Geschlechtersemantik 1800/1900. Zur literarischen Diskursivierung der Geschlechterkrise im...

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Palaestra

Untersuchungen zur europäischen Literatur

Band 340

Begründet von Erich Schmidt und Alois Brandl

Herausgegeben von

Heinrich Detering, Dieter Lamping und Gerhard Lauer

Editorial Board:

Irene Albers, Elisabeth Galvan, Julika Griem, Achim Hölter,

Karin Hoff, Frank Kelleter, Katrin Kohl, Paul Michael Lützeler,

Maria Moog-Grünewald, Per Øhrgaard

Persönliches Exemplar für Dr. Natalia Igl [email protected] - 24837

Natalia Igl

Geschlechtersemantik 1800/1900

Zur literarischen Diskursivierung derGeschlechterkrise im Naturalismus

V& R unipress

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen

Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über

http://dnb.d-nb.de abrufbar.

ISBN 978-3-8471-0276-2

ISBN 978-3-8470-0276-5 (E-Book)

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für

Geisteswissenschaften in Ingelheim am Rhein.

! 2014, V& R unipress in Göttingen / www.vr-unipress.de

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede

Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen

schriftlichen Einwilligung des Verlages.

Printed in Germany.

Titelbild: Graeser, Camille: Komplementär-additional, 1965. ! Camille-Graeser-Stiftung/

VG Bild-Kunst, Bonn 2014

Druck und Bindung: g Hubert & Co, Göttingen

Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.

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Für Rosa

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Inhalt

Vorwort und Dank . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11

1. Geschlechtersemantik 1800/1900: Historischer Wandel undliterarhistorische Relevanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151.1 Von ›Frauenbildern‹, ›Frauentypen‹ und ›problematischer

Weiblichkeit‹ – Geschlechterkrisen um 1900 . . . . . . . . . . . . 151.1.1 Arthur Schnitzlers Reigen (1903) als literarische

Anthropologie und exemplarische Inszenierung derGeschlechterproblematik innerhalb der Wiener Moderne . . 20

1.1.2 Literarische Anthropologie des Naturalismus – Vom Fokusauf das Fin de si!cle hin zum Naturalismus als initialerPhase der Diskursivierung der Geschlechterkrise . . . . . . . 25

1.1.3 Zusammenfassung: Gegenstand und Aufbau derUntersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34

1.2 Methodisch-theoretische Vorüberlegungen und Explikation derUntersuchungsperspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 391.2.1 Sozialgeschichtliche Grundlagen und deren

systemtheoretische Perspektivierung . . . . . . . . . . . . . 421.2.2 Begriffsgeschichte – Historische Semantik . . . . . . . . . . 461.2.3 Funktionen von Literatur – Historische und systematische

Verortung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 511.2.4 Positionierung zur Genderforschung – Zum

Emanzipationsbegriff und der (historischen) Gleichheits- vs.Differenzhypothese . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55

1.2.5 Zum Begriff des ›Diskurses‹ . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61

2. ›Weiblichkeit‹ zwischen ›Natur‹ und ›Kultur‹ – Die Herausbildung derkomplementären Geschlechtersemantik um 1800 und ihre Relevanzin der Umbruchphase um 1900 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 652.1 Das komplementäre Geschlechtermodell als diskursivierte

Semantik um 1800 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 652.1.1 Polarisierungen auf Gegenstands- und Metaebene –

Potential und Präzisierungsbedarf der Thesen zumpolaristischen Modell der ›Geschlechtscharaktere‹ . . . . . . 68

2.1.2 Die ›Komplementarität der Geschlechter‹ und dieAusdifferenzierung von ›Öffentlichkeit‹ und ›Privatheit‹ . . . 71

2.1.3 Konstruierte ›Natürlichkeit‹ – Die Universalität desOrdnungsschemas ›Geschlecht‹ . . . . . . . . . . . . . . . . 84

2.1.4 Geschlechterspezifische Perfektibilität – Von der ›weiblichenBestimmung‹ und der ›Erziehung zur Weiblichkeit‹ oder :Rousseau und die Folgen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97

2.1.5 Zusammenfassung: Zur historischen Problemreferenz undFunktionalität des komplementären Geschlechtermodells . . 110

2.1.6 Exkurs: Zur ›Verwissenschaftlichung‹ derGeschlechtersemantik – Die Charakterologie derGeschlechter als Basis sprachwissenschaftlicher Taxonomie . 112

2.2 Geschlechterkonzeptionen im Wandel – ZwischenStabilisierungen der Komplementärsemantik undRadikalisierungen der Differenzhypothese um 1900 . . . . . . . . 1172.2.1 »Denn in der Familie stecken die Frauen« –

›Naturgeschichtliche‹ Stabilisierungsversuche derbürgerlichen Geschlechterordnung und die Rolleentwicklungstheoretischer Modellierungen . . . . . . . . . . 120

2.2.2 ›Bildung‹ und ›Perfektibilität‹ als zentrale Aspekte desEmanzipationskonzepts der bürgerlichen Frauenbewegung –Vom ›natürlichen‹ zum ›kulturellen Beruf‹ der Frauen . . . . 132

2.2.3 Die Soziologie der Geschlechter als Beitrag zur›Verwissenschaftlichung‹ des Komplementärmodells . . . . . 141

2.2.4 ›Weibliche Anthropologie‹ um 1900 als Radikalisierung derDifferenzhypothese – Von der kompensatorischen zur›pathologischen‹ Weiblichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . 148

2.2.5 ›Weibliche Identität‹, ›Subjektivität‹ – undExklusionsindividualität? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157

2.2.6 Zusammenfassung: Stabilisierungen, Krise und diskursiveRelevanz der Geschlechtersemantik um 1900 . . . . . . . . . 162

Inhalt8

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3. Die komplementäre Geschlechtersemantik im Kontext desNaturalismus – Diskursivierung der Krise und Verhandlung desErgänzungsgedankens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1673.1 Der Naturalismus als ›Scharnier‹ der literarischen Moderne . . . . 167

3.1.1 Naturalistische Annäherungen an die ›Idee‹ – ZurVersöhnung von naturwissenschaftlicher Weltdeutung und›Idealismus‹ im Monismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175

3.1.2 Hin zur ›Idee‹ II – Zur Ibsen-Rezeption imdeutschsprachigen Naturalismus und der Traditionsliniehumanistisch-sozialkritischer Dramatik . . . . . . . . . . . . 187

3.1.3 ›Geschlecht‹ in der Krise – Semantisierungen des›Weiblichen‹ und weibliche Autorschaft im Kontext desNaturalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 196

3.1.4 Fallbeispiel : Naturalismus im Spannungsfeld von Traditionund Innovation – Zur Krise der »modernen Litteratur« alsKrise des Bildungsbürgertums . . . . . . . . . . . . . . . . . 207

3.2 Exemplarische (Funktions-)Analysen: Geschlechtersemantik undliterarische Anthropologie des Naturalismus . . . . . . . . . . . . 2233.2.1 Geglückte und verhinderte Paarbildungen – Die

Problemkonstellation ›Liebe‹, ›Ehe‹ und ›Sexualität‹ . . . . . 2283.2.2 Elsa Bernsteins Dramen als ›Brennglas‹ – Zwischen

naturalistischer Programmatik und spezifischerPerspektivierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 236

3.2.3 Determination, freier Wille und ›Selbsterlösung‹ – Derdramatische Experimentalaufbau als implizite Poetologie inElsa Bernsteins Wir Drei (1893) . . . . . . . . . . . . . . . . 253

3.2.4 Determinationshypothesen auf Text- und Figurenebene –Zur Fokussierung auf soziale Bedingungsfaktoren in GerhartHauptmanns Vor Sonnenaufgang (1889) . . . . . . . . . . . . 266

3.2.5 Naturalistische Wirkungsästhetik und ›ethischer‹Naturalismus – Zur Diskursivierung eines ›überkommenen‹weiblichen Bildungsmodells in Elsa Bernsteins Dämmerung(1893) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 277

3.2.6 Zusammenfassung und Ausblick: ›Natur‹, ›Geschlecht‹ und›Perfektibilität‹ im literarischen und pädagogischen Diskursum 1900 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 293

4. Geschlechtersemantik und literarische Diskursivierung der›Geschlechterkrise‹ – Fazit und Forschungsdesiderate . . . . . . . . . 311

Inhalt 9

Verzeichnis der Siglen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 317

Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 319Primärtexte und Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 319Forschungsliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 324

Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 345

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Vorwort und Dank

Die vorliegende Arbeit geht auf die leicht erweiterte und aktualisierte Fassungmeiner Dissertation zurück, die 2011 an der Sprach- und Literaturwissen-schaftlichen Fakultät der Universität Bayreuth angenommen wurde.

Ausgehend von der Beobachtung, dass die Kategorie ›Geschlecht‹ innerhalbdes literarischen und poetologischen Diskurses um 1900 umfassend präsent ist,geht die Studie der These nach, dass das zeitgenössisch zunehmend verunsi-cherte Konzept der Geschlechterkomplementarität als eine zentrale Problem-referenz der Literatur des ausgehenden 19. Jahrhunderts anzusehen ist. Daskomplementäre Geschlechtermodell wird dabei als historische Semantik auf-gefasst, die sich im Kontext einer spezifischen gesellschaftsstrukturell-seman-tischen Problemkonstellation um 1800 diskursiv etabliert hat. Im erstenHauptteil der Untersuchung steht zunächst die funktionsgeschichtliche Analysedieser Geschlechtersemantik im Vordergrund, während sich der zweite Haupt-teil mit der Relevanz derselben innerhalb der umfassenden Umbruchphase um1900 befasst. Der Fokus der Untersuchung liegt jedoch im Gegensatz zur bis-herigen Schwerpunktsetzung der Forschung nicht auf der Literatur der WienerModerne und des Fin de si!cle, sondern auf dem Naturalismus als Initialphaseder literarischen Diskursivierung der ›modernen‹ Geschlechterproblematik.Beleuchtet werden in dieser Hinsicht u. a. kanonisierte Dramen des Naturalis-mus wie Gerhart Hauptmanns Vor Sonnenaufgang (1889), Max Halbes Jugend(1893) und Henrik Ibsens Rosmersholm (1887, im Orig. 1886), aber auch diebislang wenig erforschten naturalistischen und naturalismusnahen Dramen derAutorin Elsa Bernstein (1866 – 1949). Diese loten die Krise der Komplementär-semantik besonders deutlich aus und lassen sich daher fruchtbar als ›Brennglas‹heranziehen, um die generelle Relevanz der Geschlechterproblematik in Bezugauf die naturalistische Dramenästhetik zu untersuchen. Der Naturalismus leis-tet, so eine zentrale These der Arbeit, nicht einfach die literarische Illustrationzeitgenössischer Determinationshypothesen, sondern vielmehr deren durchausskeptische Sondierung anhand literarischer ›Fallbeispiele‹. Die Krise der tra-dierten Komplementärsemantik von ›Geschlecht‹ erweist sich vor diesem Hin-

tergrund als zentral für den noch immer unterschätzten Beitrag des Naturalis-mus zur literarischen Anthropologie.

Ohne einige Personen wäre die vorliegende Studie nicht in dieser Formmöglich gewesen, daher möchte ich ihnen an dieser Stelle meinen herzlichenDank aussprechen. Danken möchte ich zunächst den Herausgebern für dieAufnahme meiner Studie in die Palaestra-Reihe, sowie den Mitarbeiterinnenund Mitarbeitern des Verlags für die gute Zusammenarbeit.

Prof. Dr. Martin Huber, der die Arbeit als Dissertationsschrift betreut hat,danke ich für Vieles: für den kontinuierlichen fachlichen Austausch, die Auf-geschlossenheit und Bestärkung, die anspornende Kritik und für die Möglich-keit, immer wieder neu von ihm zu lernen. Meine wissenschaftliche Sozialisationan der LMU München und damit auch die Grundlagen der vorliegenden Arbeithaben zwei weitere Personen stark geprägt. Viel verdanke ich Prof. Dr. Karl Eibl(† 18. 02. 2014). Der intensive Austausch im Eibl’schen Oberseminar hat meineAuseinandersetzung mit Luhmanns Systemtheorie, mit Historischer Semantikund literarischer Anthropologie angespornt. Neben meinem Verständnis vonLiteratur als virtuellem Raum zur Verhandlung historisch-semantischer Pro-blemkonstellationen hat die Zeit im Oberseminar auch meine Auffassung ge-prägt, dass gute Forschung nicht nur durch ›einsames‹ Arbeiten am Schreibtischentsteht, sondern auch durch den streitbaren Diskurs – und nicht zuletzt durchgepflegte Geselligkeit. Nicht weniger verdanke ich Prof. Dr. Elisabeth Leiss. Inihren sprachwissenschaftlichen Seminaren wurde mein Blick für axiomatischeFragen geschärft und der Grundstein für meine interdisziplinäre Ausrichtunggelegt. Die Möglichkeit, für fünf Semester eine Assistentenstelle in der Germa-nistischen Linguistik zu vertreten, hat mein literaturwissenschaftliches Arbeitenimmens bereichert und die fachliche Verbundenheit auf Dauer gestellt.

Mein besonderer Dank gilt PD Dr. Wolfgang Bunzel dafür, dass er mich durchsein im Wintersemester 2006/07 in München gehaltenes Hauptseminar mit ElsaBernsteins kaum kanonisierten Dramen bekannt gemacht hat. Der im Seminardiskutierte Clou des ›blinden‹ Vererbungsmotivs in Bernsteins Dämmerung(1893) war ein wesentlicher Impuls für mich, einen genaueren Blick auf diePositionierung naturalistischer Dramatik zu den zeitgenössischen Determina-tionshypothesen zu werfen.

Ein nicht geringer Teil der Arbeit ist während zweier Forschungsaufenthalteim Deutschen Literaturarchiv (DLA) in Marbach entstanden – ein wunderbarerRaum zum Denken und Schreiben. Ich danke den Mitarbeiterinnen und Mit-arbeitern, die den Ort erst zu dem machen, der er ist. Namentlich danken möchteich Dr. Marcel Lepper für die Bewilligung eines Aufenthaltsstipendiums des DLAin der Abschlussphase meiner Arbeit.

Eine Vielzahl weiterer Personen hat mich während meiner Promotionszeitdurch Anregungen, bestärkende Gespräche und kritische Lektüren des Ge-

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schriebenen begleitet. Besonders danken will ich Dr. Elisabeth Böhm und Dr.Martina Werner für ihre fachlichen Expertisen, ihren Rat und nicht zuletzt fürihre Freundschaft. Als wichtigster Begleiterin des gesamten Denk- undSchreibprozesses danke ich Dr. Sonja Zeman, Freundin, Kollegin und Mit-streiterin in allen Fragen zur Trias ›Sprache – Denken – Wirklichkeit‹.

Über den Raum des Akademischen hinaus danke ich meiner Familie undmeinen Freunden für ihre Liebe, ihr offenes Ohr und ihre Geduld, für die vielengemeinsamen Essen, Filmabende und Konzertbesuche. Jede Aufzählung vonNamen bliebe selektiv, Ihr wisst, wer gemeint ist – ohne Euch würde dasWichtigste fehlen.

Bayreuth, im März 2014 Natalia Igl

Vorwort und Dank 13

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1. Geschlechtersemantik 1800/1900: Historischer Wandelund literarhistorische Relevanz

1.1 Von ›Frauenbildern‹, ›Frauentypen‹ und ›problematischerWeiblichkeit‹ – Geschlechterkrisen um 1900

»Ich sags ja, Fräulein, Sie sind ein Problem.«1

»Ich weiß nicht, Fräulein, ich versteh’ Sie nicht –aber Sie machen mich so traurig.«2

Um 1900 – so der Forschungskonsens – geraten »die Geschlechterverhältnisseund geschlechtstypischen Rollenzuweisungen in Bewegung«3. Dies findet seinenNiederschlag innerhalb Kunst und Literatur neben der Omnipräsenz der The-menfelder Geschlecht und Sexualität etwa in der »Pluralisierung der Frauen-bilder«4, deren prominenteste und komplementär zueinander stehende Er-scheinungsformen – die femme fatale und die femme fragile – dabei als be-sonders prägend für »die Weiblichkeitsvorstellungen der Jahrhundertwende«5

aufgefasst werden. Als diskurs- und kulturgeschichtlicher Kontext dieser Ent-wicklung ist dabei vor allem die Institutionalisierung und fortschreitendeAusdifferenzierung wissenschaftlicher Disziplinen wie der Psychologie undPsychiatrie, der Neurologie und Physiologie sowie der Anthropologie als rele-vant anzusehen. Über diese intensiv mit den Phänomenbereichen Sexualität,Geschlecht und Geschlechterrollen befassten Fachdiskurse und die teils inner-

1 Äußerung des Grafen gegenüber der Schauspielerin in der neunten Szene von ArthurSchnitzlers Reigen. Zehn Dialoge (Schnitzler 1962 [1903], S. 382). Zitate daraus werden imFolgenden unter der Sigle ›R‹ im Fließtext nachgewiesen.

2 Äußerung der Ärztin Sabine Graef gegenüber der jungen Patientin Isolde Ritter im zweitenAkt von Elsa Bernsteins unter dem Pseudonym ›Ernst Rosmer‹ veröffentlichtem naturalisti-schem Drama Dämmerung (Bernstein 2003 [1893], S. 80).

3 Fähnders 2010, S. 108.4 Ajouri 2009, S. 188.5 Fähnders 2010, S. 111.

halb, teils außerhalb derselben stattfindende Popularisierung6 des generiertenWissens vollzieht sich – auch das ist Konsens – eine grundlegende »Sexuali-sierung« der Gesellschaft und gesellschaftlicher Beziehungen.7 So führt etwaStephanie Catani in ihrer an Wolfgang Riedels grundlegende Studie »HomoNatura«. Literarische Anthropologie um 1900 (1996) anknüpfenden Arbeit Dasfiktive Geschlecht (2005) anschaulich aus, dass die in der Literatur um 1900omnipräsente Auseinandersetzung mit dem ›Weiblichen‹ in Relation zu denzeitgenössischen Versuchen der Anthropologie zu sehen ist, die die Beschaf-fenheit des ›weiblichen Wesens‹ zu bestimmen suchen.8 Diese massive Präsenzdes ›Weiblichen‹ bzw. der Kategorie Geschlecht innerhalb der verschiedenenDiskursbereiche – der Wissenschaft, der Literatur und der Publizistik – setztCatani in Bezug zu der von Riedel beschriebenen ›anthropologischen Wende‹ im19. Jahrhundert, in deren Folge sich der Mensch zum »Stellvertreter seiner Se-xualität« entwickelt habe, »deren Aufschlüsselung gleichzeitig die Annäherungan den ›ganzen Menschen‹«9 bedeute.

Damit einher geht eben jene Verunsicherung der Geschlechterkonzepte, wiesie in der Literatur um 1900 vielfach zum Gegenstand und in umfangreichenliteraturwissenschaftlichen Untersuchungen als relevanter literarhistorischerKontextfaktor herausgearbeitet wurde. Als wesentlicher sozialgeschichtlicherKontext wie zugleich Motor dieser Entwicklung wird konsensuell die seit demspäteren 19. Jahrhundert erstarkende Frauenbewegung angeführt, deren ge-sellschaftliches Reformprogramm auf die Formel vom Ziel der weiblichenEmanzipation aus den patriarchalischen Gesellschaftsstrukturen gebrachtwird.10

Das Hauptaugenmerk der literatur- und diskursgeschichtlichen Forschungzur ›Geschlechterkrise‹ um 1900 liegt bislang – über vereinzelte Akzentver-schiebungen durch anders fokussierende Forschungsbeiträge11 hinaus – klar aufder Wiener bzw. ›klassischen‹ Moderne als der historischen Konstellation, in derein deutlicher gesellschaftlicher und literarischer Umbruch von Weiblichkeits-

6 Exemplarisch lässt sich hier etwa der Essayist, Literaturkritiker und ›Netzwerker der Mo-derne‹ (vgl. Sprengel 2010) Leo Berg anführen, der in Schriften wie Das sexuelle Problem inKunst und Leben (1901), Geschlechter (1906, erschienen als 2. Band der von Berg heraus-gegebenen Reihe Kulturprobleme der Gegenwart) und Essays wie Zur Kritik der Frauenfrage(1901 [1899]) die zeitgenössisch aktuellen Diskurse um geschlechtliche Pathologien, Ho-mosexualität, anthropologische Dispositionen und soziale Rollen behandelt.

7 Vgl. Fähnders 2010, S. 110.8 Vgl. Catani 2005.9 Catani 2005, S. 9, in Anschluss an Riedels zentrale These von der »biologische[n] Trans-

formation des Naturbegriffs im neunzehnten Jahrhundert« (Riedel 1996, S. XIII). Auf Ca-tanis wichtige Beobachtungen zum anthropologischen und literarischen Diskurs des›Weiblichen‹ um 1900 wird in Kapitel 2.2.4 näher einzugehen sein.

10 Vgl. etwa Ajouri 2009, S. 13 sowie Fähnders 2010, S. 109.11 Zentral zu nennen ist hier die Arbeit Geschlechterprogramme von Urte Helduser (2005).

Geschlechtersemantik 1800/190016

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und Männlichkeitsvorstellungen12 präsent wird. Als exemplarisch für diesenForschungskonsens lässt sich etwa Walter Fähnders Einführungsband zurAvantgarde und Moderne (erstmals 1998, in zweiter Auflage 2010) anführen. ImKapitel »Fin de si!cle, Ästhetizismus, Wiener Moderne« findet sich dort aufsechs Seiten ein Überblick zu verschiedenen literarisch typisierten ›Frauenbil-dern‹, denen ein Abriss zu zeitgenössischen ›emanzipativen‹ Entwürfen vonWeiblichkeit, sowie zu der in Anthropologie, Psychologie und Psychoanalyseintensiv betriebenen Erforschung von Sexualität und Geschlechterrollen bis hinzur Dämonisierungen ›des Weiblichen‹ vorangeht.13

Der von Fähnders in Übereinstimmung mit der Forschung gesetzte Fokus aufdas Fin de si!cle als prominenter Phase der Diskursivierung der Geschlechter-krise innerhalb der literarischen Moderne ist zunächst aus Sicht der vorlie-genden Studie durchaus plausibel. Dass dieser Fokus jedoch mit Blick auf dieInitialphase des umfassenden Krisendiskurses einer Justierung bedarf, wird imFolgenden zu zeigen sein.

