anvisierte sexuelle Erregung einer Befehls-relation unter. Durch diese Engführung legt der Text eine Sichtweiseoffen, die Sexualität gleichzeitig als Experiment und als Prostitutionbegreift. Das Labor der Sterilisationsversuche ist ebenso eine Aus-

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dehnung der Lagerbordelle, wie die Lagerbordelle eine Ausweitungder Labore sind. In beiden ist die Sexualität der Häftlinge Gegen-stand der Beobachtung.

Mit dem Versuchsausgang, daß die Ärzte vor dem Bullauge ihrexperimentelles Interesse nicht befriedigen können, scheint KlugesErzählung nun allerdings einen Ausweg aus dieser Verknüpfung zuweisen, die seine dokumentarische Fiktion durch die Anlehnung anden ›Jargon der Täter‹ kenntlich macht. Denn jenseits der Erzähl-perspektive des Versuchsleiters scheint ja gerade das ›Scheitern‹ desLiebesversuchs die Liebe vor ihrer Verrechnung mit erzwungenerSexualität und deren experimenteller Beobachtung zu bewahren.Wo die Versuchsleiter nach immer neuen erotischen Stimulanziensuchen, übersehen sie, daß der Versuch, solange er noch einen letz-ten Rest an aktiver Initiative der Probanden voraussetzt, eine Gestedes Widerstehens erlaubt, die nicht in aktivem Protest, sondern imschlichten Nichttun besteht.

Ist also die ›Liebe‹ ein Hort des Widerstands? Kann der Nichtvoll-zug erwarteter Liebe als Modus ihrer Bewahrung gelesen werden?Auch ohne Kenntnis von Kluges sonstigen Szenarien scheiternder›Liebesversuche‹ sollte einen der dialektische Erzählgestus des Textsvor derart utopischen Lesarten warnen.44

44 Diese Kritik am »Fluchtweg in ein tröstliches Gegenbild« formuliert auch Nie-raad, Shoah-Literatur (wie Anm. 34), S. 143 f., sowie Müller, »Gefangen vom Text«(wie Anm. 34).

Zwar ist auch hier einBlick in die Überlebendenberichte der Lagerbordelle instruktiv, indenen immer wieder berichtet wird, daß insbesondere politischeHäftlinge die Bordelle boykottierten bzw. im Einvernehmen mitden Zwangsprostituierten nur zu nutzen vorgaben – und also eben-falls den von SS-Seite ›erwarteten‹ Geschlechtsverkehr nicht vollzo-gen.45

45 Vgl. Paul, Zwangsprostitution (wie Anm.43), S. 54, S. 81.

Gerade daß es sich aber auch hier um eine Verweigerungspra-xis innerhalb eines weiteren Kontexts handelt, sollte Hinweis genugsein, daß das Motiv der ›bewahrten Liebe‹ kaum sinnvoll der Erzäh-lung entnommen werden kann. Kluges Erzählung, die mit der Er-schießung der Versuchspersonen endet, läßt keinen Raum für Illu-sionen. Das Motiv der Liebe außerhalb der Logik der Lagerlaboretaucht zwar in der Tat im Text auf, allerdings nicht als lebbare Al-ternative, sondern als montiertes Pseudo-Zitat. Völlig unvermitteltwird die vorletzte Replik des Befragten an einer Stelle unterbrochen

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von den schlagerartigen Zeilen »Will ich liebend dir gehören / kommstDu zu mir heute Nacht?«

Dieses einmalige Zitat einer von der Stimme der Versuchsleiterabweichenden Stimme verweist im Text weniger auf einen Auswegals auf ihre schiere Alterität. Der Text dokumentiert lediglich, daß eseine andere Art des Sprechens über Liebe gibt, nicht aber, daß mansich dieser Sprache noch bedienen könnte.

Indem er auf diese Weise verschiedene Sprachformen kontra-stiert, ist Kluges Text ein Sprechen über das ›Sprechen über‹, eineReflexion der Grenzen des Dokumentarischen mit den Mitteln derDokumentation selbst. Was hat Kluges literarischer Text damit zudem Postulat nach konkreten Berichten aus den Lagerlaboren bei-zutragen? Kann er diesem Postulat entsprechen, obwohl er als Fik-tion per definitionem nicht stimmt? »Ein Liebesversuch« ergänzt dieÜberlieferung aus den Archiven. Das aber nicht in Gestalt einernarrativen Ausgestaltung der Lücken der Überlieferung oder einesVersuchs der Deutung ihrer Abgründe. Vielmehr ist der fiktive Ver-suchsbericht von »Ein Liebesversuch« ein Supplement der doku-mentierten Sterilisationsversuche: So wie er auf der inhaltlichenEbene die Versuchsanordnung um einen Kontrollversuch ergänzt,ergänzt er auf der beschreibenden Ebene ein belegtes Projekt um dieVersion von dessen möglicher Durchführung. Indem diese Ergän-zung aber die Perspektive des Experimentators nicht modifiziert,sondern als blinden Fleck perpetuiert, markiert sie als Ergänzungeinen Mangel: den Mangel einer Sprache über die Menschenversu-che in den Lagern, der den Positivismus der Klassifikation wie denTopos der Unverstehbarkeit gleichermaßen betrifft.

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Jakob Tanner›Doors of perception‹ versus ›Mind control‹

Experimente mit Drogenzwischen Kaltem Krieg und 1968

Drogen sind polyvalente und multifunktionale Substanzen; die Wir-kung, die sie auf Menschen haben, ist nicht erklärbar, wenn nichtdie Gebrauchsweisen, die institutionellen Settings, der rechtlicheStatus, das vorhandene Wissen, die vielfältigen Wünsche und Äng-ste sowie die gesellschaftliche Stellung jener, die sie konsumieren,berücksichtigt werden. Stoffe, die unter die Sammelbezeichnung»Drogen« fallen, können ebenso als Medikamente für die fachge-rechte Behandlung physischer und psychischer Störungen, als Be-standteile medizinischer Experimente, als Vehikel für Bewußtseins-erweiterungen, als illegale Sucht- und Fluchtstoffe, als militärischeKampfmittel, geheimdienstliche »Wahrheitsdrogen« oder auch ganzeinfach als Gift genutzt werden. Zwischen Verwendung und Bedeu-tung bestehen Wechselwirkungen, und es sind gesellschaftliche Ziel-setzungen, politische, militärische oder kulturelle Projekte, welchediese doppelte Kontingenz durchbrechen und die Bewertung dieserSubstanzen in bestimmten Kontexten stabilisieren.

1. Drogen, Kalter Krieg und Konsumkultur

In den 1950er und 1960er Jahren fungierte insbesondere Lyserg-säurediäthylamid (LSD-25) als Aufmerksamkeitsattraktor in ganzunterschiedlichen Bereichen. Diese Substanz, die 1938 von AlbertHofmann in den Basler Sandoz-Laboratorien erstmals synthetisiertworden war und deren radikale bewußtseinsverändernde Eigenschaftdieser Chemiker 1943 per Zufall an seiner eigenen Person erfuhr,spielte in naturwissenschaftlichen, medizinischen, psychiatrischen,psychologischen und militärischen Forschungsfeldern eine Rolle.1

1 Einen breiten Überblick über die Geschichte der Drogen geben: Richard Daven-port-Hines, The Pursuit of Oblivion. A global History of Narcotics, 1500-2000, London2001; Richard Rudgley, The Alchemy of Culture. Intoxicants in Society, London 1993.

LSD regte Experimente an, alimentierte künstlerische Ambitionen

340

Zur wissenschaftlich-experimentellen Verwendung von Drogen vgl. Nicolas Pe-thes/Birgit Griesecke/Marcus Krause/Katja Sabisch (Hg.), Menschenversuche. EineAnthologie 1750-2000, Frankfurt am Main 2008, Sektion 1 (S. 33-89).

und inspirierte kontestativ-rebellische, aber auch konsumistisch-rekreative Praktiken. Im gesellschaftlich Imaginären standen sichmind control und die doors of perception spiegelbildlich gegenüber:LSD als schier omnipotenter Stoff schien kollektive Bewußtseins-steuerung und individuelle Selbstverwirklichung gleichermaßen zuermöglichen, es stand auf paradoxe Weise sowohl für neue Macht-techniken, die bei einer Kontrolle der Hirne ansetzen, als auch fürdie Kritik an gesellschaftlichen Herrschaftsstrukturen, die ebenfallshirnchemisch auf das Bewußtsein einwirken.2

2 Eine ernüchternde Analyse des LSD leistet Günter Amendt, Die Legende vom LSD,Frankfurt am Main 2008. Vgl. auch: Stanislav Grof, Topographie des Unbewußten.LSD im Dienst der tiefenpsychologischen Forschung, Stuttgart 1991.

Auch wenn die »Ge-hirnwäsche«, ein Mythos des Kalten Krieges,3

3 John Buckman, »Brainwashing, LSD, and CIA: Historical and Ethical Perspective«,in: International Journal of Social Psychiatry 23 (1977), S. 8-19.

als das das genaue Ge-genteil der psychedelischen Mystik der counterculture wahrgenom-men wurde, läßt sich doch eine seltsame Nähe zwischen den beidenPhänomenen konstatieren. Die paranoiden Ängste vor der totalenmentalen Kontrolle durch unsichtbare Machtzentren mittels psy-choaktiver Agenzien4

4 Fran Mason, »Mind Control«, in: Peter Knight u.a. (Hg.), Conspiracy Theories inAmerican History. An Encyclopedia, Santa Barbara 2003, S.480-489; Martin A. Lee,Bruce Shlain, Acid Dreams – The Complete Social History of LSD. The CIA, the Six-ties, and Beyond, London u.a. 2001 (erstmals 1985); Martin A. Lee, »Truth Serums& Torture«, in: The Journal of Cognitive Liberties 3/2 (2002), S.77-82. Zur fiktiona-len Psychodynamik des Kalten Krieges vgl. auch: Eva Horn, Der geheime Krieg. Ver-rat, Spionage und moderne Fiktion, Frankfurt am Main 2007.

und die delirierenden Heilserwartungen, diein chemische »Türöffner«5

5 Die Bezeichnung ›doors of perception‹ stammt von Aldous Huxley, Die Pforten derWahrnehmung. Himmel und Hölle. Erfahrungen mit Drogen, München 1981 (erst-mals 1954 bzw. 1956); ins Esoterische gewendet wird die Erwartung bei TimothyLeary, The Politics of Ecstasy, London 1970.

zu neuen Bewußtseinsräumen gestecktwurden, sind spiegelbildlicher Ausdruck der Vorstellung, Bewußt-sein ließe sich mit Substanzen nicht nur beeinflussen, sonderngrundlegend neu konfigurieren. Beide Male wurden Stoffen meta-physische, das heißt über die menschliche Physis hinausreichendeWirkungen zugeschrieben. Es brauchte zwar den stofflichen Hebel,um geistige Prozesse eines neuen Typs in Gang zu bringen; die spiri-

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tuellen Durchbrüche bzw. die Umpolung der Persönlichkeit folgtenindessen nicht einer Logik, die sich mit biologischen Dispositionenerklären ließe. Das Menschliche wies ein unabsehbares Transforma-tionspotential auf und konnte somit zur Projektionsinstanz für allesMögliche werden.6

6 Vgl. zu dieser Überlegung: Michael Hagner/Erich Hörl (Hg.), Die Transformationdes Humanen. Beiträge zur Kulturgeschichte der Kybernetik, Frankfurt am Main2008. Auf denselben Annahmen beruhte auch die Erwartung, Intelligenz ließesich »künstlich« herstellen.

In der »Kultur des Kalten Krieges« der 1950er und 1960er Jahrekontrastierten die Wahrnehmungs- und Deutungshorizonte vonDrogen besonders stark. Für die einen waren Stoffe wie LSD wirk-same Waffen in der Auseinandersetzung mit einem Feind, dem manebenfalls Experimente mit bewußtseinsverändernden Stoffen unter-stellte. Für andere dienten sie als Vehikel der Gegenkultur und derProtestbewegungen. Und dann gab es jene Strömungen, vor allem inder Psychiatrie, welche in diesen Drogen ein Therapeutikum sahen,das »verrückten« Menschen einen Weg zurück in die Normalitäteröffnen konnte. Diesen medizinischen Gebrauch von LSD undandern psychoaktiven Stoffen betonend, kritisierte Erika Dyck7

7 Erika Dyck, »Flashback. Psychiatric Experimentation with LSD in Historical Per-spective«, in: Canadian Journal of Psychiatry 50/7 (2005), S. 381-387.

dieFokussierung der historischen Forschung auf militärisches mindcontrol und psychedelische doors of perception. Die Autorin weist dar-auf hin, daß sich in den 1950er Jahren diese »much more complexhistory of LSD in psychiatry«8

8 Ebd., S. 382.

in einem durch Tausende von wissen-schaftlichen Studien dokumentierten Enthusiasmus manifestierte,der davon ausging, mit Hilfe psychotomimetischer, psychotroperund antipsychotisch wirkender Stoffe könnten psychische Störun-gen auf neue Weise verstanden und die therapeutische Praxis nach-haltig verändert werden.9

9 Ebd.

In diese Anstrengungen waren unter-schiedliche Substanzen involviert. Ab 1951 löste das als Largactil undMegaphen vermarktete Chlorpromazin in der psychiatrischen Pra-xis eine »chemische Revolution« aus.10

10 Katharina Brandenberger, Wissen ums Nichtwissen. Psychopharmaka-Prüfung ander Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich in den 1970er Jahren, unveröffentlichteLizentiatsarbeit, Zürich 2007. Vgl. des weiteren: Brigitte Woggon, »Entwicklungder Psychopharmakotherapie«, in: Schweizer Archiv für Neurologie und Psychia-

Als Psychopharmaka eines

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trie 125 (1979), S. 271-285; Philippe Pignarre, Psychotrope Kräfte. Patienten, Macht,Psychopharmaka, Zürich, Berlin 2006; Ray Moynihan/Alan Cassels, Selling Sick-ness. How the World’s Biggest Pharmaceutical Companies are Turning us all intoPatients, New York 2005.

neuen Typs, die später als Neuroleptika bezeichnet wurden, bein-halteten sie nicht nur das Versprechen, Psychosen medikamentösheilen zu können. Sie sollten es auch ermöglichen, die »Natur« desmenschlichen Geistes besser erfassen und kontrollieren zu lernen.Mitte der 1950er Jahre wurde das psychopharmazeutische Arsenalum Antidepressiva und gegen Ende des Jahrzehnts um Pillen aufBenzodiazepin-Basis, sogenannte Tranquilizer wie Valium und Li-brium, ergänzt, deren Verwendungsspektrum über die Anstaltenhinaus in die Gesellschaft hinein ausgeweitet wurde. Auch die Idee,mittels LSD Modellpsychosen zu erzeugen, die neue Einsichten indie Wirkungsmechanismen arzneimittelgestützter Therapieformenund in die Verlaufsform geistiger Störungen in Aussicht stellten, fandin den 1950er Jahren zunehmende Resonanz in der medizinischenund psychiatrischen Scientific Community.11

1 1 Roy F. Baumeister/Kathleen S.Placidi, »A Social History and Analysis of the LSDControversy«, in: Journal of Humanistic Psychology 23/4 (1983), S. 25-58; John R.Neill, »›More than Medical Significance‹. LSD and American Psychiatry 1953-1966«, in: Journal of Psychoactive Drugs 19/1 (1987), S. 39-45; E. Gouzoulis-May-frank/L. Hermle/B. Thelen/H. Sass, »History, Rationale and Potential of HumanExperimental Hallucinogenic Drug Research in Psychiatry«, in: Pharmacopsychia-try 31 (1998), Suppl. 2, S.63-68; J. Fadiman/C. Grob/G. Bravo/A. Agar/R. Walsh,»Psychedelic Research Revisited«, in: Journal of Transpersonal Psychology 35/2(2003), S. 111-125.

Es wurde versucht, un-ter Laborbedingungen schizophrene Symptome bei normalen Frei-willigen nachzuahmen – von daher der Begriff »psychotomimetisch«.LSD wurde – zusammen mit anderen Halluzinogenen – Meskalin,Psilocybin, Cannabis – zum Ingredienz der medizinisch-psychiatri-schen Experimentalkultur.12

12 Besonders bekannt wurden die von Abram Hoffer und Humphry Osmond in Sas-katchewan unternommenen Versuche, mit LSD eine Modellpsychose zu konstru-ieren. Vgl. Dyck, »Flashback« (wie Anm. 7), S. 383.

An einer der ersten wissenschaftlichenLSD-Konferenzen, deren Finanzierung die Josiah Macy-Foundationermöglichte, wurde 1959 eine Bilanz über unterschiedliche Erfah-rungen mit dieser »Wunderdroge«13

13 So wurde sie vom Entdecker Albert Hofmann bezeichnet. Vgl. ders., LSD – meinSorgenkind. Die Entdeckung einer »Wunderdroge«, München 1994.

und insbesondere deren thera-peutisches Potential sowie die psychedelischen Eigenschaften gezo-

343

gen.14

14 Dieser Anlaß wird in der Regel als »erste wissenschaftliche Konferenz über LSD«bezeichnet. Vgl. z.B. Amendt, Die Legende vom LSD (wie Anm.2), S. 10. Frank Fre-mont-Smith eröffnet die »Introductory Remarks« zu dieser Konferenz allerdingsmit der Bemerkung: »During the two and a half years since our earlier conferenceon the use of LSD as an adjuvant in psychotherapy«. Harold A. Abramson (Hg.),The Use of LSD in Psychotherapy. Transactions of a Confercence on dD-Lysergic AcidDiethylamide (LSD-25), April 22, 23, and 24 1959, Princeton N.J., New York 1960,S. 7. LSD-25 wurde bis 1966 von der Sandoz AG (in den USA vor allem über diedortigen Tochtergesellschaften) für die experimentelle Überprüfung seiner Wir-kung meist gratis zur Verfügung gestellt. Vgl. u. a. Dyck, »Flashback« (wie Anm.7), S.386. Allerdings in abnehmendem Maße, so daß Richard Alpers und TimothyLeary den Stoff schon 1961 über die britische Firma Lights & Co. beschafften.Robert Greenfield, Timothy Leary. A Biography, Harcourt 2006, S. 330. Vgl. u.a.Dyck, »Flashback« (wie Anm. 7), S. 386.

Der Psychiater Paul H. Hoch (Columbia University) erklärtein der Eröffnungsrunde, in welcher sich alle Teilnehmer in einemkurzen Statement über ihren Umgang mit LSD äußerten, in verall-gemeinernder Weise:Drugs are one avenue through which to find out whether or not mentalstates can be altered experimentally; whether similar responses can always beevoked, or whether the responses vary; what the similarity is between experi-mentally-produced mental states and those occurring spontaneously.15

15 Macy-Konferenz 22. bis 24. April 1959: Abramson (Hg.), The Use of LSD (wieAnm. 14), S.21.

Gleichzeitig interessierten sich in der Ära des beginnenden KaltenKrieges auch Armeen und Geheimdienste für das bewußtseinsver-ändernde Potential und die Kontrollkapazität von Substanzen wieLSD. Das »Gleichgewicht des Schreckens«, alsbald mit dem Akro-nym MAD (mutual assured destruction) bezeichnet, war darauf an-gelegt, eine direkte militärische Konfrontation zu verhindern. DieAbschreckungslogik (»Wer zuerst schießt, stirbt als Zweiter!«) gingdavon aus, daß die Perfektionierung von ABC-Waffen ihren Einsatzeffektiv verhindern würde. Atomare, biologische und chemischeKampfstoffe richteten sich allerdings auch direkt gegen die feind-liche Zivilbevölkerung und waren Teil einer psychologischen Kriegs-führung. Sie waren etwa mit der Vorstellung verbunden, es könntegelingen, den Gegner mit neuen Kampfformen rasch außer Gefechtzu setzen (z.B. »LSD im Trinkwasser«). Auch der Einsatz von »Wahr-heitsdrogen« stellte ein obsessiv verfolgtes Ziel der »neuropharma-kologischen Militärforschung«16

16 Amendt, Die Legende vom LSD (wie Anm. 2), S. 120.

dar. Schon in den frühen 1950er

344

Jahren – und zeitlich parallel zum Aufstieg von Psychopharmakain der Psychiatrie – setzte ein verborgener Wettlauf um die militäri-sche Verwendung von »Substanzen mit Waffenpotential« ein, der inden USA Forschungsprogramme wie MK-ULTRA auslöste, welcheauch die chemisch unterstützte radikale Umprogrammierung vonIndividuen anstrebten.17

17 Ebd., S. 120; zur halluzinatorischen Qualität dieser Forschung mit Halluzinogenenvgl. Horn, Der geheime Krieg (wie Anm. 4).

Zwischen diesen Armeeaufträgen, Geheim-dienstaktivitäten und den psychiatrischen Kliniken gab es intensivgenutzte Schnittstellen: Medizinische und militärische Aufgaben-stellungen gerieten in ein osmotisches Austauschverhältnis.

Für neue bewußtseinsverändernde Stoffe wie LSD blieb allerdingsaußerhalb dieser Militarisierung und Medikalisierung ein beträcht-licher experimenteller Spielraum. Dieser war so groß, daß 1957 derPsychiater und »Modellpsychosenbauer« Humphry Osmond, ange-regt durch den Erfolgsautor und Selbstexperimentator Aldous Hux-ley, den Begriff psychedelic prägte, und zwar in Absetzung zu psycho-pathisch oder psychotomimetisch. Das Attribut psychedelic sollteDistanz zu einem pathologisierenden Diskurs schaffen und die krea-tive Qualität einer durch LSD, Psilocybin oder Meskalin, oder auchdurch DMT (Dimethyltryptamin), MDMA (Ecstasy) und Cannabisausgelösten Rauscherfahrung betonen. Es kam zu heftigen Kontro-versen zwischen den Anhängern eines elitären Gebrauchs bewußt-seinserweiternder Drogen (zu denen Aldous Huxley gehörte) undPsychedelic-Proselyten wie Timothy Leary.18

18 Vgl. <http://www.entheogene.de>.

Letztere strebten durcheine geeignete Erziehung einen gleichsam flächendeckenden Zu-gang zu drogeninduzierten persönlichkeitsverändernden und imMengeneffekt auch gesellschaftsbefreienden »grandiosen Erlebnis-sen« an; erstere warnten vor den Horrortrips sowie letalen Abstür-zen, die aus einem undifferenzierten LSD-Kult resultierten, undprägten 1970 das Adjektiv entheogen, mit dem rituell kontrollierteschamanistische und religiöse Gebrauchsweisen bezeichnet wur-den.19

19 Vgl. dazu die Schilderungen in Grof, Topographie des Unbewußten (wie Anm. 2).Eine Entzauberung dieses Kultus leistet Amendt, Die Legende vom LSD (wieAnm.2).

Vor allem nach 1964 nahm der Konsum bewußtseinsverändern-der Drogen zu, um schließlich zum kontestativen Markenzeichen

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der Kulturrevolution von 1968 bzw. – etwas weiter gefaßt – derannees 68 zu werden. Als Reaktion darauf wurde das Prohibitionsre-gime ausgeweitet.20

20 Siehe z.B. Jerome L. Himmelstein, The Strange Career of Marihuana. Politics andIdeology of Drug Control in America, Westport, Conn., London 1983. Das Einheits-abkommen über die Betäubungsmittel aus dem Jahr 1961 bezog sich auf Cannabis,Kokain und Opium. Die Konvention über psychotrope Substanzen, die 1971 zu-stande kam und 1976 in Kraft trat, verbot die bekannten Halluzinogene nahezuvollständig.

