Im Spiegellabyrinth. Webvideo als Form des Verschwörungsdenkens.

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Nachreiner, T. (2012): Im Spiegellabyrinth. Webvideo als Form des Verschwörungsdenkens. In: Hennigfeld, U./Packard, S. (Hg.): Abschied von 9/11? Distanznahmen zur Katastrophe. Berlin: Frank & Timme, S. 173-212. © Frank & Timme © Frank & Timme Verlag für wissenschaftliche Literatur 173 THOMAS NACHREINER Im Spiegellabyrinth. Webvideo als Form des Verschwörungsdenkens Re: Fwd: Conspiracy Wenn man sich am 10. September 2011 in Manhattan aufhielt, konnte man sie wieder sehen: eine kleine Gruppe von Menschen, ausgestattet mit Schildern, auf denen Slogans zu lesen waren wie »9-11 was an inside job«, »Indict Cheney for 9/11« oder »Bush Liar Murderer Terrorist« (Abb. 1). Die bloße Zahl an Teilnehmern dieser Demonstration des sogenannten 9/11 Truth Movement schien für einen gewissen »Zerfall der Truther-Bewegung« 1 zu sprechen, wie ihn Christian Wernicke einige Wochen vor dem 10. Jahrestag der Terroran- schläge des 11. Septembers diagnostiziert hatte. Einen völlig anderen Eindruck erhielt man hingegen tags darauf beim Symposium How the World Changed After 9/11 in der Walker Stage in Manhattan, wo mehrere hundert Menschen – streckenweise mit frenetischer Begeisterung – der »in-depth analysis of the alternative research on 9/11« 2 folgten. An dieser Erfahrung zeigt sich die grundlegende Schwierigkeit bei der Einschätzung dessen, was landläufig unter dem Begriff der ›Verschwörungstheorie‹ subsumiert wird 3 : Ihre Thesen wer- den in aller Regel von sämtlichen staatlichen wie wissenschaftlichen Instituti- onen zurückgewiesen, während ihr Milieu kaum eine Öffentlichkeit in den traditionellen medialen Kanälen erfährt. Begibt man sich jedoch in dieses Milieu, sei es in Form einer Konferenzteilnahme oder der Rezeption seiner ............................................ 1 Christian Wernicke: »Wahrheit und Wahn«, in: Süddeutsche Zeitung (26.08.2011, zit. 01.08.2012), http://www.sueddeutsche.de/politik/verschwoerungstheorien-um-wahrheit-und-wahn- 1.1135079. 2 International News Net: »How the World Changed After 9/11« (o.A., zit. 01.08.2012), http://howtheworldchanged.org/. 3 Zur Definition von Verschwörungstheorie siehe Stephan Gregory: »Das paranoische Pendel. Wendungen des Verschwörungsdenkens«, in: Marcus Krause/ Arno Meteling / Markus Stauff (Hg.): The Parallax View, München: Fink 2011, S. 45–58, hier: S. 45: »Vom einfachen Verschwö- rungsverdacht unterscheidet sich die Verschwörungstheorie durch die Selbstaffirmation als intel- lektuelle Tätigkeit, durch die Huldigung, die sich nicht nur der entborgenen Wahrheit, sondern auch der Brillanz der eigenen Konstruktionen entgegenbringt.«

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THOMAS NACHREINER

Im Spiegellabyrinth. Webvideo als Form des Verschwörungsdenkens

Re: Fwd: Conspiracy

Wenn man sich am 10. September 2011 in Manhattan aufhielt, konnte man sie wieder sehen: eine kleine Gruppe von Menschen, ausgestattet mit Schildern, auf denen Slogans zu lesen waren wie »9-11 was an inside job«, »Indict Cheney for 9/11« oder »Bush Liar Murderer Terrorist« (Abb. 1). Die bloße Zahl an Teilnehmern dieser Demonstration des sogenannten 9/11 Truth Movement schien für einen gewissen »Zerfall der Truther-Bewegung«1 zu sprechen, wie ihn Christian Wernicke einige Wochen vor dem 10. Jahrestag der Terroran-schläge des 11. Septembers diagnostiziert hatte. Einen völlig anderen Eindruck erhielt man hingegen tags darauf beim Symposium How the World Changed After 9/11 in der Walker Stage in Manhattan, wo mehrere hundert Menschen – streckenweise mit frenetischer Begeisterung – der »in-depth analysis of the alternative research on 9/11«2 folgten. An dieser Erfahrung zeigt sich die grundlegende Schwierigkeit bei der Einschätzung dessen, was landläufig unter dem Begriff der ›Verschwörungstheorie‹ subsumiert wird3: Ihre Thesen wer-den in aller Regel von sämtlichen staatlichen wie wissenschaftlichen Instituti-onen zurückgewiesen, während ihr Milieu kaum eine Öffentlichkeit in den traditionellen medialen Kanälen erfährt. Begibt man sich jedoch in dieses Milieu, sei es in Form einer Konferenzteilnahme oder der Rezeption seiner

............................................ 1 Christian Wernicke: »Wahrheit und Wahn«, in: Süddeutsche Zeitung (26.08.2011, zit. 01.08.2012),

http://www.sueddeutsche.de/politik/verschwoerungstheorien-um-wahrheit-und-wahn-1.1135079.

2 International News Net: »How the World Changed After 9/11« (o.A., zit. 01.08.2012), http://howtheworldchanged.org/.

3 Zur Definition von Verschwörungstheorie siehe Stephan Gregory: »Das paranoische Pendel. Wendungen des Verschwörungsdenkens«, in: Marcus Krause/ Arno Meteling / Markus Stauff (Hg.): The Parallax View, München: Fink 2011, S. 45–58, hier: S. 45: »Vom einfachen Verschwö-rungsverdacht unterscheidet sich die Verschwörungstheorie durch die Selbstaffirmation als intel-lektuelle Tätigkeit, durch die Huldigung, die sich nicht nur der entborgenen Wahrheit, sondern auch der Brillanz der eigenen Konstruktionen entgegenbringt.«

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medialen Kanäle, so stößt man auf einen Wissensraum, der nicht nur eine hohe argumentative Kohärenz aufzuweisen scheint, sondern auch eine starke öffentliche Wahrnehmbarkeit behaupten kann. So gesehen beruht das Phäno-men des 9/11 Truth Movement4 auf einer Differenz zwischen Fremdwahrneh-mung und Selbstwahrnehmung, wobei sich erstere vorrangig über print- und TV-basierte journalistischen Darstellungen definiert, während letztere vorran-gig durch netzbasierte Darstellungen etabliert wird. Dementsprechend ist die Denomination von Wissen als ›Verschwörungstheorie‹ sowie die Bezeichnung von Gruppen als ›Verschwörungstheoretiker‹ nicht nur als politische (De-)Le-gitimierungsstrategie zu verstehen, sondern verweist darüber hinaus auch auf die medialen Bedingungen der Wissens- und Wahrheitsgenese.

Abb. 1

............................................ 4 Wenn von ›Gemeinschaft‹ oder ›Bewegung‹ die Rede ist, so ist festzuhalten, dass es sich nicht um

eine zentral organisierte Institution handelt, sondern um eine Vielzahl an einzelnen Gruppen und Personen, die auf unterschiedlichen Ebenen miteinander interagieren. Ebenso sind Inhalt und Form der Zweifel an der offiziellen Version der Anschläge äußerst heterogen und oftmals im flie-ßenden Übergang zu den ebenfalls offiziellen Untersuchungen des Ereignisses situiert, woran deutlich wird, dass eine strikte Definition von Verschwörungstheorie problematisch und unwei-gerlich mit normativen Konnotationen aufgeladen ist. Gleichwohl, so die Annahme, kann auf Ba-sis der vorgängigen Definition das Phänomen der konspirologischen Webvideos kohärent be-schrieben werden.

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Mithin soll im Folgenden der Frage nachgegangen werden, inwieweit die Ver-schwörungstheorien um die Anschläge des 11. Septembers von der Umstruk-turierung der Medienlandschaft durch das World Wide Web beeinflusst sind. Die Indizien hierfür sind Legion: So kommt kaum eine Besprechung von ge-genwärtigen Verschwörungstheorien umhin, auch die Rolle des Netzes als Nährboden und Verstärker des Verdachts zu beschreiben, wahlweise mit den Metaphern einer »Petri dish for paranoids«5 oder einer »paranoid echo cham-ber«.6 Im Gegensatz zu früheren Verschwörungstheorien, z.B. im Kontext des Attentats auf John F. Kennedy, erscheint die Hinterfragung von 9/11 als Kon-sequenz einer »collective action« und in Anlehnung an die Terminologie der Softwareentwicklung als »open source project«7, was strukturelle Auswirkun-gen zu haben scheint:

One result is that elaborate conspiracy theories now can be cobbled to-gether literally overnight through the efforts of hundreds of scattered dilettante conspiracists. Another result is that conspiracists all around the world now tend to focus on the same few dozen talking points that figure prominently on the top websites.8

Die niedrigen Zugangs- und Partizipationsschwellen des Netzes befördern demnach die schnelle Konzentration der Theoriebildung um eine Art Master-narrativ, das, vereinfacht gesprochen und bei aller Uneinheitlichkeit der Teil-narrative, auf der Unterstellung einer mehr oder minder aktiven Involvierung der US-Regierung in die Anschläge aus imperialistischen Beweggründen be-ruht.9 Jodi Dean erkennt darin nicht nur einen Strukturwandel der Öffentlich-keit, sondern sogar eine Veränderung der Realitätskriterien, die offenbart,

[…] that new media can be vitally and virally effective. They help build movements and communities. They provide alternative sources of knowledge and information. The counterknowledge they produce ena-

............................................ 5 Mark Fenster: Conspiracy Theories. Secrecy and Power in American Culture, Minneapolis: Univer-

sity of Minnesota Press 2008, S. 1. 6 Allan Kay: Among the Truthers. A journey through America’s growing conspiracist underground,

New York: Harper 2011, S. XVII. 7 Beide Zitate ebd. S. 229. 8 Ebd. 9 Zum gemeinsamen Nenner der 9/11-Theorien vgl. Fenster, Conspiracy Theories, S. 240f.

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bles the emergence, and the flourishing, of epistemologically differenti-ated spaces. Networked communications – particularly in their contin-ued entanglements with mainstream media – format the terrain of bat-tle between competing conceptions of the Real.10

Wie im Weiteren noch zu sehen sein wird, charakterisiert dieser Aspekt der Gemeinschaftsbildung auch die mediale Dimension der Wahrheitsbewegung, was insbesondere in den Jahren 2005 und 2006 zu einer breiten öffentlichen Wahrnehmung des Phänomens beigetragen hat. Seither wird die Konjunktur des Verschwörungsdenkens zumeist mit Umfragewerten belegt, die sowohl eine überraschend hohe Nicht-Akzeptanz der ›offiziellen‹ Version suggerieren, als auch eine hohe Affinität der Zweifler zur Nutzung von Webmedien nahele-gen.11

Demgegenüber lässt sich der Neuheitscharakter der 9/11-Theorien auch auf statistischer Ebene desavouieren: Mark Fenster weiß zu belegen, dass das öffentliche Misstrauen gegenüber der offiziellen Version des Kennedy-Attentats höher war als nach 9/1112, und wirft damit die Frage auf, ob der Ein-fluss einer veränderten Medienlandschaft auf die Deutung des Ereignisses überhaupt seriös einschätzbar ist.13 Substantiiert wird diese Skepsis durch die vielfache Feststellung, dass es sich beim Verschwörungsdenken um eine anth-ropologische Konstante handelt, die sich in allen historischen Epochen offen-bart14; oder die noch prominentere Beschreibung als ein Kennzeichen von Aufklärung und Moderne im Sinne einer exzessiv übersteigerten Form der Beweisführung.15 Insbesondere für die US-amerikanische Kultur wird dabei eine fast schon strukturelle Verwobenheit von Politik und Verdachtsdenken in Krisenzeiten in Anschlag gebracht:

On one level, such ideas might be attributed simply to the anxieties of a deeply shaken people, desperate to make sense of the shocking events.