Die Problematisierung der Geschlechterrollen spiegelt sich auch in den bei-den Eingangszitaten wider, anhand derer exemplarisch deutlich wird, dass derKrisendiskurs bereits im Naturalismus entscheidend präsent ist. Das erste Zitat– »Ich sags ja, Fräulein, Sie sind ein Problem.« – entstammt Schnitzlers imFolgenden näher zu beleuchtenden Stück Reigen. Zehn Dialoge (1903), genauerdem Dialog zwischen den Figuren »Graf« und »Schauspielerin« in der neuntenSzene (R, S. 382). Die Attribuierung der weiblichen Figur als ›problematisch‹zielt an dieser Stelle auf deren femme-fatale-Gestus ab, den der folgende Auszugillustriert:

schauspielerin. Nun, Herr Graf, Sie sind ein Ehrenmann. Setzen Sie sich näher.graf. Bin so frei.schauspielerin. Hierher. Sie zieht ihn an sich, fährt ihm mit der Hand durch dieHaare. Ich hab gewußt, daß Sie heute kommen werden!graf. Wieso denn?schauspielerin. Ich hab es bereits gestern im Theater gewußt.graf. Haben Sie mich denn von der Bühne aus gesehen?schauspielerin. Aber Mann! Haben Sie denn nicht bemerkt, daß ich nur für Siespiele?graf. Wie ist das denn möglich?schauspielerin. Ich bin ja so geflogen, wie ich Sie in der ersten Reihe sitzen sah!graf. Geflogen? Meinetwegen? Ich hab keine Ahnung gehabt, daß Sie mich bemerkten!schauspielerin. Sie können einen auch mit Ihrer Vornehmheit zur Verzweiflungbringen.

12 Vgl. dazu den Forschungsüberblick von Erhart 2005 zur Entwicklung der Men’s studies sowieden in der Forschung konstatierten ›Krisen der Männlichkeit‹ um 1900 und 2000.

13 Vgl. Fähnders 2010, S. 108 – 114.

Von ›Frauenbildern‹, ›Frauentypen‹ und ›problematischer Weiblichkeit‹ 17

graf. Ja Fräulein …schauspielerin. »Ja Fräulein«! … So schnallen Sie doch wenigstens Ihren Säbel ab!graf. Wenn es erlaubt ist. Schnallt ihn ab, lehnt ihn ans Bett.schauspielerin. Und gib mir endlich einen Kuß.graf küßt sie, sie läßt ihn nicht los.schauspielerin. Dich hätte ich auch lieber nie erblicken sollen.graf. Es ist doch besser so! –schauspielerin. Herr Graf, Sie sind ein Poseur!graf. Ich – warum denn?schauspielerin. Was glauben Sie, wie glücklich wär mancher, wenn er an Ihrer Stellesein dürfte!graf. Ich bin sehr glücklich.schauspielerin. Nun, ich dachte, es gibt kein Glück. Wie schaust du mich denn an?Ich glaube, Sie haben Angst vor mir, Herr Graf!graf. Ich sags ja, Fräulein, Sie sind ein Problem.schauspielerin. Ach, laß du mich in Frieden mit der Philosophie … komm zu mir.Und jetzt bitt mich um irgendwas … du kannst alles haben, was du willst. Du bist zuschön. (R, S. 381 f.)

Wie im Text deutlich wird, werden dieser Gestus und die mit ihm verbundenesexuelle Freizügigkeit von der männlichen Figur einerseits durchaus positiv-affirmativ aufgenommen. Aus dem dominanten Agieren der weiblichen Figurergibt sich andererseits aber auch ein Spannungsverhältnis, was die inSchnitzlers Text ›ausgestellten‹ Geschlechterrollenkonzepte angeht. Aufgrundder Gleichzeitigkeit von sexueller Anziehungskraft und der Verkehrung der um1900 vorliegenden geschlechterstereotypen Zuordnung des Schemas ›aktiv/passiv‹ zu ›männlich/weiblich‹ wird die femme fatale als Figur per se zum Pro-blem für andere – zumal männliche – Figuren.

Das zweite Eingangszitat hingegen entstammt dem zehn Jahre vor SchnitzlersStück erschienenen, naturalistischen Drama Dämmerung von Elsa Bernstein14

(1866 – 1949), dessen Analyse – neben anderen naturalistischen und naturalis-musnahen Dramen Bernsteins – in der vorliegenden Studie eine ›Brennglas-funktion‹ zukommen wird: »Ich weiß nicht, Fräulein, ich versteh’ Sie nicht – aberSie machen mich so traurig.« – So äußert sich die im Text zunächst als Idealtypusder ›emanzipierten Frau‹ erscheinende15 Augenärztin Sabine Graef gegenüberihrer jungen, aus bürgerlich-gehobenem Hause stammenden Patientin IsoldeRitter, als letztere damit kokettiert, wie oft sie sich in »interessante jungeMänner« verliebe, was doch »das einzige Amüsante im Leben« sei (D, S. 80).

14 Für einen Überblick zu Leben und Werk der seit einiger Zeit stärker ins Interesse derForschung gerückten Dramatikerin, die die meisten ihrer Stücke unter dem (allerdings frühgelüfteten) Pseudonym Ernst Rosmer publiziert hat, vgl. den Band von Kraft / Lorenz (Hg.)2007; siehe auch die Rezension von Igl 2010.

15 Siehe hierzu die detaillierte Analyse in Kapitel 3.2.5.

Geschlechtersemantik 1800/190018

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Anders als im Schnitzler-Beispiel wird die Bewertung der auf Sexualität fokus-sierenden Figur hier nicht von einer männlichen, sondern von einer weiblichenFigur vorgenommen, die an dieser Stelle nicht nur dezidiert kein sexuelles In-teresse am Kommunikationspartner hat, sondern sich zudem von der bürgerlichinstitutionalisierten Sexualisierung der weiblichen Geschlechterrolle explizitabgrenzt. Damit liegt in Dämmerung im Vergleich zur Konstellation im Reigenfür die evaluierende Figur kein Spannungsverhältnis aufgrund der gleichzeitigenBedrohung männlicher Rollenidentität und der sexuell anziehenden weiblichenPromiskuität vor – sondern ein Spannungsverhältnis zwischen zwei unter-schiedlichen weiblichen Rollenkonzeptionen.

Auch im Reigen ist die gleichgeschlechtliche Vergleichsdimension inszeniert:Die verschiedenen Figuren verweisen auf verschiedene weibliche wie männliche(Stereo-)Typen, Geschlechterrollen erscheinen insofern variabel, als es im Textnicht den ›männlichen‹ und den ›weiblichen‹ Typus gibt. Dass jedoch ge-schlechtliches Rollenhandeln aus der Figurenperspektive oder (spezifisch imFalle narrativer Texte) aus der übergeordneten Perspektive einer Vermittlungs-oder Erzählinstanz explizit als problematisch gewertet wird, setzt zunächsteinmal voraus, dass das Problem der Variabilität versus Invariabilität gesell-schaftlich ausagierter Geschlechterrollen diskursiv präsent ist. Generell werdenProbleme, die im Zusammenhang mit der (sozialen) Kategorie ›Geschlecht‹stehen, natürlich nicht erst in der Literatur des Naturalismus verhandelt, jedochlässt sich dieser als erste Phase der intensiven literarischen wie außerliterari-schen Diskursivierung derjenigen Krise verstehen, die mit der Infragestellungdes geschlechtlichen Ergänzungsgedankens16 aufkommt. Bevor also in Schnitz-lers Reigen die Schauspielerin als Verkörperung eines spezifischen (medial-diskursiv inszenierten) Typus von Weiblichkeit, nämlich der femme fatale,17 alsProblem adressiert werden kann, geht zunächst einmal das Obskurwerden des›Weiblichen‹ – respektive der Geschlechtervorstellungen und Rollenkonzeptio-nen – voran.

16 Die Konstitution der komplementären Geschlechtersemantik als einer historisch spezifischkonturierten Konzeption wird in Kapitel 2.1 ausführlich behandelt.

17 Stephanie Catani hebt dabei in ihrer bereits genannten Studie einen wichtigen Aspekt hervor,dem auch die vorliegende Untersuchung Rechnung tragen wird: Geschlechtertypisierungenwie das Konzept der femme fatale sind nicht einfach das Resultat literarischer Inszenie-rungen, sondern speisen sich aus verschiedenen, im 19. Jahrhundert eng aufeinander be-zogenen Diskursen aus Wissenschaft, Gesellschaft und Kunst (vgl. Catani 2005, S. 95).

Von ›Frauenbildern‹, ›Frauentypen‹ und ›problematischer Weiblichkeit‹ 19

1.1.1 Arthur Schnitzlers Reigen (1903) als literarische Anthropologie undexemplarische Inszenierung der Geschlechterproblematik innerhalb derWiener Moderne

Zunächst lässt sich – als ›Sprungbrett‹ für die nachfolgende Darlegung derMotivation und Zielsetzung dieser Studie – an einem Textbeispiel veranschau-lichen, wie zentral das Themenfeld um Sexualität, Geschlecht und vor allemGeschlechterkrise für die Literatur der Jahrhundertwende ist: an ArthurSchnitzlers szenischem Text Reigen, der eine äußerst eindrückliche Inszenie-rung der Krise der tradierten Geschlechterrollen zeigt.18

Die Akteure in Schnitzlers Stück sind typisierte Figuren, die auf sozialeGruppen bzw. Rollen verweisen und statt mit Eigennamen unter Gattungsbe-zeichnungen auftreten:19 »Die Dirne«, »Der Soldat«, »Das Stubenmädchen«,»Der junge Herr«, »Die junge Frau«, »Der Ehemann« bzw. »Der Gatte«, »Dassüsse Mädel«, »Der Dichter«, »Die Schauspielerin« und »Der Graf«. Innerhalbder Dialoge spielen die Eigennamen der Figuren durchaus eine Rolle, nichtzuletzt gerade dort, wo sie nicht genannt werden. So wird etwa der Soldat von derDirne – die sich als Leocadia vorstellt – nach seinem Namen gefragt, bleibtjedoch die Antwort schuldig (vgl. R, S. 329). Der Soldat wiederum erfragt imnächsten Dialog den Namen des Stubenmädchens und rät zunächst fälschlich»Kathi« statt »Marie« (wobei auch »Marie« im Dialog unbestätigt bleibt; vgl. R,S. 330 f.), und so fort.

Dass dieses Spiel mit den Figurennamen und die zwischen Typus und Indi-viduum angelegte Figurencharakteristik sich als eine der Inszenierungsstrate-gien auffassen lässt, die dem Text den Charakter einer Fallstudien-Sequenzverleihen, wird im Folgenden näher auszuführen sein. Zunächst ist festzuhalten,dass die Figuren im Reigen sich trotz einer zum Teil markierten Standeszuge-hörigkeit gesellschaftlich nicht eindeutig verorten und mit tradierten Rollen-vorstellungen in Deckung bringen lassen – wie besonders am Frauen- bzw.Figurentypus des ›süßen Mädels‹20 deutlich wird. Die in den zehn Dialogenspielerisch zur Schau gestellte gesellschaftliche Doppelmoral konstituiert sichüber die im Spannungsverhältnis von Figurenrede und Figurenhandeln aufge-rufenen Ideale von ›Weiblichkeit‹ und ›Männlichkeit‹ sowie demgegenüber der

18 Für einen aktuellen Überblick zum diskursgeschichtlichen Kontext des Skandalstücks sieheCatani 2005, S. 142 – 161; zur Entstehungs- und Aufführungsgeschichte siehe grundlegendauch die Studie und Materialsammlung von Pfoser / Pfoser-Schewig / Renner 1993.

19 Siehe dazu Pross 2002, besonders S. 252 f. Mit Pross lässt sich die Typisierung pointiert als»das durchgängige Prinzip der Figurengestaltung« im Reigen bezeichnen (ebd., S. 252).

20 Vgl. dazu aktuell die typologische und literarhistorische Übersicht bei Catani 2005, S. 109 –113.

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Aufspaltung in Rollen und ›Geschlechterinszenierungen‹, die das Ideal des›Weiblichen‹ und des ›Männlichen‹ in Frage stellen.

Der Text stellt dabei die Verunsicherung der tradierten Rollenmodelle herausund macht eine Diskrepanz zwischen der von den Figuren beanspruchten, aufden Konzepten Exklusivität, Emotionalität und Individualität basierenden Lie-bessemantik und ihrem jeweiligen konkreten ›Liebesverhalten‹ deutlich.21 AlsKernkonzept von ›Liebe‹ erweist sich Sexualität : Triebhaftigkeit fungiert alsMotor der Paarbildung und zugleich als inhärente Bedrohung für deren Stabi-lität. Im Text wird die geglückte Paarbildung durch das szenische Struktur-prinzip des Kreis- oder Reihentanzes als nicht zu verstetigen gezeigt. Das An-ordnungsprinzip des Reigens, bei dem eine Paarkonstellation (beginnend mitDirne und Soldat) durch den Wechsel eines Akteurs in die nächste übergeht, bissie schließlich (endend mit Graf und Dirne) wieder auf die Ausgangskonstella-tion zuläuft, erweist sich dabei als prädestiniert für die literarische Inszenierungder Geschlechterkrise.

Auf das hier zugrunde liegende, für Schnitzlers Text inhaltlich wie strukturellkonstitutive Spannungsverhältnis von ›Allgemeinmenschlichem‹ und ›Indivi-duellem‹ geht Caroline Pross in ihrem Beitrag zum »Gesetz der Reihe« und derEngführung von Literatur, (medizinisch-psychologischem) Wissen und An-thropologie pointiert ein: Analog zu dem in der zeitgenössischen anthropolo-gischen und psychopathologischen Forschung praktizierten analytischenStrukturprinzip der Reihenbildung im Sinne der Sammlung von Fallbeispielen,mit der Schnitzler sich als Mediziner fachwissenschaftlich auseinandersetzt,22

kommt im Reigen die Reihenbildung als in anthropologischer Hinsicht er-kenntnisgenerierendes Mittel zum Einsatz:

Auch in »Reigen« verbindet sich die Bildung einer Reihe mit der Formulierung vonAussagen über die Natur des Menschen und die allgemeinen Gesetze seines Handelns.Dieses Wissen ist nicht von Beginn an gegeben, es konstituiert sich erst im Laufe desTextes, in der Abfolge der zehn Szenen und der zehn Akte. Dabei sind es die Figurenselbst, die die Frage nach dem Allgemeinen und dem Individuellen aufwerfen und dieAufmerksamkeit auf den Anteil an Einmaligem und Wiederkehrendem in ihrem

21 Vgl. dazu den Beitrag von Neudeck / Scheidt 2002 zum Konnex von Liebessemantik(en) undSubjektivitätsproblematik in Schnitzlers Dramen. Zugrunde liegt die im Kern anschlussfä-hige Leitthese, dass Schnitzler in Reigen wie auch im Anatol-Zyklus »mittels der Liebes-thematik den Zerfall des Subjektbegriffs [reflektiert] und […] zugleich mögliche Lösungs-konzeptionen für eine Restituierung des Subjekts« verhandelt (ebd., S. 268).

22 So etwa mit Richard von Krafft-Ebings epochemachender, bis ins 20. Jahrhundert in viel-facher Neuauflage erschienener Schrift Psychopathia sexualis (1886). Insgesamt arbeitetPross (2002, S. 254 – 257) sehr luzide Schnitzlers deutliche Orientierung am induktivenVorgehen zeitgenössischer medizinisch-anthropologischer Sammlungen von Fallbeispielenheraus, die auf die Ableitung eines anthropologischen Paradigmas aus einer »syntagmati-schen Aneinanderreihung von Einzelbeobachtungen« (ebd., S. 256) abzielen.

Von ›Frauenbildern‹, ›Frauentypen‹ und ›problematischer Weiblichkeit‹ 21

Handeln lenken. […] Im Verlauf des Textes kommt es in »Reigen« somit zu einersukzessiven Erweiterung des Aussageradius. Dieser bezieht sich zu Beginn der »Sce-nenreihe« noch auf die Einzelperson, von Szene zu Szene erstreckt er sich auf immergrößere Gruppen, am Ende werden Aussagen über die Geschlechter und die Gattung alsganze gemacht.23

Die Figurencharakteristik und Figurenrede ist dabei trotz der starken Typisie-rung detailrealistisch-authentisch inszeniert, die Figuren erscheinen psycholo-gisch motiviert und – unter anderem durch den Einsatz von soziolektalen unddialektalen Elementen in der Figurenrede – ›empirisch‹ abgesichert. DieserRealismus der Figurenzeichnung ist gerade die Voraussetzung dafür, dass diezehn Dialoge als Fallbeispiele fungieren können, über die anthropologischeErkenntnisse zugleich inszeniert wie potentiell generiert werden können.24 Zuden reihen- und damit zugleich für den Gesamttext strukturbildenden Ele-menten, die den einzelnen Szenen den Status von Fallbeispielen verleihen,25

gehört neben den genannten Charakteristika der Figurenrede auch der cha-rakteristische Einsatz des Abbruchs der Rede26: So fällt die temporär zustandekommende Paarbildung auf dem Höhepunkt jeweils zusammen mit einer an-hand von Gedankenstrichen markierten Ellipse – der eigentliche Akt bleibt alsoausgeblendet. Ein Auszug aus der Szene »Der Gatte und das süsse Mädel« (DialogVI) illustriert diesen funktionalen Einsatz der Aussparung:

das süsse mädel. […] Du, in dem Wein muß was drin gewesen sein.der gatte. Ja, warum denn?das süsse mädel. Ich bin ganz … weißt – mir dreht sich alles.der gatte. So halt dich fest an mich. So … Er drückt sie an sich und wird immerzärtlicher, sie wehrt kaum ab. Ich werd dir was sagen, mein Schatz, wir könnten jetztwirklich gehn.das süsse mädel. Ja … nach Haus.der gatte. Nicht grad nach Haus …das süsse mädel. Was meinst denn? … O nein, o nein … ich geh nirgends hin, wasfallt dir denn ein –

23 Pross 2002, S. 256 f.24 Vgl. dazu grundlegend den Beitrag »Arthur Schnitzlers ›Reigen‹ und die Sexualanthropo-

logie der Jahrhundertwende« von Thom! 1998.25 Vgl. Pross 2002, S. 256 f.26 Zum Einsatz der Gedankenstriche bzw. der Ellipsen in Schnitzlers Reigen vgl. den Beitrag

von Schlösser 2006, der in den Abschnitten »Kleine Strichkunde« (S. 39 f.) und »Ein Blick ins18. Jahrhundert« (S. 40 – 42) eine knappe Skizze der typographischen sowie kunst- undliterarhistorischen Funktionen des Gedanken- bzw. (typographisch gesprochen) des Ge-viertstrichs liefert. Die inszenierte Aussparung des sexuellen Aktes in Schnitzlers Reigensteht dabei in einer Tradition, für die die seit dem 18. Jahrhundert populären BildserienBefore und After (1730/31 und vor allem die Kupferstichsequenz von 1736) des englischenMalers und Satirikers William Hogarth (1697 – 1764) als exemplarisch anzuführen sind (vgl.Schlösser 2006, S. 38 f. sowie Pfoser / Pfoser-Schewig / Renner 1993, S. 15 – 17).

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der gatte. Also hör mich nur an, mein Kind, das nächste Mal, wenn wir uns treffen,weißt du, da richten wir uns das so ein, daß … Er ist zu Boden gesunken, hat seinen Kopfin ihrem Schoß. Das ist angenehm, oh, das ist angenehm.das süsse mädel. Was machst denn? Sie küßt seine Haare. … Du, in dem Wein mußwas drin gewesen sein – so schläfrig … du, was g’schieht denn, wenn ich nimmeraufstehn kann? Aber, aber, schau, aber Karl … und wenn wer hereinkommt … ich bittdich … der Kellner.der gatte. Da … kommt sein Lebtag … kein Kellner … herein …– – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – –das süsse mädel lehnt mit geschlossenen Augen in der Diwanecke.der gatte geht in dem kleinen Raum auf und ab, nachdem er sich eine Zigaretteangezündet. Längeres Schweigen.der gatte betrachtet das süsse Mädel lange, für sich. Wer weiß, was das eigentlich füreine Person ist – Donnerwetter … So schnell … War nicht sehr vorsichtig von mir …Hm …das süsse mädel ohne die Augen zu öffnen. In dem Wein muß was drin gewesen sein.der gatte. Ja, warum denn?das süsse mädel. Sonst …der gatte. Warum schiebst du denn alles auf den Wein?(R, S. 360)

Die Ausblendung der sexuellen Handlung durch die Gedankenstriche zitiert andieser Stelle zugleich die Zensurpraxis des 18. und 19. Jahrhunderts und lässtsich im Sinne einer vom Autor inszenierten eilfertigen Vorwegnahme möglicherTextstreichungen durch einen Zensor als ironischer Metakommentar lesen. Injedem Fall heben die Auslassungen als entsprechend semantisch aufgeladener›Marker‹ die jeweiligen nicht dargestellten Sequenzen gerade hervor, was dieoben angesprochene Deutung stützt, dass der Text den Fokus auf Sexualität alsMotor der Paarbildung auf der Handlungsebene legt – und zugleich als die denText ordnende Dynamik im metaphorischen Sinne des Klimax als dem (ideal-typischen) dramatischem Strukturprinzip. Die spezifische Gattungsinnovationdes Stücks liegt an dieser Stelle in der Reihung der in sich klimaktisch ange-ordneten Einzelszenen, wodurch eine klimaktische Struktur auf der Makroebenedes Textes gerade unterbunden wird: Der Reigen ist, wie oben bereits ange-sprochen, nicht nur das passende Bild für die Bewegung der Figuren innerhalbder Textwelt, sondern auch eine pointiert gewählte Bezeichnung für das ästhe-tische Strukturprinzip des Textes.

