Grenzüberschreitungen in Franz Kafkas Amerika Roman

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1 Otto-Friedrich-Universität Bamberg Lehrstuhl für Neure Deutsche Literaturwissenschaft HS Borderline: Grenzen und Grenzverletzungen in der Literatur Professor Dr. Stephanie Catani Sommersemester 2011 Grenzüberschreitungen in Franz Kafkas Amerika Roman Karls ‘Sündenfall’ : Vom paradiesähnlichen Utopieentwurf ins amerikanische Exil Kaysha Riggs Germanistik Sommersemester 2011 E-Mail: [email protected]

Transcript of Grenzüberschreitungen in Franz Kafkas Amerika Roman

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Otto-Friedrich-Universität Bamberg Lehrstuhl für Neure Deutsche Literaturwissenschaft HS Borderline: Grenzen und Grenzverletzungen in der Literatur Professor Dr. Stephanie Catani Sommersemester 2011

Grenzüberschreitungen in Franz Kafkas Amerika Roman Karls ‘Sündenfall’ : Vom paradiesähnlichen Utopieentwurf ins amerikanische Exil

Kaysha Riggs Germanistik

Sommersemester 2011 E-Mail: [email protected]

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Inhaltsverzeichnis 1. Der „Fall“ Karls

a. Utopie Europa als Vaterland

b. Vaterfigur, die Karl wegschickte

c. Exemplarische Erhöhung der Vaterfiguren – Karls Onkel als Beispiel

d. Adam und Eva

2. Opferrolle

a. Johanna und Klara als starke Mädchen

b. Fleisch und Genesis

c. Hotel occidental

i. Oberköchin und Oberportier,

ii. Theresa die Schreibmaschinistin

iii. Robinson und Delemarsche

3. Amerika das Land der Sündhaftigkeit und der Gefallenen

a. Das Groteske in Literatur und Kunst

b. Wegsperre zum Erwachsensein Brunelda als Sexuelles Symbol

c. Die „gefallener Engel“ Rolle

d. Entfernt von dem heimisch-vertrauten Ort als Absperrung

4. Karl der ewige Sohn und die Biblische Spuren dahinten

a. Unschuld und der „ewige Sohn“

b. Die Sünden des Vaters gehen auf den Sohn über - Der Sohn muss die ins

Exil leben

c. Die Figur Karl als beispielhaft für von Kafka konstruierte Vater-

Sohn-Beziehung und Gottfigur und die Ewige Sohn Biblische Motiv

d. Amerika als Jüdisches Zion: Der Student Josef Mendel, der ewige Jude und die Juden im

Roman

5. Ankommen in der Fremde; Oklahoma und der Zirkusmenagerie

a. ‘Der Verschollene als Exilroman

b. Das Konstrukt Amerika und die Transzendentalphilosophoe

c. Kafkas Nietzsche Hintergrund und seine groteske Entfremdung

i. Die Verwandlung

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Zu Adam sprach er: Weil du auf deine Frau gehört und von dem Baum gegessen hast, von dem zu essen ich dir verboten hatte: So ist verflucht der Ackerboden deinetwegen. / Unter Mühsal wirst du von ihm essen /

alle Tage deines Lebens. Gen 3,7 Kafka hinterfragt seine Erbschaft als Jude und Motiv der Vater/Sohn Beziehung taucht

immer wieder in seinem Schreiben auf. Sieht man das von Kafka entworfene Europa als Beispiel

für das Leben im Paradies, als Vaterland, und die Hauptfigur Karl Roßmann als Zeichen einer

religiösen „Menschheit,“ so beschreibt der Roman eine neue Auslegung der biblischen Schilderung

des „Sündenfalls der Menschheit,“ deren Hauptfigur schließlich gefangen in einer grotesken

Unterwelt verbleibt. Mit einem Blick auf die Spuren von Bibelreferenzen und jüdische Figuren,

wird Karl Roßmann auf seinem Abenteuer als der ewige Sohn und ewige Jude in Kafkas „Amerika“

charakterisiert, ohne dass er die Grenze zum Erwachsensein überquert.

Bereits ab dem Erzählbeginn im New York des neunzehnten Jahrhunderts entwirft Kafka für

seine Hauptfigur Karl Roßmann eine Vielzahl von merkwürdigen Fügungen die ihn auf dem Weg

zum Erwachsensein begleiten sollen. Die Hauptfigur fällt in den Gesellschaftsschichten ständig

weiter nach unten, bevor er schließlich in einer grotesken Unterwelt verbleibt: eine Welt die Kafka

Amerika nannte. Amerika war das Land der unendlichen Möglichkeiten und Karl hätte jeder dieser

Optionen nutzen können, aber das Land das Karl vorgefunden hatte, war keineswegs ideal, denn er

bleibt immer in den unteren Schichten und das Land bleibt eine fiktive Traumwelt, die er für sich

nicht greifen kann, und die Karl herumschiebt. Mit dem „Fall“ von und aus Europa beginnt Karls

Reise weiter nach Westen und in Amerika durch die Unterschichten.

Wie das Buch langsam enträtselt, trifft Karl nur wenige Entscheidungen für sich

selbst. Immer wieder wird Karl weggeschickt, und immer wieder wird er wie ein Kind von einer

Frau zur nächsten Frau geschoben. Der Onkel versuchte Karl am Anfang klar zu machen, dass wenn

jemand ein selbständiges Leben führen möchte, er es sich selbst verdienen muss. Der Onkel erklärt,

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dass er sich das Luxusleben, dass er sich verdiente, „vor dreißig Jahren selbst eingerichtet“1 hat.