............................................ 10 Jodi Dean: Democracy and other neoliberal fantasies. Communicative capitalism and left politics,

Durham: Duke University Press 2009, S. 173. 11 Vgl. ebd., S. 145f. 12 Vgl. Fenster, Conspiracy Theories, S. 244. 13 Vgl. ebd., S. 245. 14 Vgl. Dieter Groh: »Verschwörungen und kein Ende«, in: Gundolf S. Freyermuth / Ingrid Karsun-

ke (Hg.): Verschwörungstheorien (= Kursbuch 124), Berlin: Rowohlt 1996, S. 12–26, hier: S. 23–26. 15 Vgl. z.B. Gregory, »Das paraonoische Pendel«, S. 46 und 51.

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On another level, however, these and similar beliefs alert us to the exist-ence of significant subcultures far outside of the mainstream. Surfacing in times of crisis and bound up with heterodox religion, occult and eso-teric beliefs, radical politics, and fringe science, they have had a long-standing and sometimes potent influence in American life.16

Dergestalt entsteht eine Lesart der amerikanischen Geschichte, in der sich die populistische Bewegung im 19. Jahrhundert, Ku-Klux-Klan und Antisemitis-mus, Antikommunismus und die John Birch Society, Alien-Gerüchte, die Ken-nedy-Ermordung und letztlich 9/11 auf einen strukturellen Nenner bringen lassen. Das Verschwörungsdenken folgt dabei dem Modus einer rationalistisch angelegten und am Politischen ausgerichteten Erklärungsweise:

Conspiracism is, first and foremost, an explanation of politics. It purports to locate and identify the true loci of power and thereby illuminate previ-ously hidden decision making. The conspirators, often referred to as a shadow or hidden government, operate a concealed political system be-hind the visible one, whose functionaries are either ciphers or puppets.17

In diesem Sinne wird Geschichte auf ein dispositionales Konstrukt reduziert, das die Kontingenz des einzelnen historischen Ereignisses zugunsten einer Intentionszuschreibung an die involvierten Akteure ignoriert. Zur Anwendung kommt dabei in aller Regel der präexistente narrative Rahmen eines geheimen Plans, in dem die Täterrolle einer Autorität zugewiesen wird, der man miss-traut18 – im Kontext von 9/11 nimmt diese dann wenig überraschend die Ge-stalt der Bush-Administration, der CIA oder einer Instanz, die diese Instituti-onen als Marionetten befehligt, an.19

Diese Gegenüberstellung offenbart die Intransparenz der medialen Form: Einerseits ist die Imagination der Verschwörung zwar ein medienhistorisch ............................................ 16 Michael Barkun: A culture of conspiracy. Apocalyptic visions in contemporary America, Berkeley:

University of California Press 2003, S. 2. 17 Ebd. S. 178. 18 Vgl. Kay, Among the Truthers, S. 18. 19 Eine dieser Varianten begegnet uns in Gestalt der antisemitischen Verschwörungstheorien, in

denen beispielsweise die USA als Marionette Israels dargestellt werden. Führt man sich die oft er-hobenen Vorwürfe beispielsweise des Irans vor Augen, so wird gerade an diesem Beispiel sichtbar, dass die basalen Figuren des Verschwörungsdenken keineswegs Randerscheinungen, sondern teils sehr zentrale Elemente des politischen Diskurses sind.

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übergreifendes Phänomen, anderseits aber wird allein am Inhalt der Theorien nicht ersichtlich, inwieweit diese ursächlich sein sollen für die gegenwärtige intellektuelle Krise20 oder gar einen Kollaps der kollektiven symbolischen Ord-nung.21 Zur Vertiefung der Problematik soll daher die eingangs beobachtete Kollision verschiedener Mediensphären aufgegriffen werden. Ausgehend von 9/11 als Medienereignis wird dabei die Frage aufgeworfen, inwieweit das Ver-schwörungsdenken bereits a priori medial strukturiert sein muss, und welche Konsequenzen in diesem Zusammenhang das Auftreten neuer Medien hat. Letztlich, so die Vermutung, übernehmen gerade die (audio-)visuellen Dar-stellungen von 9/11 eine zentrale systemische Funktion in der Verarbeitung eines sui generis audiovisuellen Ereignisses, wobei insbesondere ihre Überset-zung in das Netzdispositiv die Möglichkeit neuer Perspektivierungen bietet.

Medienverdacht – Verdachtsmedien

Den Status von Wissen in der Mediengesellschaft beschreibt Niklas Luhmann mit seinen – zumindest in den Medienwissenschaften – wohl am stärksten strapazierten Worten: »Was wir über unsere Gesellschaft, ja über die Welt, in der wir leben, wissen, wissen wir durch die Massenmedien.«22 Soweit die Aus-sage, so bekannt die Feststellung, dass Medien in der modernen Welt als a priori der Weltwahrnehmung fungieren. Weniger beachtet hingegen ist sein anschließender Verweis, dass sich aus dem Wissen über die Eigenrealität der Medien ein grundsätzliches Verdachtsmoment speist:

Andererseits wissen wir so viel über die Massenmedien, dass wir diesen Quellen nicht trauen können. Wir wehren uns mit einem Manipulati-onsverdacht, der aber nicht zu nennenswerten Konsequenzen führt, da das den Massenmedien entnommene Wissen sich wie von selbst zu ei-nem selbstverstärkenden Gefüge zusammenschließt. Man wird alles

............................................ 20 Vgl. Kay, Among the Truthers, S. XIX: »Conspiracy theories […] are both a leading cause and a

symptom of this intellectual and civic crisis.«. 21 Vgl. Dean, Democracy, S. 165f. 22 Niklas Luhmann: Die Realität der Massenmedien, Opladen: Westdeutscher Verlag 1995, S. 9.

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Wissen mit dem Vorzeichen des Bezweifelbaren versehen – und trotz-dem darauf aufbauen, daran anschließen müssen.23

Dies impliziert eine zunächst von Einzelmedien unabhängige Fragilität von Realitätskonzeptionen, sind doch die »Vorzeichen des Bezweifelbaren« nicht medienspezifisch definiert. Das Grundproblem liegt vielmehr auf der Ebene von Referenzialität und Symbolisierung, oder, in Anlehnung an Boris Groys auf den Nenner des Archivs gebracht, in der ›Unähnlichkeit‹ von medialer Darstellung und Wirklichkeit.24 Problematisch ist dabei das Verhältnis von Zeichen und materiellem Träger: da sich letztere dem Blick des Betrachters entziehen, werden erstere der stetigen – und letztlich vergeblichen – Überprü-fung ausgesetzt: »Das Verhältnis des Betrachters zum submedialen Träger-raum ist deswegen seinem Wesen nach ein Verhältnis des Verdachts – ein notwendigerweise paranoides Verhältnis.«25 Ob nun in Luhmann’schen Kate-gorien als kommunikativer Anschluss an die Operationen des Mediensystems gedacht oder als stetiges Schürfen nach der sich entziehenden Materialität des Mediums verstanden: Die mediale Sichtbarmachung der Welt impliziert im-mer auch ihre Negation, d.h. eine Un-Sichtbarmachung der Welt also, sei es in Form von anderen, virtuell bleibenden Perspektiven oder auch in Form der Funktionsweise des medial-materiellen Apparates, die durch die reibungslose Übertragung kaschiert wird.

Lorenz Engell benennt diese »Thematisierung der Differenz von Sichtba-rem und Unsichtbarem«26 als zentrales Element jeder Verschwörungstheorie und verortet es in Synchronizität mit zwei weiteren Operationslogiken27: So werden zum einen die Hindernisse des Erkenntnisgewinns, wie z.B. fehlende Informationen, stetig problematisiert. Eingebettet ist diese Problematisierung dann in ein Narrativ der Geheimhaltung, durch das sich die verschwörungs-theoretische Literatur mittels wechselseitiger Zitation sozusagen selbstreferen-............................................ 23 Ebd. S. 10. 24 Vgl. Boris Groys: Unter Verdacht. Eine Phänomenologie der Medien, München: Hanser 2000, S. 9.

Zur Problematisierung von Groys‘ Leitunterscheidung real / medial siehe Marcus Krause / Arno Meteling / Markus Stauff: »Einleitung«, in: Dies. (Hg.): The Parallax View. Zur Mediologie der Ver-schwörung, München: Fink 2011, S. 9–42, hier: S. 18.

25 Groys, Unter Verdacht, S. 20. 26 Lorenz Engell: »Zeit der Parallaxe. Mediologie als Verschwörungskonzept in David Lynchs Film

FIRE WALK WITH ME», in: Marcus Krause / Arno Meteling / Markus Stauff (Hg.): The Parallax View. Zur Mediologie der Verschwörung, München: Fink 2011, S. 137–152, hier: S. 144.

27 Zur Gleichzeitigkeit der drei Perspektiven, die für eine Verschwörungstheorie qualifizieren, vgl. ebd.

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tiell in ihrem Verdacht bestätigt.28 Folgerichtig ist daher zum anderen, dass Verschwörungstheorien selten neue Fakten finden oder Daten erschaffen, sondern stattdessen über die Herstellung von (neuen) Vernetzungen operie-ren. Vorgängiges (Medien-)Material wird in die Deutungsmuster der jeweili-gen Erzählungen integriert, sodass der Raum des Verdachts im Grunde bis ins Unendliche erweiterbar ist, sei es nun auf der Makroebene bis hin zu quasi-transzendenten Figuren wie David Ickes ›humanoide Reptilien‹29, oder sei es im Verdachtsvorwurf an andere Konspirologen, mit ihren vorgeblich abwegi-gen Theorien letztlich auch bloß Teil der Vertuschung und Manipulation zu sein.30

Unter Maßgabe dieser Operationslogiken ist die Verschwörungstheorie nicht nur ein Phänomen, das mittels verschiedener medialer Kanäle transpor-tiert wird, sondern das sich im Kern seiner Argumentation um Fragen der Medialität drehen muss:

Der parallaktische Blick auf die Welt ist immer auch an mediale Kons-tellationen gebunden, an medientechnische Instrumente, die andere Aspekte eines Objekts sichtbar machen, oder an mediale Formen, die Ereignisse aus unterschiedlichen Perspektiven erzählbar werden lassen. In jedem Fall changiert die resultierende Parallaxe zwischen der Irrita-tion von Wahrnehmung und Subjekt auf der einen und der Aufdeckung einer bislang verborgenen Wahrheit auf der anderen Seite. Medien ma-chen Phänomene sichtbar, die ohne sie nicht erkennbar gewesen wären,

............................................ 28 Gut beobachtbar beispielsweise an Webster Tarpley: 9/11 Synthetic Terror. Made in USA, Joshua

Tree: Progressive Press 2005, das sich stellenweise stark aus Matthias Bröckers: Verschwörungen, Verschwörungstheorien, und die Geheimnisse des 11.9., Frankfurt a.M.: Zweitausendeins 2002 speist, während sich das in den Kernargumenten kaum modifizierte Matthias Bröckers / Christi-an C. Walther: 11.9. Zehn Jahre danach. Der Einsturz eines Lügengebäudes, Frankfurt a.M.: Wes-tend Verlag 2011 wiederum aus Tarpleys Buch speist. Der Begriff »speist« steht hierbei für die undifferenzierte Adaption von Annahmen als unzweifelhafte Fakten, ohne dass Methoden der Verifizierung oder Falsifizierung bemüht werden.

29 Zu finden erstmals bei Rick Martin: »The Biggest Secret. An Interview with David Icke«, in: The Spectrum(03.08.1999, zit. 21.12.2012), http://www.thewatcherfiles.com/david_icke.html.

30 Eine mustergültige Ausprägung dieser Denkfigur findet sich in der Animationsserie South Park (Season 10, Epsiode 9): Mystery of the Urinal Deuce, wenn die Conspiracy Websites als Inszenie-rung der US-Regierung dargestellt werden. Ihre non-fiktionale Entsprechung findet die Denkfi-gur in der stetigen Differenzierung zwischen seriösem Zweifel und absurdem Verdacht, wie sie z.B. von den Scholars for 9/11 Truth im Verweis auf die eigene Verwendung wissenschaftlicher Methoden vorgenommen wird.