Wenngleich ein genauerer Blick auf die Figurenkonzeption und das Span-nungsverhältnis der anzitierten normativen Geschlechterrollenkonzeption undder inszenierten Überschreitung in Bezug auf die Neukonzeptualisierung derGeschlechtersemantik innerhalb der Wiener Moderne durchaus analytischlohnenswert ist, stehen jedoch im Folgenden weniger die ästhetischen Innova-tionen von Schnitzlers Drama im Vordergrund als vielmehr die dort aufgegrif-

Von ›Frauenbildern‹, ›Frauentypen‹ und ›problematischer Weiblichkeit‹ 23

fenen ästhetischen und gattungsspezifischen Traditionen: Im Einsatz der kon-kreten dramatischen Mittel – sowohl mit Blick auf die spezifischen Strategiender ›Authentifizierung‹ der Figurenrede und des funktionalen Redeabbruchs wieauch mit Blick auf die Anlage der Figuren zwischen Typus und Individuum –steht Schnitzlers Text deutlich in der Traditionslinie naturalistischer Poetologie.So fungiert beispielsweise in Gerhart Hauptmanns Drama Vor Sonnenaufgang(1889) der Abbruch der Rede in analog signifikanter Weise als ›Marker‹ für eineSchlüsselsequenz, bei der es um die Möglichkeit der Paarbildung und – alsVoraussetzung derselben – die gelingende Kommunikation zwischen den Ge-schlechtern geht:27

loth. […] Also … – er geht auf sie zu und gibt ihr die Hand – leben Sie recht glücklich!Er wendet sich und steht sogleich wieder still. Ich weiß nicht …! oder besser : – Heleneklar und ruhig ins Gesicht blickend – ich weiß, weiß erst seit … seit diesem Augenblick,daß es mir nicht ganz leicht ist, von hier fortzugehen … und … ja … und … naja!helene. Wenn ich sie aber – recht schön bäte … recht sehr … noch weiter hierzu-bleiben –?loth. Sie teilen also nicht die Meinung Ihres Schwagers?helene. Nein! – und das – wollte ich Ihnen unbedingt … unbedingt noch sagen, bevor… bevor – Sie – gingen.loth ergreift abermals ihre Hand. Das tut mir wirklich wohl.helene mit sich kämpfend. In einer sich schnell bis zur Bewußtlosigkeit steigerndenErregung. Mühsam hervorstammelnd. Auch noch mehr w-ollte ich Ihnen … Ihnensagen, nämlich … näm-lich [sic]: daß – ich Sie sehr hoch-achte [sic] und – verehre –wie ich bis jetzt … bis jetzt noch – keinen Mann … daß ich Ihnen – vertraue – daß ichbe-reit [sic] bin, das … das zu beweisen – daß ich – etwas für – dich, Sie fühle … Sinktohnmächtig in seine Arme.loth. Helene!28

Das durch die Gedankenstriche, die Auslassungszeichen sowie die Trennstricheinnerhalb einzelner Worte (»näm-lich«, »be-reit«, »hoch-achte«) auch imSchriftbild sichtbar gemachte Stocken, Abreißen und Wiederaufnehmen derFigurenrede markiert die Kommunikationssituation als ungewöhnlich und›diskursiv unsicher‹. Die spezifische Funktion dieser inszenierten Unsicherheitist – wie in Schnitzlers Reigen – sowohl auf der Handlungsebene relevant, alsauch auf der Ebene der spezifischen Wirkungsästhetik des Stücks, wie dieAnalyse von Hauptmanns Drama in Kapitel 3.2.4 zeigen wird.

Der bisherige Fokus der Forschung auf die literarische Anthropologie von Finde si!cle und Wiener Moderne übersieht zu weiten Teilen eben jene eng an dieAuseinandersetzung mit zeitgenössischen anthropologischen Fragen geknüpfte

27 Siehe hierzu die detaillierte Analyse in Kapitel 3.2.4.28 Hauptmann 1981 [1889], S. 62 f. Zitate daraus werden im Folgenden unter der Sigle ›VS‹ im

Fließtext nachgewiesen.

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naturalistischen Wirkungsästhetik und deren Relevanz für die literarischenFolgeströmungen. Ausgangspunkt der vorliegenden Untersuchung ist entspre-chend eine Fokusverschiebung auf den Naturalismus als literarische Strömung,die sich unter anderem über die intensive Verzahnung von literarischem und(natur)wissenschaftlichem Diskurs konstituiert.

1.1.2 Literarische Anthropologie des Naturalismus – Vom Fokus auf das Fin desiècle hin zum Naturalismus als initialer Phase der Diskursivierung derGeschlechterkrise

Der oben skizzierte, von Caroline Pross beleuchtete Zusammenhang vonSchnitzlers Reigen mit dem Diskurs der zeitgenössischen ›Scientia sexualis‹rückt aus Sicht der vorliegenden Arbeit sehr überzeugend den seit dem18. Jahrhundert explizit formulierten Anspruch von Literatur ins Zentrum,einen eigenständigen Beitrag zum Wissen über die ›Natur‹ des Menschen – zurAnthropologie – zu leisten.29 Bis hierher stehen die Ausgangsbeobachtungen dervorliegenden Studie in Übereinstimmung mit den bisherigen Forschungser-gebnissen. Die Geschlechterkrise als zentrales Thema der literarischen An-thropologie um 1900 und deren bislang in der Forschung konsensuell vorge-nommene Verortung innerhalb der Wiener Moderne bzw. des Fin de si!cle istjedoch – wie im Folgenden zu zeigen sein wird – mit Blick auf die literarischeAnthropologie des Naturalismus neu zu bewerten. Die Grundlagen für eineentsprechende Neubewertung sind innerhalb der Forschung etwa mit der StudieGeschlechterprogramme (2005) von Urte Helduser gelegt: Anknüpfend an dieunter anderem bereits von Horst Thom" in seinem Grundlagenaufsatz »Mo-dernität und Bewußtseinswandel in der Zeit des Naturalismus und des Fin desi!cle« pointiert umrissene Beobachtung, dass das tradierte Modell der Ge-schlechterrollenverteilung im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts in seinemGeltungsanspruch grundlegend fragwürdig geworden ist,30 geht Helduser auf diekonstitutive Rolle der Kategorie ›Geschlecht‹ bzw. des ›Weiblichen‹ innerhalbder literarischen Moderne ein, nimmt dabei aber eine wichtige Öffnung der

29 Zur ›Literarischen Anthropologie‹ als Manifestation einer seit dem 18. Jahrhundert beob-achtbaren Affinität der sich neu etablierenden wissenschaftlichen Disziplin der Erforschungdes Menschen und der ›schönen‹ Literatur vgl. die Überblicksdarstellung von Kosenina2008; für die Zeit um 1900 siehe die bereits genannte Grundlagenstudie »Homo Natura« vonRiedel 1996. Zur ›Literarischen Anthropologie‹ im Sinne einer literaturwissenschaftlichenForschungsperspektive siehe grundlegend Pfotenhauer 1987 und Schings 1994, sowie alsfundierte theorie- und methodengeschichtliche Überblicksdarstellung van Laak 2009.

30 Vgl. Thom" 200, S. 23.

Von ›Frauenbildern‹, ›Frauentypen‹ und ›problematischer Weiblichkeit‹ 25

Forschungsperspektive von der dominanten Fokussierung auf das Fin de si!clehin zum Naturalismus vor.

Die vorliegende Studie zum Wandel der Geschlechtersemantik im ›langen19. Jahrhundert‹ und der Relevanz dieses Wandels mit Blick auf das Sozial- undSymbolsystem ›Literatur‹ legt nun eine ähnliche Perspektive zugrunde: Andersals es etwa die knapp gehaltenen Ausführungen in Fähnders literaturge-schichtlichem Überblick suggerieren, lässt sich der Naturalismus nicht befrie-digend als Phase »neue[r] Akzentuierungen beim Frauenbild«31 oder – wie esGünther Mahal in seinem Epochenüberblick von 1975 formuliert hat – als Phasedes ersten Auftretens von »›Emanzipierten‹ der deutschen Literatur«32 be-schreiben. Stattdessen erscheint er als erste intensive Phase der literarischenDiskursivierung der Geschlechterkrise, wie im Folgenden anhand detaillierterAnalysen poetologisch-programmatischer Schriften, publizistischer Essays undnicht zuletzt dramatischer Texte zu zeigen sein wird. Die vermeintlich ›eman-zipierten‹ Figuren – gerne wird hier in der Forschung auf die Figur der Nora ausHenrik Ibsens Stück Et dukkehjem (Nora oder Ein Puppenheim, 1879) als›Prototyp‹ verwiesen33 – zeigen sich bei genauerer Betrachtung als in sich oft-mals brüchig dargestellte Charaktere, anhand derer in den Texten die spezifischegesellschaftliche und semantische Problemkonstellationen entwickelt undfassbar gemacht werden.

Eine Untersuchungsperspektive, die Geschlechterkonzepte nicht als histo-risch-kulturelle, in spezifischen Funktionszusammenhängen stehende Semantikin den Blick nimmt, sondern im Sinne einer Beschreibung und Klassifikationvon ›Frauenbildern‹, ›Frauentypen‹, ›Weiblichkeits- bzw. ›Männlichkeitsent-würfen‹34 deskriptiv-typologisch ausgerichtet ist, hat hier einen entscheidenden

31 Fähnders 2010, S. 108. Auch in Wolfgang Bunzels Einführung in die Literatur des Natura-lismus (2008), die insgesamt knapp, aber pointiert auf die Zusammenhänge von Naturalis-mus und Frauenbewegung eingeht, findet sich die Formulierung vom »veränderten Frau-enbild« (vgl. ebd., S. 80). In (alltagssprachlicher) Analogie zum Begriff des ›Menschenbildes‹ist der Terminus durchaus plausibel zu verwenden, als wissenschaftlicher Analysebegriffbirgt er jedoch Probleme (vgl. Igl [in Vorbereitung]).

32 Mahal 1975, S. 133; vgl. Bunzel 2008, S. 80.33 Siehe Fähnders 2010, der in seiner Darstellung kaum mehr zur Geschlechterproblematik

innerhalb des Naturalismus ausführt als folgenden Abschnitt: »Mit der Krise des Ich geratenim Fin de si!cle die Geschlechterverhältnisse und geschlechtertypischen Rollenzuweisungenin Bewegung, an deren Umwertung bereits die naturalistische Literatur sich versucht hat –am einflussreichsten sicher Ibsen mit seinem Nora-Drama, aber auch Strindberg mitFräulein Julie. Beide, Nora wie Julie, setzen sich über die traditionellen Rollenzuweisungen inder patriarchalischen Gesellschaft hinweg und postulieren selbständige und selbstbe-stimmte Weisen einer weiblichen Existenz.« (Ebd., S. 108) Auf die hier vorgenommeneReihung von ›Krise des Ich‹ und ›Geschlechterkrise‹ wird in Kapitel 3.1.3 näher einzugehensein.

34 Auffällig ist dabei, dass innerhalb der Forschung kaum analog zum ›Frauenbild‹ vom›Männerbild‹ gesprochen wird; eine BDSL-Titelstichwortsuche (getätigt am 07. 10. 2012)

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Nachteil : Die Formierungsphasen, in denen sich Typisierungen wie femme fa-tale und femme fragile, die ›Hysterikerin‹ respektive der ›Neurastheniker‹, der›Dandy‹ und ›Flaneur‹ – die Liste ließe sich fortsetzen – herausbilden und dis-kursiv verfügbar werden, geraten kaum ins Sichtfeld. Und die Frage, warum sichdiese Typisierungen etablieren und in welcher Weise sie literarisch eingesetztund (eventuell widersprüchlich) perspektiviert werden, lässt sich deskriptiv-typologisch nicht beantworten.

Ein Kurzschluss von entworfener Textwelt und außertextueller sozialerWirklichkeit, wie ihn etwa ein stark literaturkritisch ausgerichteter Zweig de-konstruktivistischer Ansätze vornimmt, liefert auf die Frage nach dem ›Warum‹aus funktionsanalytischer Sicht ebenfalls keine befriedigenden Antworten. Imweiteren Verlauf der vorliegenden Untersuchung werden die Grenzen entspre-chend ausgerichteter Analysezugriffe im je konkreten Fall aufzuzeigen sein. Andieser Stelle seien zur Verdeutlichung zwei exemplarische Seitenblicke auf de-konstruktivistisch ausgerichtete Untersuchungen zu Schnitzlers Reigen gewor-fen: Rudolf Schier stellt in seinem Aufsatz »Zigarre, Mieder und Madonna:Schnitzlers Reigen im Hinblick auf Ibsens Ein Puppenheim« den Versuch einerkontrastiven ›Messung‹ des emanzipatorischen bzw. feministischen Gehalts vonIbsens Drama an; das Fazit birgt dabei jedoch nicht nur aufgrund der man-gelnden Unterscheidung zwischen ›literarischer Figur‹ und ›realer Person‹ Ir-ritationspotential:

Es mag einem nicht sofort ins Bewusstsein kommen, aber in Wahrheit geht der Reigenin mancher Hinsicht bedeutend weiter als Ein Puppenheim. Nora mag ein damals inganz Europa bewundertes Beispiel für das Ausbrechen aus einem patriarchalischenProkrustesbett gewesen sein, aber ob sie, nachdem sie ihren Mann verlassen hat, eigeneselbstbestimmte sexuelle Beziehungen eingehen wird, oder ob es bei ihr gar zu einerweiterführenden Selbstverwirklichung kommt, wissen wir nicht. Das mag den Reigennicht unbedingt zu einem feministischeren Text machen als Ein Puppenheim, aberfeministischer, als man es Schnitzler bisher zugetraut hätte, ist er allemal.35

liefert für den Zeitraum von 1988 bis 2011 gerade einmal 19 Treffer ; bei ›Frauenbild‹ sind esfür diesen Zeitraum 185 Treffer. Die Ursachen (und Implikationen) dieser Verteilung liegennur zum Teil im historischen Gegenstand selbst begründet (vgl. Igl [in Vorbereitung]).Insgesamt scheint ›Männlichkeit‹ – auch post-dekonstruktivistisch – ontologisch nochimmer ›stabiler‹ als ›Weiblichkeit‹ wahrgenommen zu werden. Die semantische Traditionder Abgrenzung des ›Weiblichen‹ als dem ›Anderen‹ in Bezug auf das unmarkierte ›Männ-liche‹ als dem ›Normalen‹ und ›primär Gegebenen‹ setzt sich hier in der Tat fort; vgl. dazuexemplarisch den Forschungsüberblick Um-Ordnungen der Geschlechter von Claudia Opitz(2005). Mittlerweile geraten aber auch die komplexen gesellschaftlichen Prozesse der Kon-stitution und Stabilisierung (sowie Destabilisierungen) von ›Maskulinität‹ und männlichenRollenkonzeptionen in literaturwissenschaftlichen Studien verstärkt in den Blick, vgl. denbereits genannten Forschungsbericht von Erhart 2005 sowie exemplarisch den Sammelbandvon Hindinger / Langner (Hg.) 2011 zu Männlichkeitskonzepten in der deutschen Literaturvom Mittelalter bis zur Gegenwart.

35 Schier 2003, S. 14.

Von ›Frauenbildern‹, ›Frauentypen‹ und ›problematischer Weiblichkeit‹ 27

Hier wird ein gesellschaftlicher (und sich historisch wandelnder!) Wertbegriff –›feministisch‹ – als literaturwissenschaftlicher Terminus der Analyse verwendet.Nicht nur die Ebenen ›Figur‹ und ›Person‹ geraten hierbei durcheinander,sondern auch die Ebenen ›Textwelt‹ und ›realgeschichtliche Welt‹.

Eine ähnliche Blickrichtung auf den feministisch-emanzipatorischen Gehaltfindet sich im Beitrag von Simela Delianidou zu den »Gestörte[n] Geschlech-terbeziehungen in der literarischen D!cadence um 1900: Arthur SchnitzlersReigen«, der Schnitzlers Text den »Einsatz[] dekonstruktiver Methoden«36 zu-schreibt. So zeige sich an der Figur der Schauspielerin besonders deutlich die fürden Text konstitutive »Subversion der tradierten Geschlechterverhältnisse«37:

Das bewußte Spiel der Rollen und Selbstinszenierungen erfährt in der Figur derSchauspielerin seinen Höhepunkt. Die eingesetzten Mittel zur Distanzierung vonstereotypen geschlechts- und weiblichkeits-ideologischen Mustern sind reichhaltig.Maskerade und Travestie dienen qua parodistischer Übertreibung diesem subversivenSpiel ebenso wie ihre Rolle als femme fatale und phallische Frau, die als gender troublezur totalen Inversion der binären Geschlechtermatrix führen, und so nicht nur dieDekonstruktion der Konstitution sowohl männlicher als auch weiblicher Geschlech-terrollen sondern auch die Dekonstruktion der Geschlechterdifferenz zur Folge haben.[…] Die Figur der Schauspielerin stellt in ihrem übertriebenen Rollenspiel, in dieserÜbererfüllung der Rolle eine subversive Drohung für die patriarchale Ordnung dar. Sieversteht es, die altbewährten Projektionen weiblicher und männlicher Geschlechter-rollen auf der Bühne zu aktualisieren, die dort aber der Lächerlichkeit preiszugebenund in diesem dekonstruktiven Potential der be- bzw. verlachbaren Komödie zerbrö-ckeln zu lassen.38

Die Beobachtungen sind im Einzelnen durchaus anschlussfähig, etwa mit Blickauf die vorangehend bereits angesprochene Überzeichnung von Geschlechter-klischees in der Figurentypisierung. Der von Delianidou hervorgehobeneCharakter des (Rollen-)Spiels lässt sich neben der zyklischen Anordnung derSzenen in der Tat als prägendes Strukturprinzip des Textes verstehen. So setztsich etwa das »Süsse Mädel« in der oben zitierten Sequenz mit dem »Gatten«durch ihren Ausspruch »In dem Wein muß was drin gewesen sein.« (R, S. 360)als verführte Unschuld in Szene – und grenzt sich dadurch zugleich von dersexuell freizügigen Dirne ab. Dass dies ein Spiel mit Rollen ist – die Figur des›süßen Mädels‹ ist gerade durch den Status der Uneindeutigkeit, durch die Po-sition zwischen naiver Geliebten und professioneller (Gelegenheits-)Liebhabe-rin charakterisiert –, wird im genannten Dialog sehr deutlich: Die Entgegnungdes Gatten, »Warum schiebst du denn alles auf den Wein?« (R, S. 360), verweist

36 Delianidou 2003, S. 231.37 Delianidou 2003, S. 227.38 Delianidou 2003, S. 231.

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darauf, dass die Rolleninszenierung auch auf der Figurenebene wahrnehmbarwird.

Problematisch an Delianidous Deutungsansätzen ist nun jedoch zum einendie implizit vorgenommene Gleichsetzung von Objekt- und Metaebene, zumanderen die intentionalistische Deutungstendenz. Delianidou setzt aus dekon-struktivistischer Sicht konsistenterweise den Modus der Subversion bzw. De-konstruktion als programmatisch an (bzw. als Programm, auf das ›gute‹ Lite-ratur letztlich verpflichtet zu sein hat):

Im Reigen sind eine Vielzahl dekonstruktiver Mittel, die der Subversion der tradiertenGeschlechterverhältnisse dienen, eingesetzt, die zeigen, daß das traditionelle Bild derFrau eine Projektion und Täuschung ist, ja selbst die Geschlechterrolle des Manneswird streckenweise parodiert.39

Neben dem zu beobachtenden Intentionalismus – aus wessen Sicht »dienen« die»Mittel« einem ›subversiven‹ Zweck? – erweisen sich Delianidous Hypothesenals äußerst monoperspektivisch: Wieso ist die Parodie der (traditionellen)männlichen Geschlechterrolle durch den Zusatz »ja selbst« als unerwartet her-vorzuheben? Der Grund ist meines Erachtens ein axiomatischer : Das Subver-sionsparadigma, dem die (oft auch implizit bleibende) Funktionshypothese vonLiteratur als einem Mittel der ›Subversion‹ bestehender Normen, Strukturenund Ordnungen zugrunde liegt, ist eng mit der nicht unproblematischen Re-pressionshypothese älterer ›feministischer‹ Forschungsansätze verknüpft, aufdie im Weiteren noch näher einzugehen ist. ›Subversion der tradierten Ordnung‹bedeutet vor dieser Folie stets ›Subversion der patriarchalen Ordnung‹. Esscheint plausibel anzunehmen, dass dekonstruktive Tendenzen daher in ent-sprechend ausgerichteten Untersuchungen häufiger mit Blick auf Konzeptionenvon ›Weiblichkeit‹ konstatiert werden als mit Blick auf die implizit als hege-monial definierte ›Männlichkeit‹. Durch die implizite Kategorisierung der De-konstruktion von ›Weiblichkeit‹ als dem unmarkierten Standardfall des Sub-versionsparadigmas werden jedoch potentiell Artefakte der Analyse erzeugt.40

39 Delianidou 2003, S. 227.40 Nicht zuletzt wird ›Subversion‹ gerade in Untersuchungen zu weiblichen Autoren häufig zu

einem Bewertungskriterium, das über ›Güte‹ und ›Richtigkeit‹ von Texten entscheidet. Eine(mittelbare) Zielsetzung vieler entsprechender Beiträge ist dabei auch die Reflexion undRevision des tradierten literaturwissenschaftlichen (Kern-)Kanons, in dem in der Tat Texteweiblicher Autoren unterrepräsentiert sind. Eine Vielzahl von Autorinnen, nämlich geradedie populären und auf dem literarischen Markt erfolgreichen, die z. B. wesentlich am Erfolgdes Massenmediums Familienzeitschrift im 19. Jahrhundert beteiligt waren, fallen bei die-sem intentionalistisch-gesellschaftspolitisch verkürzten Literaturbegriff jedoch aus demdekonstruktivistischen Suchraster ; vgl. dazu grundlegend den Beitrag »Die Mädchenfrage.Zum historischen Bezugsproblem von Gabriele Reuters Aus guter Familie« von KatjaMellmann (2008).