Aber Karl wollte dem väterlich besorgten Onkel nicht zuhören. Innerhalb von Monaten nach seiner

Ankunft in Amerika hatte Karl alle Warnungen des Onkels in den Wind geschlagen. Der Bekannte

des Onkels, Herr Pollunder hatte Karl eingeladen, sein Landhaus bei New York zu besuchen. Er

hatte Karl mit dem Versprechen eines Treffens mit seiner Tochter Klara überzeugt, die Einladung

anzunehmen. Dem Onkel gegenüber stellt er für Karl die Erfahrung der ländlichen Erholung vom

hektischen Leben in der Großstadt in Aussicht. Eine Erfahrung, von welcher der Onkel dachte, dass

Karl noch nicht bereit war sie zu erfahren. Weil Karl trotzdem dorthin gegangen war zeigt der

Ausflug ihm sofort, wie die Frauen in Amerika angeblich alle sind. Kräftig, wollend, fordernd und

doch notleidend. Es scheint, als ob ihre Funktion im Buch sei, ihm zu zeigen, dass alle Mädchen die

Männer nur verführen wollen. Karl beschreibt, er „fühlte wieder ihre wachsende Kraft an seinem

Leib und sie hatte sich ihm entwunden, fasste ihn mit gut ausgenutztem Obergriff, wehrte seine

Beine mit Fußstellungen einer fremdartigen Kampftechnik ab und trieb ihn vor sich mit großartiger

Regelmäßigkeit.“2 Und er geht mit der Situation um, wie ein machtloses Kind.

Karl ist das Gegenteil von seinem Vater und Onkel, der männlichen Linie seiner Familie,

nämlich nicht selbstständig und nicht verantwortungsbewusst. Er könnte die männliche Rolle mit

keiner von seinen bisherigen Erfahrungen erfüllen. Diese Verantwortung könnte er nicht tragen.

Auf jeden Fall bestehen Parallelen zwischen Der Verschollene und den deutlichen Vater-Sohn

Beziehungen, für die Kafka in seinen anderen Werken so bekannt ist. Aber in Der Verschollene

besteht die schwierige Beziehung nicht ausnahmslos und vornehmlich zwischen Karl Roßmann und

seinem Vater, sondern auch zu der Vaterfigur als göttliche Instanz und dem Sohn als Mensch, der

gesündigt hat und jetzt mit Konsequenzen rechnen muss. Im Christentum sowie im Judentum

1 Kafka, Franz, Der Verschollene. (Stuttgart: Reclam 2006): 48. 2 Ibid., 64.

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markiert die Heirat eines Jungen den Punkt, an dem er vom Kind zum Erwachsenen wird. Er ist von

diesem Punkt an ein Mann, denn er muss für seine Frau, und seine zukünftige Familie

verantwortlich sein. Voreheliche Beziehungen waren seit dem Mittelalter in mehreren Religionen

scheinbar selbstverständlich ausschlaggebend für Bestrafung oder Verbannung ins Exil. Es ist der

menschliche Sündenfall, dass der Mann, also Karl als Symbol für den Menschen, nach unten zur

Erde geschickt wurde.

Die Bibel erklärt in der Genesis wie der Mann im Paradies vom Teufel verführt wird, da

Eva aus Versehen vom verbotenen Baum gegessen hatte, und wie infolgedessen Adam und Eva aus

dem Paradies verbannt wurden. Sie dürfen nicht mehr in der Utopie des Paradieses bleiben, da der

Mann eine Sünde begangen hat. Karl Roßmann ist von seinen Eltern bestraft worden, da er mit

seiner vorehelichen Beziehung eine Sünde begangen hat. Eine Sünde, für die er behauptet nicht

verantwortlich zu sein, weil das 35-jährige Dienstmädchen ihn verführt hätte. Deswegen wurde Karl

Roßmann aus der Unschuldigkeit der Utopie des alten, „heiligen“ Europas weggeschickt. Karl

behauptet, dass angeblich das Mädchen sich ihn genommen hatte, und dass sie bei dem

Geschehenen die Schuldige war. Karls Unschuld jedenfalls war mit diesem Vorfall

unwiederbringlich zerstört, und doch begibt sich Karl im Laufe des Romans immer wieder auf die

Suche nach seiner verlorenen Unschuldigkeit. In zahlreichen Beispielen zeigt der Roman, wie gerne

Karl die Opferrolle im Leben annimmt.

Karl ist in die Opferrolle gestellt, wie in der „Verführungsszene“ möchte er für sich keine

Verantwortung übernehmen. Kafka beschreibt weiterhin klare Parallelen mit biblischen Zügen. Wie

die Bibel zeigt auch Kafka die Wichtigkeit des Leibes auf. Wichtig für Karl ist, dass Johanna

Brummer die körperliche Grenze Karls überschreitet. Sie hat ihn vergewaltigt. Kafka gibt den

Vorfall in intertextueller Anspielung auf die biblische Erzählung des Sündenfalls wieder und

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beschreibt wie durch diese Verbindung zwischen zwei Körpern, als Akt weiblicher Verführung die

Unschuld von Karl genommen wird. Man könnte sagen, Johanna tritt hier in die Rolle der

verführenden Schlange, Karl übernimmt Evas Position als Verführter. So beschreibt Kafka einen