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verstellen zugleich aber den Blick auf die Wirklichkeit, indem sie diese gemäß ihrer eigenen Gesetzmäßigkeiten präsentieren und verfremden.31

Medienwechsel und parallaktische Blickverschiebung gehen demzufolge mit-einander einher und bringen eine einschlägige Figur der Mediendifferenz zum Vorschein: »Dass ›Medialität‹ vorgängig, damit unhintergehbar und universell am Werk ist, ist so richtig wie unbeobachtbar.«32 Beobachtbar wird sie, Jürgen Fohrmann zufolge, erst unter Vergleichsbedingungen, d.h. wenn eine kompa-rative Funktions- und Leistungsbestimmung im Lichte anderer Medien erfolgt. Eben dies scheint der Fall beim 9/11 Truth Movement, dessen Welt- und Selbstbild in mehrerlei Hinsicht durch die Differenz der medialen Formen des Netzes gegenüber anderen Medien geprägt ist: Dies betrifft auf diskursiver Ebene den Gemeinschafts-Diskurs der Wahrheitsbewegung, der strukturell mit den Diskursen der Webmedien verwoben ist. Dies betrifft auf dispositiver Ebene die Produktions- und Rezeptionsanordnung des World Wide Web, die die Konstruktions- und Zirkulationsbedingungen von Wissen verändert. Und dies betrifft schließlich auf formaler Ebene die Bild- und Videopraktiken, die durch die Kopplung von Webvideo und Datenbank genuin erst ermöglicht und popularisiert werden. In der Durchdringung dieser Ebenen, so die These, stellen die Verschwörungstheorien um 9/11 nicht nur die Wiederholung eines gängigen politischen Verdachts dar, sondern dehnen die Reichweite der eman-zipatorischen Ermächtigungsfantasien auf die a priori gelagerten medialen Erkenntnisbedingungen aus.

Yes, you. You Control the Information Age

Der Blick auf die diskursiven Selbstinszenierungen der Wahrheitsbewegung zeigt denn auch, dass ihre Kopplung an die Webmedien nicht nur eine von außen herangetragene Interpretation ist, sondern ihr Selbstbild fast schon strukturell durchdringt. Dies bestätigt die Betrachtung von 911truth.org, einer der zentralen, weil von Google hoch gelisteten Seiten: Ihr Grundaufbau bein-haltet einen Header, eine Leiste mit Unterseiten sowie drei Spalten, von denen

............................................ 31 Krause / Meteling / Stauff, »Einleitung«, S. 10. 32 Jürgen Fohrmann: »Der Unterschied der Medien«, in: Ders. / Erhard Schüttpelz (Hg.): Die

Kommunikation der Medien, Tübingen: Niemeyer 2004, S. 5–20, hier: S.6.

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die linke und die rechte jeweils verschiedene Verweise auf weiterführende Ressourcen enthalten, während die mittlere dem klassischen Blogformat ent-spricht (Abb. 2). Mit dem Kopf der Freiheitsstatue als visuellem Headerele-ment wird die patriotische Einstellung der US-amerikanischen Truther bekräf-tigt: Die Verwendung eines übergreifenden Volkssymbols ist hier nicht zufäl-lig, markiert dies doch einen Kontrast zu den Seiten von Regierungseinrich-tungen wie dem Weißen Haus oder der Central Intelligence Agency, auf denen die jeweiligen institutionellen Symbole den Header dominieren.33 Unter dem Namen der Organisation nehmen dann vier Begriffe auf verschiedene Refe-renzdiskurse Bezug: ›Investigation‹ bemüht augenscheinlich das journalisti-sche Register der kritischen Recherche bzw. der politisch-juristischen Untersu-chung; ›Education‹ verweist auf den Erziehungs- und Aufklärungsanspruch; während ›Accountability‹ und ›Reform‹ den politischen Anspruch verdeutli-chen, die Verantwortlichen für 9/11 zur Rechenschaft zu ziehen und davon ausgehend an einer gesellschaftlichen Veränderung mitzuwirken. Die Insze-nierung als politische Bewegung wird weiterhin durch den Spendenaufruf in der linken Spalte, sowie die ›Action Items‹ in der rechten Spalte verdeutlicht: Der Aktivismus beschränkt sich nicht nur auf eine Repräsentation von Stand-punkten in Form von Websites, sondern initiiert auch direkte Ansprachen der politischen Entscheidungsträger, beispielsweise durch Online-Petitionen.34 Gesucht wird hierbei die Assoziation mit anderen Aktivisten, z.B. mit der ebenfalls als »people powered movement« deklarierten Occupy Wall Street-Bewegung.35 Ruft man sich den Slogan »We are the 99 percent« der Wall Street-Besetzer in Erinnerung, so wird die Kohärenz einer Darstellung als Advokaten einer demokratischen Mehrheit auch in Bezug auf die Verwendung von Volkssymbolen umso deutlicher.

............................................ 33 Zur Analyse des Kontrasts vgl. Karsten Wind Meyhoff: »Kontrafaktische Kartierungen. Ver-

schwörungstheorien und der 11. September«, in: Sandra Poppe / Thorsten Schüller / Sascha Seiler (Hg.): 9/11 als kulturelle Zäsur. Repräsentationen des 11. September 2001 in kulturellen Diskursen, Bielefeld: transcript 2009, S. 61-80, hier: S. 64.

34 Für die verlinkte Petition siehe Mark G. (Username): »Revise the U.S. government final report on the collapse of Building 7«, auf: Avaaz.org Community Petitions (07.05.2012, zit. 05.08.2012), http://avaaz.org/en/petition/Revise_the_US_government_final_report_on_the_collapse_of_Building_7/.

35 Für die Website von Occupy Wall Street: NYC Protest for World Revolution siehe http://occupywallst.org (zit. 05.08.2012).

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Abb. 2

Der Blick auf die Untermenüs bekräftigt den Eindruck eines aktivistischen Werkzeugs, das als Informationsressource einerseits und als Partizipations-plattform andererseits konzipiert ist: Unter ›911 Intro‹, ›Research‹ und ›Re-sources‹ wird der Wissensraum der Wahrheitsbewegung geöffnet, sowohl durch Zusammenfassungen der Verdachtsmomente und Vertuschungsvorwür-fe gegenüber der Regierung, als auch mittels der Verweise auf aktuelle Ent-wicklungen und Initiativen in den Blogeinträgen der Seite, was wiederum durch Verlinkungen auf andere Seiten der Bewegung angereichert wird. In diesem Sinne fungiert 911truth.org als eine Art Aggregator, der nicht nur die eigene Sichtweise ausbuchstabiert, sondern durch die hohe Zahl an Verknüp-fungen als zentraler Knoten im Hypertext der Verschwörungstheorie fungiert. Neben den bereits erwähnten Referenzdiskursen wird hierbei nahezu durch-gehend die Semantik wissenschaftlicher Objektivität bemüht, indem neben der titelgebenden ›Truth‹ auch von ›Research‹, ›Facts‹, ›Evidence‹, ›Documentati-on‹, ›Logic‹ und den damit verbundenen Erkenntnismomenten die Rede ist.36 ............................................ 36 Beispielhaft hierfür der »quick course on the shortest path to 9/11 truth« (zit. 05.08.2012),

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Die partizipative Ausrichtung des Projekts ist rhetorisch verankert durch die als basisdemokratisch dargestellte Zugänglichkeit der Erkenntnis für den »Truth Seeker«, mitunter fast schon karikierend verstanden als »pretty simple brain function [that] only requires a little study, logic or curiosity.«37 Struktu-rell findet sich diese partizipative Ausrichtung wiederum in den Sektionen ›Support‹ und ›Get Involved‹: Zwar bietet die Seite – jenseits von Online-Spenden – keine interfacebasierten Partizipationsmöglichkeiten, jedoch refe-rieren die Unterseiten eine Reihe von Ansprechpartnern und konkreten Hand-lungsmöglichkeiten, die dem einzelnen Aktivisten zur Verfügung stehen. Das Spektrum an Vorschlägen reicht von der Teilnahme an organisierten Kampag-nen über die Organisation eigener Events bis hin zu den generell angeratenen Strategien, durch die das Netz der Wahrheitsbewegung weiter gewoben wer-den soll.38

Das ›Mission Statement‹ auf 911truth.org weist nicht nur Analogien zu an-deren politischen Diskursen auf,39 sondern auch eine fast schon systematische Ähnlichkeit zur Diskursivierung des World Wide Web als gesellschaftlicher Kraft. So definiert sich die Wahrheitsbewegung als »grassroots communities«, bestehend aus »citizens of courage« bzw. »hundreds of thousands of activists (millions, now?)«, die in einer »autonomous, decentralized structure« koope-rativ organisiert sind und weltweit gegen »corporatist crimes, abuse and do-minion worldwide« kämpfen für »the rise of popular sovereignty over polity and economy«. Ihr Ziel ist die »full disclosure of hidden realities that affect all of our lives« im Dienste der »purposes of truth and justice, freedom and equal-ity, peace and solidarity among human beings of all lands«.40 Der Gegner ist mit der US-Regierung klar benannt, während der mündige Bürger respektive seine kollektive Projektion, das souveräne Volk, mit emphatischem Gestus als Identifikationsangebot stilisiert wird. 9/11 definiert sich in dieser Lesart als ...........................................................................................................................................................................

http://www.911truth.org/article.php?story=20050204132153814. 37 Beide Zitate ebd. Die religiöse Konnotation des »awakenings« im Lichte der Wahrheit sei an

dieser Stelle zunächst ignoriert; zum »cultic milieu« des Glaubenssystems Verschwörungstheorie vgl. Barkun, A culture of conspiracy, S. 27–29.

38 Ein Panorama der Strategien findet sich in der Sektion »What You Can Do« (17.1.2006; zit. 5.1.2012), http://www.911truth.org/article.php?story=20051204092855498.

39 Auffällig ist die Ähnlichkeit dieses ›Grassroots Activism‹ zu den Strategien des amerikanischen Wahlkampfs, z.B. von Barack Obama im Jahr 2008 und des diesbezüglichen Pioniers Howard De-an im demokratischen Vorwahlkampf des Jahres 2003. Zu letzterem vgl. Joe Trippi: The revolution will not be televized: Democracy, the Internet and the overthrow of everything, New York: Harper Collins Publisher 2004, S. 135–156.

40 Alle Zitate auf der Unterseite »About Us« (26.8.2006; zit. 5.1.2012), http://www.911truth.org/article.php?story=20061014120445472#mission.

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»synthetic […] event«, das von der US-Regierung im Dienste ihrer imperialis-tischen Politik selbst hervorgebracht wurde. Entsprechend gilt es die Beweise der Verschwörung und ihrer Vertuschung offenzulegen, was schließlich die juristische Grundlage der kommenden politischen Reformen darstellen soll.41 Denn das Ziel ist letztlich »to end, by way of integrity and god-given creativity, the regime and illicit power structures responsible for 9/11 and to replace the system that made 9/11 necessary.«42

Diese Konzeption eines demokratischen Aktivismus, der gegen korpora-tive Strukturen und Realitäten opponiert, weist deutliche Analogien zum diskursiven Phänomen ›Web 2.0‹ auf. Relevant ist hierbei weniger die ur-sprüngliche technikbasierte und marketinglastige Definition von Tim O’Reilly43, sondern vielmehr die Beschreibung des populärer werdenden Phänomens in der publizistischen Öffentlichkeit. Beispielhaft für Letzteres steht die Reaktion des TIME Magazine auf den rasanten Aufstieg von Blogs, Wikipedia, YouTube und anderen Plattformen, kürte es doch den gewöhnli-chen ›User‹ zu seiner »Person of the Year« 2006: Jedermann, so die Rhetorik der Covergrafik, der sich auf die Bildschirme der Webmedien zu bringen weiß, wirkt mit an den Geschicken der Informationsgesellschaft (Abb. 3). In Lev Grossmans Laudatio ist dieser Aufstieg der Webtechnologie »a story about community and collaboration on a scale never seen before.« Er ist die Geschichte einer »revolution«, ermöglicht durch das Web als »tool for bring-ing together the small contributions of millions of people and making them matter.« Sie dreht sich um »community and collaboration on a scale never seen before«, und unter den Auspizien eines emanzipatorischen Anspruchs geht es um »the many wresting power from the few and helping one another for nothing and how that will not only change the world, but also change the way the world changes.« Den Nutzern gelingt dabei nichts weniger als »seiz-ing the reins of the global media« und »founding and framing the new digi-tal democracy.« Was in einer weiteren emphatischen humanistischen Volte der Gelegenheit entspricht »to build a new kind of international understand-

............................................ 41 Vgl. ebd. 42 Ebd. 43 Tim O’Reilly: »What is Web 2.0. Design Patterns and Business Models for the Next Generation of

Software«, in: Oreilly.com (30.05.2005; zit. 12.08.2012), http://pages.cs.wisc.edu/~ter/archive/ LIS%20201/Readings/O%27Reilly%20T%202005-09-30%20re%20web%202.0.pdf.