Von ›Frauenbildern‹, ›Frauentypen‹ und ›problematischer Weiblichkeit‹ 29

Kommen wir noch einmal zurück auf Schnitzlers Stück, das vorangehend alsexemplarischer Beitrag zur literarischen Anthropologie innerhalb der WienerModerne skizziert wurde: Wie oben ausgeführt, weisen die Figuren zugleichTypisierungen wie auch Individualisierungs- und Authentizitätsmerkmale auf,die über die Figurenrede konstituiert werden. Das Personal des Reigen ist damitdurchaus im Sinne der naturalistischen Poetologie entworfen, für die etwaWilhelm Bölsche in seiner Schrift Die naturwissenschaftlichen Grundlagen derPoesie (1887) eine psychologisch motivierte Figurencharakteristik fordert, diedas Allgemeine im Besonderen darstellen soll :

Einen Menschen bauen, der naturgeschichtlich echt ausschaut und doch sich so zumTypischen, zum Allgemeinen, zum Idealen erhebt, dass er im Stande ist, uns zu in-teressiren aus mehr als einem Gesichtspuncte, – das ist zugleich das Höchste und dasSchwerste, was der Genius schaffen kann.41

Die Traditionslinie von Naturalismus und Wiener Moderne bzw. Fin de si!cle istin dieser Hinsicht deutlich:42 Die psychologisch stimmige Figurencharakteristikwird sowohl innerhalb des Naturalismus als auch innerhalb der Strömungen der›klassischen Moderne‹ als Grundvoraussetzung relevanter literarischer Ent-würfe von ›Realität‹ gewertet. Allerdings verlagert die Literatur der WienerModerne den Blick programmatisch ins Innere43 des Subjekts, was sich bei-spielsweise in einem hohen Maß an Innovation im Bereich narrativer Gattungenniederschlägt.44 Der Fokus bei der Figurenkonzeption und der in den Textenentworfenen Handlungsstruktur liegt dabei im Vergleich zur naturalistischenPoetologie wie auch literarischen Praxis stärker auf den psychologischen stattden sozialen (und biologischen) Aspekten.45

41 Bölsche 1976 [1887], S. 11. Auf Wilhelm Bölsches Ausführungen zu einer »naturwissen-schaftlich« fundierten Figurencharakteristik wird in den Kapiteln 3.1.1 sowie 3.2.4 nähereinzugehen sein.

42 Wenngleich die Wiener Moderne bzw. die Strömung des ›Jungen Wien‹ sich dezidiert inAbgrenzung zur naturalistischen Bewegung konstituiert, hat sie ihre Wurzeln dennoch im(Berliner) Naturalismus – die zentrale Vermittlerfigur dabei ist Hermann Bahr, auf den imWeiteren noch einzugehen ist. Siehe dazu grundlegend die Überblicksdarstellung zurWiener Moderne von Dagmar Lorenz (2007) sowie den Band von Peter Sprengel und GregorStreim zur Berliner und Wiener Moderne. Vermittlungen und Abgrenzungen in Literatur,Theater, Publizistik (1998).

43 Alice Bolterauer spricht diesbezüglich pointiert von der »impressionistisch-symbolistischmotivierten ›Wende nach Innen‹« (Bolterauer 2007, S. 189), die sich ausdrucksseitig im(psychologisch basierten) Begriff der ›Seele‹ manifestiert (vgl. ebd., S. 188 f.).

44 Konkret etwa in der Etablierung narrativer Darstellungsstrategien wie der des innerenMonologs. Auch die Lyrik als »subjektive« Gattung bzw. »das Lyrische« als ein die Gat-tungsgrenzen überschreitender Modus stehen im Fokus der Wiener Moderne; vgl. Bolte-rauer 2007, S. 188 f.

45 D.h., die Handlungen der Figuren werden in der Regel als psychologisch motiviert vorge-führt (so etwa in Arthur Schnitzlers Leutnant Gustl [1900] oder Hugo von Hofmannsthals

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Richten wir jedoch die Perspektive entsprechend der Ausgangsbasis derUntersuchung wieder auf den Naturalismus aus, so lässt sich festhalten: Kon-stitutiv für die naturalistische Anthropologie ist gerade der Fokus auf die ge-sellschaftlichen und biologisch-›natürlichen‹ Bedingungsgefüge des Menschen.Anders als es die bisherige Forschung jedoch gemeinhin postuliert, setzt derNaturalismus dabei nicht einfach die zeitgenössischen naturwissenschaftlichenPositionen und gesellschaftlichen Debatten zu Themen wie Vererbung, Wil-lensfreiheit und biologisch wie milieubedingter Determiniertheit des Menschenliterarisch um – sondern liefert einen eigenständigen Beitrag zum anthropolo-gischen Diskurs. Insgesamt versteht sich die vorliegende Arbeit in diesem Sinneals literaturwissenschaftlicher Beitrag zur Erforschung der historischen Se-mantik von ›Geschlecht‹ und der literarischen Diskursgeschichte von ›Ge-schlechterkrisen‹ – sowie zugleich als Beitrag zu einer Literaturgeschichte derliterarischen Anthropologie.46

Der Untersuchung liegen dabei zwei spezifische Perspektivensetzungen zu-grunde. Mit Blick auf die bisherige Forschung zur Geschlechterkrise innerhalbder literarischen Moderne betriff die erste Justierung der Ausgangsperspektivedie Fokussierung auf den Naturalismus. Dieser wird als eine in ihrer generellenliteraturgeschichtlichen Relevanz mithin unterschätzte Strömung zu beleuchtensein, in der zentrale gesellschaftliche Konzepte wie Geschlechterrollen, Ehe undFamilie innerhalb stark interdiskursiv ausgerichteter literarischer und pro-grammatisch-essayistischer Entwürfe konträr verhandelt und in ihrem Um-bruchcharakter greifbar gemacht werden. Die zentrale Ausgangsthese ist dabei,dass die gesellschaftliche wie semantische Umbruchsituation im ausgehenden19. und beginnenden 20. Jahrhundert, deren initiale literarische Diskursivie-rung innerhalb des Naturalismus zu beobachten ist, sich erst differenziert in denBlick nehmen lässt, wenn man den massiven – und für die Konstitution derbürgerlichen Gesellschaft in seinen Auswirkungen nicht zu überschätzenden –Wandel der Geschlechterverhältnisse entsprechend einbezieht. Dies geschieht inder gegenwärtigen Forschung zum Naturalismus noch nicht in ausreichendemMaße, wie auch die oben angesprochene wichtige Studie Geschlechterpro-gramme von Urte Helduser zur Relevanz der Kategorie ›Geschlecht‹ innerhalbdes poetologischen Diskurses um 1900 deutlich macht.

Die zweite Perspektivierung, die die Arbeit innerhalb des Kontextes der na-turalistischen Diskursivierung der Geschlechterkrise vornimmt, ist die

Das Märchen der 672. Nacht [1895]). Siehe dazu exemplarisch Hermann Bahrs Essay Dieneue Psychologie (1980) sowie den Band von Anz / Pfohlmann (Hg.) 2006 zur Psychoanalysein der literarischen Moderne.

46 Zum Zusammenhang der Forschungsparadigmen ›Historische Semantik‹ und ›Anthropo-logie‹ vgl. aus sprachwissenschaftlicher Sicht den bereits etwas älteren, jedoch instruktivenBeitrag »Linguistische Anthropologie. Skizze eines Gegenstandsbereiches linguistischerMentalitätsgeschichte« von Fritz Hermanns (1994).

Von ›Frauenbildern‹, ›Frauentypen‹ und ›problematischer Weiblichkeit‹ 31

Schwerpunktsetzung auf die naturalistischen bzw. naturalismusnahen Dramender in der jüngeren Forschung wiederentdeckten47 Autorin Elsa Bernstein.Bernsteins Texte legen einerseits den Fokus auf die Auseinandersetzung mit derästhetischen Moderne, insofern in ihnen zum Teil explizit auf Figuren- undHandlungsebene48, sowie implizit poetologische Fragen verhandelt werden.Neben dieser in den Texten starken poetologischen Perspektive ist – wie diesozialkritische Grundtendenz der Diskursformation ›Naturalismus‹ erwartenlässt – die intensive Auseinandersetzung mit der gesellschaftlichen Moderne fürdie im Kapitel 3 analysierten Dramen konstitutiv, wobei die zentral gesetztenDiskursbereiche diejenigen sind, die die (Meta-)Kategorie ›Geschlecht‹ in ihrengesellschaftlich-kulturellen, psychologisch sowie physiologisch-anthropologi-schen Dimensionen verhandeln. Die detaillierte Analyse von Bernsteins imKapitel 3 der Arbeit behandelten Dramen liefert dabei ein ›Brennglas‹, um diespezifische Wirkungsästhetik naturalistischer Dramatik näher in den Blick zunehmen, die sich entgegen der noch immer bestehenden Forschungsmeinung49

gerade nicht auf eine Illustrationsfunktion des positivistisch-naturwissen-schaftlichen Weltbildes reduzieren lässt.

Der Naturalismus wird in der vorliegenden Untersuchung insgesamt als›Scharnierepoche‹ der literarischen Moderne in den Blick genommen. Als Phaseder umfassenden Diskursivierung und performativen Proklamation des ge-sellschaftlichen und (literar-)ästhetischen Wandels wird er im Folgenden alseine Art Verhandlungsraum der naturwissenschaftlich bzw. konkret ›darwi-nistisch herausgeforderten‹ idealistischen Leitkonzepte wie ›Bildung‹, ›Perfek-tibilität‹ sowie – mit diesen zusammenhängend – geschlechtlicher Komple-mentarität aufgefasst. Auf den hier konstatierten Zusammenhang der komple-mentären Geschlechtersemantik mit dem Perfektibilitätskonzept und einemteleologischen Bildungsbegriff wird im ersten Hauptteil der Arbeit ausführlicheinzugehen sein. In dessen Zentrum steht eine für literaturwissenschaftliche

47 Vgl. Kraft / Lorenz (Hg.) 2007 sowie Igl 2010.48 Siehe die Analyse zu Wir Drei, Kapitel 3.2.3.49 So skizziert etwa Walter Fähnders die naturalistische Dramenästhetik zusammenfassend als

eine Art Illustrationsprogramm »positivistische[r] Lehren und Erkenntnisse«: »Seinemwissenschaftlichen Anspruch folgend führt das naturalistische Theater positivistischeLehren und Erkenntnisse vor – Taines Trias der den Menschen determinierenden Faktorenrace, milieu und moment/temps werden von Anbeginn an auf der Bühne zu realisierenversucht […]. In Hauptmanns Vor Sonnenaufgang (1889) ist es ein vom Alkoholismus undseiner (als gesicherte Erkenntnis ausgegebenen) Vererbung determiniertes Milieu, das denProtagonisten ihre Verhaltensweisen vorgibt und keine Chance eines selbstbestimmtenHandelns gegen diese Gesetze gestattet.« (Fähnders 2010, S. 47) Anknüpfend an BarbaraBeßlichs luzide Analyse in ihrem Beitrag »Anamnesen des Determinismus, Diagnosen derSchuld« (2008) wird in Kapitel 3.2.4 deutlich zu machen sein, dass diese Deutung des Dramasder empirischen Prüfung nicht standhält – und ebenso wenig die generelle Einschätzung,dass die naturalistische Dramatik die Taine’sche Determinationstrias illustriere.

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Fragestellungen relevante funktionsgeschichtliche Analyse der Komplementär-semantik, die mit Blick auf deren Konsolidierungsphase um 1800 die umfas-sende Umbruchphase des Geschlechtermodells um 1900 systematisch zugäng-licher machen soll.

Die Frauen- und Geschlechtergeschichte des 18. und 19. Jahrhunderts ist inder geschichts-, literatur- und kulturwissenschaftlichen Forschung gut doku-mentiert und von verschiedenen Zugriffsperspektiven aus auf der Basis um-fänglicher Quellenauswertungen differenziert analysiert. Was sich jedoch mitBlick auf den Gegenstandsbereich der Literatur und für die vorliegende Arbeitkonkret mit Blick auf den literarischen und programmatischen Diskurs desNaturalismus zeigt, ist ein theoretisches Desiderat, das von der schwerpunkt-mäßig sozialgeschichtlich sowie gender-theoretisch ausgerichteten Forschungbislang nicht im wünschenswerten Maße eingelöst ist. Sowohl die Sozialge-schichte wie die Genderforschung haben wichtiges Grundlagenwissen geschaf-fen, ohne das eine Arbeit, die sich in irgendeiner Form mit der historischenKategorie ›Geschlecht‹ befasst, nicht auskommen kann. Dennoch erfordert dieAnalyse literarischer Texte, wie im nachfolgenden Kapitel zur methodisch-theoretischen Verortung der vorliegenden Arbeit deutlich zu machen ist, einenstärkeren Einbezug der Funktionszusammenhänge, in denen historische Se-mantik wie die des komplementären Geschlechtermodells steht.

Anders als die zum Intentionalismus und einem eindimensionalen Litera-turbegriff tendierenden Analysezugriffe, die auf dem ›Subversionsparadigma‹basieren, zielt ein funktionsanalytischer Zugriff nicht darauf ab, Texte auf eine›konservative‹, ›regressive‹ oder ›progressive‹ Darstellungen von Geschlechter-verhältnissen oder weiblichen bzw. männlichen Rollen hin abzuklopfen.50

Stattdessen rücken die komplexen Formen der Diskursivierung von ›Geschlecht‹in Bezug auf historische Problemreferenzen in den Fokus. Eine solche funk-tionalistische Perspektive auf die Diskursivierung und den Wandel der kom-plementären Geschlechtersemantik, welche die Geschlechtergeschichte unddamit mittelbar auch die Literaturgeschichte seit dem 18. Jahrhundert undletztlich bis in die Gegenwart hinein prägt, will die vorliegende Untersuchung imersten Teil der Darstellung entfalten.

50 Entsprechend als vermeintlich ›in der patriarchalischen Ordnung verhaftet‹ klassifizierteFiguren- und Geschlechterkonstellationen in literarischen Texten werden im konsequen-testen Fall im Sinne des angenommenen Abbildungsverhältnisses von Literatur und au-ßerliterarischer Wirklichkeit als ›Ausdruck ihrer Zeit‹ gewertet – womit letztlich gar nichtserklärt ist und die aus Sicht der vorliegenden Arbeit zentralen Fragen nach der Funktionspezifischer semantischer Konstellationen überdeckt sind.

Von ›Frauenbildern‹, ›Frauentypen‹ und ›problematischer Weiblichkeit‹ 33

1.1.3 Zusammenfassung: Gegenstand und Aufbau der Untersuchung

Die vorliegende Arbeit leistet eine funktionsgeschichtliche Untersuchung zurkomplementären Geschlechtersemantik und der Diskursivierung der Ge-schlechterkrise innerhalb des Naturalismus. Ausgangsbasis ist dabei (1.) dieBeobachtung, dass in der Forschung zum kultur- und diskursgeschichtlichenZusammenhang von Literatur und Geschlechterkonzepten ein deutlicher Fokusauf dem Fin de si!cle und der Wiener Moderne liegt, während die Relevanz desWandels von Geschlechtersemantik für die Strömung des Naturalismus noch zugroßen Teilen unbeleuchtet ist. Dass es sich hierbei um eine dezidierte For-schungslücke handelt, wird (2.) durch die Beobachtung gestützt, dass die in derLiteratur des Naturalismus zentral verhandelten Problemkonstellationen inengem Zusammenhang mit geschlechtersemantischem Wandel stehen. Diebisherige Vernachlässigung dieses Aspekts innerhalb der Naturalismusfor-schung lässt sich zum Teil dadurch erklären, dass dieser Zusammenhang auf derAusdrucksseite der Texte nur partiell zugänglich ist. Geschlechterkonflikte51

gehören durchaus zu den zentralen Themen naturalistischer Texte, die im Ein-zelnen die Figurenkonstellation und Handlung entscheidend konstituieren.52

Dass es jedoch über den Bezug auf sozialgeschichtliche und politische Aspektewie die Frauenfrage und -bewegung hinaus eine die Kategorie ›Geschlecht‹ be-treffende konzeptuell-semantische Referenzebene der Texte gibt, wird erst imZuge einer entsprechend perspektivierenden Analyse greifbar.

Zentral für die vorliegende Untersuchung ist in dieser Hinsicht die Auffas-sung, dass es sich bei ›Geschlechterkonzepten‹ um eine für gesellschaftlicheSelbst- und Fremdreferenz zentrale Größe handelt, die methodisch über denBegriff der ›Historischen Semantik‹53 zu erfassen ist. Verstanden werden dar-unter also kognitiv-sprachlich basierte Konzepte, die einem kontinuierlichenhistorisch-kulturellen Wandel unterworfen sind, dabei jedoch aufgrund ihrergrundlegenden sozialen wie subjektbezogenen Identifikations-, Orientierungs-und Normierungsfunktion ein hohes Maß an diskursiver Stabilität aufweisen.Besonders seit der im 18. Jahrhundert beginnenden, umfassenden Naturalisie-rung gesellschaftlicher Basiskategorien wie ›Recht/Gesetz‹, ›(Natur-)Geschich-

51 Vgl. historische Schlagworte wie ›Frauenfrage‹, ›Frauenbewegung‹ und ›Blaustrumpf‹ sowiedie Andeutung feministisch-emanzipatorischer Lektüre, die in naturalistischen Dramenhochfrequent sind.

52 Siehe exemplarisch Gerhart Hauptmanns Dramen-Trias Vor Sonnenaufgang. Soziales Drama(1889), Das Friedensfest. Eine Familienkatastrophe (1890) und Einsame Menschen. Drama(1891) sowie die für den deutschen Naturalismus prägenden Dramen Henrik Ibsens, auf diein Kapitel 3.1.2 näher einzugehen ist.

53 Siehe dazu im Folgenden die Ausführungen in Kapitel 1.2.2.

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te‹,54 ›Liebe‹, ›Familie‹ und – gewissermaßen als kategoriales antecedens – ›Ge-schlecht‹ werden diese Konzepte häufig als überzeitlich gültig und ›unhinter-gehbar‹ postuliert und gegen zeitgenössische Historisierungs- und Relativie-rungsversuche abgesichert. Es sind diese komplexen diskursiven Stabilisie-rungen und Destabilisierungen der (komplementären) Geschlechtersemantik,die im Folgenden zu untersuchen sind – Fokus und Ankerpunkt ist dabei stetsdie Frage nach der spezifischen Funktion des Diskursbereichs Literatur.

Dass die binär codierte Kategorie ›Geschlecht‹ und der Diskursbereich bzw. –in anderer Perspektivierung – das System Literatur in einer relevanten Relationzueinander zu sehen sind, macht neben Urte Heldusers auf die Zeit um 1900fokussierender Studie Geschlechterprogramme auch Manuela Günters Studie ImVorhof der Kunst. Mediengeschichten der Literatur im 19. Jahrhundert (2008)deutlich.55 Unter Rekurs auf Armin Nassehis luziden systemtheoretischen Bei-trag zur Ontologisierung des Körpers und der Naturalisierung von Geschlech-terdifferenz56 verweist Günter zum einen auf die kognitiv-soziale Stabilisie-rungsfunktion eines dergestalt semantisch ›abgesicherten‹ Geschlechterkon-zepts;57 zum anderen hebt sie hervor, dass »die Erfindung der weiblichen Kör-pernatur einen wichtigen Ausgangspunkt für die Ausdifferenzierung auch desKunst- bzw. Literatursystems«58 bildet:

Die Geschlechterdifferenz kann sich im funktionalen System Literatur behaupten,indem sie Wahrnehmung und Kommunikation im sichtbaren Körper strukturell ver-bindet und damit jene Leistung stabilisiert, die dem Kunstsystem vorrangig zuge-schrieben wird. In diesem Kontext universalisiert sie sich zu einer komplexen Se-mantik, über die das soziale Geschlecht zum »kulturellen Formgeber« schlechthinmutiert: Natur/Kultur, Geist/Materie, Rationalität/Emotionalität bilden die Gegensät-ze, die dem asymmetrischen Geschlechterverhältnis Plausibilität verleihen.59

Die vorliegende Untersuchung widmet sich nun der Frage, wie diese über Bi-näroppositionen strukturierte komplexe Semantik von ›Geschlecht‹ sich um1800 konstituiert, im Laufe des 19. Jahrhunderts stabilisiert und im Zuge so-ziostrukturellen und semantischen Wandels problematisiert wird – und inwelchem wechselseitigen Zusammenhang Geschlechtersemantik und ›Literatur‹dabei stehen.

54 Vgl. grundlegend Riedel 1996.55 Im pointiert betitelten Kapitel »Das Weibliche ist keine Frau …« (Günter 2008, S. 43 – 50)

führt die Autorin dabei sehr konzise vor, wie sich Systemtheorie und gender-orientierteForschung literaturwissenschaftlich fruchtbar zusammenbringen lassen.

56 Vgl. Nassehi 2003.57 Vgl. Günter 2008, S. 44 f.58 Günter 2008, S. 45.59 Günter 2008, S. 45 f.

Von ›Frauenbildern‹, ›Frauentypen‹ und ›problematischer Weiblichkeit‹ 35

Die Studie gliedert sich, wie bereits knapp umrissen wurde, in zwei Haupt-teile. Ausgehend von dem in der Forschung zwar bis in die Gegenwart alsGrundlagenstudie anzitierten, in seinem Analysepotential jedoch nicht ausge-schöpften Beitrag »Die Polarisierung der ›Geschlechtscharaktere‹« (1976) vonKarin Hausen60 wird im ersten Hauptteil der Arbeit in Kapitel 2.1 zunächstdetailliert auf die Herausbildung der komplementären Geschlechtersemantikum 1800 einzugehen sein. Kapitel 2.2 skizziert im Anschluss die semantischenKontinuitätslinien und die spezifischen Verschiebungen, die das Komplemen-tärmodell im Lauf des 19. Jahrhunderts erfährt. Dabei wird deutlich werden,dass sich die Komplementärsemantik Ende des 19. Jahrhunderts zwar in einerKrise befindet, als Orientierungsschema jedoch weiterhin äußerst relevantbleibt. Im Rahmen der Detailanalysen zur naturalistischen Diskursivierung derGeschlechterkrise wird zu zeigen sein, dass die intensive Auseinandersetzungdes Naturalismus mit den erkenntnistheoretisch-philosophischen Konzeptendes ›Idealismus‹ wesentlich mit dieser Relevanz des komplementären Ge-schlechtermodells zusammenhängt, insofern dieses die basalen Ordnungs-muster der (bürgerlichen) Gesellschaft stiftet. In den beiden Kapiteln 2.1 und 2.2des ersten Hauptteils wird anhand einer intensiven Auseinandersetzung mitsozial- und geschlechtergeschichtlicher Forschung sowie anhand detaillierterQuellenanalysen herausgearbeitet, wie stark die sich um 1800 etablierendeKomplementärsemantik der Geschlechter mit humanistisch-idealistischenKonzepten verzahnt ist.