Wechsel der geschlechtlichen Rollen aus der Bibelgeschichte. In Karls Schilderung nimmt er die

Opferrolle ein. Johanna nimmt seine Unschuld auf der Suche nach seinen nicht näher definierten

„Geheimnissen.“3 Auch in der Bibel ist bei der Erschaffung des Menschen, parallel zur Zeugung

von Karls Sohn gesehen, von einem Geheimnis die Rede:

29 Denn niemand hat jemals sein eigen Fleisch gehaßt; sondern er nährt es und pflegt sein, gleichwie auch der HERR die Gemeinde. 30 Denn wir sind die Glieder seines Leibes, von seinem Fleisch und von seinem Gebein. 31 "Um deswillen wird ein Mensch verlassen Vater und Mutter und seinem Weibe anhangen, und werden die zwei ein Fleisch sein. 32 Das Geheimnis ist groß; ich sage aber von Christo und der Gemeinde. 33 Doch auch ihr, ja ein jeglicher habe lieb sein Weib als sich selbst; das Weib aber fürchte den Mann.4 Weiter beschreibt die Genesis wie der Mann die Frau aus seinem eigenen Fleisch erschaffen hat:

21 Da ließ Gott der HERR einen tiefen Schlaf fallen auf den Menschen, und er schlief ein. Und er nahm seiner Rippen eine und schloß die Stätte zu mit Fleisch. 22 Und Gott der HERR baute ein Weib aus der Rippe, die er vom Menschen nahm, und brachte sie zu ihm.5

Karl beschreibt die Verführung als „ihm war als sei sie ein Teil seiner selbst und vielleicht aus

diesem Grunde hatte ihn eine entsetzliche Hilfsbedürftigkeit ergriffen. Weinend kam er endlich

nach vielen Wiedersehenswünschen ihrerseits in sein Bett.“6 Dieser Satz zeigt die biblischen

Parallelen der körperlichen „Einheit“ zwischen Mann und Frau auf. Eine Einheit, die Karl

allerdings danach traumatisiert fürchtet. Nicht lange nach dieser Szene fängt der Fall Karls an,

genau wie Adams Fall, nachdem Eva den Apfel gegessen hat. Der Schlange sagt, dass wenn sie

diesen Apfel isst, würde sie den Unterschied zwischen Gut und Böse wissen und dann würde sie

3 Kafka, Franz, Der Verschollene. (Stuttgart: Reclam 2006): 31. 4 Epheser 5:28-33 Luther Bibel 1912 5 Genesis 2:21-23 Luther Bibel 1912 6 Kafka, Franz, Der Verschollene. (Stuttgart: Reclam 2006): 31.

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den Göttern ähnlich sein. Johanna Brummer wolle irgendwelche Geheimnisse von Karl erfahren7

und Eva war ebenso neugierig und wollte vom verbotenen Baum essen, vom Baum der Erkenntnis.

Hier übernimmt Johanna wiederum die angedeutete weiblich neugierige Position Evas.

Zwei Elternfiguren die im Roman auftauchen sind die Oberköchin und der Oberportier im

Hotel occidental, die Mutter- und Vaterfiguren ähneln. Die Oberköchin trägt die Mutterrolle

ihrerseits gerne und nimmt Karl unter ihre Flügel. Die zwei übernehmen die Rolle des Elternpaars

für die Jungen, die im Hotel occidental arbeiten. Die Oberköchin war der Meinung, dass „es für

[Karl] besser und passender wäre sich irgendwo festzusetzen, statt so durch die Welt zu bummeln.“8

Sie übernimmt die Verantwortung, die vorher der Onkel trug, Karl klar zu machen, dass er sich

selbständig irgendwo ansiedeln soll und Verantwortung für sich selbst tragen muss. Dagegen wird

der Oberportier eher als die böse, strafende Vaterfigur gezeigt. Die Meinung der mütterlichen

Oberköchin hört und schätzt dieser eigentlich immer, da auch die beiden in einem scheinbar intimen

Verhältnis stehen. Gerne nimmt Karl hier wieder die Stellung als Sohn ein, um seine Opferposition

aufrecht erhalten zu können.

Die Schreibmaschinistin Theresa im Hotel occidental entschied sich sofort für eine

Freundschaft mit Karl. Sie kam zu ihm in seiner ersten Nacht im Hotel, klopfte mitten in der Nacht

an Karls Tür und fragte, ob sie rein kommen dürfte, worauf er antworte: „Der Schlüssel steckt auf

Ihrer Seite.“9 Die Tatsache, dass der Schlüssel immer auf der Seite der anderen Menschen steckt,

wird auch ein wiederkehrendes Thema für Karl. Er lässt auch hier die Anderen immer die Macht

haben. Türen spielen eine entscheidende Rolle für Karl, als feste Grenzen zwischen dem Selbst und

der Welt, zwischen Karl und allem anderen. Die Welt tritt immer in sein Leben ein.

Interessanterweise ist Karl im Hotel occidental als Türhüter beschäftigt. Er war der Liftjunge, der 7 Kafka, Franz, Der Verschollene. (Stuttgart: Reclam 2006): 31. 8 Ibid., 120. 9 Ibid., 125.

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die Gäste den ganzen Tag hoch zur ihrem Luxusleben bringt und dann wieder nach unten mitnimmt.