Während Opiate (Morphium, Heroin), Kokainund Cannabis (Haschisch und Marihuana) in der ersten Hälfte des20. Jahrhunderts in die Illegalität abgedrängt wurden, handelte essich bei den Psychedelika um Stoffe, die nach einer Phase medizini-scher Wertschätzung und militärischer Vereinnahmung seit den frü-hen 1960er Jahren mit sozialer Unrast und politischen Unruhen inVerbindung gebracht und öffentlich angegriffen wurden. Aufgrunddieser symbolischen Statusdegradierung geriet LSD 1966 auf dieListe der illegalen Stoffe der US Food and Drug Administration.21

21 Im selben Jahr zog Großbritannien nach, 1967 folgte Deutschland.

Das Verbot trug dazu bei, daß psychedelische Drogen gegenläufigzur Einbuße an offizieller Reputation an gegenkultureller Attraktivi-tät gewannen. Wurden sie auf der einen Seite mit Normübertretung,Ordnungsstörung sowie Sittenzerfall assoziiert und mit alarmisti-scher Rhetorik bekämpft, so stiegen sie auf der anderen Seite zumsignifikanten Symbol für ein alternatives Lebensgefühl im Zeichenvon Sex, Drugs & Rock ’n’ Roll auf. Die Prohibitionspolitik verstärktedie Neigung, die inkriminierten Drogen zum Vehikel für politi-schen Protest und persönliche Verweigerungshaltung zu machen.Der 1966 von Timothy Leary verkündete Dreisprung turn on, tunein, and drop out wurde, zeitlich stimmig, zum Menetekel einerJugend, die sich gar nicht mehr mit den Normen der Mehrheits-gesellschaft identifizieren, sondern »aussteigen« wollte. Weil dasEstablishment prompt repressiv reagierte, wie die Gegenseite dieserwartetet hatte, eignete sich fortan insbesondere LSD für Provoka-tionen. Das begann schon im Moment des Verbots am 6. Oktober1966, als zeitgleich mit dem Verbot im Golden Gate Park in SanFrancisco mit einem ersten Human Be-In eine neue Phase gegen-kultureller Manifestationen eröffnet wurde. Eine »Declaration ofIndependence« markierte den Gegenpol zum »unamerikanischen«Verbot, und die Ordnungshüter wurden durch das öffentliche »Ein-

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werfen« der psychedelischen Pille herausgefordert. Die Polizei wardurchaus bereit, den brachialen Part in der Konflikteskalation zuspielen, während Timothy Leary LSD neu als »Let the State Disinte-grate« ausbuchstabierte.22

22 Diese erste Demonstration fand im Panhandle (einer Verlängerung des GoldenGate Parks) statt. Über die Rolle, welche LSD nach dem Herbst 1966 in einer gan-zen Reihe von Be-Ins spielte, gibt es unterschiedliche Berichte. Wichtig war dasgroße Be-In am 14.Januar 1967. Vgl. z.B. Greenfield, Timothy Leary (wie Anm. 14),S. 297-309; John Higgs, I Have America Surrounded. The Life of Timothy Leary,Fort Lee 2006, S. 85-87.

Zu Beginn der 1970er Jahre brach allerdings die zunächst pro-duktive Dynamik dieser kulturellen Auseinandersetzung zwischenEstablishment und revoltierender Jugend ein. In Westeuropa undden USA zeichnete sich eine Verschärfung des Abwehrkampfes ge-gen die Drogengefahr ab, die in einen veritablen Krieg gegen diesen»Feind Nummer eins« überführt wurde. Zeitgleich zerstreute sichder breite gegenkulturelle Aufbruch von 1968 in politische Parteienund Lebensstilgruppen. Das soziale Korrelat zum ebenso erbittertgeführten wie aussichtslosen War on Drugs war die No-Future-Gene-ration, die sich nun verstärkt auf Opiate (vor allem Heroin) verla-gerte und die den 1970er Jahren das Gepräge gab.

Im folgenden wird zunächst – anhand eines berühmt geworde-nen Beispiels – auf die psychedelischen Drogenexperimente der frü-hen 1960er Jahren eingegangen; anschließend ist von militärischenKampfstrategien die Rede. Dabei zeigt sich, wie nahe sich (militäri-sche) Bewußtseinskontrolle (mind control) und (psychedelische) Be-wußtseinserweitung (doors of perception) kommen.23

23 Dieser Teil stützt sich auch auf Recherchen von Magaly Tornay, die an der Univer-sität Zürich an einer Dissertation zur Geschichte der Psychopharmaka in derSchweiz arbeitet. Ein Dank geht auch an Nicolas Langlitz für viele weiterführendeHinweise.

PsychedelischesAusbrechen aus der normierten Kontrollgesellschaft, »chemische«Heilung von Geisteskranken, »Um-Erziehung« (re-education) vonautoritären Charaktertypen sowie Steuerung und Re-Programmie-rung von Menschen in militärischer Absicht: All diesen Vorstellun-gen und Projekten liegen dieselben kognitiven Ermöglichungsbe-dingungen zugrunde. Es ist eine These dieses Aufsatzes, daß es indiesen von ihrer politischen Zielsetzung her teilweise diametral kon-trastierenden Handlungsfeldern und Forschungsrichtungen eine Fa-milienähnlichkeit der Bewußtseinskonzepte gibt und daß sich weit-

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gehende Überschneidung in den theoretischen Begründungsmu-stern und formale Homologien in Experimentalsystemen zeigen,was auch seltsame Forscherkarrieren zur Folge hatte.

2. Good Friday, 20. April 1962: Psilocybin und Religion

In den beginnenden 1960er Jahren ging die relative Unbeschwert-heit, mit der zuvor in unterschiedlichen Kontexten Experimente mitpsychedelischen Drogen durchgeführt werden konnten, zu Ende.Ein Menschenversuch, der in dieser Übergangsphase stattfand, istdas berühmt gewordene Good-Friday-Experiment, das von demArzt, Theologen und Religionsphilosophen Walter N. Pahnke am20. April 1962 in Boston durchgeführt wurde.24

24 Pahnke beschreibt das Experiment in seiner Dissertation Drugs and Mysticism: AnAnalysis of the Relationship between Psychedelic Drugs and the Mystical Consciousness,unpublished Ph. D. Thesis, Harvard University, Cambridge, Mass. 1963, und inverschiedenen Aufsätzen, so in »LSD and Religious Experience« im SammelbandRichard C. DeBold/Russel C. Leaf (Hg.), LSD, Man & Society, Middletown 1967.Hier wird die Internet-Version zitiert <http://www.druglibrary.org/schaffer/lsd/pahnke3.htm>. Eine Kurzbeschreibung des Experiments findet sich auch in: RetoU. Schneider, Das Experiment – Karfreitag auf Drogen. 1962 erlebten zehn Theolo-giestudenten in Boston den besten Gottesdienst ihres Lebens, NZZ-Folio 2004 Nr. 8<http://www-x.nzz.ch/folio/archiv/2004/08/articles/experiment.html>. Vgl. auch:Reto U. Schneider, Das Buch der verrückten Experimente, München 2004. Vgl.auch: Higgs, I Have America Surrounded (wie Anm.22), S. 35; Greenfield, TimothyLeary (wie Anm. 14), S. 180-184.

Pahnke, der beiTimothy Leary und Richard Alpert eine Dissertation in Religions-philosophie schrieb, wollte herausfinden, ob mittels Psilocybin –auch magic mushroom genannt – eine tiefe religiöse, mystische Er-fahrung gemacht werden könne. Es ging um nichts weniger als umden Nachweis, daß psychoaktive Stoffe ein funktionales Äquivalentfür ein Sakrament darstellten. Für das Experiment, das von Learyzunächst kritisiert und abgelehnt wurde, hatte Pahnke eine sozio-kulturell relativ homogene Testpopulation zusammengestellt: Beiallen Teilnehmern handelte es sich um protestantische Theologie-studenten mit middle-class-background.25

25 Die Studenten kamen aus der Andover Newton Theological School.

Die Versuchspersonen wur-den in den Wochen vor dem Experiment sorgfältig ausgeleuchtetund intensiv auf ihre Rolle vorbereitet.26

26 »In the weeks before the experiment, each subject participated in five hours of va-

Auf Drängen Learys be-

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rious preparation and screening procedures which included psychological tests,medical history, physical examination, questionnaire evolution of previous reli-gious experience, intensive interview, and group interaction« (Walter N. Pahn-ke, »LSD and Religious Experience«, in: LSD, Man & Society 1967, S. 634<http://psychedelic-library.org/pahnke3.htm>).

schränkte Pahnke die Teilnehmerzahl auf zwanzig, und am Grün-donnerstag trafen die bei einem Psychiater bestellten Psilocybin-Pil-len ein. Diese wurden pulverisiert und in numerierte Umschlägeabgefüllt.

Dies war nötig, weil Pahnke das Experiment als Doppelblindtestkonzipiert hatte. Die Versuchspersonen wurden in zwei Gruppenaufgeteilt. Zehn der Probanden, die Experimentiergruppe, erhieltenje 30 Milligramm Psilocybin,27

27 Psilocybin (nach der IUPAC-Nomenklatur O-Phosphoryl-4-Hydroxy-N,N-dimethyltryptamin, Trivialnamen: CY-39, Indocybin) gehört zur Gruppe derAlkaloide. Es kommt in verschiedenen Pilzen vor, welche landläufig als Zauber-pilze oder Magic Mushrooms bezeichnet werden.

die anderen zehn, die als Kontroll-gruppe fungierten, schluckten ein aktives, ebenfalls zu körperlichenReaktionen führendes, jedoch nicht psychedelisch wirkendes Pla-cebo, das aus 200 Milligramm Nikotinsäure bestand. Dazu kamennoch zehn Begleitpersonen, die ebenfalls zur Hälfte auf Psilocybin,zur andern Hälfte auf Placebo gesetzt wurden. Pahnke wollte zu-nächst die Leitungspersonen aus dem Drogenkonsum herausneh-men, doch Leary widersetzte sich diesem Plan mit dem Argument,man wolle kein »doctor-patient-game« spielen.28

28 Greenfield, Timothy Leary (wie Anm. 14), S. 180.

Am nächsten Mor-gen versammelte sich die Gruppe, schluckte die vorbereiteten Pulverund wartete ab. Trotz der strengen methodischen Testvorkehrungenwußten allerdings nach einer halbe Stunde alle, wer the real thingund wer bloß Nikotinsäure bekommen hatte. Anschließend verla-gerten sich die Teilnehmer in die Marsh Chapel, die auf dem Cam-pus der Boston University steht. Hier wurden sie von Howard Thur-mond, dem afroamerikanischen Pastor und Mentor Martin LutherKings, empfangen. Er begleitete die Gruppe in einen Raum unterhalbder Kapelle, wohin die oben stattfindende »Sacred-Three-Hour-Vigil« per Lautsprecher direkt übertragen wurde. Das »Miracle ofMarsh Chapel« nahm mit Orgelmusik, Chor- sowie Sologesang undBeten seinen Gang.29

29 Walter N. Pahnke, »The Contribution of the Psychology of Religion to the Thera-peutic Use of the Psychedelic Substances«, in: Harold A. Abramson (Hg.), The Use

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of LSD in Psychotherapy and Alcoholism, Indianapolis, New York, Kansas City 1967,S. 629-649, hier S. 634.

Während des Experiments wurden die Versuchspersonen intensivbeobachtet, und unmittelbar danach fand eine ausführliche Be-fragung über ihre Erfahrungen, Erlebnisse, Gedanken und Gefühlestatt. Dies wiederholte sich einige Tage später und dann wiederumnach einem halben Jahr, wobei die Gespräche auf Tonband auf-gezeichnet wurden. Zusätzlich hatten alle Beteiligten ihre Erfah-rungen in einem schriftlichen Bericht festzuhalten. Darüber hinausfüllten sie einen oder zwei Tage nach dem Experiment einen Frage-bogen mit 147 Punkten aus; weitere hundert Fragen folgten anläß-lich des follow-ups sechs Monate später.

Walter N. Pahnke, der das Unternehmen praktisch im Alleingangdurchführte, legte großes Gewicht auf eine fundierte wissenschaft-liche Methodologie. Vorbereitung, Durchführung und Auswertungwurden minutiös und in Übereinstimmung mit medizinischenTestanforderungen geplant. Pahnke stützte sich auf die Methode desRCCT, das heißt des randomized double-blind-controlled clinicaltrial, die sich damals als klinischer state of the art erst gerade etablierthatte.30

30 Noch in Freuds Kokain-Experimenten der Jahre 1884-1887 und in vielen Versu-chen, die im ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhundert unternommenwurden, erfolgten klinische Tests und Drogenversuche bzw. -selbstversuche nacheinem willkürlich-kasuistischen Muster. Man experimentierte mit sich selbst,notierte sich aufmerksam Ergebnisse und bezog, nach Opportunitätskriterien,Freunde und Verwandte mit ein. So ging noch Timothy Leary bei seinen umstrit-tenen LSD- und Psilocybin-Experimenten Anfang der 1960er Jahre an der Har-vard University vor, und dies stellte sich rasch als Problem heraus. Die Verände-rung der methodischen Standards bei klinischen Tests, die damals deutlich sicht-bar wurde, hatte bereits in den 1930er Jahren eingesetzt, als Blindversuche aufka-men; in den 1950er Jahren schließlich setzte sich der Doppelblindversuch durch,bei dem weder die Versuchsperson noch der Experimentator wußten, wer denWirkstoff und wer das Placebo erhalten hatte. Auf diese Weise sollte die Übertra-gung von Erwartungen im experimentellen Setting verhindert werden.

Er kombinierte das Double-blind-Verfahren mit einer minu-tiösen statistischen Auswertung der gewonnenen Daten; er setzteüberhaupt alle Standards einer wissenschaftlichen Objektivierungder Forschungsarbeit ein, die damals zur Verfügung standen. Nichtalle Beobachter fanden diese Doppelblindtest-Methodik angemes-sen. An der im South Oaks Hospital in Amityville (New York) statt-findenden »Second Conference on the Use of LSD in Psychotherapyand Alcoholism« vom Mai 1965, anläßlich welcher Pahnke die Re-

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sultate seines Experiments nochmals zusammenfaßte, bemängeltenmehrere Teilnehmer – unter anderem der Organisator der Tagung –diese Vorgehensweise. James Ketchum vom Chemical Warfare Ser-vice erklärte: »I do believe that double blind procedures are eithertotally impossible or inappropriate to most of the problems underdiscussion.«31

31 James Ketchum, in: Abramson (Hg.), The Use of LSD in Psychotherapy and Alcohol-ism (wie Anm.29), S. 649.

Dabei wurde er von den Organisatoren der Tagung,Frank Fremont-Smith und Harold A. Abramson, unterstützt, diebeide erklärten, es gehe bei vielen Experimenten um ein »psycho-analyzing a person«. Für die Erforschung dieser subjektiven Seiteeigne sich die Methodik eines Doppelblindversuchs allerdings nicht,weil sie für die Beurteilung objektiv meßbarer Ergebnisse, vor allemfür die Quantifizierung von therapeutischen Erfolgen in Patienten-populationen, entworfen worden sei.32

32 Ebd., (Voten von Fremont-Smith und Abramson).

Pahnke sah durchaus das Problem, wie die objektivierende Vorge-hensweise mit dem Ziel des Experiments, nämlich die Erforschungreligiöser Erfahrung und veränderter Subjektivität, vermittelt wer-den könne. Heute würde man von der Schwierigkeit sprechen, eine»Erste-Person-Perspektive« auf eine »Dritte-Person-Perspektive« zubeziehen.33

33 Vgl. etwa Daniel Hell, Seelenhunger. Der fühlende Mensch und die Wissenschaftenvom Leben, Bern u.a. 2003; Wolf Singer, Ein neues Menschenbild? Gespräche überHirnforschung, Frankfurt am Main 2003, S. 49.

Pahnke interessierte sich primär für mystisches Erleben,für tiefe religiöse Erfahrung. Diese setzt er ab von vier anderen »psy-chedelischen Erfahrungen«, nämlich von der psychotischen, derpsychodynamischen, der kognitiven und der ästhetischen.34

34 Walther N. Pahnke/William A. Richards, »Implications of LSD and ExperimentalMysticism«, in: Journal of Religious Health 5/3 (1966), S. 175-208. Pahnke, »LSDand Religious Experience« (wie Anm.26), S. 1; Walter N. Pahnke, »The PsychedelicMystical Experience«, in: Psychedelic Review 11 (1971), S. 3 f. <http://www.druglibrary.org/schaffer/lsd/pahnke2.htm>.

Denfünften Typus, auf welchen er es abgesehen hatte, bezeichnete er als»psychedelic peak, transcendental or mystical«.35

35 Pahnke, »LSD and religious experience« (wie Anm. 26), S. 3.

Er beschrieb dasExperiment, in welchem die Experimentalgruppe diese peak-expe-rience machen konnte, in seiner Dissertation und in verschiedenenAufsätzen und Tagungsbeiträgen. Wie viele andere Experimentato-ren – so etwa auch Abramson – ging Pahnke von der These einer Ra-

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tionalisierung der Gesellschaft und einer »Entzauberung der Welt«durch Modernisierungsprozesse aus. Mystisches, Archaisches, Pri-mitives und Religiöses wurden in eine Analogie gebracht und alsAntithese zu einer rationalisierten, explizierbaren Weltsicht betrach-tet. Pahnke schreibt dazu: »The assumption was made that for expe-riences most likely to be mystical, the atmosphere should be broadlycomparable to that achieved by tribes who actually use natural psy-chedelic substances in religious ceremonies.«36

36 Pahnke in: Abramson (Hg.), The Use of LSD in Psychotherapy and Alcoholism (wieAnm.29), S.634.

Die Teilnehmerin-nen und Teilnehmer führten sich also während der Explorationanderer Zustände in der Kapelle wie ein »Stamm« auf, der im Aktseiner Vergemeinschaftung in neue Bewußtseinssphären vorstieß.Der performative Widerspruch bestand darin, daß dieses mystischeErleben empirisch untersucht und quantifiziert werden mußte. Fürdie Operationalisierung des Phänomens teilte Pahnke das ekstati-sche religiöse Bewußtsein in neun Variablen ein, die er auch »univer-selle Charakteristika« nennt und auf die er später immer wiederBezug nehmen wird: 1.Einheit, 2.Transzendenz in Raum und Zeit,3. eine tief gefühlte positive Stimmung, 4. ein Sinn für das Heilige,5. die intuitive Einsicht in die Wirklichkeit des Innenlebens (die»noetische Qualität«), 6.die Paradoxie (einer Identität oppositionel-ler Pole), 7. die angebliche Unbeschreiblichkeit, 8. Vergänglichkeitund 9. eine nachhaltige Wirkung auf Verhalten und Umgang mitanderen.37

37 Vgl. die Tabellen ebd., S. 636 f.

Der Vergleich zwischen Experimental- und Kontroll-gruppe zeigte nur geringe Abweichungen bei der Empfindung vonHeiligkeit, bei der tief gefühlten Stimmung der Liebe sowie bei derpositiven Einstellungsveränderung gegenüber anderen und gegen-über dem Experiment selber. Bei allen andern Variablen zeigten sichhingegen signifikante Unterschiede.

Für Pahnke machten die Ergebnisse klar, daß es möglich ist, Dro-gen für mystische Erfahrungen zu nutzen, und daß der Experimen-talkontext sowie die Dosierung des Stoffes entscheidend sind fürderen Qualität und Intensität. Er ging davon aus, daß die Stabilisie-rung religiöser Erfahrung nur gelingt, wenn sie in eine liturgischeStruktur und in sakrale Rituale eingebunden ist. Die Auswahl derProbanden zeigt, daß Mystik nicht gleichsam out of nothing ins Be-wußtsein beliebiger Menschen treten kann, daß vielmehr bestimmte

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Voraussetzungen, ein Vorwissen um das Anzustrebende, eine religi-ös-rituelle Erfahrung, ein bereits vorhandenes Zusammenspiel vonpersönlichem Erfahrungsraum und überindividuellem Erwartungs-horizont nötig sind, um den »profound emotional impact«,38

38 Pahnke, »LSD and Religious Experience« (wie Anm. 26). In diesem Buchkapiteldiskutiert Pahnke das Good-Friday-Experiment. Download <http://www.druglibrary.org/schaffer/lsd/pahnke3.htm>, S. 4.

welchedie Substanz auflöst, aufnehmen und ausleben zu können. War dieseBedingung allerdings erfüllt, konnte der Weg zur mystischen Er-fahrung, die nicht unbedingt mit einer religiösen zusammenfallenmußte, durch Drogenkonsum nicht nur abgekürzt, sondern dasErlebnis in präzedenzloser Weise verdichtet werden. Für Kundigegab es also Abkürzungsstrategien. Nicht aber für Normalverbrau-cher. Pahnke erklärte 1967 in einem Aufsatz über »LSD und religiöseErfahrung«, es sei »a misconception that LSD is the magic answer toanything« und er wies auf die Gefahren hin, die mit einem »un-supervised and unskilled use« bewußtseinsverändernder Drogenverbunden sind – er sprach von »psychiatric casualties«.39

39 Ebd., S. 11, S. 9.

Dies gabihm vor allem deshalb Anlaß zur Sorge, weil er eine rasche Ausbrei-tung von psychedelischen Drogen konstatierte. Deshalb interessier-te er sich nun auch für die Rolle, welche die »psychedelic churches«spielen könnten, und nannte als die vier wichtigsten The League forSpiritual Discovery, The Neo-American Church, The Native AmericanChurch, The Church of the Awakening. Diese Religionsgemeinschaf-ten versuchten auch nach 1966 den legalen Rahmen für die Ein-nahme von LSD, Meskalin und Psilocybin im Namen der Religions-und Kultfreiheit zu verteidigen sowie stimmige institutionelle undemotionale Rahmenbedingungen für die Einnahme solcher Sub-stanzen anzubieten; sie müßten – so Pahnke – aber umgekehrt auchmehr über die Drogenwirkung lernen und dafür seien weitere, wis-senschaftlich kontrollierte Experimente nötig.40

40 Ebd., S.8.

3. Experimente zwischen psychedelischer Esoterikund wissenschaftlicher Expertise

Pahnkes Dissertation, die 1963 unter dem Titel Drugs and Mysticism:An Analysis of the Relationship between Psychedelic Drugs and the

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Mystical Consciousness erschien,41

41 Pahnke, Drugs and Mysticism (wie Anm. 24).

wurde von Timothy Leary und Ri-chard Alpert betreut. Leary experimentierte unter unklaren Vor-aussetzungen mit LSD und hatte damals gerade das Harvard Psilocy-bin-Project abgeschlossen, das im März 1962, also kurz vor demGood-Friday -Experiment, von anderen Experten aufgrund seinerdiffusen Methodik massiv kritisiert wurde. Die Tatsache, daß Learyund Alpert 1962 die Universität verlassen mußten, hing auch da-mit zusammen. Alpert schloß sich der New-Age-Bewegung an undnannte sich fortan Baba Ram Dass. Leary bemühte sich zunächstnoch um wissenschaftliches Renommee, was sich z.B. in einem For-schungsbericht zeigt, den er 1965 zusammen mit Ralph Metzner,Madison Presnell, Gunther Weil, Ralph Schwitzgebel und SarahKinne in der Zeitschrift Psychotherapy veröffentlichte.42

42 Timothy LearyRalph Metzner/Madison Presnell/Gunther Weil/Ralph Schwitzge-bel/Sarah Kinne, »A New Behavior Change Program Using Psilocybin«, in: Psycho-therapy 2/2 (1965), S. 61-72. Zu diesem Programm vergleiche auch: Greenfield,Timothy Leary (wie Anm. 14), S. 148-153; Higgs, I Have America Surrounded (wieAnm. 22), S. 33-35.

Berichtetwurde hier vom »Prisoner Rehabilitation Program«, das die Forscherzwischen Januar 1961 und Januar 1963 in der Massachusetts Correc-tional Institution in Concord, einem Hochsicherheitsgefängnis fürjunge Straftäter, durchgeführt hatten. Ziel war die Senkung derRückfallquote durch eine Verbesserung der mental health und eineVeränderung der Persönlichkeit von Schwerkriminellen durch Dro-generfahrung. Für dieses Experiment wurden fünf konsekutive Pro-grammschritte konzipiert, Fallgeschichten dargestellt und statisti-sche Auswertungsmethoden diskutiert. Die Autoren betonen, daßihr Ansatz nicht medizinisch, sondern »existenziell« sei; es gehenicht um Heilung und Krankheit, sondern um die Veränderung von»Verhaltensspielen« (behavioral games).43

43 Leary u.a., A New Behavior Change Program (wie Anm. 42), S. 64.

Als wichtigstes Ergebniswird die substanzielle Abnahme der Zahl von Rückfälligen andert-halb Jahre nach Abschluß des Programms hervorgehoben44

44 Ebd., S. 69.

– einResultat, das 1998 von Rick Doblin, dem Gründer der Multidisci-plinary Association of Psychedelic Studies, in einem follow-up desExperiments mit ehemaligen Teilnehmern und weiteren Beobach-tungen grundlegend in Frage gestellt wurde. Leary und seine Mitar-

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beiter hatten grundlegende Statistikfehler gemacht und später (1973)die Primärdaten vernichtet.45

45 Greenfield, Timothy Leary (wie Anm. 14), S. 152 f.

Die weiteren Publikationen Learysverflüchtigen sich dann in die kybernetische Esoterik und psychede-lische Exotik; er hatte den wissenschaftlichen Mainstream der For-schung verlassen und wurde alsbald durch die Strafverfolgungsbe-hörden, die nun gegen Drogenkonsum vorging, eingeholt. 1977publizierte er das im Gefängnis verfaßte »haßtriefende Pamphlet«Neuropolitics, in dem er sich verschwörungstheoretischer und antise-mitischer Stereotypen bedient, um mit der Pop-Generation abzu-rechnen.46

46 Timothy Leary, Neuropolitics. The Sociobiology of Human Metamorphosis, Los An-geles 1977. Die treffende Qualifikation findet sich bei Amendt, Die Legende vomLSD (wie Anm.2), S.80 f., der auch betont, daß in der später publizierten Autobio-graphie alles »wieder ganz anders« töne (S.81), und die innovativen ÜberlegungenLearys würdigt.