Zentral für die in Kapitel 2 der Arbeit zu leistende kultur- und literarhisto-rische Kontextualisierung der komplementären Geschlechtersemantik ist dabeidie auf der Objektebene relevante begrifflich-konzeptuelle Gegenüberstellungvon ›Kultur‹ und ›Natur‹. Michael Titzmann unterstreicht zu Recht die Relevanzdieser semantischen Opposition als anhaltende poetologische Bezugsgröße derLiteratur vom Sturm und Drang bis zum Realismus61. Mit Blick auf die (litera-rische) Diskursivierung von Geschlechtersemantik erweist sich die Opposition

60 Auf Hausens eigenes Resümee zur Rezeptions- und Wirkungsgeschichte des Aufsatzes wirdin Kapitel 2.1.2 kurz einzugehen sein.

61 Vgl. Titzmann 2002, S. 441. Für die Romantik hat etwa Hartmut Böhme in seinem Aufsatz»Romantische Adoleszenzkrisen« (1981) den programmatischen Kontrast von ›Natur‹ und›Kultur‹ und dessen raumsemantische Bedeutung grundlegend herausgestellt. Infolge derpsychoanalytischen Axiomatik der Untersuchung ergeben sich dabei jedoch insgesamt trotzder semiotisch anschlussfähigen Modellierung problematische ›psychologisierende‹ Text-bzw. eigentlich Autorendeutungen (etwa wenn den Romantikern »eine schwere narzißtischeKränkung« aufgrund enttäuschter Revolutionshoffnungen attestiert wird; ebd., S. 162). Demgegenüber liefert Titzmann in seinem Beitrag zu Gottfried Kellers Romeo und Julia auf demDorfe (1856) eine struktural-semiotisch fundierte Modellierung dieser Basisopposition (vgl.Titzmann 2002, z. B. Schema 5, S. 461), bei der sich unter anderem mit Blick auf die in derErzählung verhandelten Liebeskonzeptionen deutliche Anschlussmöglichkeiten für ge-schlechtersemantische Fragestellungen ergeben.

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›Kultur‹ versus ›Natur‹ als geradezu basal, wie im ersten Hauptteil der vorlie-genden Arbeit deutlich zu machen ist.62 Insgesamt motiviert sich dieser erste,stärker kulturwissenschaftlich ausgerichtete Teil der Studie aus der Ausgangs-beobachtung, dass die Komplementärsemantik zwar in Untersuchungen zurLiteratur des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts immer wieder in den Blickgerät, jedoch zumeist nicht in entsprechender Weise als historische Semantik inihren spezifischen Funktionszusammenhängen gesehen wird.

Der zweite Hauptteil (Kapitel 3) geht in ausführlichen Analysen program-matisch-poetologischer Schriften und naturalistischer Dramatik sowie derenliteratur- und kulturgeschichtlicher Kontextualisierung der Frage nach, wie dieKrise des komplementären Geschlechtermodells und der mit diesem zusam-menhängenden Konzepte innerhalb des Naturalismus verhandelt wird. Dabeiwird in Kapitel 3.1 unter anderem zu zeigen sein, welche semantischen Aktua-lisierungsmöglichkeiten des Perfektibilitätskonzeptes und des mit diesem ver-zahnten geschlechtlichen Ergänzungsmodells sich vor allem im Umfeld des fürden Naturalismus zentralen Darwinismus- und Monismusdiskurses ergeben.Den Kern der Textanalysen in Kapitel 3.2 bilden dabei die naturalistischen bzw.naturalismusnahen Dramen Elsa Bernsteins. Deren spezifische Perspektivie-rung der diagnostischen Wirkungsästhetik63 naturalistischer Dramatik lässt sichdabei, wie oben bereits knapp ausgeführt, als ›Brennglas‹ heranziehen, mitdessen Hilfe wichtige, bislang in der Forschung zu wenig beachtete Aspekte derheterogenen Strömung des Naturalismus stärker zu konturieren sind.

An den bislang in der Naturalismusforschung nur punktuell berücksichtigtenTexten von Bernstein lässt sich zeigen, dass die Problemkonstellation um die(gesellschaftliche wie individuelle) Verlässlichkeit der tradierten Geschlechter-konzepte bzw. den Wandel derselben entscheidend mit dem darwinistisch-monistischen Diskurs enggeführt wird. Wie die exemplarischen Analysendeutlich machen, verhandeln die Texte die fraglichen Konzepte von ›Geschlecht‹bzw. vor allem von ›Weiblichkeit‹ im Kontext einer darwinistischen64 Aktuali-sierung des aufklärerischen Perfektibilitätskonzepts.65 Im ersten Hauptteil derArbeit wird detailliert zu beleuchten sein, dass gerade die im 18. Jahrhundertintensiv geführte Debatte um die ›Perfektibilität‹ und ›Bestimmung des Men-

62 Für einen Überblick zur basalen Relevanz der Begriffsopposition sowohl auf objekt- wieauch metasprachlicher Ebene siehe exemplarisch die Beiträge von Böhme 1996 zur histo-rischen Semantik des Kulturbegriffs und der ›Natur/Kultur‹-Abgrenzung sowie Wanning2006 zum Naturbegriff in der Literatur und Literaturwissenschaft.

63 Vgl. Beßlich 2008.64 Zur breiten und heterogenen Rezeption von Darwins Werken siehe grundlegend auch den

auf Wissen(schaft)spopularisierung fokussierenden Beitrag von Engels 2011, die die dis-kursive Relevanz und zugleich die Deutungsoffenheit ›des Darwinismus‹ hervorhebt.

65 Siehe das Schlagwort der ›weiblichen Bestimmung‹, auf das in Kapitel 2.1.4 näher einzu-gehen ist.

Von ›Frauenbildern‹, ›Frauentypen‹ und ›problematischer Weiblichkeit‹ 37

schen‹ bei der Diskursivierung des komplementären Geschlechtermodells um1800 eine zentrale Rolle gespielt hat.

Die für Bernsteins Dramen konstitutive Engführung des monistisch aktua-lisierten Konzepts der Geschlechterkomplementarität mit der Frage nach denBedingungen der Möglichkeit individuellen Handelns und der Möglichkeit derLoslösung aus Determinationsverhältnissen lässt Bernsteins Positionierunginnerhalb des Naturalismus bei näherer Betrachtung als weniger randständigerscheinen, als die zeitgenössische Kritik wie auch die ältere Forschung66 pos-tulieren.

Die Auseinandersetzung mit der Forschungsdiskussion wird in den einzelnenAbschnitten insgesamt einen wichtigen Stellenwert einnehmen und die empi-rischen Untersuchungen perspektivisch anleiten. Die komplex – da mehr-schichtig – angelegte Konzeption der vorliegenden Arbeit erfordert zunächsteine explizite Entfaltung der Untersuchungsperspektive, die die nachfolgendenAusführungen zur methodisch-theoretischen Verortung leisten sollen. Ent-sprechend der Zweiteilung der Arbeit wird darauf folgend mit Blick auf Prozessesemantischen Wandels einerseits eine ›Vogelperspektive‹ eingenommen, ande-rerseits jedoch mit Blick auf die spezifischen historischen Problemreferenzenund interdiskursiven Bezüge der untersuchten literarischen und programma-tischen Texte nah an die Untersuchungsgegenstände ›herangezoomt‹.

Ziel der methodisch-theoretischen Vorüberlegungen ist es dabei nicht, eineabgrenzbare Theorie zu formulieren, sondern das theoretische Koordinaten-system zu umreißen, innerhalb dessen sich die Untersuchung bewegt. In seinersystemtheoretisch basierten Studie Epochen moderner Literatur (1995) liefertGerhard Plumpe eine so pointierte Formulierung des Problems der Beschrei-bung komplexer Theorien – und damit letztlich auch des Problems ihrer An-wendung –, dass es erlaubt sei, sie den nachfolgenden Ausführungen gewis-sermaßen als Geleitwort voranzustellen:

Wer eine Theorie, von der es heißt, sie wäre kompliziert oder komplex, charakterisierenwill, stellt nicht den Anspruch, diese Komplexität einfach zu wiederholen. Wollte er das,so müßte er z. B. empfehlen, alle Veröffentlichungen von Luhmann zu lesen. Er willvielmehr eine simplifizierende Beschreibung dieser Theorie anfertigen, die selektivverfährt, diesen Aspekt hervorhebt, jenen dafür wegläßt, usw. Weil die simplifizierendeBeschreibung selektiv verfahren muß, ist sie notwendigerweise kontingent, d. h. sie istauch anders möglich, anderen Beobachtungen mögen andere Beobachtungen we-sentlich sein, zu deren Gunsten sie anderes unberücksichtigt lassen. Deshalb ist esvöllig selbstverständlich, daß komplexe Sachverhalte – z. B. Theorien – in der unter-schiedlichsten Weise beobachtet und beschrieben werden können. Die Unterscheidung

66 Vgl. exemplarisch die Einordnung Bernsteins unter der Rubrik »Naturalisten minderenRanges« bei Hoefert (1993, S. 55 bzw. S. 69 – 71).

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»wichtig«/»unwichtig«, mit deren Hilfe die Simplifikation erfolgt, ist ja so formal, daßsie gar keine inhaltliche Option nach sich zieht, sie hat keine Präferenz.67

Der Selektionsmechanismus der Simplifikation lässt sich in der Tat nicht ei-gentlich vom Objekt – der Theorie – her bestimmen, sondern vom Beobachterbzw. Anwender : Es ist dessen Perspektive, dessen Erkenntnisziel, das die Vor-der- und Hintergrundierung von Theorieaspekten bestimmt. Die Unterschei-dung ›wichtig/unwichtig‹ ist also nicht absolut, sondern relational; und in die-sem Sinne ist das Ergebnis der Perspektivierung kontingent, wie Plumpe an-merkt, sie selbst aber – und diesen Punkt gilt es aus meiner Sicht stark zumachen – ist zugleich motiviert. Die Funktion des nachfolgenden Kapitels ist esdaher vor allem, die der Arbeit zugrundeliegende Perspektivierung transparent,d. h. intersubjektiv zugänglich zu machen, und sie als vom Untersuchungsge-genstand her motiviert zu verdeutlichen.

1.2 Methodisch-theoretische Vorüberlegungen und Explikationder Untersuchungsperspektive

Im ersten Band seiner Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaftbringt Niklas Luhmann das grundsätzliche Komplexitätsproblem historischerWissenschaften auf den Punkt:

Kulturgeschichte ist als Gegenstand wissenschaftlicher Analyse ein außerordentlichkomplexes Geschehen. Die Komplexität wächst mit den Ansprüchen, die die wissen-schaftliche Analyse an sich selbst stellt. Wie läßt sich unter diesen Umständen er-folgreiche Forschung anstellen? Geht es weiter ohne vorgängige Reflexion des Pro-blems der Komplexität?68

Die methodischen und theoretischen Vorüberlegungen im Rahmen der vorlie-genden Studie zur komplementären Geschlechtersemantik und der Diskursi-vierung ihrer Krise innerhalb des Naturalismus sollen die von Luhmann ange-sprochene Reflexion dergestalt leisten, dass das hier verwendete Theoriemodell

67 Plumpe 1995, S. 33.68 Luhmann 1980, Kapitel 5, »Selbstreferenz und binäre Schematisierung«, S. 301. Luhmann

bezieht sich hier auf Kulturgeschichte, seine Beobachtung ist aber – gerade vor dem Hin-tergrund der Neupositionierung der Literaturwissenschaft als Kulturwissenschaft und derdamit einhergehenden Erweiterung des disziplinären Gegenstandsbereichs – ohneSchwierigkeit auf den Bereich der Literaturgeschichte übertragbar. Seine Überlegungen zurKomplexitätsproblematik sind insgesamt eingebettet in sein systemtheoretisches Modell,das von einem wechselseitigen Prozess der Steigerung und Reduktion von Komplexitätausgeht; vgl. Luhmann 1980, Kapitel 1, »Gesellschaftliche Struktur und semantische Tra-dition« (S. 9 – 71).

Methodisch-theoretische Vorüberlegungen 39

mit seinen Selektionen und Perspektivierungen expliziert und in seiner Trag-fähigkeit und seinen Beschränkungen transparent gemacht wird.

In literaturwissenschaftlichen Arbeiten hat man es in Hinsicht auf die Text-struktur mit einer beinahe topischen Problematik zu tun, nämlich mit derSchwierigkeit, Textanalysen, historische Kontextualisierung und theoretisch-methodische Perspektivierung dergestalt zu verknüpfen, dass es nicht zu einemAuseinanderfallen in einzelne Textbausteine kommt, die im ärgsten Falle in-haltlich kaum aufeinander bezogen sind.69 Methodenkapitel kommen untersolchen Umständen in Verdacht, als notwendige Pflichtübung der eigentlichenUntersuchung vorangestellt zu werden, diese jedoch letztlich nicht entsprechendmethodisch anzuleiten, so dass der Bezug zu den Textanalysen nicht erkennbarwird.70 Die vorliegende Studie widmet sich demgegenüber mit annäherndgleichem Gewicht der Theoriediskussion und der literaturgeschichtlich kon-textualisierten Detailanalyse. Die ›Brennglasfunktion‹ von Elsa BernsteinsDramen hinsichtlich der Untersuchung und diskursiven Verortung der natu-ralistischen Dramatik wurde in Kapitel 1.1.2 umrissen. Bernsteins naturalisti-sche Dramen lassen sich wiederum erst mit Blick auf die spezifische Beschaf-fenheit der komplementären Geschlechtersemantik überzeugend in Hinblick aufihre Positionierung innerhalb der literarischen Moderne untersuchen. DieAuffächerung der Geschlechtersemantik, ihre historische und funktionaleAnalyse, erfordert dabei zunächst eine differenzierte Auseinandersetzung mitden verschiedenen Theoriekomplexen und Forschungsansätzen, die in Bezugauf die Kategorie ›Geschlecht‹ relevante Beschreibungsmodelle und Analyse-angebote bereitstellen.

Was im Rahmen dieser methodischen und theoretischen Vorüberlegungenund Abgrenzungen geleistet werden soll, ist daher die Explikation, (1.) in wel-chem theoretischen Kontext sich die vorliegende Arbeit verortet, (2.) welchemethodischen Implikationen dieser Theoriekontext birgt und (3.) in welcherWeise die theoretisch-methodische Ausrichtung im Untersuchungsdesign – d. h.in der konkreten Analyse und Interpretation71 der untersuchten literarischen

69 Ein solches ›Auseinanderfallen‹ eines wissenschaftlichen Textes ist kein rein stilistischesProblem. Stattdessen lassen sich die textuellen Kriterien der Kohärenz und Kohäsion alsGrundkriterien von Wissenschaftlichkeit auffassen, insofern als sie eine Voraussetzung fürIntersubjektivität und Falsifizierbarkeit darstellen.

70 Zu Grundfragen der Methodologie vgl. etwa Danneberg 1989.71 Zur Interpretationsproblematik und der Frage nach dem Objektivitätsanspruch bzw. der

Beliebigkeit oder Motiviertheit von literaturwissenschaftlichen Textinterpretationen siehegrundlegend den Band von Danneberg / Vollhardt (Hg.) 1992, darin vor allem die Einleitungvon Danneberg zur Sektion 1 (»Interpretation und Argumentation: Fragestellungen derInterpretationstheorie«, S. 13 – 23), die Einleitung von Vollhardt zur Sektion 2 (»Auslegungund Deutung literarischer Texte: Prinzipien wissenschaftlicher Bewertung und Begrün-dung«, S. 117 – 123), sowie die Beiträge von Gerhard Pasternack (»Zur Rationalität der In-

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(sowie poetologischen, publizistischen und essayistischen) Texte – umgesetztwird. Hinausgehend über eine reine Verortung innerhalb eines theoretischenKontexts wird im Folgenden auch die Verknüpfung verschiedener Theoriemo-delle vorgenommen, mit dem Ziel, die unterschiedlichen Perspektivierungender verschiedenen Ansätze fruchtbar miteinander in Bezug zu setzen und so derKomplexität der Untersuchungsgegenstände gerecht zu werden, ohne dabei diejeweils eigene Axiomatik und Perspektivierung sowie den Abstraktionsgrad(Mikro- vs. Makroebene) der Theoriemodelle zu nivellieren. In diesem Kapitelgeht es damit um den Entwurf einer an bestehende Modelle und Ansätze an-knüpfenden, diese im Einzelnen perspektivisch modifizierenden und weiter-führenden Theoriekonzeption. Die Theoriefelder, die dabei produktiv mitein-ander in Beziehung gesetzt werden sollen, sind im Kern die SystemtheorieLuhmann’scher Prägung,72 Historische Semantik, Begriffs- bzw. Diskursge-schichte und Sozialgeschichte, sowie – in stärkerer Modifikation – Ansätze ausdem Bereich der Frauen- bzw. Genderforschung.73

Den Nukleus des vorliegenden Theoriekonzepts bildet eine funktionalistischeAxiomatik: ›Literatur‹ wird verstanden als komplexes, zeichen- bzw. kommu-

terpretation«, S. 149 – 168) und Karl Eibl (»Sind Interpretationen falsifizierbar?«, S. 169 –183).

72 Zur Rezeption der Luhmann’schen Systemtheorie innerhalb der Literaturwissenschaft vgl.den Beitrag von Berg 2000, sowie die Studie von Sill 2001 zu Literatur in der funktionaldifferenzierten Gesellschaft. Zur Reflexion der konstruktivistischen Axiomatik und ihrermethodologischen Implikationen vgl. die Untersuchung von Moser 2001.

73 Die theoretische Ausgangsposition der Studie ist damit natürlich nur unzureichend um-rissen. Eine transparente Verortung innerhalb der bestehenden Theorielandschaft und einedetaillierte Darlegung der spezifisch modifizierten eigenen Theoriekonzeption wird in denfolgenden Abschnitten der Arbeit zu leisten sein. Zu zwei in sich heterogenen, dennoch imweiten Sinne als Theoriefelder einzugrenzenden Bereichen soll hier eine knappe Positio-nierung vorgenommen werden: Zu diskursanalytischen und dekonstruktivistischen An-sätzen. Diskursanalytische Ansätze im Sinne eines sprachwissenschaftlich ausgerichtetenDiskursbegriffs lassen sich an die vorliegende Theoriekonzeption durchaus anschließen. DerDiskursanalyse im engeren, i. e. Foucault’schen Sinne ist prinzipiell jedoch eine anderePerspektivierung der Untersuchungsgegenstände zu eigen, als es hier der Fall sein wird; vgl.dazu die Ausführungen in Kapitel 1.2.5 zur hier vorliegenden Verwendung des Diskursbe-griffes. Ein konkretes Beispiel für eine inhaltlich anschlussfähige und für die vorliegendeArbeit fruchtbar zu machende diskursanalytische Arbeit stellt Romana WeiershausensStudie Wissenschaft und Weiblichkeit (2004) dar, auf die im Weiteren noch zurückzukommenist. Dekonstruktivistische Überlegungen erscheinen mir (nur) insoweit anschlussfähig, alses in der vorliegenden Untersuchung auch darum geht, coverte Strukturmechanismenherauszuarbeiten und die Grundlagen von Kategorisierungs- und Stereotypisierungspro-zessen freizulegen. Diese Reflexion kann eine systemtheoretisch-funktionsgeschichtlichfundierte Theoriekonzeption meines Erachtens überzeugend leisten, ohne dabei im Detaildekonstruktivistische Perspektiven übernehmen zu müssen – was aufgrund der gegen-sätzlichen Axiomatik ein eher problematisches Unterfangen wäre. Einen interessanten, da›theoriesensiblen‹ Versuch, den auf konstruktivistischen Prämissen basierenden Luh-mann’schen Ansatz in Bezug zu dekonstruktivistischen Ansätzen zu setzen, unternehmenetwa Berg / Prangel (Hg.) 1995.

Methodisch-theoretische Vorüberlegungen 41

nikationsbasiertes Funktionssystem, das zugleich als soziales System (Ebene dersozialen Institutionen und Interaktionen) wie auch als Symbolsystem (Ebeneder Diskurse und Strukturmuster) zu beschreiben ist, und als solches Funkti-onssystem eingebettet ist in komplexe historische Kommunikationszusam-menhänge.74

1.2.1 Sozialgeschichtliche Grundlagen und deren systemtheoretischePerspektivierung

Im ersten Hauptteil der Arbeit zur Herausbildung der komplementären Ge-schlechtersemantik um 1800 und ihrer Relevanz in der Umbruchphase um 1900bilden sozialgeschichtliche Studien einen wesentlichen Ausgangspunkt derTheoriediskussion. Die stark rezipierte und nicht selten kritisierte Untersu-chung von Karin Hausen zur Polarisierung der ›Geschlechtscharaktere‹ von 1976fungiert mit ihren in weiten Teilen aus Sicht der vorliegenden Arbeit sehr an-schlussfähigen Thesen als heuristisches Kernstück des Kapitels 2.1. Ein Ver-dienst Hausens ist es, dass sie in ihrem mittlerweile Grundlagenstatus erlangtenAufsatz die sozialgeschichtliche Perspektive der Forschung zum deutschen bzw.europäischen Bürgertum auf die Relevanz der Geschlechtergeschichte75 gelenkthat – eine Perspektive, die bis in die 1980er Jahre im Kernbereich der Sozial-geschichte wenig präsent war.76 Insgesamt trat die Sozialgeschichte als inter-disziplinär ausgerichteter Forschungszusammenschluss in den 1960er Jahren alssehr selbstbewusstes Programm auf den Plan, mit dem dezidierten Ziel, eineneue Theorie- und Methodenära einzuläuten.77 Nach der Hochphase des Pro-

74 Vgl. dazu etwa den Beitrag von Linke 1998 zum Zusammenhang von Sprache, Gesellschaftund Geschichte, in dem sie das interdisziplinär ausgerichtete Forschungsfeld der Histori-schen Kommunikationsanalyse skizziert (siehe auch Linke 2008 sowie Tophinke 2001).Stritzke 2005 unterscheidet in ihrem Beitrag zu »Funktionen von Literatur aus Sicht derfeministischen und gender-orientierten Literaturwissenschaft« in Anknüpfung an GiselaLoster-Schneider (1999, S. 241) drei Ebenen, »die in ihrem interaktiven Zusammenspiel dassoziokulturelle Gesamtsystem [der Literatur] bilden«, i. e. die »Ebene des sozialhistorischenSystems«, die »Ebene der Diskurse« und die »Ebene des literarischen Systems«. Diesetriadische Modellierung (im Sinne der Unterscheidung von ›Gesellschaft‹ – ›Diskurs‹ –›Struktur‹) ist in sich durchaus plausibel, allerdings bleibt die terminologische Differen-zierung zwischen der Ebene des literarischen Systems und der des übergeordneten sozio-kulturellen Gesamtsystem ›Literatur‹ eher vage.