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ing, not politician to politician, great man to great man, but citizen to citi-zen, person to person.«44

Abb. 3

Auch in dieser stark kondensierten Form wird die Verbindung zum Truther-diskurs sichtbar: In beiden Fällen handelt es sich um als revolutionär darge-stellte Bewegungen, die ihre demokratische Legitimation aus einer partizipati-ven und dezentralen Struktur beziehen. Beide versprechen eine Veränderung der Welt unter den Vorzeichen von Gemeinschaft und Kooperation im Kon-trast zu der hierarchischen und somit eben undemokratischen Welt der ›We-nigen‹, der ›Politiker‹ und der ›Unternehmen‹ mitsamt ihres Medien- und Realitätsapparates. Insofern spiegelt die Legitimierungsstrategie der Wahr-heitsbewegung die Rhetorik der Webmedien in ihrem Fokus auf den sozialen ............................................ 44 Lev Grossman: »You – Yes, You Are TIME’s Person of the Year«, in: TIME Magazine U.S.

(25.12.2006, zit. 05.08.2012), http://www.time.com/time/magazine/article/0,9171,1570810,00.html.

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Fortschritt wider. Bzw. insofern folgen beide der Logik eines anti-autoritären Machtdiskurses, den Boris Groys als »zeitgemäße Markt- und Management-strategie«45 verstanden wissen will und mit dem letztlich auch der Partizipa-tionsimperativ der interaktiven Medien korrespondiert.

In diesem Gestus wiederum wurzelt das Problem der Ununterscheidbar-keit, da sich der Webdiskurs qua Form kaum vom grundsätzlich demokrati-schen Gestus der Mediendiskurse im 20. Jahrhundert unterscheidet, ebenso wie sich auch der Verschwörungsdiskurs qua Form kaum vom politisch-wissenschaftlichen Diskurs unterscheidet. Mithin ist die konspirologische Inszenierung diskursiv äußerst plausibel, was allerdings noch nicht erklärt, wie die 9/11-Theorien als »psychotic clone«46 der rationalistischen gesellschaftli-chen Diskurse wirkmächtig geworden sind. Hierzu empfiehlt sich der Blick auf die operativen Spezifika und Formen des Webs, denn wie Jeffrey Melnick anmerkt: »All of the major post-9/11 rumors relied heavily on Web 2.0 and their transmission is inconceivable without the growth of YouTube, Google video, internet message boards, and political blogging and wikis.«47

Datenbanken des Verdachts

Blickt man auf die Konjunkturphasen der Verschwörungstheorien, so war ihre größte öffentliche Prominenz wohl im Jahr 2006. Zu diesem Zeitpunkt hatten sich verschiedene Gruppen formiert und als Wahrheitsbewegung etabliert, waren verschiedene Instrumente der ›Social Media‹ zunehmend einem Mas-senpublikum verfügbar geworden, und war mit dem Internet-Video Loose Change ein audiovisuelles Produkt entstanden, das die Verschwörungstheorie breitenwirksam bekannt machte. Gleichwohl wurde die Skepsis an der offiziel-len Version nicht zu diesem Zeitpunkt geboren, denn schließlich entstanden die ersten Verschwörungstheorien, teils vermischt mit sog. ›Urban Legends‹, im unmittelbaren Nachgang des Ereignisses. Und weiterhin flutete bereits zwischen 2002 und 2005 eine regelrechte Welle an verschwörungstheoretischer Literatur die Bestsellerlisten für Sachbücher48, sodass die journalistische Publi-............................................ 45 Groys, Unter Verdacht, S. 38. 46 Einmal mehr Dean, Democracy, S. 151. 47 Jeffrey Melnick: 9/11 Culture. America Under Construction, Chichester / Malden: Wiley-Blackwell

2009, S. 43. 48 Thierry Meyssan: Pentagate, New York: USA Books 2002; Matthias Bröckers: Verschwörungen,

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zistik sich zu mitunter wütenden Reaktionen gezwungen sah.49 Was die öffent-liche Akzeptanz des Verschwörungsdenkens betrifft, darf überdies die Vorge-schichte des Irak-Kriegs im Jahr 2003 nicht vernachlässigt werden, da der bestenfalls auf fragwürdigen Beweisen beruhende Kriegsgrund der Massen-vernichtungswaffen die Glaubwürdigkeit der US-Administration doch nach-haltig untergraben hat.50 Im Zusammenspiel dieser Faktoren bis zum Jahr 2006 waren die Zugangsvo-raussetzungen zur Konspirologie von 9/11 derart gesenkt und ihre Publizität derart angestiegen, dass sie nicht mehr nur ein Nischen-, sondern ein Massen-publikum erreichen konnte. Schwer einzuschätzen, ob dies als Ursache oder Konsequenz zu bewerten ist, jedenfalls bekannte sich im März 2006 auch Schauspieler Charlie Sheen öffentlich zu seinem Verdacht und gerierte sich fortan als eine Art Aushängeschild der Wahrheitsbewegung.51 Während Sheen im Wesentlichen die gängigen Truther-Argumente vorbrachte, traf er auch eine Aussage, die die mediale Struktur des Ereignisses 9/11 beschreibt: »Sep-tember 11 wasn’t the Zapruder film, it was the Zapruder film festival.«52 Damit wird nicht nur die quantitative Dimension der medialen Überlieferung von 9/11 als »the most digitally documented event of all time«53 angesprochen, sondern gleichzeitig unterstellt, dass die Beweislage für eine Verschwörung im Vergleich zum Kennedy-Attentat noch ungleich erdrückender sei. ...........................................................................................................................................................................

Verschwörungstheorien und Geheimnisse des 11.9., Frankfurt a.M.: Zweitausendeins 2002; und etwas später David Ray Griffin: The New Pearl Harbour, Charles City: Olive Branch Press 2004.

49 In den USA z.B. David Dunbar / Brad Reagan (Hg.): »Debunking 9/11 Myths: Special Report«, in: Popular Mechanics (03.02.2005, zit. 06.08.2012), http://www.popularmechanics.com/technology/ military/news/1227842; in Deutschland v.a. Verschiedene: »Panoptikum des Absurden«, in: Der Spiegel 37/2003, (08.09.2003, zit. 06.08.2012), http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-28530325.html.

50 Vgl. hierzu Melnick, 9/11 Culture, S. 43. 51 Alex Jones / Paul Joseph Watson: »Actor Charlie Sheen Questions Official 9/11 Story«, in: Prison

Planet (20.06.2006, zit. 01.08.2012), http://www.prisonplanet.com/articles/march2006/200306charliesheen.htm. Sein letzter großer diesbezüglicher Mediencoup war wohl die Videobotschaft an Präsident Obama im Jahr 2009, vgl. Charlie Sheen: Twenty Minutes with the President (08.09.2009, zit. 05.08.2012), http://www.infowars.com/twenty-minutes-with-the-president/. Seither hat sich Sheen mit öffent-lichen Stellungnahmen zurückgehalten, was ihm von den Truth-Aktivisten zum Vorwurf gemacht wird, vgl. N.N.: »Charlie Sheen faces protest from 9/11 conspiracy theorists for ›neglecting the cause‹«, in: Daily Mail (18.04.2011, zit. 05.08.2012), http://www.dailymail.co.uk/tvshowbiz/article-1377822/Charlie-Sheen-faces-9-11-conspiracy-theorists-protests-neglecting-cause.html.

52 Zitiert nach Jones / Watson, »Charlie Sheen«. 53 Alice Greenwald, zitiert nach Kerry Willis: »Voice memories part of National September 11

Memorial & Museum«, in: Daily News (11.09.2009, zit. 05.08.2012), http://articles.nydailynews.com/2009-09-11/local/17934070_1_memories-trade-center-site-new-web-site.

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Mit medienwissenschaftlicher Spitzfindigkeit sei jedoch die Frage gestellt, ob die Metapher des Filmfestivals eine treffende Beschreibung ist: Beruht doch die (Re-)Produktion und Distribution des medialen Verdachts nicht so sehr auf der Herstellung einzelner Medienprodukte, die dann in einem kohärenten Kontext zur Aufführung gelangen, sondern vielmehr auf der (quasi-)archi-varischen Sammlung des Materials und ihrer ebenso stetigen wie ubiquitären Verfügbarkeit unter digitalen Bedingungen. Als Produktions- und Rezeptions-dispositiv rückt folglich die mediale Konstellation des World Wide Web in den Blickpunkt, verstanden als ein Netzwerk von hypertextuell miteinander ver-bundenen Datenbanken, zu welchem eine nicht definierbare Zahl an Produ-zenten beiträgt und nahezu jede Form medialen Materials stetig zum Abruf bereitgehalten werden kann. Die Datenbank, verstanden als kulturelle (Samm-lungs-)Form, wird zum zentralen Instrument im Prozess der Überlagerung und Transformation von kulturellen Codes mit den Codes der Informations-technologie und findet ihre wohl umfassendste Formgebung in Gestalt des Webs.54 Wenn also die Wahrnehmung von 9/11 medial verortet werden kann, dann wohl nicht in der Perspektive eines Festivalbesuchers, denn der Konspi-rologe des 21. Jahrhunderts nimmt die Perspektive des Users ein, der, einge-bunden in den Systemzusammenhang von Computer- und Netznutzung, zum interaktiven Betrachter der Datenbank wird.

Jenseits der Metaphorik hat diese Rahmung auch heuristische Konsequen-zen, sowohl was die Positionierung des beobachtenden Subjekts betrifft, als auch im Hinblick auf die damit einhergehenden Modi von Wissensproduktion und Erzählung. Wie Jens Schröter am Beispiel der Videoplattform YouTube ausführt, konstituiert sich der Nutzer der Datenbank durch die Basisoperatio-nen von Selektion und Expression: Angesichts der Überfülle an Information »in the ocean of heterogeneous material«, den das Netz bereithält, »the using subject has to make selections«55 und generiert hierdurch einen je individuel-len Fluss an Informationen auf dem Bildschirm. Diese Selektionsoperationen, sei es in Form von Linknavigation oder Suchanfragen, stellen bereits eine Form der Expression dar, entscheidet doch die so geartete Vergabe von Auf-merksamkeit mitunter über die Popularität von Angeboten. Gleichzeitig aber kann Expression aber auch, je nach Strukturierung der jeweiligen Datenbank, ............................................ 54 Vgl. Lev Manovich: The Language of New Media, Cambridge, Mass.: MIT Press 2001, S. 218–221. 55 Beide Zitate Jens Schröter: »On the Logic of the Digital Archive«, in: Pelle Snickars / Patrick

Vonderau (Hg.): The YouTube Reader, Stockholm: National Library of Sweden 2009, S.330–364, hier: S. 340.