Man kann also die beginnenden 1960er Jahre als eine wichtigeVerzweigung sehen; es gab Forscher, welche in der gesellschaftlichenAufbruchstimmung, die sich nun Bahn brach, psychedelisch abdrif-teten, während andere um so konsequenter akademische Spielregelneinzuhalten und ihre wissenschaftliche Reputation zu bewahren ver-suchten. Das Bemühen um methodologische Perfektion und minu-tiöse Auswertung der Resultate, das Pahnke in seinem Experimentvon 1962 an den Tag legte, war ein erfolgreicher Versuch, solche Vor-würfe auszuhebeln.47

47 Harry M. Marks, The Progress of Experiment. Science and Therapeutic Reform in theUnited States, 1900-1990, Cambridge, New York 1997. Vgl. auch: Dyck, »Flash-back« (wie Anm.7), S. 1.

Walter Houston Clark – der 1961 von derAmerican Psychological Association den William James MemorialAward für Beiträge der Religionspsychologie erhalten hatte und alsunbestrittene Kapazität auf diesem Gebiet galt – beschrieb späterPahnkes Experiment folgendermaßen: »There are no experimentsknown to me in the history of the scientific study of religion betterdesigned or clearer in their conclusions than this one.«48

48 Walter Houston Clark, Chemical Ecstasy. Psychedelic Drugs and Religion, New York1969, S. 77. Daß Pahnke einiges an seinem Experiment beschönigend dargestellthat, weist Rick Doblin im unten zitierten Evaluationsbericht nach.

Da die gesamten Rohmaterialien des Experiments verloren gin-gen, wissen wir über viele Details nur aufgrund eines weiteren fol-low-ups Bescheid, welches Rick Doblin Ende der 1980er Jahre (also

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ein Jahrzehnt bevor er sich vernichtend über Learys Gefängnis-Ex-periment äußerte) unternahm.49

49 Vgl. dazu: Rick Doblin, »Pahnke’s ›Good Friday Experiment‹. A Long Term Fol-low-Up and Methdological Critique«, in: The Journal of Transpersonal Psychology23/1 (1991), S. 1-28. <http://www.druglibrary.org/schaffer/LSD/doblin.html>.

Mittels detektivischer Recherchengelang es ihm, neun Versuchspersonen der Kontrollgruppe und sie-ben der Experimentalgruppe ausfindig zu machen und zwischen1986 und 1989 nochmals zu interviewen. Daraus resultierte eine kri-tische Würdigung des Experiments. Doblin warf Pahnke vor, erhabe einem sich nicht regelkonform aufführenden Teilnehmer eineThorazinspritze appliziert (ein Neuroleptikum mit sedierender Wir-kung, das er für den Fall, daß unkontrollierbare Reaktionen auftre-ten sollten, in Griffweite hatte), diesen Vorfall aber in der Auswer-tung des Experiments und in seiner Dissertation nicht erwähnt,wohl weil er fürchtete, dies könnte von Kritikern aufgebauscht wer-den. Auch habe Pahnke die psychischen Schwierigkeiten, die vieleTeilnehmer vor allem in der Anfangsphase des Experiments hatten,unterschätzt und jedenfalls nicht genügend in die Bewertung einbe-zogen. Gleichzeitig nimmt Doblin aber Pahnke gegen Kritiker wieR. C. Zaehner50

50 Robert C. Zaehner, Zen, Drugs and Mysticism, New York 1972.

in Schutz und zeigt auf, daß dessen Einwände aufeiner ungenauen Lektüre der Ergebnisse des Experiments beruhen.Doblin spricht von »one of the preeminent psychedelic experimentsin the scientific literature«.51

51 Doblin, »Pahnke’s ›Good Friday Experiment‹« (wie Anm. 49), S. 15. Weil Doblinals Promotor von psychedelic research auftritt, wird seine Evaluation allerdings auchals Teil einer Lobbying-Kampagne bezeichnet.

Doch auch Pahnke verspürte nach 1962 Gegenwind; ein zweitesExperiment wurde nicht mehr bewilligt, worauf er am Massachu-setts Mental Health Center neue Forschungsmöglichkeiten fand.52

52 Darüber berichtet er z.B. in: Pahnke, »LSD and religious experience« (wieAnm.26), S.4 f.

Als er 1965 anläßlich der genannten »Second Conference on the Useof LSD« seine Forschungsergebnisse präsentierte, hatte sich das Blattgewendet. Noch unterhielten sich zwar die 26 an dieser Konferenzversammelten Psychiater aus Amerika und Europa angeregt überdrogenbasierte Erfahrungen und Therapien. Doch LSD war zu die-sem Zeitpunkt für klinische und andere Experimente bereits nichtmehr erhältlich, und nach der Illegalisierung ein Jahr darauf begannder Schwarzmarkt für den Stoff zu florieren. In diesem neuen Kon-

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text schien es alsbald eine verheißungsvolle Perspektive zu sein, reli-giöse Erleuchtung gleichsam gehirnchemisch zu produzieren undauf instant mysticism zu setzen. Daß Albert Hofmann in seinemautobiographischen Rückblick LSD als sein »Sorgenkind« bezeich-nen sollte, hängt mit der Erkenntnis zusammen, daß psychedelischeDrogen im Verlaufe der 1960er Jahre zunehmend vom Medium füranspruchsvolle Selbstexploration zu banalen Unterhaltungsstoffenmit trivialer Erfahrungsqualität zu werden drohten.53

53 Hofmann, LSD – mein Sorgenkind (wie Anm. 13). Von einer Verschiebung vomWillen zur Selbstexploration zum Wunsch nach Unterhaltung sprechen auch Bau-meister/Placidi, »A Social History and Analysis of the LSD Controversy« (wieAnm. 11). Ein anders gelagerter Versuch, das Bewußtsein aus vorgegebenen Reiz-mustern herauszulösen und dadurch zu »entgrenzen«, wurde vom Biophysiker undNeuropsychologen John C. Lilly mit seinen Isolations- und Floating-Tanks ent-wickelt. Lilly berichtet später in verschiedenen Publikationen über seine Experi-mente, u.a. in: John Cunningham Lilly, Programming and Metaprogramming in theHuman Biocomputer Theory and Experiments, Miami 1968; John CunninghamLilly, The Scientist. A Metaphysical Autobiography, Berkeley 1988. Zu Lilly vgl. auch:Birgit Griesecke, »Einleitung«, S. 53-55 und »Kommentar«, S. 89 in: Pethes u.a.(Hg.), Menschenversuche (wie Anm. 1).

4. ›Mind control‹: Militärische Phantasmenund Verschwörungstheorie

War für Leary und andere das LSD ein potentes Mittel, um die Bar-rieren, welche gesellschaftliche Konventionen gegen ein radikal ent-grenztes Bewußtsein aufrichteten, zu durchstoßen, so sahen militä-rische pressure groups darin umgekehrt ein Medium für mind control.Jedenfalls lassen sich in diesem Bereich viele geheimdienstliche Ini-tiativen und militärische Interessen konstatieren, so daß sich sagenläßt, daß Experimente mit Drogen durch die Konstellation des Kal-ten Krieges angeregt wurden, im Kontext von 1968 jedoch eine sub-versive Bedeutung erlangten.54

54 Vgl. etwa John Lillys Neunpunkt-Liste nicht akzeptierbarer Praktiken der Meta-programmierung von Menschen, die genau mit dem übereinstimmt, was bei einerGehirnwäsche üblich war. Diese neun Ausschlußkriterien werden diskutiert bei:Rüdiger Lutz, »John C. Lilly – Pionier der Bewußtseinsforschung«, in: ders. (Hg.),Bewußtseins-(R)evolution. Veränderungsmodelle von Gregory Bateson, Robert Jungk,Fritjof Capra, Marilyn Ferguson, Stanislav Grof, John C. Lilly, Charlene Spretnaku.a., Weinheim 1983, S. 126 f.

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Zu Beginn der 1950er Jahre begann das bipolare Freund-Feind-Schema der Blockkonfrontation gerade seine volle Wirkung zu ent-falten. Damals führte die CIA – in Fortsetzung von Anstrengungen,die weiter zurückreichten – Mind-control-Projekte durch.55

55 Vgl. Rebekka Lemov, »The Birth of Soft Torture. CIA-Interrogation Techniques –A History«, in: Slate, 16. November 2005 <http://www.slate.com/id/2130301?nav=wp>; John Buckman, »Brainwashing, LSD, and CIA: Historical and Ethical Per-spective«, in: International Journal of Social Psychiatry 23 (1977), S. 8-19; MarcusKrause, »Einleitung Sektion 3 ›Kontrollieren‹«, in: Pethes u.a. (Hg.), Menschenver-suche (wie Anm.1), S. 175-200; John Marks, The Search for the »Manchurian Candi-date«. The CIA and Mind Control. The Secret History of the Behavioral Sciences, NewYork 1978; Dominic Streatfeild, Brainwash. The Secret History of Mind Control,London 2006.

Die 150wichtigsten liefen ab 1953 unter dem Code-Namen MK-ULTRA.Dazu gehörten auch verdeckte Drogenexperimente.56

56 Später erhielten die Programme auch andere Namen.

Als diese ge-heimen, über komplex verschachtelte Institutionen finanzierten Pro-jekte aufgedeckt wurden und ruchbar wurde, daß auch wichtige Ex-ponenten der Bewußtseins-Experimentierszene Geheimdienstgelderangenommen hatten, wurden – im Anschluß an den Watergate-Skandal von 1974 – zwei parlamentarische Kommissionen gebildetund verschiedene Hearings angeordnet, welche die nötige Aufklä-rung liefern sollten.57

57 Fran Mason, »Mind Control«, in: Peter Knight u.a. (Hg.), Conspiracy Theories inAmerican History (wie Anm. 4), S. 491.

Berühmt wurde vor allem der Abschlußbe-richt des Kongress-Komitees unter der Leitung von Frank Church,der sogenannte Church-Bericht von 1976. Darin wird u.a. vermerkt:

Between 1955 and 1958 research was initiated by the Army Chemical Corpsto evaluate the potential of LSD as a chemical warfare incapacitating agent.In the course of this research, LSD was administered to more than 1000American volunteers who then participated in a series of tests designed toascertain the effects of the drug on their ability to function as soldiers.58

58 US Congress, The Select Committee to Study Governmental Operations with Respectto Intelligent Activites, Foreign and Military Intelligence (Church Committee Re-port), Report Nr. 94-755, 94th Congress, 2nd Session, Washington D. C. 1976(Church-Bericht), S.412 <http://www.aarclibrary.org/publib/church/reports/book1/contents.htm>.

Im Fokus der CIA-Programme stand die Entwicklung eines »Wahr-heitsserums«. Die Versuchsserien lassen darauf schließen, daß maneine Zeitlang der Auffassung war, mit LSD diesem Ziel nahe zu

358

sein.59

59 Lemov, »The Birth of Soft Torture« (wie Anm. 55).

Bei diesen Experimenten kamen auch Menschen zu Tode,wobei nur ein Fall – jener von Frank Olsen, der 1953 verstarb – doku-mentarisch verbürgt ist.60

60 Church-Bericht, Kapitel 2, S. 394-399. Allerdings konnte der Fall bisher nichtvollständig geklärt werden; die im Chruch-Bericht geäußerte These, der Tod habein direktem Zusammenhang mit einem LSD-Experiment gestanden, wurde späterin Frage gestellt.

Eine für die CIA wichtige – und berüchtigt gewordene – Experi-mentalanordnung wurde im nahen Ausland, im McGill-Universi-tätsspital in Montreal, aufgebaut. Hier entwickelte der damals inter-national renommierte Psychiater Ewen Cameron seit den frühen1950er Jahren eine Technik, die er psychic driving nannte und diedarin bestand, das »Selbst« eines Menschen vollständig durch Me-thoden der sensorischen Deprivation, durch serielle Elektroschocks,systematische Desorganisation des Tagesablaufs, Einwirkung vonLärm und Stimmen, sowie mittels Drogen wie LSD, Sodium, Amy-tal und Desoxyn zu brechen.61

61 Vgl. Lemov, »The Birth of Soft Torture« (wie Anm. 55), S. 2; Naomi Klein, DieSchock-Strategie. Der Aufstieg des Katastrophen-Kapitalismus, Frankfurt am Main2007, Kapitel 1, S. 41-74; Thomas Gordon, Journey into Madness. Medical Tortureand the Mind Controllers, London u.a. 1988.

1958/59 wurden diese experimentel-len Methoden auf nochmals härtere Zielvorgaben hin ausgerichtet.Involviert waren 53 psychisch kranke Patienten, die »depatterned« –umprogrammiert – werden sollten. Es ging um das komplette break-ing der Persönlichkeit mit anschließender Rekonfiguration. Wennein Individuum kein Gedächtnis mehr hat und von seiner Lebensge-schichte völlig abgeschnitten ist, wenn es selbst elementare Lebens-verrichtungen wie Essen oder auf die Toilette gehen »verlernt« hat,dann beginnt der Experimentator, »Heilungsangebote« zu machen,die darauf angelegt sind, diesen Menschen mit einer verändertenIdentität gleichsam neu starten zu lassen. Die CIA und die Armeeinteressierten sich für dieses völlige Auslöschen und Umprogram-mieren eines Individuums, weil sie davon ausgingen, daß der kom-munistische Gegner solche Techniken bereits beherrsche und raffi-niert gesteuerte Zombies auf die Reise schicken könne mit dem Ziel,Sabotageakte durchzuführen oder pharmakologische Apostaten aufden Bildschirmen in Erscheinung treten zu lassen.

Der zitierte Church-Bericht von 1976 zeichnete die Genese dieser

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psychophyischen Experimentalsysteme ebenso nach wie deren glo-balpolitischen Hintergrund. Es wird hier festgehalten:

The late 1940s and early 1950s were marked by concern over the threat posedby activities of the Soviet Union, the Peoples Republic of China, and otherCommunist bloc countries. United States concern over the use of chemicaland biological agents by these powers was acute. The belief that hostilepowers had used chemical and biological agents in interrogations, brain-washing, and in attacks designed to harass, disable, or kill Allied personnelcreated considerable pressure for a ›defensive‹ program to investigate chemi-cal and biological agents so that the intelligence community could under-stand the mechanisms by which these substances worked and how theireffects could be defeated.62

62 Church-Bericht (wie Anm. 58), S. 392.

Es läßt sich also sagen, daß die Konstellation des Kalten Kriegesantikommunistische Feindbilder plausibilisierte, die es wiederumangezeigt erscheinen ließen, Abwehrmaßnahmen zu ergreifen unddie Strategie des containment auch auf dem chemisch-biologischenSektor voranzutreiben. Die Bedrohungsperzeption der CIA weist da-bei – wie die mentale Konfiguration des Kalten Krieges insgesamt –eine ausgeprägt phantasmatische Dimension auf. Der imaginierteFeind bekam seine schreckerzeugenden Konturen in Worst-case-Sze-narien; der innere Wunsch, das bedrohliche Außen auszulöschen,reproduzierte sich so in einer autistischen Wahrnehmungsstruktur,die wiederum ein manichäisches Weltbild und den Wunsch nachsicheren Grenzen unterstützte. Das Böse griff systematisch von au-ßen an, während das Gute von innen her verteidigt werden mußte.Auch Drogen wurden zum Aspekt einer psychologischen Kriegsfüh-rung. Gerade der »freie Westen« war auf dem Weg in die Konsum-und Freizeitgesellschaft anfällig für eine gegnerische Low-intensity-Strategie. Dazu gehörte die Einschleusung zersetzender Substanzen,die einen Angriff von außen vorbereiten konnten.

Daß diese Bedrohungswahrnehmung von solcher Dauer war,hing mit ihrer symmetrischen Anlage zusammen: Aus einer solchenFeindbildkonstruktion konnten in der Konstellation des Kalten Krie-ges beide Blöcke Nutzen ziehen; die Blockkonfrontation kann des-halb – wie Mary Kaldor vorgeschlagen hat – als ein hoch riskanter,jedoch durchaus funktionaler joint venture charakterisiert werden,der den US- und UdSSR-Interessen gleichermaßen entsprach und

360

den jeweiligen nach innen gerichteten Stabilisierungs- und Inte-grationsstrategien zum Erfolg verhalf.63

63 Vgl. Mary Kaldor, Der imaginäre Krieg. Eine Geschichte des Ost-West-Konflikts,Hamburg 1992.

Verschwörungstheoretikerdrehten weiter an dieser Schraube der eingebildeten Bedrohung. Siegingen davon aus, der Feind sei längst im Innern präsent. So wurdendie Mind-control-Projekte der CIA, die sich gegen den äußeren Feindrichteten, unter der Hand zu einem Dispositiv der Bewußtseinskon-trolle im Inneren Amerikas. Mind control hieß nun der geheime Ploteiner raffiniert herrschenden Clique, die auch daran interessiert war,junge, militante Dissidenten in passive und friedliche Aktionsfor-men abzudrängen; statt lauthals zu protestieren, sollten sie als poli-tisch neutralisierte Hippies Make love, not war propagieren und aufder wunderschönen Wolke eines psychedelischen Rausches von derBildfläche verschwinden. Aus dieser Perspektive war es nur konse-quent, in Timothy Leary und weiteren Wissenschaftlern, die in den1950er und 1960er Jahren mit Drogen experimentierten, gut getarn-te Agenten des eigenen oder des gegnerischen Geheimdienstes zusehen.

5. Von der phantastischen Kybernetikzum biologischen Realismus

Nach dem Zweiten Weltkrieg zeigten sich in den USA, aber auch ineuropäischen Ländern konzeptionelle und kognitive Gemeinsam-keiten zwischen mind control, re-education, kybernetischen feedbacksund der psychedelischen Drogenerfahrung. Diese verschiedenenWissensfelder, Forschungsbereiche und Handlungskontexte teiltenbasale Konzepte von Bewußtsein und Persönlichkeit, was die Zir-kulation von Erkenntnissen und Vorstellungen anregte und unter-stützte. Die Kybernetik trieb seit den ausgehenden 1940er Jahrenden strukturfunktionalistischen Paradigmenwechsel in der Sozial-theorie voran und versprach neue, gesamtgesellschaftlich umsetz-bare Kontroll- und Steuerungsstrategien. Diese sollten Individuenauf neue gesellschaftliche Zielvorgaben und Strukturmuster einstel-len.64

64 So ergaben sich bemerkenswerte Übereinstimmungen zwischen dem Re-educa-tion-Programm der US-Army in Europa und den zwischen 1946 und 1953 stattfin-

Darin wurden kybernetische Ansätze vom Behaviorismus un-

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denden Macy-Konferenzen, welche die Kybernetik gesellschaftlich relevant ma-chen wollten. Vgl. Claus Pias (Hg.), Cybernetics – Kybernetik. The Macy-Conferences1946-1953, Bd. 1, Zürich, Berlin 2003; ders. (Hg.), Cybernetics – Kybernetik. TheMacy-Conferences 1946-1953, Bd. 2, Zürich, Berlin 2004. Zur Geschichte der Ky-bernetik vgl. auch: Hagner/Hörl, (Hg.), Die Transformation des Humanen (wieAnm.6).

terstützt, der das menschliche Verhalten systematisch als kontrollier-bar ansah und nach Formen einer »operanten« – über Belohnungauf das Verhalten zurückwirkende – Konditionierung suchte.65

65 Vgl. Burrhus Frederic Skinner, About Behaviorism, New York 1974.

ImGefolge der transdisziplinären Macy-Konferenzen, die zwischen1946 und 1953 stattfanden (und die auch, wie erwähnt, LSD zumThema hatten), wurden solche Konzepte auf unterschiedlichste ge-sellschaftliche Anwendungsbereiche und technische Umsetzungs-formen hin diskutiert.66

66 Pias, Cybernetics, Band 1; ders., Cybernetics, Band 2 (beide wie Anm. 64).

Verband sich Kybernetik auf der einen Seitemit der Vision einer umfassend normalisierten und voll adaptiertenGesellschaft – wie sie etwa, auf behavoristischer Grundlage, in Skin-ners utopischem Roman Walden Two aus dem Jahre 1945 (vor)ge-zeichnet wird67

67 Huxley war in Brave New World sensibilisierter für totalitäre Dynamiken als etwaB.F. (Burrhus Frederick) Skinner, der die Frage nach »freedom and control« zwarstellt, jedoch mit der behavioristischen Versicherung weglegt, der Verzicht aufBestrafung könne »das Gefühl von Freiheit steigern«.

–, so transportierte sie auf der anderen Seite auch dasVersprechen einer Befreiung des Bewußtseins. Sie verstand sich alswirksames Moment einer geistigen Befreiungsbewegung, die überRückkoppelungsschlaufen selbstgesteuerte Lernprozesse in Rich-tung erweiterter individueller und gesellschaftlicher Freiheitsgradeauslösen konnte.68

68 Exemplarisch dafür war der Versuch einer Kybernetisierung der »chilenischenRevolution« zu Beginn der 1970er Jahre. Dabei sollten die Regierungsfunktionensystematisch optimiert werden mittels ausgeklügelter Informations-Feedbacks. Imangestrebten gesellschaftlichen Transformationsprozeß, der die Nationalisierungdes Finanz- und Industriesektors sowie des Bodens vorsah, sollte die Rationalitätwirtschaftspolitischer und unternehmerischer Entscheidungen nicht durch enga-gierte revolutionäre Politiker, sondern durch eine distanzierte »automatische«Regierung sichergestellt werden. 1973 wurde dieses Experiment durch einen vonden USA unterstützten Militärputsch blutig zu Fall gebracht. Einen Überblickgibt: Stafford Beer, Fanfare for Effective Freedom. Cybernetic Praxis in Government,1973 <http://www.staffordbeer.com>. Vgl. auch: Claus Pias, »Der Auftrag. Kyber-netik und Revolution in Chile«, in: Daniel Gethmann, Markus Stauff (Hg.), Poli-tiken der Medien, Berlin 2004, S. 131-153.

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Die dystopische Antizipation einer kybernetischen Kontrolluto-pie findet sich in Aldous Huxleys Brave New World aus dem Jahre1932. In dieser Parabel des Paradise-Engineering werden Theorienpolitischer Verführung mit neuen Konzepten biotechnologischerMachbarkeit verbunden.69

69 Aldous Huxley, Brave New World, hg. von Dieter Hamblock, Stuttgart 1999.

Mit der Exorzierung von Leiden undMitleid aus einer Gesellschaft ist auch die Vorbedingung für Ge-rechtigkeitsempfinden und für eine Haltung, die Ungerechtigkeitbekämpft, verschwunden. Alle Probleme, die mit Protest, sozia-ler Unrast, politischen Emanzipationsbestrebungen und materiellenForderungshaltungen zu tun haben, sind gelöst. Das politisch-tech-nisch hergestellte Paradies ist von emotionaler Teilnahmslosigkeitcharakterisiert. Allen geht es gut, alle sind zufrieden und ergabensich in das Schicksal, das die »Schöne Neue Welt« für sie vorgesehenhat. Restschwierigkeiten werden mit einer Psychopharmakologisie-rung des Alltags aus der Welt geschafft. Sämtlichen Bewohnern stehteine massenhaft produzierte, perfekte Designerdroge mit der Be-zeichnung »Soma« zur freien Verfügung. Soma wird in unterschied-licher Form, z.B. wie Zucker zum Kaffee serviert und steigert dasGlück am Gehorsam. Soma ist frei von störenden Nebenwirkungen,ein schnelles Vehikel für »chemische Ferien«, ein flächendeckendesMedium für effiziente mind control.