75 Eine fundierte und methodisch reflektierte Einführung in den Gegenstand liefert ClaudiaOpitz mit ihrem Band Um-Ordnungen der Geschlechter (2005), der sowohl eine ausführlicheSach- wie auch Forschungsgeschichte bietet.

76 Siehe dazu die einleitenden Ausführungen in Kapitel 2.1.1 zur Absenz der Kategorie ›Ge-schlecht‹ in dem von Werner Conze und Jürgen Kocka herausgegebenen ersten Band zumBildungsbürgertum im 19. Jahrhundert (1985).

77 Vgl. den differenzierten Rückblick von Ulrich Engelhardt auf den 1957 von Werner Conze

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jekts einer Sozialgeschichte der Literatur ist die Euphorie, man habe die neueSupertheorie zur Beschreibung und Erklärung literarischen Wandels gefunden,relativ schnell abgeklungen. Nichtsdestotrotz haben sozialgeschichtliche Per-spektiven und Forschungsergebnisse noch immer Relevanz bzw. sind Teil desliteraturwissenschaftlichen Grundlagenwissens geworden.

Mit Blick auf die Frauen- und Genderforschung hat die Sozialgeschichte alsgeschichtswissenschaftliche Forschungsrichtung gerade für die Bereiche derBildungsgeschichte und der Herausbildung der für das ›Bürgertum‹ konstitu-tiven Unterscheidung von Privatheit und Öffentlichkeit bzw. häuslicher undaußerhäuslicher (Erwerbs-)Tätigkeit die Basis für das noch immer gültigeHandbuchwissen geschaffen. Trotz der unbestrittenen Relevanz und An-schlussfähigkeit sozialgeschichtlicher Forschung hat Sozialgeschichte als For-schungsparadigma an breiter Front Kritik erfahren. Auf einen wesentlichenKritikpunkt gehen Martin Huber und Gerhard Lauer in ihrer Einleitung zumBand Nach der Sozialgeschichte (2000) ein, dessen Ziel es ist, »eine Bestands-aufnahme des Paradigmas ›Sozialgeschichte der Literatur‹ im gegenwärtigenBetrieb der Literaturwissenschaft anzuregen und zu fragen, welche Möglichkeiteiner Neukonzeptualisierung ›nach der Sozialgeschichte‹ besteht«78. Die Kritikam sozialgeschichtlichen Paradigma betrifft die Frage nach der Relation zwi-schen gesellschaftlichen Strukturen und ›Realitäten‹ auf der einen und kultu-rellen Phänomenen wie etwa Literatur auf der anderen Seite:

Unter den innerdisziplinären Problemen des sozialgeschichtlichen Konzepts wirdimmer wieder die unvermittelte Gegenüberstellung von Gesellschaft als determinie-rendem Kontext und dem davon bestimmten Text genannt. Der Eigensinn literarischerTexte, ihre ›Autonomie‹, gelten als nicht genügend berücksichtigt. Und in der Tat dürftedie Ableitung kultureller Phänomene aus Gesellschaftsstrukturen zu einseitig und alsPrämisse für die literaturwissenschaftliche Praxis, die ja auf ihre Eigenständigkeitschon aus disziplinpolitischen Gründen Wert legen muß, eine problematische Vorgabesein.79

Huber und Lauer legen hier einerseits den Einwand gegen die Sozialgeschichtedar, dass diese zu simplifizierend von einer direkten Kausalbeziehung von›Gesellschaft‹ und ›Kultur‹ ausgehe. Andererseits verweisen sie an dieser Stelleauf einen wichtigen Punkt, der bei der Betrachtung wissenschaftlicher ›Para-digmenwechsel‹ nicht außer Acht gelassen werden darf: Für den Erfolg einerwissenschaftlichen Theorie ist nicht ausschließlich und womöglich nicht einmalzuvorderst die Güte der Theorie verantwortlich, sondern verschiedenste insti-

begründeten Arbeitskreis für moderne Sozialgeschichte, in dem er die Heterogenität desscheinbar so einheitlichen Paradigmas ›Sozialgeschichte‹ aufzeigt, die sich nicht zuletzt ausder interdisziplinären Ausrichtung ergibt (Engelhardt 2007).

78 Huber / Lauer (Hg.) 2000, Vorbemerkung der Herausgeber, S. IX.79 Huber / Lauer 2000, S. 1 f.

Methodisch-theoretische Vorüberlegungen 43

tutionelle und disziplinpolitische Interessen und Funktionszusammenhänge.Wenn eine Theorie droht, die disziplinäre Eigenständigkeit in Frage zu stellen,kann das ihr Prestige innerhalb des wissenschaftlichen Diskurses mitunter starkverringern.

Eingedenk dieser spezifischen ›Regeln‹ wissenschaftlicher Theorieentwick-lung geht der Band Nach der Sozialgeschichte von der Beobachtung aus, dassSozialgeschichte als literaturwissenschaftliches Paradigma aus unterschiedli-chen Gründen – u. a. aufgrund der genannten Widerspiegelungshypothese –historisch geworden ist, und diskutiert Anknüpfungsmöglichkeiten an sozial-geschichtliche Konzeptionen, die deren Schwächen überzeugend abfedernkönnen. Zwar wertet etwa Ulrike Zeuch die von Huber und Lauer angesprocheneWiderspiegelungshypothese ›der‹ Sozialgeschichte als relativ starke Zuspitzung,die den sozialgeschichtlichen Ansatz sehr vereinfache.80 Ohne das gesamteForschungsprogramm der Sozialgeschichte der Literatur als den untersuchtenGegenständen unangemessen aburteilen zu wollen – dies ist erklärterweise ge-rade nicht das Ziel des von Huber und Lauer herausgegebenen Bandes81 –, lässtsich aber doch mit Klaus-Dieter Ertler ein wesentliches Argument für die Ein-schätzung vorbringen, dass die (traditionelle) Sozialgeschichte tendenziell un-terkomplex argumentiert. Ertler diskutiert in seinem Beitrag82 im genanntenSammelband die Möglichkeit der Erneuerung von Sozialgeschichte über sys-temtheoretische Konzepte und macht das Problem der Unterkomplexität sozi-algeschichtlicher Modelle an der ihnen zugrunde liegenden Tendenz zu Kau-salitätsvorstellungen fest:

Das Hauptproblem der Sozialgeschichte lag in ihrer schwer hinterfragbaren Eigen-positionierung, denn sie gebrauchte Parameter, die zwar objektiv scheinende Rezep-tionsbedingungen des gesellschaftlichen – und im engeren Sinne literarischen – Zu-sammenhangs über Stratifikation abhandelte, dabei jedoch den Umbau der Gesell-schaft in eine immer stärker auf mediale Kommunikation orientierte Sozietät übersah.Konzeptuelle, auf das Subjekt aufbauende Verfestigungen wie ›Bürgertum‹, ›Arbei-

80 Vgl. Zeuch 2004, S. 13.81 Der Titel des Bandes Nach der Sozialgeschichte impliziert zwei wesentliche Grundannahmen.

Zum einen die, dass das Unternehmen einer Sozialgeschichte der Literatur insofern abge-schlossen und historisch geworden ist, als es wohl kein Paradigma der ›Neuen Sozialge-schichte‹ geben wird (vgl. Huber / Lauer 2000, S. 8). Zum anderen verweist die durch denTitel vorgenommene Selbstverortung aber auch auf bestimmte ›Standards der Sozialge-schichte‹, deren Gültigkeit nicht in Frage gestellt werden soll. Die generelle Leistung desForschungsprogramms wird also keineswegs bestritten, stattdessen geht es den Beiträgerngerade um einen Anschluss an die relevanten sozialgeschichtlichen Vorgaben im Bereich derTheorie- und Methodenreflexion und deren Anwendung.

82 Siehe Ertler 2000.

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terschicht‹ oder ›Ideologiekritik‹ schränkten sie ein und erzeugten Verdunkelungen,die mit jenen des kritisierten Objekts in jedem Falle gleichgestellt werden konnten.83

Die Grundvoraussetzung dafür, dass Sozialgeschichte der Literatur weiterhinbetrieben werden kann, ist für Ertler, dass sie ihre eigene Verortung in einerfunktional höchst differenzierten Gesellschaft leistet und ihr Paradigma auf die›neue Situation‹ abstimmt:

Sie [die Sozialgeschichte] muß deshalb auch ihre eigenen Grundannahmen umfor-mulieren lernen und erkennen, daß das Verhältnis zwischen dem Symbolsystem ›Li-teratur‹ und dem Sozialsystem ›Gesellschaft‹ beziehungsweise zwischen dem gesell-schaftlichen System ›Literatur‹ und der ›Gesellschaft‹ eine multiple und vielschichtigeBeziehung darstellt und sich hauptsächlich über Ambivalenzen und Paradoxa kon-stituiert.84

Die von Ertler skizzierte Aktualisierung des sozialwissenschaftlichen Paradig-mas auf systemtheoretischer Basis ist vielversprechend – und durchaus nichtmehr unerprobt85 – und kann vor allem an einem Punkt ansetzen, nämlich amBegriff der Funktion: Wenn sozialgeschichtliche Literaturwissenschaft nicht dieFrage nach den Manifestationen gesellschaftlicher Realitäten in literarischenTexten stellt, sondern untersucht, welche Funktionen Literatur für eine Gesell-schaft übernimmt, spricht sie den gesellschaftlichen Realitäten nicht die Rele-vanz ab, sondern verabschiedet sich von problematischen kausalen Schemataund erkennt die Komplexität der Relationen von Gesellschaft und Text an. Auchfür Ertler liegt die Möglichkeit einer Erneuerung von Sozialgeschichte in einemWechsel der Erklärungsrichtung von der Kausalität zur Funktionalität :

Eine zeitgemäße Sozialgeschichte der Literatur im engeren Sinne gelangt erst dann zuihrer vollen Entfaltung, wenn sie sich in selbstreferentiell-kritischer Form mit derFunktion von literarischen Werken als partikular gerahmten Erzählungen einläßt undderen Verbindung zu den anderen narrativen Konstrukten der Gesellschaft wie Ideo-logien, Geschichte(n) oder Realitätserklärungen diskursiv herzustellen vermag. Es gehtdarum, die vielschichtige Funktion des Erzählens bei der Beschreibung von Literaturtheoretisch zu begründen und deren Relevanz für das genuine System herauszuar-beiten.86

In diesem Sinne gründet die vorliegende Untersuchung wesentlich auf For-schungsleistungen der ›älteren‹ Sozialgeschichte, was etwa in den Abschnittenzur (weiblichen) Bildungsgeschichte deutlich wird,87 und verortet sich in dertheoretischen Ausrichtung innerhalb einer Neukonzeptualisierung sozialge-

83 Ertler 2000, S. 195.84 Ertler 2000, S. 200 f.85 Vgl. exemplarisch die Studien von Jannidis 1996 und Willems 1995.86 Ertler 2000, S. 201.87 Siehe Kapitel 2.1.4 zur ›weiblichen Bestimmung‹ und der Bildung zur ›Weiblichkeit‹.

Methodisch-theoretische Vorüberlegungen 45

schichtlicher Ansätze auf der Basis von Begriffsgeschichte und HistorischerSemantik.

1.2.2 Begriffsgeschichte – Historische Semantik

Die interdisziplinär ausgerichteten und in sich heterogenen Forschungsfelderder Begriffsgeschichte und der Historischen Semantik sind in der gegenwärtigenliteraturwissenschaftlichen Fachdiskussion durchaus präsent, obwohl sie an-gesichts des disziplinären Innovationsgebots häufig als tendenziell konservativund letztlich ›abgeerntet‹ wahrgenommen werden und ihre Forschungsergeb-nisse in Form der mittlerweile abgeschlossenen »großen Wörterbuchprojekte«88

etwa von Joachim Ritter oder Otto Brunner, Werner Conze und Reinhart Ko-selleck den Status von Grundlagenwissen erlangt haben. Petra Boden liefert inder Vorstellung ihres Forschungsprojekts zur Forschergruppe »Poetik undHermeneutik« und deren begriffsgeschichtlicher Arbeit eine Übersicht zur ak-tuellen kontrovers geführten Auseinandersetzung um die Begriffsgeschichte.89

Hier soll es im Folgenden nicht um diese Forschungsdiskussion gehen, sondernum eine knappe Explikation der für die vorliegende Untersuchung relevantenTheoriekonzepte und Gegenstandsmodellierungen, die die Begriffsgeschichteund Historische Semantik in der Folge von Reinhart Koselleck sowie NiklasLuhmann bereitstellen.

Luhmann nimmt mit seinem Konzept der historischen Semantik90 einerseitsklar Bezug auf den begriffsgeschichtlichen Forschungsansatz, grenzt sich aberandererseits explizit von diesem ab: Anders als bei begriffsgeschichtlichenUntersuchungen wie dem Unternehmen der Geschichtlichen Grundbegriffe(1972 – 1997) von Brunner, Conze und Koselleck geht es für Luhmann bei dersystemtheoretischen Modellierung historischer Semantik um die Frage nach der

88 Siehe dazu die Einschätzung von Petra Boden: »Begriffsgeschichte zu betreiben, erscheintderzeit nicht mehr selbstverständlich. Im Gegenteil : Mit dem Abschluss der großen Wör-terbuchprojekte ist eine Diskussion in Gang gekommen, die den Erfolg dieser Unterneh-mungen und mit ihnen die Möglichkeiten künftiger begriffsgeschichtlicher Forschung sehrunterschiedlich und meist kontrovers beurteilt.« (Boden 2010, S. 104)

89 Vgl. Boden 2010, besonders S. 105 f. Ein Überblick zu jüngeren Publikationen zur Be-griffsgeschichte findet sich S. 106, Anm. 10.

90 Zum Verhältnis von Gesellschaftsstruktur und Semantik als wechselseitiger Beeinflussungund Koevolution vgl. Luhmann 1980, besonders S. 22 und 34. Claudio Baraldi umreißt denZusammenhang in seinem Artikel zu Luhmanns Semantikbegriff wie folgt: »[D]ie Verän-derung der Semantik hängt von Strukturveränderung ab, aber bestimmt zugleich den Erfolgder neuen Kommunikationsthemen und der Typisierungen des Sinnes. Trotz dieser Zirku-larität evoluiert die Semantik immer mit einer zeitlichen Verzögerung gegenüber denStrukturveränderungen; die Beschreibung der Gesellschaft ist den neuen Entwicklungenimmer mehr oder weniger unangemessen.« (Baraldi 1997, S. 170)

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Funktion von ›semantischen Komplexen‹ und ihres Wandels in Hinsicht auf dengesellschaftlichen Strukturwandel.91 Begriffsgeschichtliche Ansätze erklärennach Luhmann den Wandel von Semantik (bzw. von semantischen Komplexen)unter Annahme eines gesellschaftsstrukturellen Bedingungszusammenhangs,interpretieren diesen also als Folge sozialgeschichtlicher Veränderungen. Luh-manns Kritik an begriffsgeschichtlichen Fragestellungen lautet, dass diese »dieFrage nach Korrelationen zwischen sozialstrukturellen und begriffs- oderideengeschichtlichen Veränderungen«92 nicht klären:

Semantische Komplexe werden dabei als Tatsachen angesehen, die sich im Laufe derGeschichte ändern. Man gelangt zu induktiven Generalisierungen – sei es zu Pro-blembezügen, die einen historischen Prozeß der Substitution von Problemlösungensteuern, sei es zu tieferliegenden semantischen Strukturen, deren historischer Varia-tionszusammenhang den Eindruck der Nichtzufälligkeit hinterlässt, ohne daß dieBeschreibung dieses Zusammenhangs eine theoretische Erklärung dafür zu gebenbeansprucht. Repräsentativ dafür ist die Fragestellung des Lexikons ›GeschichtlicheGrundbegriffe‹ nach semantischen Korrelaten für ›die Auflösung der alten und dieEntstehung der modernen Welt‹.93

Die Annahme eines gesellschaftsstrukturellen Bedingungszusammenhangs,welcher den Wandel der semantischen Komplexe erklären könnte, bleibt imbegriffsgeschichtlichen Untersuchungsdesign nach Luhmann ›unterbelichtet‹und ist auf Behelfstermini wie ›französische Revolution‹ oder ›moderne Staatenoder bürgerliche Gesellschaft‹ angewiesen, die ihrerseits erklärungsbedürftigesemantische Komplexe darstellen.94 Koselleck expliziert in seinem Beitrag »So-zialgeschichte und Begriffsgeschichte« (1986) seinen begriffsgeschichtlichenAnsatz hinsichtlich der von Luhmann als problematisch bewerteten Modellie-rung der Relation von politisch-sozialen Sachverhalten und Begriffen, wieChristiane Frey ausführt:

Statt von einem einfachen Verhältnis von Sachverhalt oder historischer Tatsache ei-nerseits und seiner sprachlichen Vermittlung andererseits auszugehen, nimmt Kosel-leck ein Verhältnis der wechselseitigen Abhängigkeit an: »Weder holt das sprachlicheBegreifen ein, was geschieht oder tatsächlich der Fall war, noch geschieht etwas, was

91 Bei Luhmann stellt die »Komplexität der Welt« nach Georg Kneer und Armin Nassehi dasoberste Bezugsproblem der funktionalen Analyse dar (Kneer / Nassehi 1993, S. 40). SozialeSysteme übernehmen die Aufgabe, Komplexität zu reduzieren, sie »vermitteln also zwischender unbestimmten Komplexität der Welt und der Komplexitätsverarbeitungskapazität deseinzelnen Menschen« (ebd.).

92 Luhmann 1980, S. 13.93 Luhmann 1980, S. 13 f.94 Vgl. Luhmann 1980, S. 14. Auch Willems 1995 wertet eine entsprechende Argumentation, die

Phänomene der Semantik aus sozialgeschichtlichen Faktoren ableitet, als unangemessen, dadie Semantik mit ihren Anschlussmöglichkeiten für Umdeutungen erst den Rahmen setzt, indem Veränderungen ermöglicht und erfahren werden; vgl. Willems 1995, S. 1.

Methodisch-theoretische Vorüberlegungen 47

nicht durch seine sprachliche Verarbeitung bereits verändert wird« ([Koselleck 2006,]S. 13)95. Begriffsgeschichte im Sinne Kosellecks ist mithin weder die Untersuchungjener Sprache, die die für den Historiker relevanten politisch-sozialen Tatsachen be-schreibt, noch das Nachzeichnen von Begriffsentwicklungen um ihrer selbst willen.Vielmehr geht es gerade um die intrikate Interdependenz von politisch-sozialenSachverhalten und ihrer sprachlichen ›Verwirklichung‹.96

Frey hebt hervor, dass Kosellecks Ansatz »immer schon mehr als die Geschichtevon Begriffen«97 zum Gegenstand hatte:

Statt der Wandlung eines Begriffs nachzugehen, werden semantische Strukturen her-auspräpariert; statt Texte über Kontexte verständlich zu machen, wird bestimmtenBegriffen eine »ordnende Kraft« zugeschrieben, die es herauszuarbeiten gilt. Erst,wenn die Dynamik bestimmter Begriffe selbst verständlich wird, können Texte undKontexte überhaupt eingeordnet werden – nicht umgekehrt. Dass es Koselleck we-sentlich auch um Kontexte geht, ist dabei freilich nicht zu unterschlagen.98

Die Frage nach dem Verhältnis von Begriff und Sachverhalten beantwortet Ko-selleck, wie Frey anmerkt, in seiner Einleitung zum ersten Band der Geschicht-lichen Grundbegriffe (1972) dergestalt, dass er als Ziel der Begriffsgeschichteweder die reine Wort-, Sach- oder Ereignisgeschichte noch die Ideen- oderProblemgeschichte, sondern etwas darüber hinaus gehendes beschreibt.99 DieWortgeschichte versteht Koselleck allerdings »als Einstieg« in die Analyse derkomplexen Zusammenhänge der begrifflich-semantischen Ebene mit der Ebeneder politisch-sozialen Sachverhalte.100 Von einer funktionsgeschichtlichen Per-spektive, wie sie Luhmanns Ansatz der Historischen Semantik zugrunde liegt, istdie Koselleck’sche Konzeptualisierung von Begriffsgeschichte und HistorischerSemantik dennoch abzugrenzen. Zwar betont Koselleck die Annahme wech-selseitiger Abhängigkeit sprachlichen und politisch-sozialen Wandels, die Fragenach den Gründen des Wandels rückt dabei aber kaum in den Blick.101 In seiner

95 Koselleck 2006, Beitrag »Sozialgeschichte und Begriffsgeschichte« (1986), S. 9 – 31.96 Vgl. Frey 2008, Absatz 15.97 Frey 2008, Absatz 12.98 Frey 2008, Absatz 12.99 Vgl. Koselleck 1972, S. X.