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die Form der Addition von Material annehmen – ein Modus, den insbesonde-re die partizipativen Plattformen in Web 2.0-Umgebungen befördern. Derge-stalt zwischen Rezeption und Produktion positioniert, ist der Nutzer gewis-sermaßen verpflichtet, sein eigenes Verlangen auszudrücken, erwächst doch ausgehend von der technisch fundierten, menübasierten Interaktivität ein regelrechter Partizipationszwang.56

Dieser Partizipationszwang findet sich in Variationen auch quer durch die »9/11 Culture«, wie Jeffrey Melnick am Beispiel der Fotoarchivierung feststellt: Initiativen wie Here is New York, The September 11 Digital Archive oder auch das The September 11 Photo Project57 definieren sich als kuratorisch nicht regu-lierte Sammlungen mit partizipativem Impuls und produzieren hierdurch eine besondere Perspektive auf das Ereignis:

[…] we might say that the 9/11 digital archive – the anything-goes, all are-welcome-at-the-table approach of the major online photo sites – has already become an important political and artistic mode in the years since the tragedy. Uncurated, omnibus, and non-professional (mostly), these collections of 9/11 photographs have a tale to tell through their very abundance.58

Diese Perspektive entspricht dabei einem Versprechen, dass es sich nicht nur um eine Perspektive handelt – vielmehr wird durch die vordergründige Aufhe-bung von Selektionskriterien ein Modell gleichberechtigter, ja nachgerade basisdemokratischer Beteiligung propagiert. Da virtuell jeder zur Abbildung respektive Erzählung des Ereignisses beitragen kann, so die Suggestion, ent-steht eine Pluralität an Perspektiven, die seine historische Komplexität ange-messen bewahren kann. Mittels der Datenbank wird die individuelle Erinne-rung mit dem kollektiven Gedächtnis in einer Form gekoppelt, die auch die Oszillation des memorialen Imperativs ›Never Forget‹ zwischen diesen beiden ermöglicht. Möglich wird dies freilich nur, wenn der Einzelne seiner Verpflich-tung zur Kontribution nachkommt.59 ............................................ 56 Insbesondere zur Kategorie des ›Verlangens‹, vgl. ebd. 57 Für die explizite Beitragsaufforderung siehe z.B. die Website des The September 11 Digital Archive

unter http://911digitalarchive.org/ (zit. 05.08.2012). 58 Melnick, 9/11 Culture, S. 69. 59 Das derart kollektiv konstruierte und imaginierte ›Wir‹ kann freilich hinterfragt werden, sowohl

hinsichtlich der Selektions- und Exklusionsmechanismen, die jede Archivierung unweigerlich mit

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Dieser für die Fotosammlungen charakteristische Modus kennzeichnet auch den weiteren Rahmen der Erinnerungskultur von 9/11. Kaum ein publi-zistisches Unternehmen und kaum eine kulturelle Institution der USA, die nicht an der Sammlung von Zeugenberichten und Artefakten teilgenommen und so die Stimme des Einzelnen – wohl weit jenseits der Imagination der Oral History – nobilitiert hätten. Im Kontext der Webmedien handelt es sich freilich nicht ausschließlich um Zeugenberichte oder Amateurmaterial, son-dern um den weiteren Medienkorpus des Ereignisses. Sei es das Themenportal der New York Times, die Sammlung der TV-Berichterstattung im 9/11 Televisi-on Archive des Internet Archive oder die Materialsammlungen auf den Truther-Seiten: Nur lose durch Schlagworte und Listen sortiert, erhalten die Artefakte auch jenseits der einschlägigen Erinnerungszyklen den Status ständiger Prä-senz und verleihen dem Ereignis seine webspezifische Verstetigung. Erwäh-nenswert ist hierbei der Umstand, dass ebenso wie die Elemente innerhalb einer bestimmten Datenbank auch die jeweiligen Repositorien ohne erkenntli-che Hierarchie nebeneinander stehen, sofern man sie als Anordnung im Netz betrachtet.60 Denn: Im Lichte des Google-Algorithmus haben tradierte institu-tionelle Kategorien für das Ranking von Seiten – zumindest a priori – kein Gewicht, es zählen in erster Linie Faktoren der Popularität wie z.B. der Verlin-kungsgrad oder die Nutzungsstatistiken. Insofern reproduziert sich das Ver-sprechen der gleichberechtigten Teilnahme auf einer höheren Organisations-ebene, wenngleich das Versprechen nicht mehr das einzelne Bild, sondern ganze Webseiten betrifft. Ein Indiz, wie sich die Disposition dieser Samm-lungsform in einer konspirologischen Verwendung niederschlägt, liefert ein oft zitiertes Beispiel von Matthias Bröckers:

Um an die Informationen in diesem Buch zu kommen, musste ich we-der über besondere Beziehungen verfügen, noch mich mit Schlapphü-ten oder Turbanträgern zu klandestinen Treffen verabreden – alle Quel-len liegen offen. Sie zu finden, leistete mir die Internet-Suchmaschine Google unschätzbare Dienste.61

........................................................................................................................................................................... sich bringt, als auch hinsichtlich der Authentizitätsbehauptungen, die mit dem fotografischen Medium assoziiert werden, vgl. ebd., S. 72.

60 Zur Hierarchielosigkeit und Ordnungsverweigerung der Datenbank vgl. Manovich, The Language of Media, S. 225.

61 Bröckers, Verschwörungen, S. 19.

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Nicht nur wird wie selbstverständlich angenommen, dass das Netz als eine Art universelles Archiv62 alle denkbaren Informationen bereithalte, sondern viel-mehr wird der Wissensmodus Web auch normativ in Stellung gebracht: »Zweimal täglich googeln […] – das hilft zuverlässig gegen virulente Manipu-lationen, Propaganda-Infektionen und drohende chronische Verblödung!«63 Was jedoch in Bröckers Büchern systematisch unterbleibt, ist eine angemesse-ne Form der Quellenkritik, die zwischen den von Google hervorgebrachten Quellen differenzieren und diese verifizieren würde. Gerade das Versprechen egalitärer Wertigkeit wird hier zum Fallstrick der Erkenntnisoperationen, scheint es doch die Differenzierung zu erschweren. Mitunter geht dies soweit, dass Falschmeldungen, die zwar an anderer Stelle berichtigt wurden, aber noch immer in den Onlinearchiven zu finden sind, als Grundlage der Argumentati-on dienen.64

Vor diesem Hintergrund zeigt sich eine spezifische Variante dessen, was Lev Manovich als ›Abflachung‹ von Narrativen in die Datenbank bezeichnet: Ein Ereignis wird nicht zeitlich oder kausal aufgeschlüsselt, sondern in seinen Einzelbestandteilen gewissermaßen topologisch sortiert – wobei diese Topolo-gie natürlich nicht der Räumlichkeit des Ereignisses entspricht, sondern aus den Ontologien und Semantiken der Datenbankarchitektur hervorgeht: »One the one hand, a narrative is ›flattened‹ into a database. A trajectory through events and/or time becomes a flat space. On the other hand, a flat space of architecture or topology is narrativized, becoming a support for individual users’ trajectories.« 65

Dieses Prinzip zeigt sich mustergültig im Projekt Complete 911 Timeline der History Commons.66 Unter dem Label der Zeitleiste firmiert hier eine Daten-bank, die die Vorgeschichte, den Hergang und die Konsequenzen von 9/11 auf

............................................ 62 Der Anklang der gängigen Netzutopien seit den 60er Jahren ist hierbei unübersehbar, vgl. zu

selbigen Jens Schröter: Das Netz und die virtuelle Realität. Zur Selbstprogrammierung der Gesell-schaft durch die universelle Maschine, Bielefeld: transcript 2002.

63 Bröckers: Verschwörungen, S. 19. 64 Diese Einschätzung setzt freilich voraus, dass Bröckers Arbeit vom Anspruch auf wissenschaftli-

che Redlichkeit getragen wird, und nicht vom Anspruch einer möglichst kontroversen These. Was durchaus angezweifelt werden kann. Der Mangel an Gegenprüfung des Onlinematerials jedenfalls ist auch einer der stetigen Kritikpunkte des professionellen Journalismus an den methodischen Defiziten der Verschwörungstheoretiker, vgl. z.B. das Beispiel der angeblich noch lebenden Atten-täter bei Verschiedene, Panoptikum, S.61.

65 Vgl. Manovich, The Language of Media, S. 284. 66 Die Projekt-Website der History Commons Complete 911 Timeline findet sich unter

http://www.historycommons.org/project.jsp?project=911_project (zit. 12.08.2012).

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Basis der verfügbaren Presseberichterstattung in mittlerweile fast 7000 Einze-lereignisse aufschlüsselt. Die Einzelereignisse stellen diskrete Bausteine dar, die keinen fixierten Platz in einem Gesamtnarrativ innehaben, sondern neben ihrer chronologischen Listenordnung lediglich durch eine Reihe von Schlag-wortkategorien lose miteinander verknüpft sind (Abb. 4). Dieses Organisati-onsprinzip wird von den Machern als Strategie der Objektivierung verstanden:

We strive to be objective and keep any layers of interpretation as thin as possible. […] 9/11 and terrorism generally are flashpoints for what peo-ple call »conspiracy theory«. This 9/11 investigative project contains no conspiracy theories. In fact, it does not offer any theories at all. Rather it simply lays out the facts so readers can come to their own conclusions.67

Dezidiert wird auf die Funktion der Datenbank als Produktionsanordnung hingewiesen: Durch die jeweils individuell konfigurierten Abfragen der Da-tenbank kann sich der Nutzer seine eigene Erklärung des Ereignisses zusam-menstellen. Die Frage ist jedoch, wie bei jeglicher Form von medialer Reprä-sentation, welche normativen Setzungen in diese spezifische Topologie mitein-fließen. Denn auch wenn man den – trotz aller methodischen Reflektion – relativ unverblümt artikulierten Generalverdacht der Projektbeschreibung bei Seite lässt, ist anzumerken: Die Schlagwortkategorien weisen eine dezidierte Nähe zum gängigen konspirologischen Erklärungsmuster auf: Mit den Schlagworten ›Dick Cheney‹, ›Donald Rumsfeld‹ und ›George Bush‹ figurieren die Protagonisten der US-Regierung als mutmaßlich Verdächtige äußerst pro-minent, während die Namen der Attentäter weiterhin unter der Kategorie ›The Alleged 9/11 Hijackers‹ geführt werden. So wird zum einen der Manipulati-onsverdacht a priori vorausgesetzt, und zum anderen ein Akteursmodell ent-worfen, das durch zumindest implizite Rollenzuweisungen den Verdacht kon-kretisiert. Es scheint daher durchaus plausibel, dass gerade diese Datenbank wiederholt als zentrale Ressource alternativer Theoriebildung auch prominen-terer Verschwörungstheorien herangezogen wird. 68

............................................ 67 Ebd. Zu finden im Tab »About This Project«. 68 So z.B. explizit David Ray Griffin: »Als ich aber Paul Thompsons 9/11 Timeline bekam, erkannte

ich, daß es wahrhaft Hunderte von Berichten in den Mainstream-Veröffentlichungen gab, die ir-gendeinem Teil der offiziellen Geschichte widersprachen.« Zit. nach N.N.: »INTERVIEW/021: Theologe und 9/11-Experte David Ray Griffin«, in: Schattenblick (18.09.2009; zit. 13.08.2012. ), http://www.schattenblick.de/infopool/politik/report/prin0021.html.

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Abb. 4

Neben einem interpretativen bias wirkt sich das Instrument der Datenbank letztlich auch auf die Relation von Ereignis, Narration und Beobachter aus, da sich in der Navigation zwischen den einzelnen Textfragmenten/Datenobjekten das Prinzip der Erzählung verändert:

As the logic of time-space continuum, i.e. the diegesis, is transformed into clusters of multiply interrelated and virally proliferating semantic

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links (the syuzet or »story«), narrational authority, i.e. the (uneven) dis-tribution of information, and the order or sequence in which it is ac-cessed (the fabula or »plot«) seems to pass from »narrator« to »nar-ratee«, from storyteller to user.69

Erzählung verstanden als Navigation ist demnach geprägt von ihrer jeweils variablen Rekonfiguration durch den Nutzer, je nach Abfolge und Selektion der einzelnen Fragmente. Das verbindende Element ist dabei in erster Linie ein loser semantischer Link in seiner pragmatischen Aktivierung im Klick und nicht zwingend eine präfigurierte sinnhafte Verbindung. Ähnlich strukturiert sind letztlich auch die Listen der konspirologischen Verdachtsmomente: Jen-seits der losen semantischen Verbindungen von ›US-Imperialismus‹ und ›Ma-nipulationsverdacht‹ stehen die angeführten Einzelbeobachtungen kaum in einem kohärenten Zusammenhang.70 In dieser formalen Analogie liegt denn vielleicht auch ein entscheidendes Indiz für die hermeneutische Vergeblichkeit der Verschwörungstheorie: Gerade weil sie es nicht schafft, die Datenbank in eine zusammenhängende, und damit positiv-sinnhafte Narration zu überfüh-ren, bleibt ihr Wissensraum inkonsistent und beliebig. Oder aber, weniger konstruktivistisch gedacht: Das Ereignis widersetzt sich einer derartigen Nar-rativierung und verharrt damit im Zustand der Datenbank.