Die anpassungsgetrimmten Normopathen, welche die »SchöneNeue Welt« bevölkern, sind die Gegenthese zum Menschen, der sichselber verwirklicht. Die Droge Soma errichtet eine undurchdring-bare Wand zwischen funktionstüchtigen Menschen und den unend-lichen Bewußtseinsräumen, in die hinein sie sich entfalten könn-ten. Huxley hält sich deshalb persönlich an Drogen, die das genaueGegenteil von Soma darstellen. Psychedelica sollen altered statesermöglichen, sie fungieren als chemische »Bewußtseinsmodifikato-ren«, die ein »Paradies unverstellter Wahrnehmung« öffnen.70

70 Michael Horowitz/Cynthia Palmer (Hg.), Moksha. Aldous Huxley’s Classic Writingson Psychedelics and the Visionary Experience, South Paris 1999. Die beiden zitiertenBegriffe stammen, wie alle weiteren Huxley-Zitate, aus der deutschen Überset-zung: Aldous Huxley, Die Pforten der Wahrnehmung. Himmel und Hölle. Erfahrun-gen mit Drogen, München 1981; hier S. 49, S. 43.

In sei-nen 1954 bzw. 1956 publizierten Essays »The Doors of Perception«und »Heaven and Hell« beschreibt Huxley solche Erfahrungen. Ergeht hier davon aus, daß das Gehirn als Kontrollapparatur und Re-

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duktionseinrichtung funktioniert. So schreibt er in »Pforten derWahrnehmung« die »Funktionen des Gehirns, des Nervensystemsund der Sinnesorgane« seien »hauptsächlich eliminierend«. Zwarverfüge »potentiell jeder von uns über das größtmögliche Bewußt-sein«. Doch um uns als »lebenden Wesen« das »biologische Überle-ben zu ermöglichen, muß das größtmögliche Bewußtsein durch denReduktionsfilter des Gehirns und des Nervensystems hindurchflie-ßen. Was am anderen Ende herauskommt, ist ein spärliches Rinnsalvon Bewußtsein, das es uns ermöglicht, auf ebendiesem unseremPlaneten am Leben zu bleiben«.71

71 Ebd., S. 19 f. Diese Sicht ist stark durch die Vorstellung eines »larger consciousness«beeinflußt, die William James in seiner 1902 veröffentlichten, einflußreichen Stu-die zur »Vielfalt der religiösen Erfahrung« entwickelt hatte (vgl. Frankfurt am Main1997). Einen weiteren philosophisch-epistemologischen Anknüpfungspunkt botHenri Bergsons These, daß Leben unmöglich wäre, wenn die Myriaden von Rei-zen, welche ständig auf die Sinne einwirken, ungefiltert auf den Organismuseinwirkten. Diese Annahme führte zur Frage, nach welchen Kriterien die Filterund Selektionsmechanismen funktionieren, damit strukturierte Lebensprozesse inGang gehalten werden (vgl. dazu: Vladimir Jankelevitch, Henri Bergson [1931],Paris 1959).

Viele Bewußtseinsforscher der Nachkriegszeit waren von der Ideefasziniert, die ganze Batterie von Filtern und die gut geschützteHierarchie von Bewußtseinskontrollen könnte sich durch medita-tive Praktiken, durch religiöse Erlebnisse oder mittels entsprechendwirkender »chemischer Substanzen«72

72 Huxley, Die Pforten der Wahrnehmung (wie Anm. 70), S. 68.

schachmatt setzen lassen. Diesbot auch Raum für hintergründige Vermutungen. Von Huxleys pla-stisch-phantastischer Bewußtseinskonzeption ist es nur ein Schrittzu Konspirationstheorien, welche die Frage nach dem Cui bonovon Bewußtseinsveränderungen stellen, um dann messerscharf zuschließen, die herrschende Realitätsmatrix sei Resultat einer ab-sichtsvollen Verstellung der Machtverhältnisse und als solche derFunktionsmodus eines hintergründigen Komplotts. Solche Ver-schwörungstheorien sind widerlegungsresistent. Tatsachen könnenihnen nichts anhaben, im Gegenteil, ihre willkürliche Gemachtheitund ihre Deutungsoffenheit produzieren permanent die Illusionneuer »Fakten«,73

73 Im Unterschied zum Gegegebenen (Datum) sind Fakten das Gemachte (Faktum).

die als »das Gemachte« einer Logik hermetischerEvidenzstiftung unterliegen. Konspirative Welterklärungen weisendeshalb die Tendenz auf, den für sie konstitutiven »Dahinterismus«

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zu radikalisieren und die dunklen Mächte nicht mehr nur beimäußeren Feind zu suchen und damit zu exterritorialisieren, sondernim eigenen Land zu orten.74

74 Vgl. Eva Horn/Anson Rabinbach (Hg.), Dark Powers. Conspiracies and ConspiracyTheory in History and Literature. New German Critique 35 (2008), Nr. 1 103.

Anstatt von einer angsteinflößenden, unsichtbaren Macht kannaber auch vom Wunsch nach undenkbaren Möglichkeiten ausge-gangen werden. Das Argument lautet dann, daß ein Bewußtsein,welches nahezu beliebig manipulierbar ist, sich gerade deshalb auchauf Neues, Nie-Dagewesenes hin öffnen und »außergewöhnlicheBewußtseinserfahrung« machen kann.75

75 Vgl. etwa (mit Rückblick auf die 1960er Jahre): Stanislav Grof, Impossible – WennUnglaubliches passiert. Das Abenteuer außergewöhnlicher Bewusstseinserfahrungen,München 2006.

Da dieses durch das Nor-malbewußtsein nicht antizipierbar ist, kann nur das Selbstexperi-ment weiterhelfen. Aus Aldous Huxleys Sicht sollten diese riskantenExpeditionen in spirituelles Neuland einer elitären Gruppe daraufeingestimmter Künstler und Intellektueller vorbehalten sein. Sein»demokratischer« Gegenspieler Timothy Leary entwarf hingegen einekybernetische Theorie der Wirklichkeit, die diese als sozial synchro-nisierte Täuschung darstellte. Bewußtseinsmodi sind für Leary mitder spezifischen Funktionsweise neuronaler Schaltkreise korreliert.Er unterscheidet insgesamt acht interdependente, auf einer Frei-heitsskala angeordnete circuits; die aktuelle Gesellschaft vermag ausseiner Sicht nur die vier einfachsten davon zu aktivieren, währenddie vier höheren neuro-circuits – vom neurosomatischen über denneuroelektrischen und -genetischen bis hin zum neuroatomaren –im Normalleben gar nie starten könnten.76

76 Timothy Leary/Joanna Leary, Neurologic (1973), Löhrbach 1993.

Die meisten Menschensind deshalb zu desolater Bewußtseinsarmut verdammt. Dadurchwird der Mensch als ein Wesen, das zur kreativen Selbststeuerungund zur Autonomie gegenüber Umwelteinflüssen fähig ist, danie-dergehalten und kann sein kybernetisches Potential nicht entfal-ten – was ihn für Fremdsteuerung durch mächtige Gruppen in derGesellschaft anfällig macht.77

77 Timothy Leary, Neuropolitik. Die Soziobiologie der menschlichen Metamorphosis,Basel 1981; Robert A. Wilson, Der neue Prometheus. Die Evolution unserer Intelli-genz, Kreuzlingen 2003.

Learys Kybernetik-Paradigma ist deswegen symptomatisch, weiles mind control in ein reziprokes Verhältnis zur psychedelischen

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Erfahrung rückt. Normale Menschen, die das Glück der Bewußt-seinserweiterung nie gekostet haben, werden aus dieser Perspektiveanfällig für Manipulation und steuerbar. Die Macht funktioniertüber die Exekution von Normalität. Wir finden hier die beidenMomente einer technokratischen Ideologie, nämlich Autonomieund Kontrolle, in einer argumentativen Konstruktion vereinigt. Invielen Diskursen, die psychedelische Drogen zum Thema haben,findet sich dieses Spannungsverhältnis. Wenn davon ausgegangenwird, daß die Gesellschaft einen funktional organisierten und des-halb kulturell repressiven Sozialzusammenhang darstellt, wird dieVerrückung durch Erfahrungsdrogen positiv gewertet. Gegenüberder Zwangseinrichtung und Kontrollinstanz »Gesellschaft« kann esgar nie genug Aussteiger geben; es sind vielmehr diese dropouts, diezu neuen Einsichten fähig sind und demokratische, selbstbestimmteUmgangsformen stärken können. Politische Protestaktionen wer-den in einem positiven Licht wahrgenommen. Die drogenindu-zierte Rebellion erweist sich als synergetische Verdichtung von Ord-nungsstörungen, die das System aus den Angeln heben können.Damit verändert sich auch der Status von Experimenten. Diese die-nen nicht – wie etwa bei der »Modellpsychose« – der Erforschunggeordneten Funktionierens und normaler Zustände auf dem Um-weg über pathologische Abweichungen. Vielmehr stellt die phanta-stische Deregulierung des Normalbewußtseins durch Drogen einVersprechen auf etwas Neues, auf eine andere Gesellschaft dar.

Dieses Neue entsteht als Vorstellung in einem Möglichkeitsho-rizont, in dem eine Hermeneutik des Verdachts omnipräsent ist:des Verdachts nämlich, daß den Normalbürgern das Wichtigste imLeben vorenthalten wird. In ihrem Bemühen, ein korrektes, kalku-liertes, angepaßtes Leben zu führen, nehmen die meisten Menschenandere Möglichkeiten nicht wahr. Sie können sozial nicht funda-mental enttäuscht werden, weil sie nie dahinterkommen, daß dieWelt, die sie sinnlich erfahren, eine Täuschung ist. Verschiedenstekritische Theorieansätze artikulierten in der Nachkriegszeit eine sol-che kritische Grundbefindlichkeit. So etwa durch die »KritischeTheorie« der Frankfurter Schule, für welche die kapitalistische Kul-turindustrie einen gigantischen Verblendungszusammenhang erzeug-te, der den Einzelnen instrumentalisiert und ihn auf die Verwertungs-bedürfnisse der Kapitalakkumulation hin funktionalisiert. Auch indiesem Argumentationsmuster erhält das Experiment gleichsam ver-

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kehrte ethische Vorzeichen. Es wird nicht primär – womit sich heuteEthikkommissionen befassen – mit dem Generalverdacht einer In-strumentalisierung von Menschen assoziiert, sondern als ein Mittelgesehen, um die Herrschaft der instrumentellen Vernunft zu be-enden und damit Befreiung zu ermöglichen. Denn psychedelischeDrogen konnten die durchgreifende Machtwirkung der gesellschaft-lichen Prozesse und Strukturen aufheben: Dies war eine Erwartung,die in der Annahme gründete, das individuelle Bewußtsein habetrotz seiner permanenten Prägung durch gesellschaftliche Funktions-anforderungen seine transgressive Kapazität bewahrt und könne – dasWagnis des Drogenkonsums vorausgesetzt – einen Zugang zu einemJenseits im Diesseits gewinnen.

Daß eine solche Öffnung des Horizonts des Machbaren auchKontrollaspirationen auf den Plan rufen konnte, die auf funktionaleEmulation und instrumentelle Gestaltung setzten, zeigt der zur glei-chen Zeit aufkommende Behavorismus. Behavioristischen Bewußt-seinskonstrukteuren bot der potentielle Überschuß an Lebensfor-men und die enorme Plastizität menschlichen Verhaltens gerade denzentralen Ansatzpunkt für die habituelle Konditionierung von Indi-viduen in Richtung auf eine rational funktionierende, harmonischinteragierende Gesellschaft. Dieselbe Erwartungshaltung läßt sichunter anderen gesellschaftspolitischen Zielsetzungen auch bei Mind-control-Projekten konstatieren, die – hierin mit Pychedelikern undBehavioristen übereinstimmend – an die Möglichkeit eines »umge-polten Menschen« glaubten. Ob der Weg in eine neue Freiheit unterder Epochensignatur der »Selbstverwirklichung« angestrebt, ob eineStrategie der verbesserten, ja der totalen Kontrolle Einzelner nachdem Paradigma der mind control oder ob behavioristische Machbar-keit, kybernetische Steuerbarkeit oder wirtschaftliche Planbarkeitanvisiert wurden: Immer war eine Vorstellung von Alternativen, einGlaube an Veränderbarkeit im Spiel.

Inzwischen wird der Verlust dieses exzessiven Glaubens an Alter-nativen, der sich etwa im Akronym TINA (there is no alternative)äußert, beklagt oder gefeiert. Mit dem Aufstieg eines »realistischenKopfmodells«78

78 Michael Hagner, Geniale Gehirne. Zur Geschichte der Elitegehirnforschung, Göttin-gen 2004, S. 303.

erhalten Drogen eine neue kulturelle Wertigkeit.Die Hirnforschung versucht Bewußtsein aus dem Zusammenspielvon neuronaler Struktur und Hirnfunktionen zu erklären. Während

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die Psychedeliker der 1960er Jahre in der Anerkennung der gesell-schaftlichen Realität eine resignative Haltung, ja eine Niederlage desfreien Geistes sahen, wird nun umgekehrt versucht, soziale und kul-turelle Phänomene aus neurobiologischen Veranlagungen und Vor-gängen heraus zu erklären. Hirnforscher wie Wolf Singer sprechenganz nüchtern davon, daß »wir Welt nur durch die Filter von Sin-nessystemen wahr[nehmen]« und daß »wir [. . .] gefangen [sind] imRegelwerk unseres Gehirns«, wobei »Modelle von Welt« auf derBasis von »sehr eingeschränkten Wahrnehmungsleistungen« entste-hen.79

79 Singer, Ein neues Menschenbild (wie Anm. 33), S. 72.

Das »Gefängnis« hat hier seinen Schrecken verloren; die Er-kenntnis, »dass ins Bewusstsein ja nur ein ganz kleiner Teil der Infor-mation kommt, die im Gehirn ständig verarbeitet wird«, und daß»Aufmerksamkeit« das entscheidende Selektionskriterium ist, wirdals zentrale Einsicht herausgestellt.80

80 Ebd., S. 106.

Gleichzeitig wird dem »Hinter-grundrauschen« eine neue Rolle zugemessen. Dabei geht es um dieRolle von »Intuitionen« für menschliches Handeln und Entschei-den. Unter Intuition wird dabei jener »Teil des Wissens« verstanden,»der im Unbewussten bleibt« und der »durch keinen Denkvorganggefiltert, weder analysiert noch im deklarierten Gedächtnis gespei-chert« wird.81

81 Ebd., S. 120. Einen anderen Zugang zu dieser »tacit dimension« des Wissens bietet:Michael Polanyi, Implizites Wissen (1966), Frankfurt am Main 1985.

Die Konzepte einer materialistischen Psychologie bzw.eines psychologischen Materialismus gehen allerdings von einer fe-sten Koppelung von gesundem neuronalen Substrat, normalem Be-wußtsein und realitätstauglichen Weltmodellen aus. Der Begriff derStörung wird aus dieser Perspektive grundsätzlich defizitär. Er ver-liert seine konstruktivistische Produktivität, denn die »Gehirnarchi-tektur« kann zwar durch die Aufnahme von Information aus derUmgebung »optimiert« werden, dieser Vorgang bleibt indessen zu-rückgebunden an »genetisch verankertes Vorwissen«.82

82 Singer, Ein neues Menschenbild (wie Anm. 33), S. 71, S. 97.

Diese naturalistische Sicht ist keineswegs statisch; Neurowissen-schaftler wie der zitierte Wolf Singer betonen immer wieder, daß dieHirnentwicklung des Menschen zeit seines Lebens im Fluß bleibtund die Interaktion mit einer kulturellen Umwelt die »Überfor-mung der ursprünglichen Architektur« zur Folge hat. Auch wenndas »Hirn genetisch vorprogrammiert ist für ganz bestimmte Lei-

368

stungen«, wird beim Menschen »die Architektur durch Erfahrungverändert und ein Teil des Programms installiert«.83

83 Ebd., S. 97.

Dieses Zusatz-»-Programm«, das auch Weltbilder und religiöse Überzeugungen um-faßt, ist jedoch Rationalitätskriterien unterworfen; Singer vermutetdeshalb, daß »Inhalte von Religionen das Destillat kollektiver Erfah-rung darüber sind, wie man am besten miteinander umgeht«.84

84 Ebd., S.94.

Wasdie funktionalen Standardprozeduren des neuronalen Systems sowiebewährte, weil erfahrungsgesättigte soziale Normen beeinträchtigt,ist abnormal. Wenn es um die Manipulation von Bewußtseinsvor-gängen geht, zählt Singer »Drogen« in einem Atemzug auf mit »In-doktrination und Demagogie, mit denen Millionen dazu gebrachtwerden können, Abscheuliches zu tun«.85

85 Ebd., S.63.

Konsequenterweise quali-fizieren Hirnforscher »gesteigerte Wahrnehmung und Halluzinatio-nen« als »Bewusstseinsstörungen« und identifizieren die chronischeEinnahme von »Rauschgiften« als Ursache für das »Absterben ganzerNervenzellverbände«.86

86 Vgl. dazu verschiedene Einträge in: Hartwig Hauser/Christine Schöltyssek (Hg.),Lexikon der Neurowissenschaft, 4 Bde., Berlin 2000 (Zitate: Bd. 1, S. 176; Bd. 3,S. 155).

Nun haben in den 1960er Jahren auch Experimentatoren wiePahnke vor einem repetitiven, routinisierten Konsum von psychede-lischen Stoffen gewarnt, jedoch nicht mit neurowissenschaftlichenArgumenten, sondern aus der Einsicht heraus, daß dies die Qualitätder Drogenerfahrung herabsetzte. Obwohl Pahnke mit seinem Good-Friday-Experiment auf methodische Rigorosität und empirische Ob-jektivierung der Resultate setzte, ging es primär um das Erleben, umden persönlichen Zugang zum Mystischen, um die sogenannte »Er-ste-Person-Perspektive«. Heute argumentieren Neurowissenschaft-ler aus einer naturwissenschaftlichen, durch bildgebende Verfahrenobjektivierenden »Dritte-Person-Perspektive« und hegen den Ver-dacht, die »Erste-Person-Perspektive« sei bloß eine Illusion.87

87 Singer, Ein neues Menschenbild (wie Anm. 33), S. 49 f.

So wirddann der »freie Wille« zum subjektiven Gefühl, das Prozesse beglei-tet, die sich im Hirn abspielen. In anthropomorphisierender Spra-che beschrieben, steigt die »graue Masse« zum Hauptakteur auf,während Bewußtsein zum Derivat neurologischer, physiologischer

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und biologischer Prozesse absinkt.88

88 Dies ist die Position eines kruden psychologischen Materialismus. Forscher wieWolf Singer formulieren vorsichtiger und erklären, es gelte, »diese beiden Beschrei-bungssysteme einander anzunähern oder gar ineinander überzuführen« (ebd.,S. 50); zur Kritik dieser »Homunculus-Konzeption« des Bewußtseins vgl. M. R.Bennett/P.M.S. Hacker, Philosophical Foundations of Neuroscience, Malden, Mass.,Oxford 2003; zur Kritik des Naturalismus: Peter Janich, Was ist Information?,Frankfurt am Main 2006.

Drogen können aus dieser Sichtzwar dazu dienen, in medizinischen Anwendungskontexten Dys-funktionen zu beheben. Chemisch induzierte »Bewußtseinserweite-rung« erscheint hingegen als doppelte Störung – einerseits der Hirn-funktionen, die dadurch strukturell geschädigt werden können,andererseits der gesellschaftlichen Konventionen, die sich durch pa-thologische dropouts in Frage gestellt sehen.

Die fortschreitende Psychopharmakologisierung der Gesellschaftdreht sich somit nicht mehr um den »neuen Menschen« – weder inseiner emanzipatorischen Selbstbespiegelung noch in der dystopi-schen Fluchtperspektive einer totalen Kontrolle in der »besten al-ler Welten«. Die durch Pillen moderierte Persönlichkeit, die immermehr zu einem Normalfall modernen Lebens wird, steht vielmehrfür einen Menschen, der konturlose Flexibilität und flexible Norma-lisierung in perfekter Funktionsanpassung verbindet.89

89 Von daher ist es auch verkürzt, von einem Revival des LSD in der klinischen For-schung zu sprechen. Die vor kurzem in der Schweiz bewilligte befristete Pilotstu-die zur Erforschung der Auswirkungen des LSD bei schwerkranken Krebspatien-ten stellt zwar nach dreieinhalb Jahrzehnten der Ächtung von LSD einen Durch-bruch dar, der Kontext, in dem diese Substanz nun diskutiert wird, hat sich gegen-über den 1960er Jahren jedoch stark verändert. Vgl. Neue Zürcher Zeitung 60(2008), S. 13.

Wenn wir»unser Hirn« sind, so gibt es keine Alternative zum Normalfunktio-nieren – Protesthaltungen, wie sie in den Jahren um 1968 üblichwaren, geraten in den Dunstkreis des Krankhaften. So liegt es nahe,in Terroristen, welche die europäischen Gesellschaften in den 1970erJahren in höchste Alarmbereitschaft versetzten, rückblickend eher»Verrückte« denn politische Radikale oder Kriminelle zu sehen. Siewerden somit Teil einer »düsteren Geschichte der psychopathologi-schen Stigmatisierung [. . .], mit der Abweichungen politischer oderästhetischer Art überzogen worden sind«.90

90 Hagner, Geniale Gehirne (wie Anm.78), S. 307. Diese Pathologisierung und Natu-ralisierung des »Bösen« im Menschen wird etwa durch die Forschungen vonAdrian Raine angestrebt. Vgl. Adrian Raine, The Psychopathology of Crime: Cri-

Diese Pathologisierung

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minal Behavior as a Clinical Disorder, San Diego u.a. 1993; Adrian Raine (Hg.),Crime and Schizophrenia: Causes and Cures, New York 2006.

wirkt im Gleichtakt mit der Normalisierung. Wenn pharmakolo-gisch hergestellte Fitneß zur zentralen Zielgröße individueller Le-bensführung aufsteigt, setzt sich ein neuer Typus von Experimentdurch. Dieser dient dem Schutz der Gesellschaft vor Überraschun-gen. Soziale Kontexte werden mittels neuer Forschungszugänge inein »Labor« verwandelt, in dem permanent Gefahren abgearbeitetund in Risiken transformiert werden. Auch die Drogen, die als Heil-mittel im Dienste der Gesundheit stehen, werden Standardisierungs-prozeduren unterworfen, die ihre Risiken und Nebenwirkungenminimieren. Die »Gesellschaft als Labor« experimentiert nicht mehrmit revolutionärer Selbstveränderung oder fundamentaler Transfor-mation, sondern arbeitet an Normierung und Kontrolle. Es scheint,als tendiere die »Natur des Menschen« auf eine »natürliche Gesell-schaftsform« hin, welche die bisher existierenden Spannungen, Kon-flikte und Inkommensurabilitäten in einer prästabilierten Harmo-nie zwischen »normalem Hirn« und »normaler Gesellschaft« zu neu-tralisieren in der Lage wäre.

Daß eine solche Perspektive selbst einen illusionären Projektions-raum darstellen und einem halluzinatorischen Sicherheitsbedürfnisentsprechen könnte, dafür spricht vieles. Es läßt sich insbesonderekonstatieren, daß der grundlegende Freiheiten sistierende Hang zusecurity mit einer ungestillten Nachfrage nach Verschwörungstheo-rien einhergeht. Man könnte also davon sprechen, daß die elimi-nierten Alternativen mit geballter Wucht als illusionäre Konspira-tionsplots wiederkehren und der Unterstellung einer mind controlanhaltende Konjunktur verschaffen. Solche Formen der Kontingenz-reduktion sind heute Teil der Unterhaltungskultur. Die Vermutungvon etwas anderem müßte sich allerdings nicht in der gespenstischenHohlform von Verschwörungstheorien erschöpfen. Es ist nicht so,daß die Denk- und Suchbewegungen der ersten Nachkriegsjahrzehn-te zu einem Abschluß gekommen wären. Die gesellschaftliche Dy-namik der Gegenwart beruht auf Entdeckungsverfahren, die mehrdenn je die Tendenz haben, das Modell einer vorausgesetzten Wirk-lichkeit in Frage zu stellen. Dadurch werden die gewußten Räumedes Nichtwissens ausgeweitet und der Möglichkeitssinn gestärkt. Indieser anhaltenden experimentellen Selbsterkundung und Selbstre-flexion von Menschen und Gesellschaften reproduzieren sich Fra-

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gen, welche »Psychonauten« wie Albert Hofmann91

91 Albert Hofmann, Erinnerungen eines Psychonauten [Ton/CD]: Von der Entdeckungentheogener Drogen, Köln 2003 (Konzeption und Produktion: Thomas Knoefel).

und die Psyche-deliker der 1960er Jahre bewegten; diese Probleme verschwindennicht dadurch, daß der heute vorherrschende Naturalismus dazunichts zu sagen hat.