Ein Grenzhüter und Begleiter von der oberen „Welt“ zurück zur unteren Welt. Die gehobene Welt,

eben auch die des Onkels, darf Karl nicht mehr erleben, denn wenn er einmal seine Stellung

verlässt, wird er sofort aufgerufen, bestrafft und von seiner Stelle abgelöst.10 Aber er hat trotzdem

die Möglichkeit dieses Leben zu sehen, zu erfahren, sich den Geruch von teurem Parfum in die

Nase steigen zu lassen. Und doch bleibt dieses Leben für ihn unerreichbar.

Die Station im Hotel occidental war wichtig für Karl, da sie für ihn das letzte Mal eine

Grenze war, auf der er noch hätte umkehren können und wo er seine Füße immer noch ab und zu in

das Leben der höheren Schicht strecken könnte. Ähnliche Ideen hat Peter-André Alt in seiner

Biographie “Der ewige Sohn: eine Biographie” entworfen: „Das Hotel ist ein Sinnbild der

transitorischen Existenz, in dem sich, ähnlich wie im urbanen Verkehr, die Flüchtigkeit der

modernen Lebensverhältnisse spiegelt.“11 Karls nächste Arbeitstelle bot sich mit der Rückkehr der

einzigen „Freunde“ die Karl im Buch trifft. Delemarche und Robinson, auch verlorene Schafe und

passive Ausländer, nennen Amerika letztendlich doch ein Zuhause. Sie suchen für sich auch nichts

Großes, keine großen Ziele in Amerika. Am Beispiel der Sängerin Brunelda, wo Delemarche und

Robinson Arbeit fanden, stellt Kafka ein sehr übertriebenes, groteskes Beispiel einer Frau vor,

anhand dessen man die Wichtigkeit der verführerischen Natur und Gewaltigkeit der Frauen in Der

Verschollene festlegen kann. Die am meisten übertriebene Figur im Buch, die Sängerin Brunelda ist

ein extremes Beispiel von Kraft und das Zeichen einer weiblichen Übermächtigkeit, die Karl

vollkommen zu dieser chaotischen Unterwelt mitnimmt. Mit ihrer Kraft und ihrem körperlichen

Umfang in grotesker Darstellung ist Brunelda für Karl zu einer greifbaren Absperrung auf dem Weg

zum Erwachsenwerden stilisiert.

10 Kafka, Franz, Der Verschollene. (Stuttgart: Reclam 2006): 156. 11 Peter-André Alt., Franz Kafka. Der ewige Sohn : eine Biographie. München Verlag C.H Beck: 2005): 360.

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Das Groteske in Literatur oder Kunst zeigt oft Deformierungen oder Hässlichkeit, und ist

auch immer, seit der Mittelalter mit Sünden verbunden.12 Sex, Geschlecht, Chaos und der Körper

sind Kennzeichen des Grotesken.: „To the artist, the grotesque represents a partial liberation from

representational, a chance to create his own forms—a prerogative usually reserved for others.”13

Der Künstler muss oft nah an grotesken Tendenzen sein, um Kunst zu erschaffen. Beispiele von

Kafkas Ideen zu solchen grotesken Theorien mit dem Körper als eine Bestraffung sind auch in

anderen Geschichten von Kafka, wie etwa Der Hungerkünstler, enthalten. Beispiel des Grotesken

im Verschollenen ist beispielsweise die Darstellung der Zirkusmenagerie. Auch Nietzsche zieht

häufig Vergleiche zwischen Tieren und Menschen, genau wie die Verbindung zwischen Tier und

Mensch in der grotesken Kunst. Ralf Nicolai zitiert in seinem Buch über Kafka Nietzsche: „Der

Mensch ist ein Seil, geknüpft zwischen Tier und Übermensch – ein Seil über einem Abgrunde.“14

Kafka erschafft eine Menge von verletzten, gefangenen Kreaturen, die nirgendwo hingehören. Karl

hat am Ende des Buchs ein Platz gefunden; schließlich landet er in der Welt der Kreaturen die

ebenfalls nirgendwo hingehören. Er kommt in die groteske Unterwelt unter der amerikanischen

Gesellschaft. So ist der Held, oder Anti-Held „des Zaubermärchens z.B in der Ausgangssituation

nicht Teil derjenigen Welt, der er angehört: [...] gejagt, verkannt,“15 und sein wahrer Kern nicht

gezeigt. Karl, Kafkas gedanklicher Versuch eine Ausbruchsmöglichkeit zu entwerfen, wird von

Amerikas ,Unterwelt’ gejagt, ist der Anti-Held der nichts fertigbringt und nichts fertig ausführt.

Karl Roßmann, der all sein Eigentum und seine Identität als Europäer verloren hat, fand auch keine

amerikanische Identität und ist schließlich in der Welt verschollen.

„Immer wieder rückt man Karl in bedrängender Weise auf den Leib, wobei die Gewalt von

12 Geoffrey Harpham,. “The Grotesque: First Principles." The Journal of Aesthetics and Art Criticis: 465. 13 Harpham, 465. 14 Ralf R. Nicolai. Kafkas Amerika-Roman „Der Verschollene“ Motive und Gestalten. 16. 15 Lotman, Jurij. Die Struktur literarischer Texte, übers., Rolf-Dietrich Keil (München: Wilhelm Fink, 1972.): 543.

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Männern und Frauen gleichermaßen ausgeht,“16 wie Peter-André feststellt. Ab und zu, wenn er

nicht zuhören will, verfügt Brunelda über Karl und zwingt ihn in eine unterwürfig passive Haltung.