Dichtung und Wahrheit (Grainy Video Remix)

Michael Barkuns A Culture of Conspiracy beantwortet die Frage nach der ge-genwärtigen Popularität der Verschwörungstheorien mit ihrer Normalisierung im medialen Mainstream:

This overt mainstreaming had two consequences. First, it advanced the process by which conspiracism was becoming culturally sanitized, be-cause the association of conspiracism with major television networks and

............................................ 69 Thomas Elsaesser: »Tales of Epiphany and Entropy: Around the Worlds in Eighty Clicks«, in:

Pelle Snickars / Patrick Vonderau (Hg.): The YouTube Reader, Stockholm: National Library of Sweden 2009, S. 166–186, hier S. 180.

70 Deutlich sichtbar an der Liste der »Top 40 Reasons to Doubt the Official Story of September 11th, 2001«, http://www.911truth.org/article.php?story=20041221155307646; oder auch an der Kapitel-struktur von Bröckers / Walther, Einsturz, S. 8f.

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motion picture studios gave the material an implied stamp of legitimacy. […] Second, at the same time that a quasilegitimacy was conferred, the opportunity for huge new audiences opened up. Linked now to such un-stigmatized genres as science fiction, elements of conspiracism reached millions who would not otherwise have been exposed to it.71

Demzufolge sind es die audiovisuellen Medien einerseits, und populäre Genres andererseits, die zur allgemeinen Akzeptanz und zur weiten Distribution des Verschwörungsdenkens beitragen. Eine ähnliche Lesart drängt sich für das spezifische Verhältnis von 9/11 und Webvideo auf, gilt doch auch hier der Erfolg einzelner audiovisueller Produkte und die Struktur der Videozirkulati-on im Netz als entscheidender Popularisierungsfaktor. Darüber hinaus ließe sich auch vermuten, dass die primär audiovisuelle Erfahrung des Ereignisses auch bevorzugt Techniken der audiovisuellen Ereignisverarbeitung Vorschub leistet.

Davon ausgehend stellt sich die Frage, inwieweit sich durch eine Kopplung von Audiovision und Hypertext die Bedingungen der Wissensproduktion verändern, ist doch die Etablierung von partizipativen Videoplattformen laut Bernard Stiegler nichts weniger als eine Form der Ermächtigung des Individu-ums zur reflexiven Kritik der audiovisuellen Medien: »[…] video servers con-cretize the discretization of images, they inscribe an activity of perception analytically and reflexively in memory and in imagination.«72 Entscheidend für Stiegler ist der Übergang von einer Hegemonie zu einer Isonomie der Bilder, die er in den Bottom-Up-Prinzipien des Netzdispositivs verankert sieht, denn zwar fand die Grammatisierung des Audiovisuellen bereits im Foto-, Kino- und Fernsehdispositiv des 20. Jahrhunderts statt, war aber in den Prinzipien des Massenmedien noch ungleich asymmetrischer strukturiert. In der Netz-werkgesellschaft tritt nunmehr eine neue Symmetrie zum Vorschein, die sich in der medial sichtbaren Rückkopplung des bislang eben unsichtbaren Publi-kums manifestiert. So sind Videos im Webdispositiv unlängst nicht mehr nur dem verbalen Kommentar des Zuschauers ausgesetzt, sondern Gegenstand einer Medienaneignung, die sich allgemein mit dem Begriff des Remix um-

............................................ 71 Barkun, A culture of conspiracy, S. 181. 72 Bernard Stiegler: »The Carnival of the New Screen: From Hegemony to Isonomy«, in: Pelle

Snickars / Patrick Vonderau (Hg.): The YouTube Reader, Stockholm: National Library of Sweden 2009, S. 40–59, hier: S. 47.

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schreiben lässt. Praktiken der Wiederverwertung respektive der Wiedervermi-schung sind es denn auch, die die Form der 9/11-Videos dominieren.

9/11 Pentagon Strike des britischen Systemanalytikers Darren Williams aus dem Jahr 2004 ist einer der ersten Fälle, in denen ein Webvideo zum Träger des Verschwörungsverdachts wurde.73 Wie die Washington Post rekonstruieren konnte, zeigt dieses Beispiel prototypisch, wie die Produktion eines einzelnen Webnutzers durch die Verbreitung im Netzwerk ein Millionenpublikum errei-chen konnte.74 Zentral war dabei offenbar die Distribution des Videolinks via der einschlägigen Parawissenschafts-Website The Cassiopaean Experiment75, woraufhin die Zugriffs- und Downloadraten auf Williams eigener Videoseite exponentiell in die Höhe schossen. Seither gehört das Video zum festen Be-standteil der Konspirologie im Netz, d.h. dass neben dem oft anzutreffenden Link zum ›Original‹ auch das Video selbst in Variation oder identischer Re-produktion über verschiedene Videoplattformen zirkuliert.

Will man sich auf Erfolgsfaktoren des Videos festlegen, so ist die Analogie des Videos zu einer mittlerweile Standard gewordenen Form in den Video-netzwerken bestechend: Das 5:41 Minuten lange Video ist eine Kompilation von Fotografien, Zeugenaussagen und Animationen, die im Rhythmus der unterlegten Musik geschnitten ist. Das verwendete dokumentarische Material, wie z.B. die Fotografien des beschädigten Pentagon, haben den Status von Fremdmaterial, weshalb die Kompilation auch als ein Remix von Archivmate-rial zu verstehen ist, der mit Hilfe handelsüblicher Schnittsoftware bewerkstel-ligt wurde. So gesehen handelt es sich bei dem Endprodukt um eine Form von User-Generated-Content, während die Bausteine in weiten Teilen aus der mas-senmedialen Zirkulation entnommen sind. Gleiches betrifft auch den Neu-heitswert der ausgeführten Argumentation: Anhand des Pentagonanschlags wird die Frage aufgeworfen, inwieweit die offizielle Darstellung der Realität entspricht – und bereits zu Beginn deutlich verneint: »In reality a Boeing 747 was never found.«76 Als Beleg für diese These dient eine Auswahl an Fotogra-fien, die in Kombination mit Zeugenaussagen die Flugzeugthese unterwan-dern, was bis hin zur Markierung von Eintritts- und Austrittslöchern der Stra-

............................................ 73 Williams, Darren: 9/11 Pentagon Strike (UK 2004), 6 min. 74 Carol Morello: »Conspiracy Theories Flourish on the Internet«, in: Washington Post (07.10.2004,

zit. 05.08.2012), http://www.washingtonpost.com/wp-dyn/articles/A13059-2004Oct6.html. 75 Die Heimat der »Marriage of Science and Mysticism« ist zu finden unter http://cassiopaea.org/

(zit. 05.08.2012). 76 Darren: 9/11 Pentagon Strike [00:18]

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tegie von Thierry Meyssans Pentagate entspricht. Die zentrale Strategie des Videos ist dabei die Aktivierung von klassischen dokumentarischen Authenti-zitätsmarkern, wie z.B. der fotografischen Evidenz, des Belegs durch Zeitzeu-gen, oder der (vermeintlichen) Objektivierung durch Animationen/Simula-tionen. Hierdurch wird zwar keine positive Version des Ereignisses aufgebaut, gleichwohl aber die offizielle Version nicht nur angezweifelt, sondern als fak-tisch widerlegt dargestellt.

Interessanterweise wird zwar die Evidenz bestimmter Quellen – die, zu-mindest unter wissenschaftlichen Maßstäben gesprochen, nicht ausreichend verifiziert sind – ins Feld geführt, gleichzeitig aber werden die medialen Dis-positive von Kino und TV als fragwürdige Referenzfolien kritisiert: So wird nach der initialen Zurückweisung der offiziellen These auf das Kino Bezug genommen, wenn ein Kinosaal mit Publikum zu sehen ist, in dem das von DREAMWORKS PRESENTS entlehnte Logo MOONWORK PRESENTS auf der Leinwand prangt (Abb. 5).77 Die von Steven Spielberg, Jeffrey Katzenberg und David Geffen gegründete Produktionsfirma ist nicht zuletzt für ihre im Jahr 2000 etablierte Geschäftseinheit DreamWorks Animation bekannt, was den Schluss nahelegt, dass durch diese Referenz eine Definition der medialen Wahrnehmung als fundamental fiktive Erfahrung stattfindet. Hinzu tritt am Ende der Bezug auf das Fernsehen, wenn die Schlussanimation des Flugver-laufs, anhand derer das Problem der fehlenden Videoaufnahmen thematisiert wird, mit der Zeilenästhetik des Fernsehbildes ausgestattet ist.78 Den Schluss-punkt bilden zum einen der Verweis auf die Nichtveröffentlichung dieser als zentral erachteten Beweisstücke, und zum anderen die Markierung des Schnitts hin zum Abspann durch ein Rauschen, das sowohl visuell als auch auditiv implementiert ist.79 So wird nicht nur der Verdacht einer intentionalen Manipulation der massenmedialen Berichterstattung argumentativ bekräftigt, sondern gleichzeitig die Dysfunktionalität der Massenmedien durch eine tele-visuelle Störung symbolisiert. Die Sichtbarmachung des Ereignisses in den Massenmedien erscheint dementsprechend als eine fälschliche oder gestörte, woraus der Anspruch des Videos resultiert, die Verdachtsmomente über visu-elle Analogien und argumentative Diskrepanzen herauszuarbeiten.

............................................ 77 Ebd. [01:20] 78 Ebd. [04:45 – 05:40] 79 Ebd. [05:40]

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Abb. 5

Geradezu mustergültig kehrt darin die Luhmann’sche Problemdiagnose wie-der: Das Wissen über das Ereignis wird durch die Massenmedien vermittelt, gleichzeitig verdächtigt man diese einer strukturellen oder intentionalen ›Ver-fälschung‹ der Realität.

Wie Boris Groys vermutet, ist es vor allem der »Ausnahmezustand«80, der als Vehikel der Einsichtnahme in den Verdacht dienen soll – eine Eigenschaft, für die 9/11 denn auch in mehrerlei Hinsicht qualifiziert: Zum einen hinsicht-lich seiner Außerordentlichkeit in den Begriffen des Ereignishaften,81 und zum anderen auch im Hinblick auf die Überlieferungslage. Denn so wie das Netz den globalen Pressediskurs qua vernetzter Datenbank zu einem stetig rekonfi-gurierbaren Text machte, so geschah dies letztlich auch mit der (audio)vi-suellen Berichterstattung. Neben den mannigfachen Fotosammlungen des Ereignisses wurde auch ein TV-Archiv etabliert, das, frei zugänglich im Netz stehend, mittlerweile über 3000 Stunden der ersten 7 Tage auf 20 verschiede-nen Kanälen umfasst.82 Während Einschätzungen der konkreten Verwendung

............................................ 80 Groys, Unter Verdacht, S. 52. 81 Wolfgang Frindte: »Ausgangspunkte und Grundlagen«, in: Ders. / Nicole Haußecker (Hg.):

Inszenierter Terrorismus. Mediale Konstruktionen und individuelle Interpretationen, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2010, S. 16–42, hier: S. 20f.