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Christina Brandt»In his Image«

Klonexperimente zwischen Biowissenschaftund Science-Fiction

Ende März 1978 titelte eine Hamburger Boulevardzeitung: »So ent-stand das erste Labor-Baby«, und wußte »schockierende Einzelhei-ten« zu berichten: Ein amerikanischer Millionär habe sich einenStammhalter nach seinem Ebenbild konstruieren lassen, der die per-fekte Kopie seiner selbst sei – so perfekt, daß sogar der Fingerab-druck des mittlerweile 14 Monate alten »Kunstbabys« identisch sei.1

1 Vgl. Die Zeit, 24. März 1978, S. 78.

Nur einige Tage später griff auch Die Zeit die Schlagzeile auf underläuterte deren Kontext: »Doktor X, offensichtlich ein äußerstbegabter Gen-Ingenieur, verschmolz die Erbinformation einer Zelledes Millionärs – nennen wir ihn Frank N. Stein – mit einer weib-lichen Eizelle, deren genetische Blaupause vorher zerstört wordenwar.«2

2 Ebd.

Auslöser dieser medialen Frankenstein-Renaissance war dieAnkündigung einer Buchveröffentlichung durch den amerikani-schen Lippincott Verlag. Der Autor des angekündigten Sachbuchs,David Rorvik, behauptete darin, den ersten Fall einer erfolgreichenKlonierung eines Menschen dokumentiert zu haben. Der Wissen-schaftsjournalist, der für das Time Magazine geschrieben hatte, be-richtete von geheim durchgeführten Klonexperimenten, an denener als Mittelsmann beteiligt gewesen sei und die zur Geburt des er-sten, mittels somatischen Zellkerntransfers gezeugten Kindes ge-führt hätten. Innerhalb weniger Wochen zum Beststeller avanciert,gehört In his Image. The Cloning of a Man wohl zu den meistdisku-tierten Büchern des Jahres 1978.3

3 David M. Rorvik, Nach seinem Ebenbild. Der Genetik-Mensch: Fortpflanzung durchZellkern-Transplantation (1978), Frankfurt am Main 1981.

Schon vor seiner Veröffentlichunglöste es in wissenschaftlichen Fachkreisen und in den Medien einigeUnruhe aus, und dies nicht nur in den USA: »Author in Controversyon Cloning Asserts that He’s Seen Lab Child« berichtete beispiels-weise die New York Times am 9. März 1978,4

4 »Author in Controversy on Cloning Asserts that He’s Seen Lab Child«, in: New YorkTimes, 9. März 1978, S.B10.

rund drei Wochen vor

373

dem Erscheinungstermin. Auch Der Spiegel und der Stern stellten imMärz 1978 bei bundesrepublikanischen Wissenschaftlern Nachfor-schungen darüber an, inwieweit die Darstellungen Rorviks Realitätsein könnten5

5 Vgl. »Genetik: Tausendmal schlimmer als Hitler«, in: Der Spiegel 12 (1978), S.212 f.;»Schuß gegen den Körper«, in: Stern 14 (1978), S. 214.

. In den nächsten Wochen geriet Rorviks beständigesBeharren, daß die dargestellte Geschichte wahr sei, in die Kritik unddurchzog die Frage nach ausstehenden Beweisen die Artikel in derNew York Times.6

6 »Cloning Becomes a Publishers Experiment«, in: New York Times, 11. März 1978,S.26; »Author of Book on Cloning Offers no Direct Proof Test Succeeded«, in: NewYork Times, 23. März 1978, S.B10.

Immerhin trug diese Publicity dazu bei, daß In hisImage bereits Anfang Mai auf Platz zehn der Sachbuch-Bestsellerlisteder New York Times stand. Nachdem das Buch erschienen war, zogdie Diskussion über den Wahrheitsgehalt des von Rorvik vermeint-lich dokumentierten Geschehens weite Kreise. Sie führte in den USAzu einer parlamentarischen Anhörung über den Stand der Klonfor-schung7

7 Im Juni 1978 berichtete die New York Times von einem parlamentarischen Aus-schuß, vor dem ausgewählte Wissenschaftler angehört wurden, deren Forschungeng mit der Klonforschung verbunden war, darunter die Embryologin BeatriceMintz, der Zellbiologe Robert McKinnell und ein Abgesandter der National Insti-tutes of Health. Vgl. »Study of Cloning is Called Aid to Medical Research«, in: NewYork Times, 1. Juni 1978, S.A16.

und gab in den folgenden Monaten Anlaß zu einer ganzenWelle aufklärerisch angelegter populärwissenschaftlicher Darstellun-gen des Themas Klonen, sowohl in Form von Fernsehberichten alsauch in Form populärwissenschaftlicher Bücher.8

8 Beispielsweise Robert McKinnell, Cloning. Leben aus der Retorte, Karlsruhe 1981;vgl. dazu auch June Goodfield, Wissenschaft und Medien, Basel u. a. 1983, S. 78-98,die Rorviks Buch einige Jahre später als Beispiel eines ethisch fragwürdigen Wissen-schaftsjournalismus behandelt und die Auswirkungen, die es hatte, analysiert.

Mit der Ambivalenz von Dokumentation und Fiktion, der Amal-gamierung von faktischen Elementen und fiktiver Inszenierung istRorviks Erzählung selbst ein Ausdruck von Verunsicherungen, wiesie für den Diskurs über die Biowissenschaften in den späten 1970erJahren charakteristisch waren. Auf dem Höhepunkt der öffentlichenKontroversen, die sich an der beginnenden Gentechnik und der Re-produktionsmedizin entzündet hatten, markiert das Buch das Endeeiner ganzen Reihe von fiktiv ausgestalteten Klon-Imaginationenoder dystopisch/utopischen Entwürfen einer am Menschen prakti-

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zierten Klontechnik. Zugleich steht Rorviks Buch aber auch am An-fang von weiteren Klonskandalen: Nur drei Jahre nach der Ver-öffentlichung von In his Image erlebte die interessierte Öffentlich-keit beispielsweise eine weitere Klon-Auseinandersetzung, in der dieGrenzen zwischen Fakt und Fiktion nicht leicht zu ziehen waren, alsnämlich der in Genf arbeitende Molekularbiologe und MedizinerKarl Illmensee berichtete, er habe erstmals ein Säugetier (Mäuse)geklont.9

9 Karl Illmensee/Peter Hoppe, »Nuclear Transplantation in Mus musculus. Devel-opment Potential of Nuclei from Pre-Implantation Embryos«, in: Cell 23 (1981),S.9-15.

Die wissenschaftliche Glaubwürdigkeit dieser Resultatewurde in der Fachwelt schnell angezweifelt. Die darauf folgendeKontroverse um Illmensee brachte in der Debatte über den drohen-den Menschenklon eine Wende, legten doch Forschungsarbeitenvon anderen Wissenschaftlern, die als Reaktion auf Illmensees Er-gebnisse durchgeführt wurden, nahe, daß es eine prinzipielle biolo-gische Schranke geben könne, die das Klonen über somatischenZellkerntransfer von Säugetieren, also auch von Menschen, generellunmöglich mache.10

10 Vgl. Gina Kolata, Das geklonte Leben. Ein Jahrhundert-Experiment verändert dieZukunft des Menschen, München 1997, S. 156 ff.

Klonskandale, wie die von Rorvik oder Illmensee ausgelösten,führten letztlich auch deshalb jeweils zu Wendepunkten in deranhaltenden Klon-Debatte, weil ihre Entlarvung als Fiktion demdrohenden Schrecken eines artifiziell hergestellten Menschenklonsimmer auch ein Stück weit den Boden entzog, indem die vorherpostulierte »Beinahe-Realität« nachhaltig in Frage gestellt wurde.

Die Geschichte des Klonens ist keine Geschichte medizinischerMenschenexperimente im engeren Sinne. Bislang ist sie vor allemeine Geschichte der fiktiven und imaginierten, der in naher Zukunftdrohenden Versuche am Menschen. Wie das Beispiel Rorviks zeigt,ist sie auch eine Geschichte des vorgetäuschten, immer einmal wie-der behaupteten Tabubruchs.11

1 1 Als weitere gegenwärtige Klon-Skandale wären die Meldungen der Rael-Sekte zunennen, die 2002 die Geburt des ersten geklonten Kindes angekündigt hatten,sowie die Veröffentlichungen des südkoreanischen Stammzellforschers HwangWoo Suk in den letzten Jahren.

Die biowissenschaftlichen Klonprak-tiken und die mit ihnen assoziierten dystopischen oder utopischenEntwürfe einer gentechnisch modellierten Natur des Menschen las-

375

sen sich zwar nicht als Menschenversuch im konkreten Sinne begrei-fen, wohl aber stellen diese fiktiven Versuche durchaus ›Experimen-te‹ am Humanen dar. Als biotechnisches Zukunftsphantasma, andem immer auch die Grenzziehungen des Humanen verhandeltwurden, gewann die Vorstellung eines in naher Zukunft drohendenMenschenklons bereits seit Mitte der 1960er Jahre Konturen. Zu-nächst waren es einige renommierte Biowissenschaftler – zu ihnenzählten etwa der Genetiker Hermann J. Muller und der Molekular-biologe Joshua Lederberg –, die im Kontext der sich damals raschentwickelnden molekularbiologischen Forschungslandschaft das Bildeiner neuen Biologie beschworen, die in absehbarer Zeit die Fragenach der ›Natur‹ des Menschen herausfordern und neu ausrichtenwerde. In ihren biotechnisch-utopischen Visionen avancierte der›Klon‹ (ein Begriff, dessen Gebrauch, wie noch zu sehen sein wird,über lange Strecken des 20. Jahrhunderts auf eine enge biowissen-schaftliche Fachwelt begrenzt blieb) zur zentralen Metapher für einezukünftige biopolitische Kontrolle der menschlichen Natur. Dieseszientistischen Technikutopien fanden schnell ihre Resonanz im öf-fentlichen Raum. Die Figur des Menschenklons wurde seit den spä-ten 1960er Jahren vor allem von der Science-Fiction entdeckt undweiter ausgestaltet. Aber auch philosophische und bioethische Re-flexionen über den drohenden Verlust des Humanen in Anbetrachteiner vollends durch Technik und Wissenschaft gestalteten Weltsetzten zu dieser Zeit ein.

Der folgende Beitrag geht der Geschichte dieser Klonexperimen-te im Feld von Wissenschaft und Fiktion in den 1960er und 1970erJahren nach, also in jenen beiden Jahrzehnten, in denen die mo-derne Biologie nicht nur von ihren führenden Vertretern, sondernauch zunehmend im öffentlichen Bewußtsein als die Leitwissen-schaft der Zukunft wahrgenommen wurde. Von ›Klonexperimen-ten‹ wird hier deshalb gesprochen, weil es sich in der Tat um eineReihe von ›Versuchsanordnungen‹ handelt, wenn auch um solche,die ganz unterschiedlichen Bereichen zuzuordnen sind: Zunächstist festzuhalten, daß sich die Projektionen zukünftiger Klonexperi-mente am Menschen aus einer spezifischen biowissenschaftlichenForschungslandschaft heraus entwickelten: der Embryologie undMolekulargenetik der 1960er Jahre. Die embryologischen Versuchezum somatischen Zellkerntransfer, die an Fröschen durchgeführtwurden und die zur Produktion der ersten, artifiziell hergestellten

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identischen genetischen Kopien eines Tieres geführt hatten,12

12 John Gurdon, »The Developmental Capacity of Nuclei of Single Somatic Cells«,in: Journal of Embryology and Experimental Morphology 10 (1962), S. 622-640;ders., »Adult Frogs Derived from the Nuclei of Single Somatic Cells«, in: Develop-mental Biology 4 (1962), S. 256-273.

stan-den zwar selber ganz und gar nicht in der Forschungstradition derangewandten Reproduktionsbiologie, sie lieferten aber den Stoff fürweitere fiktive Ausgestaltungen einer auf die Kontrolle der mensch-lichen Fortpflanzung zielenden zukünftigen Biotechnologie. Nebendiesen biowissenschaftlichen Experimenten kommen damit weitereexperimentelle Ebenen ins Spiel: literarisch-fiktive Klonszenarienund utopische/dystopische Wissenschaftsfiktionen. In ihnen kommtauf mehreren Ebenen eine experimentelle Haltung zum Ausdruck:Gemeinsam ist ihnen, daß sie die tatsächlichen biowissenschaftlichenExperimentalansätze gewissermaßen in ein fiktives Experimentier-feld transformierten, in dem die biotechnischen Entwicklungen aufihre zukünftige gesellschaftliche Funktion und ihren potentiellenanthropologischen Gehalt hin befragt werden. In ihrer experimen-tellen Haltung ›dem Menschen‹ gegenüber differieren sie insofern,als sie die Frage, was Menschsein in Zeiten biotechnischer Verfü-gungsmacht bedeuten kann, unterschiedlich ausloteten: Währendin den biotechnischen Utopien der 1960er und frühen 1970er Jahrebereits jene Visionen von der Überschreitung der menschlichenNatur und transhumane Szenarien virulent wurden, die in den heu-tigen Debatten höchst aktuell sind, zeichnen sich Klon-Erzählun-gen in der Science-Fiction der 1970er Jahre dadurch aus, daß siedie postulierte biotechnologische Deutungsmacht des Humanenunterlaufen und andere Möglichkeiten und Grenzen des modernenMenschen in fiktiven Szenarien erkunden. Nicht zuletzt stellte dieScience-Fiction aber auch deshalb ein ›Experiment‹ dar, weil es sichhierbei um Schreibexperimente handelte, welche die Grenzziehun-gen von Faktum und Fiktion selbst in Frage stellten. Rorviks Buch,auf das ich am Ende dieses Beitrags wieder zurückkommen werde,markiert diesbezüglich sicherlich einen Höhepunkt der Debatten.Während in der technikutopischen Diskussion in den 1960er Jahrendie Frage nach dem ›Menschen der Zukunft‹ im Kontext von natur-wissenschaftlichen Fortschrittsideen ins Zentrum gerückt war, sa-hen die 1970er Jahre diese Zukunft bereits angebrochen. Mit derVermengung von Tatsächlichem und Möglichem bringt Rorviks

377

Spiel mit Faktum und Fiktion nicht zuletzt auch diese Nivellierungeiner zeitlichen Distanz, das Verschwinden einer Grenze von Zu-kunft und Gegenwart zum Ausdruck.

1. Die Entstehung des ›Klons‹ aus demRaum des Technischen

Die 1960er Jahre lassen sich rückblickend als das Jahrzehnt begrei-fen, in dem ›der Klon‹ als ein zukunftsoffenes Objekt der Forschungerst entstand – und dies nicht nur in biowissenschaftlichen Experi-mentalansätzen, sondern auch in fiktiven Versuchsanordnungen.Gewiß kennt die Biologie schon früher Klone: Seit dem Beginn des20. Jahrhunderts wurden in der Pflanzenzucht jene Abkömmlingeeiner Pflanze, die durch Formen vegetativer Vermehrung entstandenwaren, und die damit (wie auch der Begründer der Klon-Terminolo-gie, der Botaniker Herbert J. Webber, hervorhob) strenggenommendasselbe Individuum darstellten, ›Klone‹ genannt.13

13 Herbert J. Webber, »New Horticultural and Agricultural Terms«, in: Science 18(1903), S. 501-503.

Und in den fol-genden Jahrzehnten finden wir den Ausdruck ›Klon‹ in so verschie-denen Forschungsfeldern wie der Zellbiologie, der Immunologie,der Bakteriengenetik oder der Embryologie.14

14 Vgl dazu auch Ursula Mittwoch, »›Clone‹. The History of a Euphonious ScientificTerm«, in: Medical History 46 (2002), S. 381-402.

Gemeinsames Cha-rakteristikum dieser als Klone bezeichneten Objekte in den anson-sten recht unterschiedlichen Forschungsfeldern war es, daß ihreHerkunft auf einen identischen, zellulären oder organismischen Ur-sprung rückführbar war. Die als ›Klone‹ bezeichneten Objekte derersten Hälfte des 20. Jahrhunderts unterscheiden sich von denen derzweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts jedoch grundlegend in ihremExperimentalstatus. Bis in die 1960er Jahre hinein zählten die Klonezu etwas, das der technisch-instrumentellen Seite des Forschungs-prozesses zuzurechnen war, was also in Anlehnung an die Termino-logie des Wissenschaftshistorikers Hans-Jörg Rheinberger als »tech-nisches Objekt«15

15 Zum Begriff des »technischen Objekts« vgl. Hans-Jörg Rheinberger, Experimental-systeme und epistemische Dinge, Göttingen 2001, S. 24-29.

in Experimentalansätzen bezeichnet werden kann.Als Versuchsmaterial kam den Klonobjekten eine bestimmte Funk-

378

tion zu: Bakterienklone beispielsweise lieferten aufgrund ihrer Rück-führbarkeit auf einen identischen Ursprung und aufgrund ihrer seri-ellen Reproduktion standardisiertes, einheitliches und – genetischbetrachtet – ›reines‹ Forschungsmaterial, was die Grundlage für dieBearbeitung weiterer wissenschaftlicher Fragestellungen in der Bak-teriengenetik lieferte.16

16 Vgl. Joshua Lederberg/Esther M. Lederberg, »Replica Plating and Indirect Selec-tion of Bacterial Mutants«, in: Journal of Bacteriology 63 (1952), S. 399-406.

Klone waren somit über lange Phasen des20. Jahrhunderts vorrangig experimentaltechnische Mittel. Dies spie-gelt auch die Wortverwendung wider: Der Begriff ›Klon‹, noch weitvon einem öffentlichen Gebrauch entfernt, findet sich zumeist imMaterial- und Methodenteil wissenschaftlicher Abhandlungen. Auchnoch die in den 1970er Jahren neu entstehenden ›Gen-Klone‹ blie-ben in diesem technischen Raum. Beim gene cloning, der grundle-genden Methode der sich neu entwickelnden rekombinanten DNA-Technologien, wurde ein spezifischer DNA-Abschnitt isoliert, mit-tels eines sogenannten Vektors in ein Bakterium transferiert undüber die Vermehrung des Bakteriums in großer Zahl identisch ver-vielfältigt. Das gene cloning stellte also ein Kopier- oder Reproduk-tionsverfahren von DNA-Abschnitten dar, welches das notwendigeAusgangsmaterial für die weiteren Schritte des genetic engineering,der genetischen Bastel- und Tüftelarbeit, lieferte.

Bereits seit den 1960er Jahren wurde dieser technische Raum desKlons allmählich durch einen neuen, eher symbolischen Diskursüberlagert. Zur technischen Bedeutung, die seine identische Ab-stammung und seine serielle (Re-)Produktion implizierte, kam eineneue Dimension hinzu, die den Klon nicht mehr länger als ein me-thodisches Mittel, sondern als ein möglicherweise anzustrebendesZiel der Forschung perspektivierte. Der Begriff des Klons trat ausder rein technischen Sphäre heraus und entwickelte sich zu einerMetapher für die zukünftigen technischen Möglichkeiten einer dieFrage der ›Natur‹ des Menschen neu herausfordernden Biowissen-schaft. In diesem Sinne sprach auch der Molekularbiologe JoshuaLederberg 1970 von der »clone-a-man metaphor«: »It does serve as ametaphor to indicate that future generations will have infinitelymore powerful ways than we do to deal with whatever they mayregard as socially urgent issues of human nature.«17

17 Joshua Lederberg, »Genetic Engineering and the Amelioration of Genetic Defect«,in: BioSciences 20 (1970), S. 1307-1310, hier S. 1309.

Dieser Schritt

379

von der technischen Sphäre in die gesellschaftliche beinhaltete je-doch weit mehr als nur den Transfer einer originär biowissenschaft-lichen Terminologie in den öffentlichen Raum und die resultierendeVervielfältigung ihrer Gebrauchsweisen. Damit eröffnete sich auchein neuer Repräsentationsraum, in dem aus dem Zusammentreffenhistorisch älterer Bedeutungselemente und ihrer Aktualisierung(etwa die Narrative von der künstlichen Erschaffung des Menschenoder eugenisch motivierte Züchtungsvorstellungen) mit typischenMotiven der 1960er Jahre (etwa die kybernetische Transformationdes Körpers) neue, auf die Zukunft ausgerichtete biopolitischeVisionen Formen annahmen.

Zu dieser diskursiven Neuausrichtung trug eine Reihe von bio-wissenschaftlichen und kulturellen Entwicklungen in den 1960erund 1970er Jahren bei.18

18 Zur Geschichte der Reproduktionsmedizin vgl. Barbara Orland, »Die menschlicheFortpflanzung im Zeitalter ihrer technischen Reproduzierbarkeit. Normalisierungder Reproduktionsmedizin seit den 1970er Jahren«, in: Technikgeschichte 66(1999), S. 311-336; Christine Schreiber, Natürlich künstliche Befruchtung? EineGeschichte der In-vitro-Fertilisation von 1878 bis 1950, Göttingen 2007; kulturhisto-risch zu den Visionen der Reproduktionstechnologien im 20. Jahrhundert vgl.Susan Squier, Babies in Bottles: Twentieth-Century Visions of Reproductive Technolo-gies, New Brunswick 1994.

Zur Etablierung von Verfahren der In-vitro-Fertilisation bei kleinen Säugetieren gesellte sich im Sommer 1978,nur wenige Monate, nachdem Rorvik In his Image veröffentlichte,die Geburt des in den deutschsprachigen Medien so bezeichnetenersten »Retortenbabys«. In der Hochphase der Debatten wurde dieIn-vitro-Fertilisation nicht selten strukturell mit dem Klonen ver-mengt, nämlich als ein weiterer Schritt in der Entkopplung der Fort-pflanzung von der Sexualität. Diese biowissenschaftlichen undmedizinischen Entwicklungen lieferten jedoch nur eine Art konkre-ter Fundierung. Die sich allmählich formierenden Visionen voneinem zukünftigen Menschenklon knüpften zwar an diese biowis-senschaftlichen Entwicklungen an, zur treibenden Kraft der »clone-a-man metaphor« wurden jedoch zunächst historisch wesentlichältere Visionen von der Kontrolle der Reproduktion, die durch dieskizzierten biowissenschaftlichen Entwicklungen seit Mitte der1960er Jahre neuen Auftrieb erhielten. Nachdem in der unmittelba-ren Nachkriegszeit genetische Züchtungsphantasien für eine Weilediskreditiert gewesen zu sein schienen, trafen eugenisch motivierte

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Phantasmen zu dieser Zeit erneut auf fruchtbaren Boden: Visio-nen des genetisch verbesserten Menschen oder die Vorstellung, daßder Mensch seine eigene Evolution steuern könne,19

19 Diesbezüglich sind vor allem die Schriften des Evolutionstheoretikers Julian Hux-ley, des Bruders von Aldous Huxley, in den 1960er Jahren überaus weit rezipiertworden. Huxley, der heute of als einer der Begründer des »Transhumanismus« gilt,prägte den Begriff des »evolutionären Humanismus« und sah die Menschheit aneinen Punkt angekommen, an dem sie in der Lage sei, die eigene zukünftige Ent-wicklung zu steuern, womit auch eine neue Phase in der Evolution angebrochensei. Vgl. Julian Huxley, Ich sehe den künftigen Menschen. Natur und neuer Humanis-mus, München 1965 (engl. Orig.: Essays of a Humanist, London 1964).

trafen in den1960er Jahren auf einen durch Kybernetik und Weltraumszenarienvorbereiteten Raum, in dem die technische Überwindung des Kör-pers zu einem grundlegenden Topos geworden war.

Zu den kybernetisch inspirierten Cyborg-Szenarien, welche pri-mär die technische Überformung des Körpers symbolisierten,20

20 Zur Geschichte von Cyborg-Szenarien vgl. Chris Hables Gray, The Cyborg Hand-book, New York, London 1995.

ge-sellten sich seit Mitte der 1960er Jahre die Visionen des organismischneu geformten und evolutiv höher entwickelten Menschen der Zu-kunft – eine Vision, die in der Folgezeit schnell durch die Figur desmenschlichen Klons repräsentiert wurde.