Immer wieder knüpft Karl mit diesen Frauen Beziehungen, die ihn eher weiter von der Lust nach

irgendwelchen sexuellen Begegnungen mit Frauen entfernen. Brunelda „drückte Karl noch fester

ans Geländer, er hätte mit ihr raufen müssen, um sich von ihr zu befreien.“17 Bruneldas

Körperlichkeit treibt Karl weiter weg von irgendwelchen sexuellen Erfahrungen oder vom Status

des Erwachsenseins, denn Karl hatte nicht nur beinahe Angst vor Brunelda und ihrem kräftigen

Verhalten, sondern sie verlangte von ihm auch Verantwortung. Wenn er für sie arbeitet, hätte er

sich um sie kümmern müssen und wie Delamarche im Bad helfen und beim Anziehen behilflich

sein müssen. Eine Erfahrung mit der Karl nichts zu tun haben wollte. Wie Alt weiter sagt, ist

Sexualität im Verschollenen „stets an gesellschaftliche Abhängigkeiten gebunden, die ihrerseits in

den Beziehungen der Körper gespiegelt werden.“18 Durch diese Reihe von gewaltsamen

Erfahrungen, ist es für Karl fast unmöglich eine erwachsene Beziehung mit einer Frau zu führen. Er

bleibt also fest in seiner kindlichen Rolle, „kein zweiter Robinson, der in der Neuen Welt strandet,

sondern ein von seinen Eltern aus dem Haus getriebener, offenbar ungeliebter Sohn.“19 Er ist der

gefallene Sohn in dieser „Unterwelt“ der Untermenschen in Amerika, in die er gefallen ist.

Die „gefallener Engel“ -Rolle benutzt Karl wegen der Möglichkeit, sich weiter in die Rolle

des zum Opfer gemachten armen Sohns zu stellen. Der Sohn der „aus Versehen“ weit von der

Utopie entfernt gelandet ist. Amerika repräsentiert eine Unterwelt, die als Groteske bezeichnet

werden kann, insoweit als dass sie das Gegenteil von der Utopie Karls ist. Alle Sünden sind hier in

diesem fremden, geschäftigen Land zu finden. Kafka malt diese Welt nah an Gemälden von

16 Alt, 365. 17 Kafka, Franz, Der Verschollene. (Stuttgart: Reclam 2006): 230. 18 Alt, 366. 19 Alt, 364.

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Hieronymus Bosch, der Maler der für seine grotesken, religiös fraglichen Gemälde bekannt ist.

Kafka malt eine Art von Albtraum, den Kafka selbst einmal hätte träumen können. Kafka malt

Amerika auf die Weise grotesk, dass Karl immer weiter von dem geschäftigen und scheinbar

gefährlichen Leben, welches er dort fand, wegzurennen versucht. Die Groteske in Amerika wird

wie folgt beschrieben: „Figürlich bedeutet […] so viel als seltsam, unnatürlich, abenteuerlich,

wunderlich, possierlich, lächerlich, fratzenmäsig und derg.[sic]“20 Mit jedem Schritt weiter weg

von New York wird Karl in der Gesellschaft immer weiter nach unten gedruckt. Karl entfernt sich

im letzten Fragment erneut von allem was ihm bekannt war. Der Koffer und die Fotos sind verloren.

Mit der Entfremdung in einem neuen Land, wie Homi Bhabha beschreibt, wird die Möglichkeit

irgendwie anzukommen zurückgewiesen, weil die „Zugehörigkeit zu einem heimisch-vertrauten Ort

immer mit der unheimlichen, aber unvermeidbaren Bedrohung verschränkt, [ist] die von dem

kulturell Anderen ausgeht, z.B mit dem Gefühl von Fremdheit, von Andersartigkeit und fehlender

Zugehörigkeit.“21 Als Karl nichts Bekanntes in Amerika finden kann und all seine vorherigen

Sachen verloren hatte, füllte er diese Leerstellen mit neuen, grotesken Umgebungen auf. Immer am

Rennen und am Rand der menschlichen Welt, fand Karl überhaupt keine Bequemlichkeiten und

bleibt weiter in seiner Zuschauerposition.

Durch den Versuch unschuldig und unverantwortlich zu bleiben, eben dieses „unwissende“

Kind, welches Karl spielt, bleibt er auf der kulturellen Grenze zu Amerika und zum Ankommen

stecken. Peter-André Alts Buch ist auf der Idee gegründet, dass „Kafkas literarisches Werk [...]

einer Ästhetik des Zirkulären verpflichtet [ist], in der sich die Ich-Konstruktion des ewigen Sohnes

spiegelt. [...] Der Ich-Entwurf des ‚ewigen Sohnes’ ist daher das Geheimnis der

20 Wolfgang Kayser. Das Groteske. Seine Gestaltung in Malerei und Dichtung. (Oldenburg: 1957): 21. 21 Elisabeth Bronfen vorwart zum Die Verortung der Kultur von Homi K. Bhabha.(Stauffenburg Verlag, 2000): ix.