82 Die Seite von Understanding 9/11. A Television News Archive findet sich unter http://archive.org/details/911 (zit. 13.08.2012). Zur Entwicklung seit Oktober 2001 siehe die »His-tory of the Collection« am Ende der Startseite.

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des dort herunterladbaren Materials auf pragmatischer Ebene freilich immer spekulativ sind, so konkretisiert sich im Angebot die formale Überführung des regulierten Fernsehflows in die textartig lesbare Struktur eines temporal stabi-lisierten Speichers:

Television is our pre-eminent medium of information, entertainment and persuasion, but until now it has not been a medium of record. This Archive attempts to address this gap by making TV news coverage of this critical week in September 2001 available to those studying these events and their treatment in the media.83

Diese Sammlung, die auch für andere Forschungszwecke genutzt wird, ist insofern als Bedingung der Möglichkeit einer visuellen Konspirologie um 9/11 zu verstehen, stellt sie doch einen ungleich größeren bzw. besser zugänglichen Fundus für ihre Remixverfahren dar, als dies die stark kondensierten und selegierten Ereignisbilder in den sekundären Medienprodukten des Ereignis-ses, wie z.B. Fernsehdokumentationen, tun könnten.

Dieser Hintergrund ist sicher keine alleinige Erklärung für den Erfolg von verschwörungstheoretisch inspirierten Videoproduktionen im Internet, deut-lich wird jedoch die mediale Struktur, die ihn ermöglicht. Während 9/11 Pen-tagon Strike lediglich aufgrund seiner Zirkulationsreichweite zum Zeitungs-aufhänger wurde, schafften es spätere Produktionen, allen voran die Filmreihe Loose Change84, auch die öffentliche Perzeptionsschwelle für den verschwö-rungstheoretischen Inhalt zu senken. Insbesondere Loose Change erreichte einen derart hohen Wiedererkennungswert, dass beispielsweise das US-Ame-rikanische Department of State mit einer Widerlegungsschrift dazu Stellung nahm.85 Weiterhin deutet der Abschnitt ›Criticism‹ des englischsprachigen Wikipedia-Artikels das Ausmaß an Widerspruch und öffentlicher Debatte an, das die Filme sowohl in den traditionellen journalistischen Kanälen wie auch in den, teils speziell hierfür erstellten, Angeboten im Netz, hervorgerufen

............................................ 83 Ebd. 84 Bei allen vier Filmen führte Dylan Avery federführend Regie: Loose Change: 1st Edition, USA

2005 [61 min.], Loose Change: 2nd Edition Recut (USA 2006) [82 min], Loose Change: Final Cut (USA 2007) [130 min.], Loose Change 9/11: An American Coup, (USA 2009) [99 min].

85 N.N.: »›Loose Change‹ Debunked«, in: www.america.gov (04.05.2009; zit. 13.08.2012), http://www.america.gov/st/webchat-english/2009/May/20070330134723abretnuh0.9919245.html.

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haben.86 Vanity Fair nobilitierte Loose Change im August 2006 gar als »first Internet Blockbuster«87, nachdem der Film auf Platz eins des Google Video Rankings gerutscht war und die Zuschauerzahl mutmaßlich in den zweistelli-gen Millionenbereich gewachsen war.

Damit bezog sich Vanity Fair auf den Erfolg der zweiten Fassung des Films hinsichtlich seiner numerisch gemessenen Popularität, die schlichtweg als Erfolg des Distributionsweges Internet verstanden wurde. Die These des ersten Netzblockbusters gewinnt jedoch auch strukturelle Plausibilität: So basiert die im Grunde sehr konservativ kompilierte Dokumentation nicht unerheblich auf den Archivmaterialien der Fernsehsender, deren Infragestellung wiederum das zentrale Narrativ der Argumentation darstellt. Wenn Loose Change als »arche-typal no-budget media phenomenon«88 dafür gefeiert wird, dass die erste Fas-sung mit einem Budget von 2000$, und die zweite Fassung mit 6000$ auf ei-nem Laptop produziert wurde89, dann wird spätestens beim Blick auf die übli-chen Materialpreise aus den TV-Archiven deutlich, dass die digitale Verfüg-barkeit von Videomaterial eine zentrale Produktionsvoraussetzung darstellen musste. Darüber hinaus schreibt sich das Netz auch dahingehend als Produk-tionsdispositiv in das Phänomen ein, dass die Reihe mittlerweile vier Versio-nen umfasst, die das Grundnarrativ des Verdachts zwar beibehalten, die ein-zelnen Argumentationspunkte und ihre Anordnung aber variieren. Dies kann als eine fortlaufende Weiterentwicklung des Produkts verstanden werden, wie sie im Softwarebereich mit dem Prinzip des perpetual beta beschrieben wird. Auf der Ebene der Erzählung entfaltet hier das modularisierte Prinzip des Films seine Stärke, können doch einzelne Teile ohne größeren Einfluss auf die Gesamtorganisation modifiziert werden. So gesehen ließe sich mit Lev Mano-vich festhalten, dass auch die Struktur von Loose Change im Grunde dem mo-dularen Organisationsprinzip der Neuen Medien ähnelt.90 Während sich Kriti-ker des Films zwar über den Umstand mokierten, dass es offenbar auch bei den Truthern verschiedene Versionen der Wahrheit gibt, schaffte es Loose

............................................ 86 Hier der Permalink zum betreffenden Wikipediaeintrag: »Loose Change«, in: Wikipedia (zit.

10.08.2012), http://en.wikipedia.org/w/index.php?title=Loose_Change_%28film_series%29&oldid=506111236

87 Nancy Jo Sales: »Click Here for Conspiracy«, in: Vanity Fair, August 2006 (August 2006, zit. 08.08.2012), http://www.vanityfair.com/ontheweb/features/2006/08/loosechange200608.

88 Fenster, Conspiracy Theories, S. 269. 89 Sales, »Click Here for Conspiracy«. 90 Manovich, The Language of Media, S. 31.

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Change mit der dritten Fassung zumindest, von anderen Gruppen in der Wahrheitsbewegung nicht mehr als bloße Desinformation aufgefasst zu wer-den.91

Dass bei der Reihe neben dem inhaltlichen Standpunkt auch seine Form als prozessuales und interaktives Medium ein Teil der Botschaft ist, wird durch seine Rhetorik bekräftigt: So evozieren die rhetorische Fragen, die in den re-dundanten Fluss an Argumentationsbausteinen und geloopten Musikbaustei-nen eingebettet sind, immer wieder das Publikum als den direkten Adressaten, der mit dem Schlachtruf »Ask Questions! Demand Answers!« zur Teilnahme an der Investigation von 9/11 aufgefordert wird. Dieser »call to action« ent-spricht wiederum dem skizzierten Web 2.0-Diskurs, in dem der Nutzer als aktiver Bürger einer neuen Demokratie entworfen wird.92 So verbindet sich eine formal konservative Ästhetik, die sich z.B. im konsequenten Voice Over ausdrückt, mit der Appellstruktur des aktuellen Mediendispositivs, der dem Produkt eine Art pragmatische Authentizität verleiht: Der Zuschauer wird in die Position von Filmemacher und Erzähler Dylan Avery versetzt, der sich mit Beweismaterial im Überfluss konfrontiert und folgerichtig einem Handlungs-zwang ausgesetzt sieht:

Why are they hiding from us? What are they hiding from us? And what is it going to take until people in this country give a damn and do some-thing about it? Note the evidence presented. What will you do about it? Will you find comfort in the official version of the events or will you go out and investigate for yourselves? Will you share this information or will you ignore it? […] It's up to you! Ask questions, demand answers!93

Wie auf den Seiten von 911truth.org bildet der Imperativ der Teilnahme das Zentrum der Botschaft. Allerdings verdeutlicht gerade Loose Change auch die Ziellosigkeit des konspirologischen Verdachts, da kein dezidierter Beweis für eine konkrete Täterschaft erbracht werden kann, sodass als Fluchtpunkt letzt-lich nur ein opakes »they« dienen kann. Zunächst überraschend, vor diesem Hintergrund aber durchaus folgerichtig, wird die Frage der tatsächlichen Tä-............................................ 91 So kritisiert 911 Review vor allem die erste Fassung, wenngleich auch ihr bereits ein »well-

intentioned […] effort« zu Gute gehalten wird, siehe unter http://911review.com/disinfo/videos.html#loosechange (zit. 18.08.2012).

92 Vgl. Fenster, Conspiracy Theories, S. 278. 93 Avery, Loose Change: 2nd Edition, 1:25:20.

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terschaft im Film weitgehend ausgeklammert.94 In dieser finalen Leerstelle offenbart Loose Change letzten Endes das Erfolgsmodell der netzbasierten Konspirologie, nämlich die Etablierung des Verschwörungstheoretikers als neuer Identität in Antwort auf eine interpretative Krise in der tradierten politi-schen und medialen Landschaft.95

Die rote Pille: Wege aus dem Archiv ?

Für die Stabilisierung dieser Identität scheint die hohe Popularität von Ver-schwörungsvideos auf der Videoplattform YouTube zu sprechen: So fanden sich unter den 100 meistdiskutierten Videos in der Kategorie Politik auch im Januar 2012 noch allein sieben, die 9/11 als Verschwörung inszenieren.96 Sind Videos wie 9/11 Pentagon Strike und Filme wie Loose Change gewissermaßen die ›rote Pille‹ für den Verschwörungstheoretiker, so stellt YouTube in struktu-reller Hinsicht ein Massifizierungsphänomen dar und ist funktional besehen ein ›grammatisierendes‹ Werkzeug, um die Oberfläche der Medienmatrix zu bearbeiten.97 Videoplattformen, für die YouTube lediglich das bekannteste Beispiel darstellt, entsprechen dabei auch in ihrer diskursiven Rahmung den weiter oben skizzierten Web 2.0-Diskursen: Das Motto ›Broadcast Yourself‹ stellt beispielsweise wiederum den User ins Zentrum der Aktivität, während die formale Struktur der Plattform eine Fülle an direkten wie indirekten Inter-aktionsformen vorsieht.98 In erster Linie werden hierdurch die Zugangsvoraus-setzungen zur individuellen Videonutzung gesenkt, was folglich auf basaler Ebene als eine Form der medialen Ermächtigung gelesen werden kann.

............................................ 94 Vgl. Fenster, Conspiracy Theories, S. 277. 95 Vgl. ebd., S. 278 und Dean, Democracy, S. 173. 96 Dies wurde vom Verfasser für einen Vortrag am 31.01.2012 im Rahmen des Elitestudiengangs

Ethik der Textkulturen an der Universität Erlangen-Nürnberg dokumentiert. Während die einzel-nen Videos noch im Netz zu finden sind, hat mittlerweile YouTube die Sortierungsmöglichkeiten derart verändert, dass eine Reproduktion dieses Rankings nicht mehr in gleicher Form möglich ist.

97 Das Motiv der roten Pille entstammt freilich dem Kinofilm The Matrix: Der Protagonist Neo hat hier die Wahl, ob er weiter der medialen Illusion erliegen oder den Weg der Erkenntnis einschla-gen will. Zur Bezeichnung von Loose Change als rote Pille vgl. Fenster, Conspiracy Theories, S. 269.

98 Frank Kessler / Mirko Tobias Schäfer: »Navigating YouTube: Constituting a Hybrid Information Management System«, in: Pelle Snickars / Patrick Vonderau (Hg.): The Youtube Reader, Stock-holm: National Library of Sweden 2009, S. 275–291, v.a. S. 280–285.