2. Die Figur des Klons in den 1960er Jahren:Zukunftsexperimente am Humanen

Die Klon-Debatte setzte zu einer Zeit ein, als sich die gesellschaft-liche Auseinandersetzung mit dem naturwissenschaftlich-techni-schen ›Fortschritt‹ und seinen Auswirkungen auf das menschlicheSelbstverständnis vor allem noch auf Gebiete wie die Atomphysik,die Weltraumforschung und nicht zuletzt die Kybernetik bezog.21

21 Zur Transformation des Humanen durch die Kybernetik vgl. insbesondere denSammelband von Michael Hagner/Erich Hörl (Hg.), Die Transformation desHumanen. Beiträge zur Kulturgeschichte der Kybernetik, Frankfurt am Main 2008.

Die Nähe einer unmittelbar bevorstehenden, durch Naturwissen-schaft und Technik gänzlich neu geprägten Zukunft zu betonen wareine gängige naturwissenschaftlich-technische Selbstdarstellung inden 1960er Jahren. Die Rhetorik des ›Zukunftsexperiments‹ bildetedie Folie für die Wahrnehmung des eigenen Jahrzehnts als einer

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Schwellenzeit, die sich als ein großräumiges und zukunftsoffenes›Experiment‹ auf allen naturwissenschaftlich, aber auch gesellschaft-lich relevanten Feldern darstellte – waren dies nun Atomforschungoder Raumfahrt, Kybernetik, Medizin, Genetik oder auch globaleBevölkerungspolitik.22

22 Vgl. die Titel einiger Publikationen, z.B.: Peter Brian Medawar, The Future ofMan, London 1959; Dennis Gabor, Inventing the Future, London 1964; FritzBaade, Der Wettlauf zum Jahre 2000. Unsere Zukunft: Ein Paradies oder die Selbstver-nichtung der Menschheit, Hamburg 1960; zum futurologischen Zeitgeist vgl. au-ßerdem den Spiegel-Titelbericht: »Zukunft: Todlos glücklich«, in: Der Spiegel,26. Dezember 1966, S. 80-90.

Als Objekt dieser Zukunftsexperimente stand›der Mensch‹ – oder, wie der Titel manch futurologischer Abhand-lung nahelegte, gar die ganze ›Menschheit‹ – auf dem Spiel.

Während in vielen futuristischen Prognosen diese Entwicklungenzumeist als Emanzipation des Menschen begrüßt wurden, mehrtensich zum Ende des Jahrzehnts aber auch mahnende Stimmen. Soliest man in einer knapp 500seitigen Analyse der potentiellen, vomungestümen naturwissenschaftlichen Fortschritt betroffenen Felder,die Paul Overhage im Jahr 1967 veröffentlichte: »Das ExperimentMenschheit, die Selbstmanipulation des Menschen, hat begonnen,ja ist schon im vollen Gang und hat eine radikal neue Epoche derMenschheitsgeschichte eingeleitet [. . .].« Die Forschung sei, so Over-hage weiter, bestrebt, »in das letzte Gefüge des Menschen und derMenschheit einzudringen, es umzugestalten und auf diesem Wegeden uns heute bekannten Menschen, man möchte fast sagen, regel-recht abzuschaffen und andersartige Wesen an seine Stelle zu set-zen«.23

23 Paul Overhage, Experiment Menschheit. Die Steuerung der menschlichen Evolution,Frankfurt am Main 1967, S. 6.

Auch das von der Ciba Foundation finanzierten Symposium zumThema »Man and His Future«, das 1962 in London stattfand, istim Kontext dieser diskursiven Neuausrichtung zu sehen.24

24 Robert Jungk/Hans Josef Mundt (Hg.), Das umstrittene Experiment: Der Mensch.Siebenundzwanzig Wissenschaftler diskutieren die Elemente einer biologischen Revo-lution, München 1966.

Der Ein-fluß, den dieses Wissenschaftler-Treffen auf die öffentliche Wahr-nehmung der modernen Biowissenschaften und ihrer in der Zukunftdrohenden gesellschaftlichen und individuellen Auswirkungen hat-te, kann wohl kaum überschätzt werden. Rund zwei Dutzend Wis-senschaftler aus den Biowissenschaften, der Soziologie und der Psy-

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chologie diskutierten, was sie als dringende Zukunftsprobleme derMenschheit ansahen. Gleich zwei der renommierten Biowissenschaft-ler brachten dabei das Klonen von Menschen als Zukunftsperspektivezur Diskussion: Hermann J. Muller, der Begründer der Strahlenge-netik, diskutierte auf dem Symposium einen ganzen Katalog vonzukünftigen selektiven Maßnahmen zur »Verbesserung der geneti-schen Konstitution« der Gesellschaft.25

25 Hermann J. Muller, »Genetischer Fortschritt durch planmäßige Samenwahl«, in:Jungk/Mundt (Hg.), Das umstrittene Experiment: Der Mensch, (wie Anm. 24),S.277-291, hier S. 284. Mullers Positionen auf dem Ciba-Symposium waren nichtneu: Mit Out of the Night. A Biologist’s View of the Future hatte der Genetiker bereits1935 eine vielzitierte Wissenschaftsutopie veröffentlicht, in der er in Grundzügendie Rolle der modernen Biowissenschaften für eine sozialistisch inspirierte eugeni-sche Welt dargelegt hatte.

Mit dem britischen Evolu-tionstheoretiker John Burdon Sanderson Haldane fand sich ein wei-terer Befürworter des Klonens auf dem Ciba-Symposium. Haldanewar der für seinen provozierenden Stil bekannte Autor von Daeda-lus – or Science and the Future (London: Kegan Paul), einer weiterenWissenschaftsutopie, in der bereits 1923 die Kontrolle der Repro-duktion als zentrales Moment der Lebenswissenschaften im 20. Jahr-hundert dargelegt worden war. Mit explizitem Bezug auf den Ro-man Brave New World (1932) seines Jugendfreundes Aldous Huxleysprach Haldane von der »klonischen Vermehrung« als einer mensch-lichen Fortpflanzungsform der Zukunft, wobei auch er, ähnlich wieMuller, die klonische Reproduktion von Menschen höheren Altersmit außergewöhnlichen Begabungen vor Augen hatte.26

26 John Burdon Sanderson Haldane, »Biologische Möglichkeiten für die mensch-liche Rasse in den nächsten zehntausend Jahren«, in: Jungk/Mundt, (Hg.), Dasumstrittene Experiment: Der Mensch, (wie Anm. 24), S. 367-391, hier S. 382 f.

In dem neuen diskursiven Repräsentationsraum, der sich allmäh-lich entlang der Vorstellung einer ›neuen Biologie‹ entfaltete, ver-mischten sich Motive, die dem wesentlich älteren Eugenikdiskursentstammten, mit neuen, für die 1960er Jahre typischen populärenkybernetischen Versatzstücken, etwa den Phantasien des »halbma-schinisierten Supermenschen«.27

27 »Zukunft: Todlos glücklich« (wie Anm. 22), S. 89.

Eindrucksvoll zeigt sich diese Ver-mengung von Motiven in den Darstellungen Joshua Lederbergs, derim Vergleich zu Muller und Haldane in den 1960er Jahren der nochrelativ jungen Generation der Molekularbiologen angehörte. Leder-berg war selber nicht in der Reproduktionsmedizin oder embryolo-

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gischen Forschung tätig. Dennoch wurde er Ende der 1960er Jahrezu einer vielzitierten Stimme im entstehenden Klon-Diskurs.28

28 Vgl. z.B. Alvin Toffler, Der Zukunftsschock (1970), 3. Aufl., Bern 1971 (engl. Orig.:Future Shock, London 1970), sowie Gordon Rattray Taylor, Die biologische Zeit-bombe. Revolution der modernen Biologie, 3. Aufl., Frankfurt am Main 1969 (engl.Orig.: Biological Time Bomb, London 1968), die sich maßgeblich auf Interviewsbzw. Aussagen von Lederberg stützten.

Richtungweisend hierfür war ein Artikel Lederbergs zu »Experi-mental Genetics and Human Evolution«, der 1966 im Bulletin of theAtomic Scientists veröffentlicht wurde, einer Zeitschrift, die sichdezidiert dem Verhältnis von Wissenschaft und Gesellschaft wid-mete. Hier entwickelte Lederberg die spezifische Vision eines »gene-tic design«, für deren Forschungsprogrammatik er den Begriff der»algeny« einführte.29

29 Joshua Lederberg, »Experimental Genetics and Human Evolution«, in: Bulletin ofthe Atomic Scientists. A Journal of Science and Public Affairs 22/8 (1966), S.4-11, hierS.9.

Darunter verstand Lederberg eine Art »geneti-scher Alchimie«, eine gentechnische Transformation des Humanen.Zwischen der Rolle des Mahners und derjenigen des engagiertenBefürworters wechselnd, argumentierte Lederberg primär mit derUnausweichlichkeit einer durch Biotechniken geprägten und vorallem vorangetriebenen Zukunft: »Recent discussions of controlledhuman evolution have focussed on two techniques: selective breed-ing or eugenics, and genetic alchemy, or algeny. Their implementa-tion will doubtless proceed even without an adequat basis of under-standing of human values, not to mention vast gaps in human gene-tics.«30

30 Ebd., S. 11.

Der Eugenik, deren Selektionsdenken ein evolutionstheore-tisches und daher ein auf lange Zeiträume ausgerichtetes Modellzugrunde läge, stellte er die von ihm so bezeichnete, wesentlich kurz-fristiger wirksame »Euphänik«31

31 Joshua Lederberg, »Die biologische Zukunft des Menschen«, in: Jungk/Mundt(Hg.), Das umstrittene Experiment: Der Mensch (wie Anm. 24), S. 292-301, hierS.293.

zur Seite, worunter er die Steuerungder menschlichen Individualentwicklung faßte. Es blieb nicht nurbei programmatischen Statements, Lederberg skizzierte auch kon-krete Zukunftsfelder solcher Techniken. In der Hochphase der Welt-raumeuphorie diskutierte er zum Beispiel, daß man in der ZukunftKlonpaare erschaffen könne, die aufgrund ihrer neurologischen Ähn-lichkeit über eine außergewöhnliche Kommunikationsgabe unterein-

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ander verfügten und damit für besondere Arbeitseinsätze im Weltalloder auch der Tiefsee gebraucht werden könnten.

Klonen und die genetischen Hybridisierung des Menschen warenfür den Molekulargenetiker die beiden zentralen technischen Direk-tiven der evolutiven Selbstgestaltung und Transformation des Hu-manen. Auch wenn Lederberg den Begriff des »Transhumanismus«,den Julian Huxley bereits 1957 für die Möglichkeit der evolutivenTranszendenz der Menschheit geprägt hatte,32

32 Julian Huxley, New Vine in New Bottles, London 1957.

nicht benutzte, las-sen sich seine Ausführungen als ein wesentlicher Schritt sehen, diemolekuarbiologische Forschungslandschaft in Richtung transhu-maner Phantasmen auszuweiten. Die Möglichkeit, in die biologi-sche Natur des Menschen einzugreifen, wurde als Akt der individu-ellen Selbstbefreiung aufgefaßt, womit zugleich eine Neudefinitionmenschlicher Individualität notwendig wurde. Als Schlüssel zu ei-ner solchen Neudefinition des Humanen betrachtete Lederbergdas Potential zur Kommunikation – womit er einerseits zukünftigneu in Erscheinung tretende humanoide und intelligenzfähige Ge-schöpfe wie Roboter in die Kategorie des Humanen einschloß33

33 »Was wird dann den Menschen für das Streben nach menschlicher Erfüllung quali-fizieren, was den Unterschied von den anderen durch seinen Geist entworfenenRobotern ausmachen?« (Lederberg, »Die biologische Zukunft des Menschen« (wieAnm. 31), S.299).

undandererseits schon einmal die resultierenden Kreaturen fehlgeschla-gener biotechnischer Transformationen des Menschen, jene von ihmals »subhuman« oder »parahuman« bezeichneten Wesen, prophylak-tisch ausgrenzte.34

34 Lederberg verwies darauf, daß man am Anfang der zukünftigen Entwicklungenzur Verbesserung des Menschen zunächst mit dem Problem der »subhuman hy-brids« konfrontiert werden würde, da es zu Beginn durchaus Fehlschläge der For-schung geben werde (Lederberg, »Experimental Genetics and Human Evolution«(wie Anm. 29), S. 11).

3. Klon-Science-Fiction in den 1970er Jahren

Mit der Vision des geklonten und des genetisch modifizierten Men-schen der Zukunft, entstand im biowissenschaftlich-utopischenDiskurs an der Schwelle zu den 1970er Jahren eine Denkfigur, diedeutliche Parallelen zu dem von Katherine Hayles konstatierten

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»Posthumanismus« im Feld von Kybernetik und Forschungen zurartifiziellen Intelligenz aufweist.35

35 Katherine N. Hayles, How we Became Posthuman: Virtual Bodies in Cybernetics, Lli-terature, and Informatics, Chicago 1999.

Gegen diese szientistische Über-schreitung des Humanen, die durch die konkreten Entwicklun-gen in der damaligen Gentechnik weitere Bestätigung zu erfahrenschien, regte sich nicht nur von philosophischer und ethischer SeiteWiderstand.36

36 Hans Jonas, »Laßt uns einen Menschen klonieren: Von der Eugenik zur Gentech-nologie« (1974), in: ders., Technik, Medizin und Ethik. Praxis des Prinzips Verant-wortung, Frankfurt am Main 1987, S. 162-203, hier S. 197; Günther Anders, DieAntiquiertheit des Menschen. Bd. 2.: Über die Zerstörung des Lebens im Zeitalter derdritten industriellen Revolution (1980), 3. Aufl., München 2002.

Auch die Science-Fiction, die zu dieser Zeit das Klon-Motiv entdeckte,37

37 Literarische Vorgängerfiguren gibt es natürlich in Form der Figur des Doppelgän-gers, künstlich erschaffene Geschöpfe in der Tradition von Shelleys Frankenstein,des menschlichen Automaten oder der Androiden, Golems etc.; aber Figuren, dieexplizit als ›Klone‹ bezeichnet werden, kennt die Erzählliteratur nicht vor den spä-ten 1960er Jahren.

reagierte auf die durch die biowissenschaftlichen/biotechnischen Entwicklungen ausgelösten anthropologischen Ver-unsicherungen. Während die philosophische Reaktion zumeist kri-tisch den drohenden Grenzüberschreitungen der biowissenschaft-lichen Deutungsmacht entgegentrat – so diskutierte Hans Jonas dasGefahrenpotential der Klonierung und den damit drohenden »me-taphysische(n) Bruch mit dem normativen Wesen des Menschen«38

38 Hans Jonas, »Laßt uns einen Menschen klonieren« (wie Anm. 36), S. 197.

vor dem Hintergrund des Holocausts und Günther Anders sah dieantihumanen Tendenzen der Gentechnik eingebunden in eine tech-nische Rationalität, die dem ökonomischen Kalkül der industriellenVerwertbarkeit folgt und schließlich den Menschen selbst zu einerbloßen Ressource degradiert39

39 Günther Anders, Die Antiquiertheit des Menschen (wie Anm. 36), S. 22-25.

–, bewegte sich die Science-Fiction alsElement der populären Kultur zunächst freilich auf einer ganz undgar anderen Reflexionsebene: Ihr Charakteristikum war nicht dernormative Diskurs, sondern die Imagination und fiktive Ausgestal-tung möglicher Klon-Welten. Gleichwohl erfüllte sie damit etwas,was in Anlehnung an Nicolas Pethes als eine Art »literarischer An-thropologie der Lebenswissenschaften«40

40 Nicolas Pethes, »Terminal Men. Biotechnological Experimentation and the Re-shaping of ›the Human‹ in Medical Thrillers«, in: New Literary History 36 (2005),S.161-185.

bezeichnet werden kann:

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Gerade weil sie sich nicht von vornherein eindeutig einem dystopi-schen oder utopischen Muster zuordnen läßt, weil sie nicht primärwissenschaftliche Utopie oder ethische Dystopie darstellt, eröffneteihre fiktive Inszenierung einen Raum, in dem kulturelle und anthro-pologische Anschlussfähigkeiten der biotechnischen Entwicklungenerprobt werden konnten. Obwohl die Klon-Erzählungen oft an diebereits existierenden populären technischen Klon-Visionen der da-maligen Zeit anknüpften, waren sie in der Lage, Umdeutungen derprimär technisch inspirierten Klon-Visionen vorzunehmen und da-mit auch neue Deutungsangebote zu liefern.41

41 Ausführlicher dazu Christina Brandt, »Wissenschaft – Literatur – Öffentlichkeit.Die Bedeutung der Science-Fiction in den 1970er Jahren für die öffentliche De-batte zum Klonen«, in: Sybilla Nikolow/Arne Schirrmacher (Hg.), Wissenschaftund Öffentlichkeit als Ressourcen füreinander, Frankfurt am Main 2007, S. 137-164.

Nicht das fiktive Spielmit biotechnologischen Entwicklungen als solches war das Anlie-gen der Erzählungen, sondern die Auseinandersetzung mit der sichabzeichnenden Frage, was ›Menschsein‹ unter diesen technischenBedingungen bedeuten kann. Auf die anthropologischen Verunsi-cherungen, die mit den biotechnologischen Entwicklungen einher-gingen, reagierten einige der Erzählungen, indem sie die Frage nachder Subjektivität und Individualität des menschlichen Klons in denBlick nahmen. Dem drohenden Verlust des Humanen traten sie miteiner Rückbindung des Klons in den Raum des Menschlichen ent-gegen.

Ein Beispiel für eine derartige Re-Humanisierung der Klonfi-gur liefert die Kurzerzählung »Nine Lives« der US-amerikanischenScience-Fiction-Autorin Ursula K. Le Guin. Als eine Auftragsarbeitfür den Playboy entstanden und dort bereits 1969 veröffentlicht, istes eine der frühen Erzählungen, die explizit die Figur des mensch-lichen Klons ins Zentrum stellte.42

42 Ursula K. Le Guin, »Neun Leben«, in: dies., Die zwölf Striche der Windrose, Mün-chen 1980, S. 161-201.

Le Guin ließ sich durch bereits zirkulierende Klon-Visioneninspirieren. So begegnen wir hier gleich zu Beginn dem von Leder-berg entworfenem Bild der Klon-Gruppe, die über eine telepathi-sche Kommunikationsgabe verfügt und daher zu einem Arbeitsein-satz auf einen fremden Planeten geschickt wird, um dort stationierteWissenschaftler bei geologischen Untersuchungen und bei Minen-Arbeiten zu unterstützen. Erzählt wird dann jedoch eine Geschichte

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der Individualisierung, gewissermaßen der Menschwerdung desKlons: Nachdem es in der bedrohlich gezeichneten Planetenland-schaft zu einem unterirdischen Grubenunfall kommt, den nur eineinzelnes Geschöpf aus der Klon-Gruppe überlebt, ist der überle-bende männliche Klon gezwungen, sich erstmals als eigenständigesIndividuum zu begreifen. Parabelhaft führt die Erzählung vor, wieder zunächst isolierte Klon in der Interaktion mit anderen grund-legende menschliche Erfahrungen wie Einsamkeit, Fremdheit, aberauch Mitleid durchlebt. Die psychologische Akzentuierung desKlon-Themas, die LeGuin, wie sie später schrieb, bewußt eingesetzthatte,43

43 Vgl. ebd., S. 161.

war keine Ausnahme. Die Frage nach der Subjektivität undIndividualität der Klonfiguren wurde auch in anderen Romanendurchgespielt, so etwa in Joshua Son of None (1973) von NancyFreedman, der in teils stereotyper Form von der Klonierung desamerikanischen Präsidenten J. F. Kennedy handelt, oder, literarischanspruchsvoller, in Solution Three (1975) von Naomi Mitchison –einem Buch, das aus feministischer Perspektive bisweilen gerade-zu als eine Gegenerzählung zu Huxleys Brave New World gesehenwurde.44

44 Vgl dazu Maria Aline Salgueiro Seabra Ferreira, I am the Other. Literary Negotia-tions of Human Cloning, Westport 2005, S. 189.

Die Roman-Literatur der 1970er Jahre entdeckte auch dieethisch brisante Frage, was es für ein zukünftiges Geschöpf bedeutenwürde, mit dem Wissen leben zu müssen, die genetische Kopie einesanderen zu sein. Besonders deutlich findet sich diese bioethischeAusrichtung in dem 1976 veröffentlichten Roman Cloned Lives vonPamela Sargent, der das Klonexperiment und seinen ungewissenAusgang aus einer durchgängig psychologischen Perspektive verhan-delt. Die Handlung des Romans beginnt in einer globalen Gesell-schaft im Jahre 2000. Gerade läuft ein Moratorium aus, das bis datodie biowissenschaftliche Klon-Forschung beschränkte. Erzählt wirdnun, wie sich ein Physiker, Paul Swenson, aus teils wissenschaft-lichem, teils narzißtischem Interesse klonen läßt. Neben dem Mo-ratorium, das eine deutliche Anspielung der Autorin auf die Kon-ferenz von 1975 zur rekombinanten DNA-Technik in Asilomar ist,finden sich weitere Bezüge zu den Diskussionen der 1970er Jahre.So wird als Motivation für das Klonexperiment angeführt, was alsMuller/Haldane-Szenario beschreibbar ist, nämlich der Wunsch,die mannigfaltigen intellektuellen Anlagen des schon älteren Paul

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Swenson zu vervielfältigen und für die Gesellschaft nutzbar zu ma-chen. Der Roman positioniert sich selbst explizit im Kontext derbeginnenden bioethischen Debatten, indem er Stellungnahmen ausder Diskussion zitiert: etwa die Vorstellung, daß durch genetischeManipulation und Modifizierung des Menschen zukünftig verschie-dene Typen oder gar verschiedene Arten entstehen könnten, die sichweitgehend vom heutigen Menschen unterscheiden. Klone könntenunsere Auffassungen von der Einzigartigkeit des Individuums un-tergraben und gängige Vorstellungen von Familienstrukturen außerKraft setzen. Nicht zuletzt zitiert der Roman das derzeit immer wie-der beschworene Angstszenario, das im geklonten Menschen vorallem ein gleichgeschaltetes Kollektivwesen sah. Diesen antihuma-nen Zukunftsentwürfen wird in Cloned Lives, worin die Lebensläu-fe der fünf Swenson-Klone als eine komplexe familiäre Bildungsge-schichte erzählt werden und der Frage nachgegangen wird, wiemenschliche Individualität in der Gleichzeitigkeit der Klon-Kopiendesselben Prototyps möglich sein kann, konsequent eine Figurationdes Klons entgegengehalten, die auf eine Ebene des allgemeinMenschlichen referiert. Als am Ende der Erzählung eine der Klonfi-guren gefragt wird: »›Wie war das, Mr. Swenson? Einer der erstengewesen zu sein, meine ich‹«, liest sich die Antwort wie eine Art Re-sümee der erzählten Klon-Geschichten: »Jim schwieg eine Weile. ›Inmancher Beziehung war es schwer‹, antwortete er schließlich. ›Wirwaren anders, und die Leute hatten ein bißchen Angst. Aber diemeiste Zeit hatten wir dieselben Probleme wie alle anderen Men-schen auch.‹«45

45 Pamela Sargent, Die Bio-Bombe, München 1980, S. 222 (amerik. Orig.: ClonedLives, Greenwich, Connecticut 1976).

Die Science-Fiction-Literatur behandelte potentielle Konsequen-zen einer noch visionären biowissenschaftlichen Technik; sie unter-nahm dies jedoch, ohne so grundlegende Kategorien wie Identität,Subjektivität oder Humanität oder auch die Gegenüberstellung vonNatur und Technik grundsätzlich in Frage zu stellen. Die Klone, diein der Science-Fiction der 1970er Jahre in Erscheinung traten, warengerade keine post-human beings,46

46 Vgl. Hayles, How we Became Posthuman (wie Anm. 35).

sondern ließen sich, im Gegenteil,gerade als eine Reaktion auf biowissenschaftliche Utopien des Trans-humanen verstehen. Zumindest die hier behandelten Romane undErzählungen inszenieren den Klon weder als Artefakt noch als hy-

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bride Mensch-Technik-Schnittstelle, sondern als zum Teil tragischesWesen auf der Suche nach Identität. Letztlich vermittelte sie damiteine vielschichtige Antwort auf die biotechnisch-utopischen Szena-rien: Sie entziehen diesen zwar die Deutungsmacht über das Hu-mane, indem sie klarstellen, daß es nicht Technik und Wissenschaftsind, die entscheiden, was das ›Menschsein‹ ausmacht, zugleich wei-sen sie aber auch wenig Distanz zu den technischen Machbarkeits-phantasien im Feld der Wissenschaftsutopien auf, gerade weil sie dieBotschaft vermitteln, daß die potentiellen Produkte biotechnischerManipulationen in den Raum des Humanen einbindbar sind.