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Künstlerpsychologie, die Kafkas Schreiben grundiert.“22 Es ist genau dieser „ewige Sohn“ Entwurf

den Alt für den Autor selbst benannte: Kafka hat sich „niemals aus der Rolle des Nachgeborenen

befreit, der zögert, erwachsen zu werden. Seine Liebesgeschichten treiben in Katastrophen, da der

Eintritt in die Rolle des Ehemanns oder Vaters seine Identität als Sohn zerstört hätte.“23 Die

Schwelle zum Erwachsensein scheint in prägnanten Momenten durch die Schüssel zu Karls

„Zimmer“ symbolisiert. Nicht nur die Eltern von Karl haben ihm die Möglichkeit zum

Erwachsenwerden durch die, durch das Exil verwehrte Übernahme der Verantwortung für seine

Vaterschaft genommen, die Frauen drückten ihn, nach seiner Schilderung, auch immer wieder nach

unten. Und er lässt es zu.

Neben dem Motiv des ewigen Sohns, des ewigen Sohns des Heiligen Vaters, der für seine

Sünden mit dem amerikanischen Exil bestrafft wird, hat Karl auch Ähnlichkeiten zum „ewiger

Jude“-Motiv Kafkas, der in seinen Geschichten nie vom Judentum seines Vaters loskam. Karl

gleicht Adam, der den Menschen repräsentiert. So wirkt der Bibelspruch passend:

Und zu Adam sprach er: Weil du auf die Stimme deines Weibes gehört und gegessen hast von dem Baume, von dem ich dir geboten und gesprochen habe: Du sollst nicht davon essen, so sei der Erdboden verflucht um deinetwillen: mit Mühsal sollst du davon essen alle Tage deines Lebens; 18 und Dornen und Disteln wird er dir sprossen lassen, und du wirst das Kraut des Feldes essen. 19 Im Schweiße deines Angesichts wirst du dein Brot essen, bis du zurückkehrst zur Erde, denn von ihr bist du genommen. Denn Staub bist du, und zum Staube wirst du zurückkehren!24 Die Beispiele von Kafkas zerrissenen religiösen Ansichten und seine biblischen Spuren tauchen

immer wieder auf. Karl ist wie der ewig heimatlose Jude - diese Judenfigur war früher mit dem

Jünger Johannes verbunden, eine Legende die in einer Anzahl von literarischen Schriften wieder

auftaucht. Dieser „Jude“ kämpft, genau wie Kafka selbst, mit seiner jüdischen Identität, zerrissen

zwischen zwei Glaubensansichten, der Vergangenheit und der Zukunft. Der ewige Jude hat, wie

22 Alt, 15. 23 Alt, 15. 24 1 Mose 3:17-19, Elberfelder 1905.

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auch Karl Roßmann, keinen Herrn mehr und wandert herum, auf der Suche nach seiner Rettung. Er

war „condemned to wander eternally over the face of the earth, awaiting the Master’s second

coming. ... today he is he symbol of a race,“25 beschreibt Nelson Sherwin Buschnell in seinen

Anmerkungen zu Kafkas jüdischer Identität. Der Verschollene könnte auch die „ziellose

Wanderungen Karls durch Amerika“ betitelt werden. Denn das entspricht genau dem Schicksal von

Karl, der ziellos und ewig wandert und wartet bis der Herr, beziehungsweise eine Vaterfigur,

wiederkommt, um ihm zu retten. Der ewige Jude porträtiert scheinbar jeden Juden der zerrissen

zwischen diesen zwei Identitäten ist. Der sich nach Zion zurückzukehren wünscht, aber in einem

anderen Land verschollen ist und wartet.

In Walter Sokels Artikel über Kafka als Jude, beschreibt er wie Kafkas Vater war: „The

epitome of a Yom Kippur Jew, that is, the incarnation of half-heartedness, hypocrisy and self-

deceiving compromise. His Judaism appeared a hollow ritualism which enshrined pretense in the

place of faith and mistook self regarding conventionality for a sense of community and tradition.”26

Karl ist im Roman trotzdem das genaue Gegenteil dieser Konventionen. Kafka beklagte, genau wie

viele junge jüdische Menschen damals, “Jewishness manifested itself as a double negative. Jews

were Jews because they were not like others, because they were different from everyone else.”27

Und in dem, was Kafka schreibt, entfernt er sich immer weiter vom Judentum und schreibt

eigentlich nicht explizit darüber. Er sah das Judentum, wie viele fortschrittliche junge Juden des 19.

Jahrhunderts, als Form der Unterdrückung an. Es scheint, als ob Kafka sein Judentum leugnen

wollte, obwohl er immer näher dahin zurück kommt als er älter wird. Und doch tauchen die

jüdische Themen in seinen Werken, in impliziten Andeutungen immer wieder auf. Im

Verschollenen findet sich das Treffen mit dem Studenten Josef Mendel bei Brunelda, draußen auf 25 Nelson Sherwin Bushnell. “The Wandering Jew and "The Pardoner's Tale" Studies in Philology: 452. 26 Walter H. Sokel, “Kafka as a Jew.” New Literary History. Vol. 30, No. 4, Case Studies (Autumn, 1999): 842. 27 Ibid., 843.

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dem Balkon, der Karls Neugier weckt, da dieser alles zu sein scheint, was Karl nicht ist. Josef

Mendel verkörpert den seit dem Mittelalter stereotypischen Juden, so ist Josef dem Bild

entsprechend ebenfalls auch frei. Mendel liest und studiert viel, ist denkfähig, einen kleiner

Spitzbart wird erwähnt. Josef Mendel ist erfolgreich in Amerika, hat einen guten Job gefunden, für

den er „sehr stark gearbeitet hat,“28 und auch in seinem Namen teilt er Ähnlichkeiten zum

deutschen-jüdischen Philosoph Moses Mendelssohn aus dem achtzehnten Jahrhundert.