100 Vgl. Frey 2008, Absatz 14.101 Vgl. dazu die rekapitulierende Gegenüberstellung begriffsgeschichtlicher und historisch-

semantischer bzw. linguistisch-diskursanalytischer Ansätze von Dietrich Busse, der trotzder Hervorhebung der Leistungen des begriffsgeschichtlichen Großunternehmens derGeschichtlichen Grundbegriffe auch auf deren klare Grenzen hinweist. Diese liegen mitBusse dort, wo die einzelnen Handbuchartikel trotz des der Begriffsgeschichte zugrundeliegenden »epistemologischen Interesses […] auf die Beschränkungen eines isoliertenWortbedeutungsbegriffs zurückfallen und sich damit wichtige epistemologische Erkennt-nismöglichkeiten verstellen« (Busse 2003, S. 2; zur begriffsgeschichtlichen Tendenz zumNominalismus vgl. auch Kollmeier 2012 [ohne Seiten- oder Absatznummerierung]). Bleibtdie Analyse also, wie der auswertende Blick auf die Argumentationsstruktur einzelner

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für den literaturwissenschaftlichen Anwendungsbereich historisch-semanti-scher Forschung grundlegenden, funktionsanalytischen Untersuchung zumBildungsbegriff im 18. Jahrhundert problematisiert Fotis Jannidis dement-sprechend den Erkenntniswert begriffsgeschichtlicher Untersuchungen:

So brauchbar die diachrone Darstellung eines Begriffs als Indizienlieferant für histo-rische Umbrüche wie z. B. die Sattelzeit ist, so wenig kann sie über die Gründe für dieBedeutungsveränderung und -anreicherung aussagen.102

Eine funktionalistische Untersuchungsperspektive, wie sie auch in der vorlie-genden Studie eingenommen wird, wird begriffsgeschichtliche Ergebnisse indiesem Sinne als Fundament und Sprungbrett nutzen, um eine Plausibilisierungvon Thesen darüber zu leisten, weshalb sich Begriffe und Konzepte in einerspezifischen historischen Konstellation auf die spezifische beobachtete Art undWeise verändern.

Unter ›Historischer Semantik‹ wird somit im Folgenden ein kulturwissen-schaftlich geöffneter, von Soziologie und Linguistik, Geschichts- und Litera-turwissenschaft maßgeblich konturierter Forschungsansatz verstanden, dessenPotential gerade darin liegt, den Fokus von der reinen Ausdrucksseite histori-scher Kommunikation auf die Konzeptebene zu verschieben. Der Studie liegtdamit ein interdisziplinär basiertes Konzept von Historischer Semantik zu-grunde, wie es etwa Kathrin Kollmeier umreißt :

Als undogmatische Sammelbezeichnung für die Erforschung semantischer Verände-rungsprozesse, aber durchaus mit systematischem Anspruch hat sich mittlerweile derTerminus Historische Semantik interdisziplinär etabliert. Kulturwissenschaftliche undsprachgeschichtliche Impulse öffnen die begriffsgeschichtliche Methodik sowohlhinsichtlich des untersuchten Kommunikationsprozesses wie der historischen Ana-lyse. Um die isolierte Betrachtung von Einzelbegriffen zu überwinden, weiteten sie vorallem die analytische Sonde aus, von einzelnen Termini auf Begriffscluster, semanti-sche Netze, Felder und Argumentationen. Anstatt der Setzung von Begriffen, denen derStatus eines hochaggregierten Grundbegriffs unterstellt (und damit konstituiert) wird,besteht der erste Schritt in der Identifikation prominenter Themen, Begriffe, Topoi undFiguren, Chiffren oder ganzer »Sprachen« (mit je eigenem Vokabular, eigener Gram-matik und Rhetorik) in einem Zeit- und Sprachraum. Diese organisieren Diskurse,gehen aber unter Umständen nicht »nominalistisch« in der historischen Verwendungdes einschlägigen Vokabulars auf.103

Beiträge in den Geschichtlichen Grundbegriffen zeigt, wortsemantisch orientiert und damitauf der Ausdrucksebene historischer Diskurse verhaftet, lässt sich der Zusammenhang vonsemantischem Wandel und sozial- wie kulturgeschichtlichem Wandel nicht überzeugendmodellieren (vgl. dazu auch Busse 1987, S. 94 – 107).

102 Jannidis 1996, S. 25.103 Kollmeier 2012 [ohne Seiten- oder Absatznummerierung].

Methodisch-theoretische Vorüberlegungen 49

Im Gegensatz zu der über schriftliche Quellen zugänglichen Ausdrucksseiteerweist sich die Konzeptebene historischer Kommunikation als analytischdeutlich schwerer erfassbar,104 jedoch mit Blick auf die komplexen Prozessesemantischen Wandels als entscheidend – was besonders augenfällig wird, wenndie im 19. Jahrhundert zunehmende Relevanz illustrierter Massenmedien fürProzesse der gesellschaftlichen Konstitution von Bedeutung mit einbezogenwird. So fasst Kathrin Kollmeier in ihrem gelungenen Forschungsüberblick zuBegriffsgeschichte und Historischer Semantik das historisch-semantische Pro-gramm pointiert zusammen:

Der interdisziplinäre Ansatz richtet sich also auf die Sinnerzeugung vergangener Ge-sellschaften mithilfe von Sprache, Texten und Bildern. In der Analyse semantischer,bereits Welt deutender Überreste werden Interpretationen zweiter Ordnung betrieben,indem anhand der Konzepte und Konzeptualisierungen der jeweiligen Zeitgenossender Denkhintergrund und die Wahrnehmungs- und Deutungshorizonte einer ver-gangenen Zeit rekonstruiert werden.105

Die »Wahrnehmungs- und Deutungshorizonte einer vergangenen Zeit« lassensich nun – so eine der Prämissen der vorliegenden Studie zur historischenGeschlechtersemantik und deren Relevanz als Problemreferenz106 von Literatur– sinnvoll nur auf der Basis eines funktionalistischen Analysezugriffs erfassen,der objektsprachliche Wertungsbegriffe bzw. werthaltige Konzepte (wie etwa›Emanzipation‹, ›Fortschritt‹, ›modern‹ oder auch ›Bildung‹) klar von meta-sprachlichen Beschreibungsbegriffen unterscheidet.

104 Zur Methodenfrage der Historischen Semantik vgl. den zwar bereits etwas älteren, aberpointierten Beitrag von Busse / Teubert 1994.

105 Kollmeier 2012 [ohne Seiten- oder Absatznummerierung]. Auch die methodisch-konzep-tionelle Abgrenzung dieses Forschungsprogramms zu dessen relevanten Vorläufern machtKollmeier hier noch einmal deutlich: »In diesem Gegenstandsbereich liegt die nahe Ver-wandtschaft zur Ideen- und Mentalitätsgeschichte. Ansätze der Historischen Semantikzielen demgegenüber stärker auf die Rekonstruktion vergangener Kommunikation, lösendiese Kontextualisierung jedoch in unterschiedlichem Grad ein. Wo klassische Begriffs-geschichte die Neuartigkeit einer Prägung als entscheidendes Moment sieht, das einenBegriff historisch auffällig und als Index geschichtlichen Wandels nutzbar macht, setzenbreitere Perspektiven Historischer Semantik stärker auf dessen Umstrittenheit und Kon-flikthaftigkeit. Jenseits der linguistischen Ebene bestimmen sie die Verhandlung vonKonzepten, Begriffen oder Argumenten in politischen und gesellschaftlichen Kommuni-kationssituationen funktional und spezifizieren sie hinsichtlich der jeweils Sprechenden,des politischen Regimes und weiterer sozialer und historischer Bedingungen zu einembestimmten Zeitpunkt oder Zeitraum.« (Ebd.)

106 Zur Erläuterung dieses zentralen Analyseterminus siehe das folgende Kapitel.

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1.2.3 Funktionen von Literatur – Historische und systematische Verortung

Bei der Frage nach den Funktionen von Literatur – die generell nicht abschlie-ßend zu beantworten ist und im Rahmen dieser Untersuchung mit dem Zieleiner heuristisch funktionalen Eingrenzung verhandelt werden soll – stellen sicheinige Schwierigkeiten. Zum einen wird der Funktionsbegriff innerhalb litera-turtheoretischer Diskussionszusammenhänge uneinheitlich verwendet, wieFotis Jannidis, Gerhard Lauer und Simone Winko anmerken.107 Zum anderen istzu unterscheiden zwischen historischen Bestimmungsversuchen der Funktionenvon Literatur (Objektebene) und systematischen Bestimmungsversuchen (Me-taebene), die den Anspruch auf überzeitliche Gültigkeit der vorgenommenenKategorisierung erheben. Dass auch diese wissenschaftlichen Kategorisierun-gen keineswegs unabänderlich, sondern ihrerseits historisch sind in dem Sinne,dass sie von Perspektivierungen, theoretischen Prämissen und methodologi-schen Vorentscheidungen abhängen, liegt dabei auf der Hand. Trotz dergrundsätzlichen Veränderlichkeit sind die systematischen Kategorien jedochzum einen notwendig, um den Gegenstandsbereich überhaupt für Analysenzugänglich zu machen, also zu strukturieren und letztlich zu konstituieren, zumandern zwar verhandelbar, nicht aber beliebig. Dem Verdacht der Arbitrarität istdie Tatsache der Motiviertheit entgegenzuhalten: Systematische literaturwis-senschaftliche Kategorien – wie etwa Epochen- und Gattungsbegriffe,108 odereben die Beschreibung der Funktionen von Literatur – basieren zwar auf Me-chanismen der Selektion und Konstruktion und haben keine ontologischeEntsprechung, müssen sich aber am empirischen Material orientieren, um ›zufunktionieren‹, d. h. um den wissenschaftlichen Zugriff auf eben dieses Materialzu ermöglichen. Jannidis, Lauer und Winko gehen in ihrem einleitenden Beitragzum Band Grenzen der Literatur (2009) auf die systematischen Bestimmungs-versuche des Literaturbegriffs ein und skizzieren in diesem Rahmen die zen-tralen historischen Funktionsbestimmungen von Literatur.109 Auf systemati-

107 Vgl. Jannidis / Lauer / Winko 2009, S. 22. Vgl. als Überblick auch den Artikel »Funktion«von Fricke 1997 im Reallexikon sowie den Beitrag von Sommer 2000 zur terminologischenDifferenzierung des Funktionsbegriffs in der Literaturwissenschaft.

108 Die Einteilung der Literaturgeschichte in Epochen und deren argumentative Plausibilisie-rung gehört mit zu den grundlegenden Operationen des Literarhistorikers. Je nach Un-tersuchungsperspektive können andere Abgrenzungen vorgenommen werden. Der Histo-riker Franz J. Bauer weist in seinem Epochenprofil zum ›langen‹ 19. Jahrhundert auf denStatus von Epochenbegriffen als analytische Konzepte und gedankliche Konstruktionenhin, die zwar nicht objektiv feststehend, nichtsdestotrotz aber empirisch und theoretischmotiviert sind bzw. sein müssen, um sich innerhalb des wissenschaftlichen Diskurseshalten zu können. Dies gilt selbstverständlich auch in Bezug auf literaturwissenschaftlicheEpochenbegriffe. Vgl. Bauer 2004, S. 7 f.

109 Vgl. Jannidis / Lauer / Winko 2009, S. 22 – 28.

Methodisch-theoretische Vorüberlegungen 51

scher Ebene plädieren sie für einen pragmatischen Literaturbegriff, der auf dieAngabe von Funktionen der Literatur verzichten kann, was nicht die Relevanzder Explikation historischer Funktionszuschreibungen im Rahmen »der histo-rischen Rekonstruktion des Phänomens ›Literatur‹, also auf der Objektebene«110,mindert.

Im Sinne dieser engen Verknüpfung der systematischen mit der historischenPerspektive setzt die vorliegende Untersuchung einen pragmatischen, relatio-nalen Literaturbegriff an, geht dabei aber zugleich von einem relativ abstraktgefassten, historisch kontextualisierten Funktionsspektrum von Literatur aus.Im Folgenden wird ›Literatur‹ auf der Basis der systemtheoretischen Modellie-rung Luhmann’scher Prägung und im historischen Kontext der Umstellung der(primären) gesellschaftlichen Strukturierung von Stratifikation auf Funktionseit der Frühen Neuzeit als Funktionssystem mit spezifischen Problemreferen-zen verstanden – eine Auffassung, wie sie Karl Eibl seinen Studien zum18. Jahrhundert zugrunde legt. Mit Eibl lässt sich Literatur seit dem 18. Jahr-hundert als funktional ausdifferenziertes System beschreiben, das einen eigenenAnspruch auf Weltdeutung erhebt. Über die Darstellung fiktionaler Welten kanndieses System in prädestinierter Weise die Funktion übernehmen, ungelöstebzw. unlösbare Problemkomplexe zu thematisieren, im kulturellen Bewusstseinzu bewahren und mögliche Lösungsstrategien durchzuspielen.111 Seither werdenin der Literatur mit Eibl gesprochen die »psychohistorischen Dimensionen derGesellschaftsgeschichte« zuweilen deutlicher sichtbar als in anderen Quellen –nicht im Sinne eines Abbildungs- oder Widerspiegelungsverhältnisses von Li-teratur und ›Wirklichkeit‹, sondern in dem Sinne, dass Literatur »auf Probleme,häufig ungelöste Probleme, referiert«.112 Literatur als Stätte der Thematisierungungelöster Probleme kann also verstanden werden als Ort, an dem Problem-konstellationen und Lösungsentwürfe verhandelt werden können, auch wenndiese Problemlagen von den Autoren nur begrenzt erfassbar und noch nicht ingroßem Maße in einem gesellschaftlichen Diskurs artikulierbar sind.

Neben der Explikation des hier angesetzten Literaturbegriffs ist für die vor-liegende Untersuchung auch der Blick auf historische Bestimmungsversuchevon ›Literatur‹ und historische Funktionshypothesen relevant. Dies wird imersten Hauptteil der Untersuchung zur Herausbildung der komplementärenGeschlechtersemantik um 1800 und dessen semantischer Aktualisierung unddiskursiver Relevanz innerhalb der Umbruchphase des Geschlechtermodells um

110 Jannidis / Lauer / Winko 2009, S. 27.111 Vgl. dazu Eibl 1995, besonders Kapitel II, »Das historische Bezugsproblem«, S. 35 – 61 sowie

Eibl 1999, besonders S. 138 – 143. Siehe auch den Beitrag von Werle 2009 zum Schema›Problem – Lösung‹ als einem Rekonstruktionskonzept literaturwissenschaftlicher Ideen-historiographie.

112 Eibl 1999, S. 138.

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1900 deutlich. So hat hier eine kritische Auseinandersetzung mit verschiedenengender-orientierten literaturwissenschaftlichen Ansätzen zu erfolgen, denenbestimmte Traditionslinien von Funktionshypothesen zugrunde liegen. Einetradierte Funktionszuschreibung von Literatur – wobei der Begriff der Funktionhier eine deutliche Nähe zu dem der Intention aufweist – ist die der Gesell-schaftskritik. Zur Auffassung von der gesellschaftskritischen Aufgabe von Li-teratur fassen etwa Jannidis, Lauer und Winko zusammen:

Schon in der Protosoziologie des 19. Jahrhunderts, dann aber prominent in der Ent-fremdungsthese Karl Marx’ sind die Kritik des Individuums und die Kritik der Ge-sellschaft aneinander gekoppelt. Literatur fungiert hier vor allem als Phänomen des›Überbaus‹, das die realen sozialen Verhältnisse ›widerspiegelt‹. Literatur habe dieFunktion, so Marx und Engels in der Sickingen-Debatte, die gesellschaftlichen Ant-agonismen möglichst treu und nicht tendenziös darzustellen. Literatur bezieht sichdamit in doppelter Weise auf die tatsächliche Entwicklung der Gesellschaft: als dia-lektisches Ergebnis der gesellschaftlichen Gegensätze wie als ihr Abbild.113

Feministisch orientierte Ansätze weisen aufgrund ihrer gesellschafts- undideologiekritischen Axiomatik (sowie der Traditionszusammenhänge ihrerTheoriebildung und -adaption) eine starke Affinität zu dieser Funktionsbe-stimmung auf. Natürlich ist nicht jeder gender-orientierte Forschungsansatzunter dem Label ›feministisch‹ zu fassen. So unterstreicht etwa Nadyne Stritzkein ihrer fundierten Untersuchung zu »Funktionen von Literatur aus Sicht derfeministischen und gender-orientierten Literaturwissenschaft« die Notwendig-keit, zwischen den verschiedenen, auch theoriegeschichtlich unterschiedlich zuverortenden Ansätzen zu unterscheiden, die unter der Bezeichnung ›GenderStudies‹ systematisch zusammengefasst werden. Stritzke konstatiert einen Mitteder 1980er Jahre einsetzenden Paradigmenwechsel:

Während die Frühphase der feministischen Literaturwissenschaft einer liberal-hu-manistischen Identitätsvorstellung verpflichtet war und schwerpunktmäßig dieweibliche Perspektive sowie die traditionelle Vernachlässigung und Unterdrückung derFrau untersuchte, basiert die gender-orientierte Literaturwissenschaft auf diskurs-theoretischen, poststrukturalistisch-psychoanalytischen Identitätskonzeptionen unduntersucht Konstituierungsprozesse von jeglicher Geschlechtlichkeit.114

Aber : Bisher erschlossen ist Literatur von weiblichen Autoren vor allem auf derBasis der »älteren« Axiomatik, nach der die entsprechenden Texte auf ihre kri-tische Haltung gegenüber patriarchalen Strukturen und ihr emanzipatorischesPotential überprüft und bewertet werden.115 So beobachtet Katja Mellmann

113 Jannidis / Lauer / Winko 2009, S. 26.114 Stritzke 2005, S. 99 f.115 Auch Bernsteins Werke wurden weitgehend – und werden tendenziell noch immer – aus

dieser Perspektive untersucht, wie im zweiten Hauptteil der Arbeit deutlich werden wird.

Methodisch-theoretische Vorüberlegungen 53

beispielsweise in der Analyse von Gisela Brinker-Gabler116 zu Gabriele ReutersRoman Aus guter Familie (1895) eine für feministisch ausgerichtete Literatur-wissenschaft auch gegenwärtig noch durchaus prototypische Deutungsrichtung,die man als ›doppelbödig‹ bezeichnen könnte: Reuters Roman bestätigt nachBrinker-Gabler einerseits die traditionelle Auffassung von der weibliche Be-stimmung und rekurriert damit »auf den normativen Horizont der bürgerlichenLebenswelt«, kritisiert aber andererseits zugleich »bestehende Normen undKonventionen […] vermittels der Rechtfertigung einer durch Liebe begründetenVerletzung des Tugendideals und einer Distanzierung von den ›Fesseln der Fa-milie‹ durch eine Arbeit auf ›weiblichem‹ Berufsfeld«117. Sowohl auf deskriptiverwie auf argumentativer Ebene ist diese Deutung für Mellmann fragwürdig:

Selbst wenn die deskriptiven Aussagen über den Roman in diesem Fazit allesamthistorisch valide Beobachtungen wären, müsste man dennoch fragen, wie sich diese»einerseits/andererseits«-Struktur legitimiert, wenn nicht aus einer wertenden Per-spektive, die von einer teleologischen ›Geschichte der Frauenemanzipation‹ ausgeht.118

Die implizite Funktionshypothese119 der ›Subversion‹ bestehender – patriar-chalisch geprägter – Normen, Strukturen und Ordnungen durch Texte weibli-cher Autoren spielt auch in gegenwärtigen literaturwissenschaftlichen Unter-suchungen, die die Kategorie ›Geschlecht‹ relevant setzen, noch immer eineRolle. So stellt Mellmann fest, dass sich »die Tendenz literaturwissenschaftlicherFrauenforschung zur ›Aktualisierung‹ und ›Aneignungshermeneutik‹«120 auchin dem in der Analyse von Kanonisierungsprozessen sehr luziden Beitrag vonRenate von Heydebrand und Simone Winko zu Geschlechterdifferenz und lite-rarischem Kanon findet.121 Dies ist an sich nicht verwunderlich, da sich derÜberblick von Heydebrand und Winko an einer feministisch-ideologiekriti-schen Axiomatik orientiert bzw. das Reflexionspotential entsprechend ausge-richteter Ansätze hervorhebt.122 Das im Beitrag klar formulierte Ziel ist es, überdie Reflexion der Prozesse von Kanonisierung und literarischer Wertung undder Relevanz der Kategorie ›Geschlecht‹ innerhalb dieser Prozesse die Gründe

116 Die von Brinker-Gabler herausgegebene zweibändige Aufsatzsammlung Deutsche Literaturvon Frauen (1988) gehört zu den ersten systematischen Versuchen einer ›weiblichen Li-teraturgeschichte‹.

117 Brinker-Gabler 1988, S. 174.118 Vgl. Mellmann 2008, S. 15, Anm. 68.119 Vgl. Stritzke 2005, S. 100.120 Mellmann 2008, S. 15, Anm. 67.121 Vgl. Heydebrand / Winko 1994, S. 110 f.122 Von radikal poststrukturalistischen Ansätzen, die die ›Reflexion‹ von Systematisierung und

Kategorienbildung (nicht nur) in Bezug auf literarische Kanonisierung dahingehend auf dieSpitze treiben, dass diese per se als arbiträr anzusehen bzw. ausschließlich machtpolitischmotiviert seien, grenzen sich die Autorinnen dabei ab, da in deren Konsequenz eine wis-senschaftliche Praxis ad absurdum geführt würde; vgl. Heydebrand / Winko 1994, S. 156.

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für die »Unterrepräsentanz von Autorinnen im literarischen Kanon« transparentzu machen und »Handlungsalternativen im Umgang mit Literatur und ihrerKanonisierung«123 aufzuzeigen. Der Bezug auf gegenwärtige soziale bzw. dis-kursive Strukturen und die Zielsetzung des diskursiven Wandels erscheint mirgrundsätzlich durchaus als berechtigte Zielsetzung literatur- und kulturwis-senschaftlicher Arbeiten. In der kritischen Auseinandersetzung mit entspre-chend ausgerichteten Studien wird jedoch deutlich – und im Folgenden zuzeigen sein –, dass diese Perspektive mit einer historisch validen Analyse undInterpretation literarischer Texte von Autorinnen tendenziell in Kollision zugeraten droht.