4. Höhepunkt der literarischen Experimente:David Rorviks »In his Image«

Das eingangs erwähnte Buch des amerikanischen Wissenschafts-journalisten David Rorvik: In his Image. The Cloning of a Man stelltgewissermaßen den vorläufigen Endpunkt einer Reihe von fiktivenEntwürfen des Menschenklons in den 1970er Jahren dar. Indemzum ersten Mal das Experiment ›Menschenklon‹ konsequent vonden ersten Schritten bis zur Geburt eines geklonten Kindes litera-risch durchgespielt wurde, entwarf die Erzählung ein Bild von denk-baren sozialen Umständen eines solchen Geschehens, wenn auchdas dargelegte Setting vielleicht so manches Klischee bediente: Derfingierte Bericht beginnt damit, wie der Journalist im September1973 in seiner Hütte in den Bergen im Westen Montanas den anony-men Anruf eines Mannes erhielt. Der mysteriöse Anrufer, der sichals »Max« ausgibt, schlägt dem Wissenschaftsjournalisten folgendesGeschäft vor: Gegen eine nicht unerhebliche Geldsumme soll derJournalist behilflich sein, einen Arzt ausfindig zu machen, der bereitist, das Experiment zu wagen, aus dem Zellkern einer Zelle des Mil-lionärs einen genetisch identischen Embryo herzustellen, der einerLeihmutter eingepflanzt werden soll. »Max« stellt sich als ein wohl-habender Geschäftsmann heraus, der – kinderlos und ohne Erben –weder Kosten noch Mühen scheut, das Klonexperiment anzugehen.Der weitere Plot weist Facetten auf, die an eine typische journalisti-sche Enthüllungsgeschichte erinnern: Der Ich-Erzähler zieht Er-kundigungen ein, sowohl über seinen Auftraggeber als auch überBiowissenschaftler und Mediziner, die potentiell für den Auftrag in

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Frage kämen. Dies wird erzähltechnisch dafür genutzt wird, demLeser den damaligen Forschungsstand des Zellkerntransfers darzule-gen. Nachdem ein Arzt gefunden ist, der bezeichnenderweise »Dar-win« genannt wird, und die biomedizinischen Versuche in einereigens dafür ausgestatteten Reproduktionsklinik an einem gehei-men Ort irgendwo in Mittel- oder Südamerika anlaufen, schlägt dasGenre um: Das Buch nimmt den Charakter einer Dokumentationdes ersten Klonexperiments an. Der Ich-Erzähler wird zum Bericht-erstatter der medizinischen Schritte und der mit dem Klonexperi-ment verbundenen sozialen Interaktionen der Akteure. Zwar sinddie Namen der Hauptfiguren – »Max«, »Darwin« und »Spatz«, dieFrau, die das Klonbaby austrägt – erfunden, aber die weiteren Fi-guren der Erzählung verweisen auf Biomediziner, Theologen undEthiker der Zeit. Im ersten Teil des Buches mit dem Zwischentitel»Moral« werden Forschungsstand und Stellungnahmen verschiede-ner Wissenschaftler, Theologen und Philosophen zum Thema Klo-nen sowie verschiedene Zeitungsartikel collagenartig zusammenge-stellt und zum Teil wörtlich zitiert, was in Form fiktiver Gesprächeoder in Form der reflektierenden Lektüre des Ich-Erzählers ge-schieht. Im zweiten Teil des Buches, betitelt mit »Methoden«, bün-delt Rorvik die wissenschaftliche Literatur zur Embryologie, zumedizinischen Verfahren der In-vitro-Fertilisation sowie zum Zell-kerntransfer seiner Zeit und transferiert sie in eine fingiert doku-mentarische Erzählung, die unterschiedliche medizintechnische De-tails in zum Teil erheblichem Maße fiktiv weiter ausgestaltet. EineReihe von Wissenschaftlern, z.B. Joshua Lederberg, findet in demBuch Erwähnung, und eine ausführlichen Bibliographie am Endedes Buches sowie ständige Querverweise auf die wissenschaftlicheQuellenliteratur sollen den Eindruck einer wissenschaftlich fundier-ten Reportage komplettieren.

Nicht nur wegen des ungeheuren Skandals, den es für einigeWochen auslöste, ist Rorviks Buch für eine Geschichte der fiktivenKlonexperimente von Interesse. Mehr noch deshalb, weil es davonzeugt, wie sich das faktisch/fiktive Bezugsraster der Figur des Men-schenklons Ende der 1970er Jahre bereits grundlegend verschobenhatte. Die oben skizzierten wissenschaftsutopischen oder fiktivenVisionen vom Menschenklon, die sich im Verlauf der 1960er und1970er Jahre entwickelt hatten, ließen sich als Entwürfe beschrei-ben, die sich eindeutig auf eine noch ausstehende, wenn vielleicht

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auch drohend nahe Zukunft ausrichteten. Sie waren Ausdruck einergrundlegenden Verunsicherung bezüglich der Auswirkungen biowis-senschaftlichen ›Fortschritts‹ auf das menschliche Selbstverständnis.In diesem Sinne wurde der ›Klon‹ selbst zu einer Metapher oder Pro-jektionsfläche, an dem, wesentlich allgemeiner, biopolitische Fragennach dem Verhältnis von Wissenschaft und Fortschritt sowie Indivi-duum und Gesellschaft verhandelt wurden. Das Buch von Rorvikspitzte diese Auseinandersetzung in mehrerlei Hinsicht zu: Mit demfingierten Report, der Tatsächliches und Mögliches bis zur Unkennt-lichkeit zu verwischen suchte, wurde die Klon-Metapher quasi in dieDetails eines (vermeintlich) tatsächlich durchgeführten Menschen-experiments ausbuchstabiert. Damit wurde auch ein anderes Registerder fiktiven Inszenierungen eröffnet: Nicht mehr das Menschenbildder modernen Biowissenschaften wurde primär verhandelt, sonderndie gesellschaftlichen Umstände möglicher Klon-Praktiken und dieHandlungsweisen der Wissenschaftler standen im Fokus. RorviksBuch trug dazu bei, die Dringlichkeit einer ethischen Auseinander-setzung mit dem Klon-Thema darzustellen, weil die Bündelung derkritischen und befürwortenden Stellungnahmen, die es vornahm,mit aller Nachdrücklichkeit vor Augen führte, daß die Idee, Tiereoder auch den Menschen zu klonen nicht nur virulent, sondernhöchst real zu sein schien.

Die Faszination an der Grenzüberschreitung, Noch-Fiktion alsFaktum darzustellen, scheint einen Nerv der Zeit getroffen zu ha-ben, ansonsten wäre die Aufregung um dieses Buch nur schwer zuverstehen. Deutlich wird daran, daß das Hypothetische, das denMenschenklon als Metapher in dem Jahrzehnt zuvor noch auszeich-nete, sich zu dieser Zeit bereits verloren hatte. Eine Realität desKlons war Ende der 1970er Jahre nicht nur denkbar geworden, son-dern der Diskurs zeichnete sich gerade dadurch aus, daß fast mitSicherheit davon ausgegangen wurde, daß der Menschenklon dem-nächst in irgendeinem Labor auftauchen werde. Diese vorweggenom-mene Realität einer eigentlich fiktiven Figur spiegelt nicht nur gesell-schaftliche Ängste, die durch ein als beschleunigt wahrgenommenesVoranschreiten konkreter und kontrovers diskutierter biotechnischerund reproduktionsmedizinischer Praktiken ausgelöst wurden, son-dern ist sicherlich auch ein Resultat der Science-Fiction, die die Weltder 1970er Jahre bereits mit diversen Klonfiguren bevölkert und ver-traut gemacht hatte. Die gewissermaßen labile Realität der Klonfi-

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gur im öffentlichen Diskurs der Zeit verdeutlicht sich auch an denReaktionen auf Rorviks Buch. Die Kritik an Rorvik entzündete sichweniger an der ethischen Dimension des Klonens, als vielmehr ander Art der Darstellung des Themas. Was Anstoß erregte, war dieTäuschung des Genres, nicht die Illusion der Klon-Handlung selber.So hob Der Spiegel 1978 hervor, daß »Rorviks Doppelgänger-Erzäh-lung nicht sonderlich phantasievoll« anmute. »Zwar will sich dasVerlagshaus Lippincott, offenbar eingeschüchtert durch den Protestder Forscher, nicht mehr festlegen, ob das Werk unter Fiction oderNonfiction fällt – doch für einige Wissenschaftler ist der Unter-schied kaum mehr von Bedeutung.«47

47 Der Spiegel 12 (1978), S. 213.

Und ein Jahr später wurde ineiner ausführlichen Berichterstattung über die Entwicklungen derGentechnik in Bild der Wissenschaft48

48 Vgl. den Aufmacher: »Gen-Ingenieure fordern die Schöpfung heraus: Schaffen sieden Doppelgänger in der Retorte?«, in: Bild der Wissenschaft, Juli 1979, S. 31-41.

festgestellt, daß Rorvik zwareinen »Zukunftsroman« geschrieben habe, nicht jedoch ohne zu be-tonen:

Allerdings einen durchaus wissenschaftlich fundierten. Das Klonen vonLebewesen, also das Herstellen völlig identischer Kopien eines Lebewesens,gelingt heute bereits bei Fröschen [. . .]. Das Klonen von Menschen mag alsoheute noch nicht möglich sein. Aber dies ist lediglich eine Frage der Zeit.Spätestens in 20 Jahren werden wir mikrochirurgisch in der Lage sein, auchvon Menschen identische Kopien herzustellen. Es ist daher nicht verfrüht,sich rechtzeitig über die Konsequenzen Gedanken zu machen – trotz Nobel-preisträger James Watsons Kommentar zum Buch: »Rorviks Verleger müßteerschossen werden.«49

49 Ebd., S. 34.

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Hans-Jörg RheinbergerExperimentalsysteme, In-vitro-Kulturen,

Modellorganismen

Experimentalsysteme

In der biologischen Forschungsliteratur ist der Begriff des »Experi-mentalsystems« zur Charakterisierung von experimentellen Anord-nungen spätestens seit der Mitte des 20. Jahrhunderts geläufig, ins-besondere in Verbindung mit der Etablierung einer sich kraftvollentwickelnden Reagenzglas-Biologie,1

1 Vgl. z.B. Ernest F. Gale/Joan P. Folkes, »Effect off Nucleic Acids on Protein Synthe-sis and Amino-Acid Incorporation in Disrupted Staphylococcal Cells«, in: Nature173 (1954), S. 1223-1227, hier S. 1224.

vor allem aber auch mit derIngebrauchnahme einer Reihe von neuen Modellorganismen wieetwa dem Bakterium Escherichia coli oder dem Tabakmosaikvirus.Auf diese beiden Aspekte von Experimentalsystemen – In-vitro-Kul-turen und Modellorganismen – werde ich später noch einmal zu-rückkommen.

Der Ausdruck »System« ist in diesem Zusammenhang nicht aufeine bestimmte Systemtheorie bezogen; er meint vielmehr das Inte-gral solcher experimenteller Anordnungen, die jedoch ganz unter-schiedlicher Natur sein können. »System« bezeichnet hier einfacheine Art von loser Kohärenz oder Kopplung, und zwar sowohl syn-chron in bezug auf die technischen und organischen Elemente, diein ein Experimentalsystem eingehen, als auch diachron in bezug aufseine zeitliche Dauer, das heißt seine historische Trajektorie. WennNaturgeschichtler und Biologen des ausgehenden 18. Jahrhundertsvon »Systemen« sprachen, dann meinten sie Ideensysteme wie etwaMaupertuis das »System der Eier« oder das »System der Samentier-chen« im Rahmen seiner Beschreibung von Zeugungstheorien,2

2 P. L. Moreau de Maupertuis, »Systeme de la nature«, in: Œuvres (1768) II, Hildes-heim 1965, S. 135-184.

oder wie ebenfalls Maupertuis und Holbach umfassender das»System der Natur«.3

3 Ebd.; Paul Thiry D’Holbach, System der Natur oder Von den Gesetzen der physischenund der moralischen Welt (1770), Berlin 1960.

In diese Gedankengebäude waren sporadischBeobachtungen und Experimente als Argumente eingefügt. Sie wa-

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ren aber nicht die treibenden Kräfte für die Etablierung dieser Sy-steme. 200 Jahre später ist es genau andersherum. Experimentalsy-steme bestimmen die Forschungszusammenhänge, in welche sichTheorien und Theoreme einfügen und von denen sie ihr Geprägeerfahren.

Trotz seiner weit verbreiteten Verwendung in der Alltagsspracheder Wissenschaften, insbesondere der modernen Biowissenschaften,ist der Begriff lange nicht auf seine Brauchbarkeit für die historio-graphische und epistemologische Charakterisierung des modernenForschungsprozesses hin befragt worden. Erste Andeutungen findensich in den Schriften von Ludwik Fleck,4

4 Ludwik Fleck, Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache, Frank-furt am Main 1980.

obwohl er keinen systema-tischen Gebrauch von dem Begriff machte. Fleck hat jedoch sehrauf der Forderung bestanden, den modernen Forschungsprozeß alseinen Strom von Experimenten anzusehen und das Experimentierennicht auf einzelne, isolierte experimentelle Akte zu reduzieren. Erstzu Beginn der 1990er Jahre und im Kontext einer zunehmendenErsetzung einer theoriedominierten durch eine praxisbestimmte Per-spektive auf den Forschungsprozeß hat der Begriff des Experimen-talsystems Eingang in die wissenschaftsphilosophische und wissen-schaftshistorische Literatur gefunden.5

5 Hans-Jörg Rheinberger, Experiment, Differenz, Schrift. Zur Geschichte epistemischerDinge, Marburg 1992; Hans-Jörg Rheinberger/Michael Hagner (Hg.), Die Experi-mentalisierung des Lebens. Experimentalsysteme in den biologischen Wissenschaften1850/1950, Berlin 1993; Hans-Jörg Rheinberger, Experimentalsysteme und epistemischeDinge. Eine Geschichte der Proteinsynthese im Reagenzglas, Frankfurt am Main 2006.

Es bedarf der Rechtfertigung, wenn man eine Kategorie der Ak-teure aufgreift, sie aus dem Sprachgebrauch des Labors heraus-nimmt und sie zu einer zentralen historiographischen und episte-mologischen Kategorie zur Charakterisierung der Dynamik des em-pirischen Forschungsprozesses der modernen Wissenschaften macht.Der Vorzug des Begriffs liegt in seiner Fähigkeit, wesentliche Aspektedes wissenschaftlichen Arbeitsprozesses wie Instrumente und Meß-geräte, Präpariervorrichtungen verschiedener Art, die nötigen Fer-tigkeiten, um diese sinnvoll anzuwenden, die Objekte, denen dieseVorrichtungen und Fertigkeiten gelten, und nicht zuletzt die Räu-me, in denen sie zueinander in Beziehung gesetzt werden, zusam-men zu denken und zusammenzubinden. Er verweigert sich also der

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Beschreibung der Wissenschaft als einem bloßen System von Begrif-fen. Er beschreibt vielmehr die Forschung als einen Prozeß der Ent-stehung von Wissen oder, um mit Bruno Latour zu sprechen, von»Wissenschaft in Aktion«.6

6 Bruno Latour, Science in Action. How to Follow Scientists and Engineers throughSociety, Cambridge 1987.

Die Charakterisierung von Experimentalsystemen in bezug aufihre allgemeineren Aspekte habe ich an anderer Stelle ausführlichvorgenommen.7

7 Rheinberger, Experimentalsysteme und epistemische Dinge (wie Anm. 5).

Sie kann hier nur in sehr kondensierter Form wie-derholt werden. Experimentalsysteme weisen epistemisch-technischeebenso wie sozial-institutionelle Aspekte auf. Der soziale und institu-tionelle Aspekt hängt mit der Tatsache zusammen, daß Experimental-systeme immer lokal begrenzte, konkrete Forschungszusammenhän-ge darstellen, die eine kohärente Umgebung für die Aktivitäten eineseinzelnen Forschers oder einer ganzen Forschergruppe schaffen. Siestrukturieren damit auch das Laborleben. Gleichzeitig stehen sie füreine ausreichende Abgrenzung zu anderen solcher Einheiten, dasheißt, sie verleihen der Arbeit eines einzelnen Forschers oder einerForschergruppe Identität und Individualität und machen ihren Wie-dererkennungswert aus.

Ich möchte kurz die epistemischen und technischen Aspekte vonExperimentalsystemen in ihren Grundzügen beschreiben. Sie lassensich in vier Punkten zusammenfassen. Erstens stellen solche Systemedie kleinsten, integralen Einheiten empirischer Forschung dar. Insolchen Einheiten verbinden sich wissenschaftliche Objekte – »epi-stemische Dinge«, wie ich sie genannt habe – und technische Ob-jekte – die technischen Bedingungen ihrer Existenz – unauflösbarmiteinander. Die erste Entität, das wissenschaftliche Objekt, ist je-nes schwer definierbare Etwas, um dessentwillen das ganze experi-mentelle Unternehmen da ist und um welches es kreist. Paradoxgesagt, verkörpert es in einer experimentell manipulierbaren Weiseetwas, das man noch nicht genau kennt. Epistemische Dinge sinddemnach notorisch unterdeterminiert; sie sind sozusagen defini-tionsgemäß undefinierbar. Im Gegensatz dazu sind die technischenObjekte auf charakteristische Weise determiniert. Es sind die Instru-mente, Apparate und Vorrichtungen, die den Zugriff auf die episte-mischen Dinge einfassen. Ihre Rigidität ist nötig, um die Vagheit derwissenschaftlichen Objekte auf einer unterkritischen Stufe zu hal-

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ten. Innerhalb eines bestimmten Forschungsvorganges können vor-mals epistemische Dinge sich in technische verwandeln und in dietechnischen Systembedingungen Eingang finden. Teile des techni-schen Systems können aber auch epistemischen Status erlangen undsich so in Forschungsgegenstände verwandeln. Die Dialektik zwi-schen Epistemischem und Technischem ist der Kern eines Experi-mentalsystems; sie ist seine treibende Kraft. Experimentalsystemesind also dynamische Forschungskörper, die wissenschaftlichen Ob-jekten materielle Gestalt verleihen und gleichzeitig die Grenzen ih-rer begrifflichen Apprehension bestimmen.

Zweitens müssen Experimentalsysteme differentiell reproduzier-bar sein, wenn sie Arrangements bleiben sollen, in denen Wissengeneriert wird, das auch einmal jenseits dessen liegt, was man sichhat vorstellen und antizipieren können. Sie fungieren dann, mit ei-nem Wort von Mahlon Hoagland, als »Forschungsgeneratoren«.8

8 Mahlon B. Hoagland, Toward the Habit of Truth. A Life in Science, New York, Lon-don 1990, S. XVII.

Differenz und Reproduktion sind die beiden untrennbaren Seiteneiner Münze. Ihr Spiel bestimmt die Verzögerungen und Durchbrü-che im Verlauf eines Forschungsprozesses. Um produktiv zu bleiben,müssen Experimentalsysteme so angelegt und geführt werden, daßdie Erzeugung von Differenzen zur reproduktiven Triebkraft der gan-zen Maschinerie wird. Um nicht zu dissipieren, müssen ihre techni-schen Komponenten ständig instand gehalten werden. Differentiel-le Reproduktion verleiht Experimentalsystemen eine besondere Artvon Historizität. Sie können, um es mit Ian Hacking zu sagen, ein»Eigenleben« entfalten.9

9 Ian Hacking, Representing and Intervening, Cambridge 1983, S. 150.

Sie sind Einheiten, die sich in der Zeit er-strecken: Sie entstehen, wachsen und können auch wieder verschwin-den. Das macht ihre Eigenzeit aus.

Drittens sind Experimentalsysteme jene Einheiten, in denen diemateriellen Bedeutungsträger des Wissens hergestellt werden. Siewerden für gewöhnlich als Daten bezeichnet, vielleicht sollte man siejedoch eher Fakten im ursprünglichen Sinne des Wortes nennen –nicht die primären Gegebenheiten, sondern die primären Gemacht-heiten des Forschungsprozesses.10

10 Hans-Jörg Rheinberger, »Wie werden aus Spuren Daten, und wie verhalten sichDaten zu Fakten?«, in: Nach Feierabend. Zürcher Jahrbuch für Wissensgeschichte 3(2007), S. 117-125.

Den Horizont ihrer möglichen Be-

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deutung erhalten sie in Repräsentationsräumen, in denen materielleSpuren und Einschreibungen aufgezeichnet, verknüpft, verschoben,verstärkt, an den Rand gedrängt und ersetzt werden. Forscher »den-ken« in den Grenzen solcher Repräsentationsräume – vielleichtsollte man besser von Räumen der Visualisierung sprechen –,11

1 1 Hans-Jörg Rheinberger, »Sichtbar Machen – Visualisierung in den Naturwissen-schaften«, in: Klaus Sachs-Hombach (Hg.), Bildtheorie, Frankfurt am Main (imDruck).

imopportunistischen und hybriden Kontext der zuhandenen Reprä-sentationsmaschinerie, aus der die technischen Bedingungen einesExperimentalsystems bestehen.

Viertens schließlich können Konjunkturen und Verzweigungenvon Experimentalsystemen zu ganzen Ensembles solcher Systemeoder zu Experimentalkulturen führen. Konjunkturen und Verzwei-gungen sind selbst in der Regel das Ergebnis von nicht vorwegnehm-baren Ereignissen in Experimentalsystemen. Es sind Experimentaler-eignisse, die sich oft der Einführung neuer Darstellungstechnologienverdanken. In letzter Instanz bestimmen solche Experimentalkultu-ren die Umrisse wissenschaftlicher Disziplinen, ihre Entstehung wieauch ihr historisches Vergehen. Der Begriff der Experimentalkulturals eines artikulierten Ensembles von Experimentalsystemen erlaubtes, die Geschichte von Forschungsfeldern frei von der Bürde derDisziplinengeschichte zu schreiben. Das ist jedoch nicht nur einehistoriographische Angelegenheit. Das grundsätzlichere Argumentbesteht darin, daß die experimentellen Wissenschaften – jedenfallsdie experimentellen Wissenschaften des 20. Jahrhunderts – ihre Dy-namik weniger von der Ziehung disziplinärer Grenzen und derensozialer Zementierung beziehen als vielmehr von den Digressionenund den Transgressionen kleinerer Einheiten unterhalb der Ebenevon Disziplinen, in denen das Wissen noch nicht etikettiert undklassifiziert ist und in denen neue Wissensformen Gestalt annehmenkönnen.

Was bringt der Begriff des Experimentalsystems für eine Kultur-geschichte des Menschenversuchs? Zuerst und vor allem hilft uns dievergleichende Untersuchung der komplexen Strukturen, die durchdiesen Begriff eingefangen werden, zu verstehen, wie neues Wissenim Prozeß der Forschung entsteht. Diese Systeme erlauben es abernicht nur, als Forschungsvehikel auf eine geregelte Weise Erkennt-niseffekte zu erzeugen. Sie schaffen auch neue Wirklichkeiten, so-

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ziale wie epistemisch-technische, die ihrerseits alltagsmächtig wer-den können. Über die Manipulation menschlicher Zellen im Rea-genzglas sind sie zu einem unhintergehbaren Realen der modernenBiomedizin und Reproduktionsbiologie geworden. Sie stellen vorSituationen, die bis dahin nicht gegeben waren, mit deren Optionenman sich demnach auch nicht auseinandersetzen mußte und dieüber den klassischen Bereich der Medizin – die Heilung von Krank-heiten – weit hinausweisen auf neue Dimensionen der mensch-lichen Fortpflanzung.