Mendelssohn ist eine prominente Figur in der deutschen und jüdischen Literatur.

Später in Kafkas Leben interessiert er sich besonders für Antworten auf die religiösen

Fragen bezüglich seiner jüdischen Vergangenheit, des Judentums seines Vaters und bezüglich

dessen, was er als Kind unter dem ’Judentum’ gelernt hat. Seine existentialistischen Ideen gaben

ihm die Möglichkeit weiter mit diesen Gedanken einzugehen. Er liest, genießt und verfolgt die

Forschung von Nietzsche und Kierkegaard.29 In seinem Verhältnis zum Judentum hinterfragt er

alles und fängt an, seine Gedanken über den Existentialismus zu sammeln. Er fühlte sich immer

entfremdet in seinem Leben als Deutsch-Student in Prag und eben als Jude.30 Und so fängt er an,

zwei Welten zu unterscheiden: Wahr und Unwahr, Paradies und Unterwelt, Amerika und Europa.

Karl hat sich irgendwo in der Mitte verlaufen. Ralf Nicolai beschreibt diese existenzialistische

Theorie zur Karls Reise als „zwei Schritte enthalten insgesamt drei Standorte, nämlich den Ort des

Ursprungs, von dem der erste Schritt seinen Ausgang nimmt, dann das Ende des ersten Schrittes als

Station zwischen dem verlassenen Ursprung und dem noch nicht erreichten Ziel, und zuletzt, mit

dem abgeleisteten zweiten Schritt, die Ankunft am Ziel.“31 Somit sieht Nicolai ein, allgemein doch

eher fragliches, Ankommen Karls in Amerika. Kafka schickt Karl Roßmann ins Exil nach Amerika.

28 Kafka, Franz, Der Verschollene. (Stuttgart: Reclam 2006): 243. 29 Sokel, 837-853. 30 Sokel, 837. 31 Ralf R. Nicolai. Kafkas Amerika-Roman „Der Verschollene“ Motive und Gestalten: 10.

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Ein Exil als ‘dritter Ort’ und als ’dritter Bereich’ „zwischen einem ursprünglich verlorenen und

einem sekundär erworbenen Ort, zwischen Bekanntem und Fremden, zwischen einer Vergangenheit

die sich als solche durch den Verlust des Heimatortes als unwiderruflich verloren abzeichnet.”32

Was Kafka verlangt war eine Figur in größtmögliche Distanz von Europa und dem jüdischen,

gefangenen Leben in Prag zu schicken und ins geistige Exil zu verschwinden.

In Bezug auf Kafka selbst könnte der Roman auch als ein Exilroman gesehen

werden. Die Bestrafung nach Amerika zu gehen war für Karl Exil, ebenso wie für Kafka. Kafka

flüchtet sich in Gedanken aus seiner Umgebung nach Amerika in ein freiwilliges Exil. Er schreibt

über ein Land, das fremd war. Abgesehen von einigen Bildern, Büchern, und einer Anzahl von

Geschichten hat Kafka sich das Land gedanklich erschaffen, in erster Linie also ein neues Land.

Dieses Land war ein Gegenstück zu der Welt, die er kannte. Für Kafka existiert Amerika in seinem

Kopf und in Büchern als ein Traumland mit unglaublichen Möglichkeiten. Amerika in dem Roman,

ist ein Konstrukt, ein Ausdruck von Kafkas Vorstellung des damaligen Amerikas.

In seiner Untersuchung der Einheit des Erzählens und der alltäglichen Ebenen des Lebens,

hat Jurij Lotman in der Analyse Die Struktur literarischer Texte erhoben, dass

das Motiv [...] die elementare, unauflösbare Einheit des Erzählens [ist], die mit einem typisierten, in sich abgeschlossenen Ereignis auf der externen (alltäglichen) Ebene korreliert: Unter einem Motiv verstehe ich eine Formel, die der Gesellschaft in der Frühzeit auf die Fragen antwortete, die die Natur dem Menschen überall gestellt hat, oder die besonders lebhafte, wichtig erscheinende oder sich wiederholende Eindrücke von der Wirklichkeit fixierte. 33

Vor diesem Hintergrund war Karls Reise also auch ein Exil für Kafka. Aber wie Bridgewater

beweißt, war er nicht besonders erfolgreich, denn “’Karl Roßmann is in reality no more able to

escape from Prague than was Kafka, whose obsession with the central myth of the Judaeo-Christian

tradition forms the basis of all three novels, hence Max Brods comment that’‚ Kafka rechtet mit 32 Elisabeth Bronfen. “Exil in der Literatur: Zwischen Metapher und Realität.” Arcadia 28/1993.(1993): 167-183. 33 Jurij Lotman,. Die Struktur literarischer Texte, trans., Rolf-Dietrich Keil (München: Wilhelm Fink, 1972.): 533.

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Gott ab, wie einst Hiob es getan hat. Er richtet über den Sündenfall, die Austreibung aus dem

Paradies’”34 Dies beschreibt, dass Kafkas Versuch das wahre Amerika darzustellen nie besonders

erfolgreich sein konnte. Kafkas „Land ohne Grenzen,“ die sanften Hügel und der Stadt Ramses

existieren nicht.