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Das offene Sammlungsprinzip, d.h. das Fehlen kuratorischer Selektion so-wie der Verzicht auf eine Konsistenzsicherung des Metadatenapparats, führt hierbei zu einer Situation, in der dem vielfachen Upload des gleichen Materials bzw. der Wiederverwendung bestehenden Materials kaum Grenzen gesetzt sind.99 Entsprechend auffällig ist der hohe Grad an Wiederholungen bei einer themenfokussierten Nutzung der Plattform, der dem Nutzer ein gewisserma-ßen entropisches Erlebnis verschafft: Im Prinzip ist alles in einer unüber-schaubaren Vielzahl an Variationen vorhanden, sodass einzelne Bilder, Se-quenzen und Narrative stetig wiederkehren.100 Erstaunlich ist jedoch, dass sich die Nutzung nicht zu erschöpfen scheint: Vielmehr oszilliert der Nutzer zwi-schen einer Sinnentleerung qua Wiederholung und einer stetigen Hoffnung auf den Moment der Epiphanie, also dem Auftauchen von etwas Neuem und Ungesehenen im Datenstrom, das eine plötzliche Erkenntnis ermöglicht.101 Was Thomas Elsaesser als allgemeines Nutzungsprinzip von YouTube skizziert, scheint indes mustergültig auf die Verschwörungsvideos von 9/11 zuzutreffen: Das ohnehin unüberschaubare Material des Ereignisses wird in eine weitere Datenbank übersetzt, wobei dieser Prozess, mangels zentraler thematischer Koordination, den Prämissen einzelner Nutzer und Institutionen folgt. Die Wiederverwertungspraktiken führen zu einer stetigen De- und Rekontextuali-sierung des Materials nach dem konspirologischen Axiom des Verdachts: Das Ereignismaterial wird nach den Momenten der Überlieferung gefiltert, in denen die Störungen der kohärenten Erzählung – gewissermaßen die Risse in der Matrix – sichtbar werden sollen: Ob dies nun die Bilder des zerstörten Pentagons sind, Sequenzen der einstürzenden Türme, oder Stellen der Livebe-richterstattung, an denen vermeintlich bewusste Fehlinformationen in der Darstellung zu identifizieren sind – der audiovisuelle Text von 9/11 wird Re-lektüren unterworfen, die zwar allesamt kaum Neuheitswert für den Ereignis-hergang haben, dafür aber umso dezidierter den Verdacht als solchen fest-schreiben.

So gesehen erscheint YouTube nicht als signifikante Innovation, da sich die Clips in ihrer Archivexegese der gleichen Strategien bedienen wie die vorgän-gigen Webvideos, sodass die Plattform nur ein weiterer Faktor der beschleu-

............................................ 99 Abgesehen von den Einschränkungen des Urheberrechts, die zu einem Großteil der auf YouTube

vorgenommenen Löschungen ex post führen. 100 Elsaesser, »Tales of Epiphany and Entropy«, S. 184. 101 Ebd.

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nigten Zirkulation zu sein scheint. Gegenteilige Indizien liefern jedoch die Videos, die ihrer Form nach stärker an spezifische Genres des neuen Video-netzes angelehnt sind. Aus dem Dispositiv der Videoplattform erwächst sozu-sagen wieder ein Verschiebung des Blicks: So behauptet der gut fünfminütige Clip Theory of a Ghostplane102 nicht nur die Unstimmigkeit der offiziellen Version, sondern weitergehend gar die Fälschung der medialen Berichterstat-tung überhaupt. Am Videomaterial des zweiten Flugzeugeinschlags in das World Trade Center wird erläutert, dass die Bilder ebenso das Produkt einer Videoschnittsoftware sein könnten wie gefilmtes Material. Im Stile eines Tuto-rials103 wird demonstriert, wie man ausgehend vom TV-Material das Flugzeug in einer Videosoftware duplizieren und damit an beliebiger Stelle wieder ein-fügen kann (Abb. 6). Dies geschieht im Wechsel zwischen einem ungerahmten Bild des Materials und den Funktionsfenstern des Interface. Insofern wird der Wechsel zwischen den beiden Bezugsebenen, dem quasi unverstellten televisu-ellen Blick und dem Blick auf das Produktionswerkzeug Software, mehrfach qua Montage vorgenommen, wodurch letztlich das Fernsehen als Wahrneh-mungsmodus dekonstruiert wird. Das Versprechen einer unverfälschten Dar-stellung von Live-Geschehen wird hier als vollständige Inszenierung dekon-struiert und mittels der mittlerweile massenhaft verfügbaren Techniken nach-vollziehbar gemacht. Durch die Form des Tutorials wird der Betrachter nicht nur als passiver Zuschauer angesprochen, sondern ist wiederum der Adressat einer Aufforderung, die vorgestellte Technik selbst auszuprobieren. Das für die Konspirologie 2.0 tragende Prinzip eines Handlungsaufrufs bezieht sich hier-bei also weniger auf die inhaltliche Interpretation des Materials, sondern trägt den Charakter eines quellenkritischen Experiments. Die Kritik an der Ereig-nisdarstellung betrifft folglich die Metaebene der Bildlichkeit, auf der die Mög-lichkeit der Referenzialität angezweifelt und letztlich gar die Simulation be-hauptet wird. Somit wird das Nachrichten- und Amateurmaterial einer Lesart unterworfen, die eine frappierende Ähnlichkeit zur Fiktion der Matrix auf-weist, in der nichts ist wie es scheint.

............................................ 102 CollinAlexander [Username YouTube]: Theory of a Ghostplane, (25.07.2008, zit. 10.8.2012),

http://www.youtube.com/watch?v=QNXmgF2yAEc. Eine äußerst steile These, die von einem Großteil der Wahrheitsbewegung zurückgewiesen wird und gängigerweise als Desinformation und Diskreditierung angesehen wird.

103 Einen Einblick in die Manual-Kultur von YouTube gibt Eggo Müller: »Where Quality Matters: Discourses on the Art of Making a YouTube Video«, in: Pelle Snickars/ Patrick Vonderau (Hg.): The Youtube Reader, Stockholm: National Library of Sweden 2009, S. 126–139.

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Abb. 6

Windet sich diese Variante mittels einer technischen Verfeinerung aus der Zwickmühle des Archivmaterials, so scheint YouTube mit den ›Confrontati-ons‹ noch ein anderes, stark aktivistisch gelagertes Genre zu inspirieren: Steht in den Archivcollagen die Widerlegung der offiziellen Version auf Basis der existierenden Überlieferung im Fokus, so versuchen Videos wie CON-FRONTED WE Are Change Oklahoma Newt Gingrich and Dick Cheney At CPAC104 die Verantwortlichen mit den vermeintlichen Widersprüchen ihrer Darstellung zu konfrontieren. Dieses Ansinnen wird in der Regel durch bloßes Ignorieren oder eine explizite Gesprächsverweigerung seitens der ›Konfron-tierten‹ ausgedrückt, was von den Truthern jedoch keineswegs als Niederlage, sondern als Erfolg der Konfrontation verbucht wird. Denn: Der allgemeine Vertuschungsverdacht wird gerade durch die Kommunikationsverweigerung bestätigt. Erfolgreich ist die Aktion insbesondere dann, wenn der Kampf um die Wahrheit nicht nur ein Akt verbaler Kommunikation bleibt, sondern eine physische Auseinandersetzung beinhaltet, wie harmlos diese letztendlich auch sein mag. Der Truther wird als investigativer Journalist inszeniert, der mit seiner Kamera bewaffnet den Repressionen des Regimes trotzt (Abb. 7). Beim Blick auf die Entwicklung dieser Form fällt auf, dass nach den anfangs eher

............................................ 104 ntyranny [Username YouTube]: CONFRONTED WE Are Change Oklahoma Newt Gingrich and Dick

Cheney At CPAC, 15.02.2011, zit.: 10.08.2012), http://www.youtube.com/watch?v=G7Orv5XrRQk.

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unkoordinierten Aktionen mittlerweile stets zwei Kameras involviert sind. Hierdurch kann eine gegenseitige Aufnahme erfolgen, sodass das Handeln mit und durch die Kamera explizit ins Zentrum des Geschehens rückt. Die Wahr-heitsbewegung verfestigt so ihr Selbstbild als medialer Akteur, wobei sie nicht nur als Exeget und Kritiker des vorgängigen Materials auftritt, sondern eine eigene mediale Oberfläche erzeugt, auf der die Reaktion der vermeintlichen Akteure überprüft werden kann. Diese Strategie scheint zentral für die Welt-wahrnehmung der Wahrheitsbewegung, wie auch Philip Zelikow, der Executi-ve Director der 9/11 Commission irritiert feststellen musste:

Whenever these folks try to accost me, they always film it. […] It hap-penend in Chicago when I was trying to check in at a hotel – and some-one accosted me. Or they’ll stand up at a speech I’m giving, and some-one will stand up and scare everyone by blowing a loud whistle, and then post it to YouTube. It’s happened many times. By doing this, it makes their movement real […]. They’re basically trying to set them-selves up as chroniclers of an alternative history, in which they are the key truth-tellers and their story is chronicling the story of how that truth unfolded.105

Abb. 7

............................................ 105 Philip Zelikow zitiert nach Kay, Among the Truthers, S. 259.

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Diese Kopplung eines medialen Kanals an eine gruppenspezifische Selbstdar-stellung ist natürlich nicht exklusiv für die Wahrheitsbewegung, sondern ent-spricht einer vielfach zu beobachtenden Formel des letzten Jahrzehnts und kennt darüber hinaus auch genügend historische Beispiele, wie sich Formen von Gegenöffentlichkeiten etablieren können.106 Insofern stellt die Wahrheits-bewegung vielleicht nicht so sehr die Ausnahme, als vielmehr die Regel für die Weltwahrnehmung durch die Videonetze dar, die einem Spiegellabyrinth zu gleichen scheint:

YouTube reflects you and you reflect (on) YouTube. On the other side of the mirror, all YouTubers are watching. For the YouTuber watching, YouTube is hence a mirror maze. Reflections are endless and endlessly reflect into one another. Finding the way out of the mirror maze is as difficult as not clicking the mouse for the next clip, the next mirror.107

Was den Verdacht der Konspirologen dabei zum mustergültigen Beispiel der neuen medialen Lage macht, ist die Logik ihrer Argumentationsform: Da sich der Verdacht niemals in einem Jenseits der medialen Darstellung spiegeln kann, sind – jenseits aller techno-ökonomischen Parameter – mediale Formen vorzuziehen, die das zur Verfügung stehende Material unbeschränkt variieren können und dabei den Betrachter als Akteur dieser Variation in Szene setzen. Das hohe Maß an Selbstreferenzialität, das hinsichtlich der Neuheitswerte des Mediensystems ein Ausschlusskriterium darstellen würde, ist für die Gemein-schaftsbildung der Wahrheitsbewegung ganz im Gegenteil konstitutiv. Derge-stalt wird denn auch deutlich, dass die von Jodi Dean angesprochene episte-mologische Differenzierung von Wissensräumen und Realitätskonzeptionen in der Tat eine Frage der medialen Kanäle ist108: Das World Wide Web im All-gemeinen, und die videobasierten Netzmedien im Besonderen stellen einen strukturell immanenten und damit unabdingbaren Faktor zum Verständnis des 9/11 Truth Movement dar.

............................................ 106 Für die jüngere Vergangenheit belegt dies die Occupy Wall Street Bewegung; als historisches

Beispiel kann die linke Gegenöffentlichkeit der Siebziger Jahre in Deutschland gelten, die auch ei-ne Publikationsstruktur jenseits der Massenmedien kannte.

107 Giovanna Fossati: »YouTube as a Mirror Maze«, in: Pelle Snickars / Patrick Vonderau (Hg.): The YouTube Reader, Stockholm: National Library of Sweden 2009, S. 458–463, hier: S. 460f.

108 Vgl. Dean: Democracy, S. 173.

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Abbildungen

Abbildung 1: 9/11 Truth Movement vor Ground Zero (Privatarchiv Thomas Nachreiner). Abbildung 2: Screenshot Startseite 911truth.org, 6.8.2012 (Privatarchiv Thomas

Nachreiner). Abbildung 3: TIME Person of the Year 2006: You (Time Inc.). Abbildung 4: Ausschnitt Screenshot Complete 911 Timeline, 6.8.2012 (Privatarchiv

Thomas Nachreiner). Abbildung 5: Filmstill 9/11 Pentagon Strike. Abbildung 6: Filmstill Theory of Ghostplane. Abbildung 7: Filmstill CONFRONTED WE Are Change Oklahoma Newt Gingrich and

Dick Cheney At CPAC. Truther Luke Rudkowski wird von Bodyguard abgewiesen.