In-vitro-Kulturen

Eine dieser Wissenskonfigurationen, die in den biologischen Expe-rimentalsystemen des 20. Jahrhunderts Gestalt angenommen hatund auch für die Biomedizin wirkmächtig geworden ist, ist die Dif-ferenzierung zwischen In-vitro- und In-vivo-Systemen. Diese Unter-scheidung entwickelte sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts, nach-dem gezeigt worden war, daß nicht nur von Drüsen ausgeschiedene,sondern auch intrazelluläre Enzyme in der Lage sind, ihre Funktionaußerhalb von Zellen, das heißt also im Reagenzglas unter bestimm-ten Pufferbedingungen, auszuüben. Zwar war das Arbeiten an undmit leblosem Material etwa in der medizinischen Pathologie oderder mikroskopischen Histologie eine viel weiter zurückreichendePraxis. Aber die In-vitro-Systeme der ersten Hälfte des 20. Jahrhun-derts waren darauf angelegt, künstliche Umgebungen zu schaffen, indenen Vorgänge untersucht werden konnten, die sich sonst nur imlebenden Körper und in der lebenden Zelle abspielten. Als solchemarkierten sie den Übergang von einem organismischen und zellu-lären zu einem subzellulären und schließlich zu einem molekular-biologischen Wissensregime. In-vitro-Systeme sind normalerweisereduzierte Systeme. Sie heben bestimmte Kennzeichen oder Ele-mente eines komplexen Netzwerkes hervor und eliminieren oderbereinigen andere. Ihre Anfälligkeit für Artefakte, die im gewähltenZugang selbst liegt, muß ständig unter Kontrolle gehalten werdendurch die Rückbindung der Reagenzglassysteme an die In-vivo-Si-tuation. Ein guter Teil der Geschichte der Biologie des 20. Jahrhun-derts hat sich auf dieser Grenze abgespielt und sie nach allen mög-lichen Richtungen abgetastet und ausgelotet.

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Parallel zur Reagenzglas-Biochemie mit Extrakten aus Zellen undGeweben entwickelte sich eine zweite experimentelle In-vitro-Kultur:die Kultur von intakten Geweben und einzelnen Zellen außerhalbihrer normalen organischen Einbindung.12

12 Hannah Landecker, Culturing Life. How Cells Became Technologies, Cambridge 2007.

Hier ging es darum, einäußeres Milieu zu schaffen, in dem isolierte Zellen Wachstumser-scheinungen zeigten oder isolierte Organe und Gewebestücke Stoff-wechselumsätze tätigten, die mit Mikromethoden in ihrer neuenUmgebung quantitativ erfaßt und analysiert werden konnten. Aberauch hier galt, was in einem modernen Lehrbuch über die Moleku-larbiologie der Zelle wie folgt ausgedrückt wird: »Während es oftvon großem Vorteil ist, das komplexe Verhalten von Zellen unterden streng definierten Bedingungen einer Kulturschale studierenzu können, müssen die Beobachtungen doch früher oder spätermit dem Verhalten der Zellen in ihrer natürlichen Umgebung invivo abgeglichen werden.«13

13 Bruce Alberts/Dennis Gray/Julian Lewis/Martin Raff/Keith Roberts/James D.Watson, Molecular Biology of the Cell, New York, London 1983, S. 160 f. Nichtuninteressant ist es vielleicht, hier zu vermerken, daß diese Bemerkung in der drit-ten Auflage des Lehrbuchs von 1994 ersatzlos gestrichen wurde.

Erste Versuche wurden zu Beginn des20. Jahrhunderts mit isolierten tierischen Nervenzellen gemacht.Entscheidend für den Vorgang erwies sich die Wahl des Substrates,in das die Zellen eingebettet wurden.14

14 Ross G. Harrison, »The Outgrowth of the Nerve Fiber as a Mode of ProtoplasmicMovement«, in: Journal of Experimental Zoology 9 (1910), S. 787-846; Haig Keshi-shian, »Ross Harrison’s ›The Outgrowth of the Nerve Fiber as a Mode of Protoplas-mic Movement‹«, in: Journal of Experimental Zoology 301A (2004), S. 201-203.

Der mehr oder weniger festeGewebeverband mußte durch eine geeignete, mehr oder wenigerfeste Unterlage ersetzt werden. Alexis Carrel am Rockefeller Insti-tute in New York City war der erste, der damit begann, menschlicheZellen in Kultur zu halten. Hannah Landecker hat darauf hinge-wiesen, daß das Halten von Geweben und Zellen im Reagenzglasbei Carrel mit dem Wunsch verbunden war, deren im Verband desOrganismus begrenzte Lebenszeit aufzuheben und sie durch pe-riodische Erneuerung des Kulturmediums und damit durch die Ent-fernung von toxischen Stoffwechselprodukten gewissermaßen un-sterblich zu machen.15

15 Hannah Landecker, »Immortality, In Vitro: A History of the HeLa Cell Line«, in:Paul Brodwin (Hg.), Biotechnology and Culture: Bodies, Anxieties, Ethics (Theoriesof Contemporary Culture 25), Bloomington, Indiana 2000, S. 53-72.

In vitro sollte also hier in merkwürdiger

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Umkehrung der Verhältnisse keine Einschränkung bedeuten, son-dern geradezu die Potenzierung von Leben. »Wenn diese Metaboli-ten in kurzen Zeitabständen entfernt werden und die Zusammen-setzung des Mediums konstant gehalten wird«, verkündete Carrel,»bleiben die Zellkolonien beständig im gleichen Aktivitätszustand.Sie registrieren qualitativ keine Zeit. Sie sind de facto unsterblich.«16

16 Alexis Carrel, »Physiological Time«, in: Science 74 (1929), S. 618-621, hier S. 621.

Hier fand also die Kontroverse um die potentielle Unsterblichkeitvon Einzellern, wie sie im ausgehenden 19. Jahrhundert theoretischgeführt17

17 August Weismann, Ueber die Dauer des Lebens, Jena 1882; Alexander Goette, Überden Ursprung des Todes, Hamburg, Leipzig 1883.

und von den Protozoologen der Zeit dann auch experimen-tell angegangen wurde,18

18 Vgl. dazu Rheinberger, Experimentalsysteme und epistemische Dinge (wie Anm. 5),Kapitel 5.

ihre in vitro gewendete Fortsetzung mitZellen höherer Organismen. Bei diesen Versuchen ging es schließ-lich darum, Lebensäußerungen von Zellen, die im intakten Gewe-beverband nicht registriert werden konnten oder vielleicht gar un-terdrückt waren, im Reagenzglas allererst sichtbar zu machen. DasReagenzglas fungierte als eine stimulierende Umgebung; es ersetztedas innere Milieu des Organismus nicht nur, sondern präsentiertesich als dessen produktive Steigerung.

Modellorganismen

Eine weitere Erscheinungsform von Experimentalsystemen in denBiowissenschaften des 20. Jahrhunderts besteht darin, daß sie zu-nehmend an die Verwendung von Modellorganismen geknüpftsind.19

19 Jean Gayon, »Les organismes modeles en biologie et en medecine«, in: GabrielGachelin (Hg.), Les organismes modeles dans la recherche medicale, Paris 2006,S. 11-52.

Unter evolutionärem Gesichtspunkt erscheint es als eine be-sondere Eigenschaft von Lebewesen, daß die Unterschiede, die zwi-schen ihnen bestehen, sich einer tiefen historischen Kontingenz ver-danken. Diese Unterschiede können also auch nur am Einzelfallbestimmt werden. Doch der moderne Biologe nimmt ebenfalls an,daß es zwischen den verschiedenen Organismen Gemeinsamkeitengibt, die, einmal entwickelt, sich im Laufe der weiteren Evolution

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über die Arten hinweg erhalten haben. Sie repräsentieren mehr oderweniger weitreichende Stoffwechsel- oder Entwicklungsmechanis-men, die es im Sinne zellulärer und molekularer Strukturen undFunktionen zu charakterisieren gilt. Diese Situation konfrontiertden Biologen mit zwei Problemen. Das erste besteht darin, daß es imwesentlichen Sache induktiver Verallgemeinerung ist, zu entschei-den, als wie ubiquitär sich eine bestimmte Eigenschaft von Lebewe-sen herausstellt. Es gibt keine apriorischen Gründe für biologischeAllgemeinheiten. Das zweite Problem besteht darin, daß der BiologeEntscheidungen treffen muß: Eine bestimmte Eigenschaft mag ineiner speziellen Klasse von Organismen leichter zugänglich, leichternachzuweisen und in ihren allgemeinen Merkmalen leichter zu be-stimmen sein als in einer anderen. Insofern haben Modellorganis-men gegen Ende des 19. Jahrhunderts in der Physiologie und zuBeginn des 20. Jahrhunderts in der Vererbungsforschung, Zytologieund Embryologie eine zunehmend wichtige Rolle gespielt. Modell-organismen erweisen sich hier als ›ideale‹ Objekte erstens dadurch,daß sich an ihnen ein bestimmtes Phänomen in besonders ausge-prägter Form aufweisen läßt, vor allem aber zweitens, daß sie sich fürdie Einrichtung eines Experimentalsystems als gut handhabbar er-weisen. Dieser letzte Punkt erscheint besonders wichtig: Um als Mo-dellorganismus zu fungieren, muß er in ein Experimentalsystem ein-gebettet sein, in dem er seine Dynamik ausspielen und seine Rolleals Modell erfüllen kann. Diese ›Idealisierung‹ kann so weit gehenund tut es in der Regel auch, daß sie materielle Konsequenzen hat,das heißt, daß in bestimmte Eigenschaften des untersuchten Orga-nismus eingegriffen wird, wie es etwa bei der Schaffung reiner Li-nien oder besonderer Genkombinationen in genetischen Modellor-ganismen geschieht. Die Taufliege Drosophila ist dafür ein besondersgutes Beispiel.20

20 Robert Kohler, Lords of the Fly, Chicago 1994.

Modellorganismen sind demnach in der Regel im-mer auch Organismen, die zu bestimmten Forschungszwecken mo-difiziert worden sind.

Eine Bemerkung über Modellorganismen in der Medizin soll dar-an anschließen und den Faden aus dem vorhergehenden Abschnittüber In-vitro-Kulturen noch einmal aufnehmen. Über die Rolle vonTiermodellen in der Medizin ist ausführlich diskutiert worden, undein guter Teil der medizinischen Grundlagenforschung des 20. Jahr-

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hunderts, besonders die Krebsforschung, hat sich an Tiermodellenabgespielt, insbesondere an der Maus und der Ratte.21

21 Karen Rader, Making Mice. Standardizing Animals for American Biomedical Re-search, 1900-1955, Princeton 2004; Gabriel Gachelin (Hg.), Les organismes modelesdans la recherche medicale, Paris 2006; vgl. dazu auch den Beitrag von Volker Roel-cke in diesem Band.

Modellorga-nismen dienen hier nicht, wie etwa in der Molekularbiologie, derCharakterisierung allgemeiner biologischer Mechanismen, sondernsie sind insofern Modelle, als sie für den Menschen in Bereichen ste-hen können, welche die kulturell gezogenen Grenzen des Menschen-experiments überschreiten. Mit der Kultivierung menschlichen Ge-webes im Reagenzglas, der Proliferation menschlicher Zellen inPetrischalen, der In-vitro-Befruchtung, der Zellklonierung und derManipulation von Stammzellen in der Reproduktions- sowie Ent-wicklungsbiologie und -medizin der letzten Jahrzehnte einerseitsund der genetischen Veränderung von Zellen zu gentherapeutischenZwecken hat es nun den Anschein, als ob wir in eine Epoche ein-träten, die das Endes von Tiermodellen in der Medizin und in derHumanforschung einläutete. Die Molekularisierung und die an-schließende – wie man sagen könnte – Re-Zellularisierung der bio-logischen Forschung hat es ermöglicht, die Spezifika des Menschentendenziell ohne das Dazwischentreten von Tiermodellen zu erfor-schen und entsprechend in seine Zellen einzugreifen. Die Potenzialedieses neuen Forschungsmodus jedoch, insbesondere im Hinblickauf die Reproduktion, die Embryonalentwicklung, die Differenzie-rung und die genetische Modifikation haben auch die Notwendig-keit geschaffen, neu über die Grenzen des Humanexperiments zudiskutieren. Denn auch hier gilt, daß Modellorganismen immerauch modifizierte Organismen sind. Indem der Mensch gewisser-maßen zum Modell seiner selbst wird, nimmt auch dieses ›Modellie-ren‹ unvermeidlich die Bedeutung einer Humanmodifikation an. Esbedarf deshalb dringend der Diskussion, wie weit eine solche Modi-fikation – insbesondere in ihren genetischen Formen – gehen darf.

Ein langes Jahrhundert einer In-vitro-Forschungskultur hat mitder Gentechnologie und der Reproduktionsbiologie der letzten Jahr-zehnte die Voraussetzungen dafür geschaffen, daß die Lebenswissen-schaften nunmehr den Weg zurück in die Zelle und den Organis-mus angetreten haben. Nun wird das Innere nicht mehr nach außengestülpt; jetzt wird umgekehrt das Außen, synthetisch und kon-

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struktiv, der Zelle einverleibt. Damit ist keineswegs das Ende derzellfreien Biologie erreicht. Was sich aber abzeichnet, ist eine Rekon-figuration der Scheidelinie zwischen in vivo und in vitro, von drin-nen und draußen. Die Charakterisierung dieser veränderten Kon-stellation gilt es in ihrer Besonderheit und historischen Spezifitätnoch auszuleuchten. Sie ist zugleich eine Rekonfiguration von Na-tur und Kultur.

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Hinweise zu den Autorinnen und Autoren

Christina Brandt ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte in Berlin. Ihre For-schungsschwerpunkte sind Geschichte der Biowissenschaften im20. Jahrhundert sowie Literatur- und Wissenschaftsforschung. Letz-te Publikationen: (Hg. mit Florence Vienne) Wissensobjekt Mensch.Humanwissenschaftliche Praktiken im 20. Jahrhundert, Berlin 2008;Metapher und Experiment. Von der Virusforschung zum genetischenCode, Göttingen 2004.

Wolfgang Uwe Eckart ist Medizinhistoriker und Direktor des In-stituts für Geschichte der Medizin der Ruprecht-Karls-Universi-tät Heidelberg. Seine Forschungsschwerpunkte sind Medizin undKrieg, Medizin und Kolonialimperialismus, Medizin und Gesell-schaft in Deutschland, 1871-1990. Letzte Veröffentlichungen: Ge-schichte der Medizin, 6. Aufl., Berlin 2009; (mit Robert Jütte) Me-dizingeschichte, Köln, Weimar, Wien 2007; Medizin und Gesell-schaft im Krieg, Deutschland 1914-1918 (in Vorbereitung), Paderborn2009.

Petra Gehring ist Professorin für Philosophie am Institut für Philo-sophie der TU Darmstadt. Forschungsschwerpunkte sind Metaphy-sik und Metaphysikkritik im 19. und 20. Jahrhundert, Phänome-nologie, (Post-)Strukturalismus, Theorie- und Machtgeschichte derLebenswissenschaften, philosophische Begriffsgeschichte, Metapho-rologie. Letzte Veröffentlichungen: Traum und Wirklichkeit. Zur Ge-schichte einer Unterscheidung, Frankfurt am Main, New York 2008;Was ist Biomacht? Vom zweifelhaften Mehrwert des Lebens, Frankfurtam Main, New York 2006; Foucault – Die Philosophie im Archiv,Frankfurt am Main, New York 2004.

Birgit Griesecke ist Dozentin für Japanologie an der Freien Universi-tät Berlin. Forschungsschwerpunkte umfassen Wissenschaftstheo-rie (u. a. Experimentalismus), Phänomenologie (Scham, Schmerz,Schuld) und die Philosophie Ludwig Wittgensteins in interkulturel-ler Perspektive. Buchpublikationen: Japan dicht beschreiben. Produk-tive Fiktionalität in der ethnographischen Forschung, München 2001;

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(Hg.) Werkstätten des Möglichen 1930-1936, Würzburg 2008; (Hg.)Ludwik Flecks vergleichende Erkenntnistheorie, Berlin 2008.

Christoph Hoffmann ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte in Berlin und Privatdo-zent für Neuere Deutsche Literatur an der Europa-Universität Viad-rina Frankfurt (Oder). Forschungsschwerpunkte: Schriftformen desWissens, tierische Welten, Faktengewalt. Neueste Publikationen:(Hg. mit Caroline Welsh) Umwege des Lesens. Aus dem Labor philo-logischer Neugierde, Berlin 2006; Unter Beobachtung. Die Sinne derNaturforschung 1750-1830, Göttingen 2006; (Hg.) Daten sichern.Schreiben und Zeichnen als Verfahren der Aufzeichnung, Zürich, Ber-lin 2008.

Marcus Krause ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Kulturwis-senschaftlichen Forschungskolleg »Medien und kulturelle Kommu-nikation«, Köln. Forschungsschwerpunkte zu Literatur- und Me-dientheorien, Diskursgeschichte der Psychologie, Literatur der Ro-mantik. Letzte Veröffentlichungen: (Hg. mit Nicolas Pethes, BirgitGriesecke und Katja Sabisch) Menschenversuche. Eine Anthologie1750-2000, Frankfurt am Main 2008; (Hg. mit Nicolas Pethes) Mr.Münsterberg und Dr. Hyde. Zur Filmgeschichte des Menschenexperi-ments, Bielefeld: 2007; (Hg. mit Christina Bartz) Spektakel der Nor-malisierung, München 2007.

Nicolas Pethes ist Professor für Europäische Literatur und Medienge-schichte an der Fernuniversität in Hagen. Forschungsschwerpunk-te zur Theorie des kulturellen Gedächtnisses, zur Wissenschaftsge-schichte und zur literarischen Anthropologie. Veröffentlichungen:Zöglinge der Natur. Der literarische Menschenversuch des 18. Jahrhun-derts, Göttingen 2007; Spektakuläre Experimente. Allianzen zwischenMassenmedien und Sozialpsychologie im 20. Jahrhundert, Weimar2004; (Hg. mit Marcus Krause) Literarische Experimentalkulturen.Poetologien des Experiments im 19. Jahrhundert, Würzburg 2005.

Ramon Reichert ist Privatdozent für das Fach Medienwissenschaft/Medientheorie und Universitätsassistent am Institut für Medien/Medientheorie der Kunstuniversität Linz. Forschungsschwerpunk-te: Visuelle Kultur, Wissensgeschichte, Kulturtechniken/mediale

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Praktiken. Letzte Veröffentlichungen: Im Kino der Humanwissen-schaften. Studien zur Medialisierung wissenschaftlichen Wissens, Biele-feld 2007; Amateure im Netz. Selbstmanagement und Wissenstechni-ken im Web 2.0, Bielefeld 2008; Das Wissen der Börse. Medien undPraktiken des Finanzmarktes, Bielefeld 2009.

Hans-Jörg Rheinberger ist Direktor am Max-Planck-Institut für Wis-senschaftsgeschichte in Berlin. Forschungsschwerpunkte: Histori-sche Epistemologie, Geschichte und Theorie des Experiments,Geschichte des Vererbungsdenkens. Letzte Veröffentlichungen: Epi-stemologie des Konkreten. Studien zur Geschichte der modernen Bio-logie, Frankfurt am Main 2006; Historische Epistemologie – zur Ein-führung, Hamburg 2007; (mit Staffan Müller-Wille) Vererbung.Geschichte und Kultur eines biologischen Konzepts, Frankfurt amMain 2009.

Stefan Rieger ist Professor für Mediengeschichte an der Ruhr-Uni-versität Bochum. Forschungsschwerpunkte: Wissenschaftsgeschich-te, Medientheorie und Kulturtechniken. Letzte Veröffentlichungen:Kybernetische Anthropologie. Eine Geschichte der Virtualität, Frank-furt am Main 2003; Schall und Rauch. Eine Mediengeschichte derKurve, Frankfurt am Main 2009; Vom Übertier. Ein Bestiarium desWissens, Frankfurt am Main 2006, sowie Das Wuchern der Pflanzen.Ein Florilegium des Wissens, Frankfurt am Main 2009 (beide mit mitBenjamin Bühler).

Volker Roelcke ist Professor für Geschichte der Medizin an der Uni-versität Gießen. Forschungsschwerpunkte: Geschichte und Ethikdes Humanexperiments in der Medizin, Psychiatrie im 19. und 20.Jahrhundert sowie Medizin und Nationalsozialismus. Veröffentli-chungen u.a.: (Hg. mit S. Oehler-Klein) Vergangenheitspolitik in deruniversitären Medizin nach 1945. Institutionelle und individuelleStrategien im Umgang mit dem Nationalsozialismus, Stuttgart 2007;(Hg. mit Christian Bonah) La medecine experimentale au tribunal.Implications ethiques de quelques process medicaux du XXe siecle euro-peen, Paris 2003; (Hg. mit P. Weindling) International Relations inPsychiatry. Germany, Great Britian, and the Unites States throughWorld War II, Rochester 2009.

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Katja Sabisch ist Juniorprofessorin für Gender Studies an der Fa-kultät für Sozialwissenschaften der Ruhr-Universität Bochum. IhreForschungsschwerpunkte sind postfeministische und postkolonia-le Theorien, Medizin und Geschlecht, die Diskursgeschichte derGeschlechterungleichheit sowie die Wissenschaftsgeschichte des19. und 20. Jahrhunderts. Veröffentlichungen: Das Weib als Versuchs-person. Medizinische Menschenexperimente im 19.Jahrhundert am Bei-spiel der Syphilisforschung, Bielefeld 2007; (Hg. mit Birgit Griesecke,Marcus Krause und Nicolas Pethes) Menschenversuche. Eine Antho-logie 1750-2000, Frankfurt am Main 2008; »Die Wissenschaft amDing. Zur Versuchsperson im medizinischen Experiment um 1900«,in: Christina Brandt, Florence Vienne und Thomas Horstmann(Hg.), Wissensobjekt Mensch. Praktiken der Humanwissenschaften imspäten 19. und 20. Jahrhundert, Berlin 2008.

Jakob Tanner ist Professor an der Forschungsstelle für Sozial- undWirtschaftsgeschichte sowie am Historischen Seminar der Universi-tät Zürich. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören die Wis-senschaftsgeschichte, die Geschichte der Ernährung und der Drogensowie die Wirtschafts- und Finanzgeschichte. Letzte Veröffentlichun-gen: »Unfassbare Gefühle. Emotionen in der Geschichtswissenschaftvom Fin de siecle bis in die Zwischenkriegszeit«, in: Uffa Jensen undDaniel Morat (Hg.), Rationalisierungen des Gefühls. Zum Verhältnisvon Wissenschaft und Emotionen, München 2008; »›Fluide Matrix‹und ›homöostatische Mechanismen‹«, in: Jörg Martin, Jörg Hardyund Stephan Cartier (Hg.), Welt im Fluss. Fallstudien zum Modell derHomöostase, Stuttgart 2008; (Hg. mit Valentin Groebner und Se-bastien Guex) Kriegswirtschaft und Wirtschaftskriege, Zürich 2008.

Keiichi Tsuneishi ist Professor für Wissenschaftsgeschichte an der Ka-nagawa Universität in Japan mit Forschungsschwerpunkten zur Ge-schichte der biologischen Kriegsführung und der Einheit 731. Ver-öffentlichungen u. a: 731 butai – seibutsu heiki hanzai no shinjitsu,Kodansha, Tokio 1995 (Einheit 731 – Die Wirklichkeit der Verbrechenmit biologische Waffen); Igakusha tachi no soshiki hanzai – kanto gundai 731 butai, Asahi shinbunsha, Tokio 1994 (Organisierte Verbrechender Ärzte – Die Einheit 731 der Kanto-Armee); Senjo no ekigaku, Kai-meisha, Tokio 2005 (Epidemiologie in Kriegsgebieten).

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Margarete Vöhringer ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Zentrumfür Literatur- und Kulturforschung, Berlin. Forschungsschwerpunktesind Kunst- und Wissenschaftsgeschichte, Medientheorie und dierussische Avantgarde. Letzte Veröffentlichungen: Avantgarde undPsychotechnik. Wissenschaft, Kunst und Technik der Wahrnehmungs-experimente in der frühen Sowjetunion, Göttingen 2007; (Hg. mitYvonne Wübben) Phantome im Labor. Die Verbreitung der Reflexein Hirnforschung, Kunst und Technik. Themenheft der Berichte zurWissenschaftsgeschichte 32 (1), Frühjahr 2009.

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