Im Laufe des Romans sieht man Kafkas gefangene Figur in Der Verschollene in dieser

existenzialistischen Existenz, und Kafka benutzt die Freiheiten und Möglichkeiten des Buchs, der

Schrift und dieses neuen Landes um außerhalb Europas seine Gedanken von europäisch-

aufklärerischen Ideen zu befreien. Gefragt, warum Juden deutsche Schriftsteller werden möchten,

antwortet Kafka:

To get away from the Jewishness of their fathers, usually with the confused consent of their fathers […] so they wanted to write in German: but with their little hind legs they remained stuck in the Jewishness of their fathers and with their little front legs they were finding no new ground […] metaphor of the insect wriggling in suspension between what it wanted to leave and what it failed to arrive at, Kafka characterized his own work as inspired by total alienation.“35 Genau solche Antworten beschreiben, warum Kafka solch ’andere’ Geschichten schreiben wollte.

Denn Der Verschollene war das Gegenteil zu seinem Leben in Prag. Genau solche starken Spuren

der Entfremdung von der normalen Welt und körperlicher Entfremdung hat Kafka auch in seiner

Novelle Die Verwandlung beschreiben. Die Verwandlung, eine Novelle die 1912 erschien, handelt

von einem Jungen, der plötzlich eines Morgens als Ungeziefer erwacht. Die Geschichte beschreibt

genau einen Inbegriff von jemandem der sich fremd in seinem eigenen Körper und Leben fühlt,

einer Entfremdung von allem was bekannt und „Zuhause“ war, jemand, der plötzlich anders aussah

und fühlte. Kafka verfasste Der Verschollene fast in der gleichen Zeit, doch wo Der Verschollene

existenzialistische Grenzen hat, beschreibt Die Verwandlung wesentlich konkretere Beispiele einer

körperlichen Grenze, grotesker Entfremdung und körperlichem Einschluss.

34 Patrick Bridgewater,. Kafkas Novels An Interpretation. (New York: Rodopi 2003): 29. 35 Sokel, 837-853.

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Die Unschuldigkeit Karls wird im Roman nicht wieder gefunden. Die Enthüllung von

Kafkas innerer Groteske und zerrissener Weltanschauung zeigt eine brutale Welt, in der man sich

alles, was man im Leben möchte, selbst erarbeiten muss. Karl befindet sich immer bequem hinter

Türen und Schlössern, aus- oder selbst eingesperrt von der Welt, genau so wie er bequem von

anderen getrieben wird. Der Rezipient liest nur Karls Meinung zum Geschehen, weil es nur von

Karl erzählt bekommt, von Karl dem Opfer, dem gefallenen, verletzten Sohn. Dies macht es ganz

einfach für Kafka, diese Welt als eine Bestrafung zu malen. Der Leser sieht nur die selbe Kulisse

eines Zimmers wie Karl und dass alle die hinein kommen nur Eindringlinge sind. Der Leser liest

Amerika wie Kafka Amerika sah, eingesperrt in Prag und aus Europas aufklärerischer Mentalität,

durch eine enge, geschlossene, barsche Welt. Infolge fällt Karl vor dem Auge des Rezipienten

zurück in sein kindliches ‘Getrieben-werden’ und ist verschollen in der Geschäftigkeit und letztlich

unter den Mengen der Zirkusmenschen. Auch der Leser fällt durch die ausschließlich auf Karl

beschränkte Erzählweise sehr leicht zurück in ein unmündiges, geleitetes und nicht hinterfragendes

Lesen, da keine Zweifel durch einen Außenstehenden Erzähler an Karls Geschichte geweckt

werden. Somit wird der Rezipient im Lesen ein wenig Karl gleich.

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Literaturverzeichnis Alt, Peter-André. Franz Kafka: Der ewige Sohn: eine Biographie. München Verlag C.H Beck: 2005. Bhabha, Homi K. Die Verortung der Kultur. Stauffenburg, 2000. Bridgewater, Patrick. Kafkas Novels; An Interpretation. New York: Rodopi 2003. Bronfen Elisabeth. “Exil in der Literatur: Zwischen Metapher und Realität.” Arcadia 28/1993, Heft 1 (1993): 167-183. Bushnell, Nelson Sherwin. “The Wandering Jew and "The Pardoner's Tale." Studies in Philology. Vol. 28, No. 3 (Jul., 1931): 450-460. Harpham, Geoffrey. “The Grotesque: First Principles." The Journal of Aesthetics and Art Criticis. Vol. 34, No. 4 (Sommer, 1976): 461-468. Kafka, Franz: Der Verschollene. Stuttgart: Reclam 2006. Kayser, Wolfgang. Das Groteske. Seine Gestaltung in Malerei und Dichtung. Oldenburg: 1957. Lotman, Jurij. Die Struktur literarischer Texte, trans., Rolf-Dietrich Keil. München: Wilhelm Fink, 1972. Ralf R. Nicolai. Kafkas Amerika-Roman „Der Verschollene“ Motive und Gestalten. Würzburg:

Königshausen & Neuman 1981. Sokel, Walter H. “Kafka as a Jew.” New Literary History. Vol. 30, No. 4, Case Studies (Autumn, 1999): 837-853.

Abbildung an der Titelseite Getty Images. 22nd April 1889 - “Oklahoma Land Rush” aufgerufen am 24.06.2011. “http://content.answcdn.com/main/content/img/getty/9/4/3070894.jpg.”