1.2.4 Positionierung zur Genderforschung – Zum Emanzipationsbegriff undder (historischen) Gleichheits- vs. Differenzhypothese

Den Gender Studies liegt grundsätzlich keine zentrale Theorie oder Methodezugrunde. Vielmehr setzt sich, wie auch Christiane Sollte-Gresser anmerkt, dasFeld heterogen zusammen und lässt in den einzelnen Forschungsansätzen un-terschiedliche Modellierungen des Gegenstandsbereichs und unterschiedlichgesetzte Prämissen beobachten.124 Diese Heterogenität hebt auch Osinski her-vor:

Die Gender Studies sind […] in den 90er Jahren zum Sammelbegriff für feministischeund nichtfeministische Arbeiten in den Kulturwissenschaften geworden, die Ge-schlechterverhältnisse als kontextabhängige Konstrukte in den verschiedensten Be-reichen thematisieren. Sie sind keine »Methode« und haben kein »Modell«, sondern siebezeichnen ein thematisches Interesse, das in verschiedenen Disziplinen mit unter-schiedlichen Gegenstandsbestimmungen und Verfahren verfolgt wird.125

Innerhalb der deutschsprachigen Literaturwissenschaft kann man die imangloamerikanischen Raum in der Tradition der Women’s Studies seit Beginnder 1970er Jahre universitär institutionalisierten126 (im weitesten Sinne127)

123 Heydebrand / Winko 1994, S. 96.124 Vgl. Solte-Gresser 2005, S. 57 f. Siehe auch wie bereits erwähnt Stritzke 2005. Vgl. auch die

Einführung von Schößler 2008, Lindhoff 2003 zur feministischen Literaturtheorie sowieden Band von Braun / Stephan (Hg.) 2000, der einen Überblick zur Genderforschung ineinzelnen Disziplinen gibt. Sehr detailliert und auf hohem Reflexionsniveau ist die Dar-stellung von Osinski 1998 zur feministischen Literaturwissenschaft, die feministische undgender-orientierte Ansätze und Forschungstraditionen vor allem im französischen,angloamerikanischen und deutschen Sprachraum skizziert. Osinski geht sehr differenziertauf einzelne Positionen ein, stellt sie in die jeweiligen kulturhistorisch-institutionellenKontexte und zeigt deren mitunter problematische Prämissen auf.

125 Osinski 1998, S. 122.126 Vgl. Osinski 1998, S. 40 – 43. Osinski weist jedoch auch darauf hin, dass feministische

Methodisch-theoretische Vorüberlegungen 55

gender-theoretischen Forschungsperspektiven mittlerweile als breit etabliertansehen.128 So fassen Annette Keck und Manuela Günter in ihrem Forschungs-bericht zusammen:

Geschlechterdifferenz, das erwiesen unsere Recherchen, ist längst nicht mehr nur eineFrage des Inhalts (wie noch in der Frauenbildforschung), sondern eine strukturellePerspektive der literatur- und kulturwissenschaftlichen Analyse. Das zeigen univer-sitäre Institutionalisierungen – Graduiertenkollegs, Forschungsprojekte, Studiengän-ge, Lehrstühle – und publizistische Aktivitäten wie Anthologien, Einführungen, Zeit-schriften, Jahrbücher. Auch an Lexika, Nachschlagewerken und Bibliographien fehlt esinzwischen nicht mehr.129

Wie Keck und Günter vermerken, ist die Zeit um 1800 in Bezug auf das The-menfeld Weibliche Autorschaft und Literaturgeschichte gut erforscht.130 Dies istaus ihrer Sicht zum einen Folge der generellen Fokussierung auf die ›Epo-

Forschungsansätze in den USA mit der universitären Etablierung der Women’s Studies zwareinerseits deutlich früher als in Deutschland institutionalisiert wurden, dabei andererseitsaber dennoch eher randständig geblieben sind, was sie sowohl auf systembedingte Hürdenzurückführt als auch auf argumentativ-methodische Schwachstellen der Ansätze selbst,siehe ebd., S. 43: »Am niedrigen akademischen Status der Women’s Studies waren ihreVertreterinnen selbst nicht ganz unschuldig. Ihre Prämissen und Postulate waren eman-zipationspolitisch und moralisch zwar oft konsensfähig, führten fachwissenschaftlich abernicht selten in so einseitige oder verkürzte Analysen und vor allem Wertungen, daß fe-ministische Ansätze in akademischen Mißkredit gerieten.«

127 Die Gender Studies selbst lassen sich als von den Women’s Studies zu unterscheidenderForschungsbereich auf die 1990er Jahre datieren und haben sich unter anderem im Zugeeiner »Akzentverlagerung von women auf gender« innerhalb des feministischen For-schungsparadigmas und der »Erweiterung der Literaturwissenschaft zu den Cultural Stu-dies« herausgebildet (Osinski 1998, S. 105). Während im angloamerikanischen Raum dieWomen’s Studies weiterhin neben den Gender Studies disziplinär vertreten sind, ging »dasakademische Prestige in den Fachdisziplinen […] von der feministischen Dekonstruktionüber auf die Gender Studies, die heute international en vogue sind« (ebd.).

128 Erhart 2005 vermerkt in seinem Forschungsbericht die Fokuserweiterung bzw. -verschie-bung innerhalb der jüngeren und gegenwärtigen Genderforschung hin zu ›Männlich-keitsforschung‹ bzw. men’s studies: »Während gender studies und ›Frauenforschung‹mittlerweile buchstäblich lexikalisiert und in Handbüchern rekapituliert werden, erhieltdie ›Männlichkeitsforschung‹ in den 1990er Jahren das Prädikat research program. Das›erste Geschlecht‹ wurde nicht nur gesucht, sondern auch gefunden und erforscht: Davonzeugen eine Fülle von Monographien, Sammelbänden, Tagungen, Arbeitskreisen, Son-derheften, Zeitschriften, Handbüchern und mittlerweile – Forschungsberichten. Das Ge-biet muß ›schon lange nicht mehr‹ begründet oder vorgestellt werden. Im Gegenteil : Ge-genüber den in den USA längst altehrwürdigen women’s studies etablierten sich men’sstudies als das nunmehr fast innovative Feld der Geschlechterdifferenz.« (Erhart 2005,S. 157 f.)

129 Keck / Günter 2001, S. 201 f. ; ein Überblick der jüngeren Publikationen findet sich dort inden ersten beiden Anmerkungen. Als aktuelle Handbücher zum weitgefassten, interdiszi-plinären Forschungsbereich Gender Studies seien hier exemplarisch angeführt: Becker /Kortendieck (Hg.) 2010, Bußmann / Hof (Hg.) 2005 sowie Braun / Stephan (Hg.) 2000.

130 Vgl. Keck / Günter 2001, S. 206.

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chenschwelle‹ um 1800, die innerhalb der Literaturwissenschaft aufgrund derumfassenden gesellschaftlich-semantischen Veränderungen im Lauf des 18.Jahrhunderts als Beginn der (weit gefassten) Moderne gilt. Als zweiten be-stimmenden Faktor werten Keck und Günter die grundlegenden – aus Sicht dervorliegenden Arbeit jedoch nicht unproblematischen – Studien von ThomasLaqueur und Claudia Honegger,131 die einen entscheidenden Wandel der ge-sellschaftlichen Konzeptualisierung von ›Geschlecht‹ auf die Zeit um 1800 da-tieren.

Die Intensivierung der Forschungen zu diesem Komplex verdankt sich zum einen derSchwerpunktbildung im gesamten Fach, die die Wende zum 19. Jahrhundert als so-genannte ›Sattelzeit‹ der modernen Literaturauffassung begreift, zum anderen aberauch den wichtigen Studien von Thomas Laqueur und Claudia Honegger, die ausdiskursanalytischer Sicht die Zeit um 1800 als diejenige ausgewiesen haben, in der dasGeschlechterverhältnis sowohl in biologischer als auch in anthropologischer Hinsichtneu definiert wird.132

Innerhalb der gender-orientierten Forschungsansätze kann man verschiedenePrämissen unterscheiden. Als konstitutiv für feministisch ausgerichtete Posi-tionen lässt sich zum einen die Prämisse der gesellschaftlichen Subordinationvon Frauen, zum anderen das Ziel der Analyse, Beschreibung und letztlich derVeränderung geschlechterbasierter gesellschaftlicher Machtstrukturen beob-achten.133 Methodisch birgt ein entsprechend konzipierter Forschungszugriffdort Probleme, wo die Prämisse der Subordination im Sinne einer Prämisse derRepression intentionalistisch gedacht wird. Die in der älteren feministischenForschung zum Teil vertretene ›Repressionshypothese‹ wird innerhalb der Ge-schlechterforschung bereits seit geraumer Zeit kritisch beleuchtet.134 Nichts-destotrotz halten sich Reste der Repressionshypothese innerhalb der (ideolo-

131 Vgl. Laqueur 1992 und Honegger 1991. Zum Grundlagenstatus der beiden Studien inner-halb der Genderforschung vgl. Schößler 2008, S. 29 – 33.

132 Keck / Günter 2001, S. 206.133 Für einen historisch-systematischen Abriss zum Feminismus-Begriff siehe den differen-

zierten Artikel von Barbara Thiessen (2010). Thiessen unterstreicht die Mehrdeutigkeit desTerminus, dessen spezifische Referenz – wie dies stets bei komplexen Konzepten der Fall ist– erst mit Blick auf den jeweiligen Verwendungskontext zu vereindeutigen ist: »Unter demBegriff Feminismus werden heterogene Konzepte gefasst, die sich nach Ideengeschichte,Gegenstandbezug und Trägerinnen bzw. Zielgruppen feministischer Bewegungen unter-scheiden lassen.« (Thiessen 2010, S. 38) Der gemeinsame Ausgangspunkt der unter-schiedlichen feministischen Bewegungen ist dabei mit Thiessen »das Aufbegehren gegendie Identifizierung von Frauen als einer Männern nachgeordneten Gruppe. Ziel ist sowohldie Veränderung der Lebenssituation und gesellschaftlichen Positionierung von Frauen alsauch der politischen, ökonomischen, sozialen und kulturellen Strukturen und Prozesse, diedie Subordination von Frauen hervorbringen.« (Ebd.)

134 Vgl. Thiessen 2010, S. 38; siehe auch den Beitrag von Garbe 1983, auf den im Weiteren nocheinzugehen ist (vgl. Kapitel 2.1.4).

Methodisch-theoretische Vorüberlegungen 57

giekritischen) Axiomatik gender-orientierter Ansätze bis in die Gegenwart,135

was in der literaturwissenschaftlichen Praxis in der Regel zu unterkomplexenDeutungen führt – unter anderem, da das Verhältnis zwischen literarisch ent-worfenen Textwelten und der realhistorischen sozialen Wirklichkeit auf derBasis dieser Axiomatik als unmittelbares Abbildungs- und Wirkungsverhältnismodelliert wird.136

Neben den intentionalistischen Implikationen des noch immer präsentenRepressionsparadigmas sind auch essentialistische Tendenzen feministischerAnsätze zu beobachten. Wie Jutta Osinski in ihrem Versuch einer systemati-schen Darstellung der Feministischen Literaturwissenschaft hervorhebt, sinddie Prämisse der Subordination (oder auch der Repression) und die Zielsetzungder Veränderung gesellschaftlicher Machtverhältnisse (bzw. der [weiblichen]Emanzipation) für sich genommen zu unbestimmt, als dass daraus bereits einespezifische theoretisch-methodische Modellierung abgeleitet werden könnte.137

Vielmehr wird diese Kernaxiomatik je nach Perspektivierung durch weitereAxiome ergänzt:

Wenn man die [feministischen] Modelle auf ihre Voraussetzungen hin betrachtet, stelltman fest, daß häufig Wesensaussagen über Mann und Frau gemacht werden, die keinesind. Es sind Prämissen und Postulate über die Geschlechter und ihr Verhältnis zu-einander, die jedem Denkmodell vorausliegen und auf Vorentscheidungen beruhen, diegeglaubt, aber nicht experimentell begründet werden können. Was die Geschlechterihrem Wesen nach sind und ob und worin sie sich ihrem Wesen nach unterscheiden,kann bis heute niemand sagen.138 Die vielfältigen Postulate dazu aber, die es im Verlauf

135 Diese Einschätzung deckt sich mit der Beobachtung von Annette Keck und ManuelaGünter : »Auch wenn eine Fortschrittsgeschichte feministischer Theoriebildung suggeriertwird und die sozialgeschichtlichen bzw. ideologiekritischen Verfahren in die Vergangenheitverschoben werden, offenbart die literaturwissenschaftliche Praxis eine Gleichzeitigkeitder verschiedenen Ansätze.« (Keck / Günter 2001, S. 205) Die ideologiekritische Axiomatikist also keineswegs gänzlich ›überholt‹.

136 Vgl. etwa die intentionalistische Deutungstendenz in Schößler 2008, S. 25.137 Vgl. Osinski 1998, S. 125.138 Entgegen Osinskis von mir geteilter kritischer Einschätzung der letztgültigen ›Erklärbar-

keit‹ von ›Geschlecht‹ – im Sinne des Auffindens eindeutiger Kausalzusammenhänge vonSexus und Kognition, Emotion und Verhalten von Personen – werden derzeit besonders ausder Richtung der Kognitionsforschung und Neuropsychologie vermeintliche Antworten aufdie Frage nach dem ›Wesen‹ der Geschlechter geliefert. Diese sind aus Sicht aktuellerForschung etwa aus dem Bereich der Sozialpsychologie und Soziologie sowie der histori-schen Familien- und Geschlechterforschung (siehe exemplarisch Gestrich / Krause / Mit-terauer 2003 sowie Opitz 2005) zumeist als extrem reduktionistisch zu bewerten. So führensie interessanterweise – dem innovativen Anspruch der Disziplinen zum Trotz – äußersttradierte, zuletzt um 1900 sehr erfolgreiche Positionen und Argumentationsstrukturen insFeld, die vor dem Hintergrund des damaligen Aufschwungs der Naturwissenschaftenähnlich monolithisch konzipiert waren. Im Feuilleton finden sich die (popularisierten)Ausläufer der entsprechenden ›naturwissenschaftlich fundierten‹ Studien, die zum Teilheitere Ontologisierungen betreiben.

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der Geschichte bis in die Gegenwart hinein gegeben hat und gibt, lassen sich reduzierenauf zwei, die sich grundsätzlich voneinander unterscheiden und die unvereinbar sind:das Gleichheitspostulat und das Differenzpostulat.139

Dass es sich bei diesen Aussagen innerhalb feministischer Ansätze – wie generellin jedem wissenschaftlichen Theoriemodell – um Setzungen und nicht umvorgefundene Gegebenheiten handelt, betont Osinski an dieser Stelle aus gutemGrund: Auch ideologiekritische Positionen können keine Unabhängigkeit vonHomogenisierungs- und Vergegenständlichungsmechanismen gewährleisten.So macht etwa Joan W. Scott deutlich, dass die einstmals angestrebte Leistungdes Konzepts ›Gender‹ – nämlich Ontologisierungen, wie sie etwa beim Modellder ›Geschlechtscharaktere‹ vorliegen, durch den inhärenten Verweis des Kon-zepts auf die gesellschaftliche Konstitutionsebene von Geschlecht zu vermeiden– bei genauer Betrachtung an ihre Grenzen stößt.140

Das Gleichheitspostulat (bzw. die ›Gleichheitshypothese‹) geht nun davonaus, »daß Mann und Frau bis auf die biologischen und sexuell psychophysischenUnterschiede gleichartig seien«141:

Dieser Auffassung nach gibt es im politischen oder sozialen Bereich keine Aufgabenund Rollen, die der Natur eher eines der beiden Geschlechter entsprechen; auch in-tellektuell, moralisch oder ästhetisch unterscheiden Männer und Frauen sich vomWesen her nicht. Emanzipation heißt in diesem Denkzusammenhang der Kampf umGleichberechtigung, um die gleiche Teilnahme der Frau am öffentlichen, intellektuellenoder eben literarischen Leben, wie der Mann sie hat.142

Dem gegenüber behauptet das Differenzpostulat (bzw. die ›Differenzhypothese‹)»über die biologischen Unterschiede hinaus eine historische und soziokulturellbedingte Verschiedenheit der Geschlechter im Denken und Fühlen«143. Ent-sprechend dieser Axiomatik ist auch der Emanzipationsbegriff definiert:

Emanzipation heißt hier über das politische Ziel der Gleichberechtigung hinaus, daß eseine weibliche Kultur zu befreien, zu entdecken oder erst zu entwickeln gelte, die

139 Osinski 1998, S. 125 f.140 Vgl. Scott 2001, S. 19 f. bzw. in deutscher Übersetzung S. 39 f. Scott diskutiert in ihrem

Beitrag sehr überzeugend die Gründe, weshalb die Unterscheidung von sex und gender zwareinen heuristischen Wert hat und eine wichtige Differenzierung darstellt, die bestimmteFragestellungen und Forschungsperspektiven erst ermöglicht hat (vgl. dazu auch denGrundlagentext »Gender: AUseful Category of Historical Analysis« von Scott 1986), warumdiese Unterscheidung jedoch im alltagssprachlichen wie wissenschaftlichen Diskurs beigenauerer Betrachtung nicht vollzogen wird und im Sinne einer faktisch gedachtenscharfen Differenz dysfunktional ist.

141 Osinski 1998, S. 126.142 Osinski 1998, S. 126.143 Osinski 1998, S. 126.

Methodisch-theoretische Vorüberlegungen 59

jahrhundertelang unterdrückt oder verhindert wurde und allenfalls indirekte Aus-drucksformen gefunden habe in der herrschenden patriarchalischen Kultur.144

Während die Gleichheitshypothese in Bezug auf das Grundverhältnis der Ge-schlechter zueinander bzw. die Relation ›Mann‹/›Frau‹ und ›Gesellschaft‹ diePrämisse der Gleichwertigkeit obligatorisch einschließt, ist diese bei der Diffe-renzhypothese je nach spezifischer Axiomatik fakultativ.

Eine Positionierung auf systematischer Ebene ist nicht Ziel der vorliegendenStudie.145 Sowohl die Gleichheits- wie auch die Differenzhypothese sind – sieheOsinskis wichtigen Hinweis – gewählte Prämissen im Rahmen feministischausgerichteter Forschungsansätze und stehen in direkter Relation mit einememanzipatorischen Telos, das je nach Art der Ausgangshypothesen unter-schiedlich konzeptualisiert ist. Die Perspektive der vorliegenden Untersuchungist grundsätzlich deskriptiv-analytisch: Gleichheits- und Differenzhypothesewerden als Konzepte aufgefasst, die in ihrer jeweiligen historischen Konkreti-sierung in bestimmten Funktionszusammenhängen stehen. Ihr Status ist ausdieser Sicht der von historischer Semantik, und für die Interpretation der na-turalistischen bzw. naturalismusnahen Dramen Elsa Bernsteins wird sich imweiteren Verlauf der Arbeit die Analyse ebendieser historischen Semantik alszentral erweisen. Für die Untersuchungsperspektive der vorliegenden Studie istein solchermaßen weit gefasstes Konzept von Genderforschung anschlussfähig,das davon ausgeht,

daß Geschlechterverhältnisse, ob sie im Rahmen von Gleichheits- oder Verschieden-heitsmodellen gedacht werden, vielfältig bedingte soziale Konstrukte sind, die sichhistorisch ändern.146

Diese Auffassung vom gesellschaftlichen Konstruktionscharakter von Ge-schlechterverhältnissen und dem komplexen Bedingungsgefüge, in dem diesestehen, lässt sich mit der hier zugrunde gelegten funktionalistischen Grund-axiomatik ohne Weiteres vereinbaren. Dass damit jedoch mit Blick auf die ge-

144 Osinski 1998, S. 126.145 Einen Versuch der Positionierung gegenüber dem Gleichheits- und Differenzmodell der

Geschlechter unternimmt etwa der von der Anglistin Ingeborg Weber herausgegebeneBand Weiblichkeit und weibliches Schreiben (1994), der sich anhand konkreter Textanalysenkritisch mit den poststrukturalistischen Differenztheoremen (vgl. das Konzept der !crituref!minine) auseinandersetzt. Weber beschließt den Band mit dem auf der Basis der Ein-zelanalysen überzeugenden Fazit, dass die (feministische) These von der Spezifik ›weibli-chen Schreibens‹ empirisch nicht haltbar scheint, und weist auf die wissenschaftlicheFragwürdigkeit einer implizit normativen Analysehaltung gegenüber literarischen Textenhin; vgl. Weber 1994, S. 199.

146 Osinski 1998, S. 122. Zu ›Geschlecht‹ als diskursiv-gesellschaftlicher Konstruktion siehegrundlegend etwa Butler 1990 und 1993.

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genwärtig prototypischere Ausrichtung der Genderforschung eine relativ dis-krepante Verwendung des Konzepts vorliegt, soll nicht verhehlt werden.

1.2.5 Zum Begriff des ›Diskurses‹

Bevor in den nachfolgenden Kapiteln Herausbildung und Wandel des komple-mentären Geschlechtermodells untersucht werden, ist noch eine weitere ter-minologische Explikation in Hinblick auf den Begriff des ›Diskurses‹ zu leisten.Dieser wird innerhalb der Literaturwissenschaft einerseits geradezu inflationärgebraucht und ist in dieser Form häufig relativ bedeutungsoffen, andererseitssteht er jedoch auch in einem spezifischen Theoriezusammenhang. In dervorliegenden Untersuchung wird der Diskursbegriff in einem weiter gefasstenSinne verwendet, wie er innerhalb sprachwissenschaftlicher Ansätze von Dis-kursanalyse und Kommunikationstheorie gebräuchlich ist147 – die theoriege-schichtlich durchaus mit der Diskursanalyse im Foucault’schen Sinne zusam-menhängen.

Neben der basalen sprachwissenschaftlichen Verwendung von ›Diskurs‹ alsOberbegriff für verschiedene Aspekte von Text vor allem im Sinne nichtschriftlich fixierter sprachlicher Äußerungen (›Diskurs‹ als »zusammenhän-gende Rede« und »geäußerter Text«148) rekurriert der Terminus auch in seinerengen Fassung innerhalb der Linguistik bereits auf die Aspekte der Prozess-haftigkeit und Performativität sowie der situativen und kommunikativen Rela-tionalität sprachlicher Äußerungen. Im Zuge der Auseinandersetzung mit derdurch Michel Foucault begründeten Diskursanalyse und der fortschreitendenAusdifferenzierung sprachwissenschaftlicher Forschungsbereiche, die sich mitder ›Gebrauchsseite‹ von Sprache befassen, hat der Diskursbegriff auch in derLinguistik eine deutliche Ausweitung erfahren. Der Import des weiten Dis-kursbegriffs in die Sprachwissenschaft verlief dabei über den Forschungsbereichder historischen Semantik.149

Unter ›Diskurs‹ wird in textlinguistischer Sicht im Zusammenhang mit demKonzept der Intertextualität »eine Menge von inhaltlich zusammengehörigen

147 Vgl. etwa die beiden Handbuchbeiträge von Tophinke 2001 sowie Wilhelm 2001.148 Bußmann 2002, S. 171.149 Bußmann 2002, S. 172 verweist auf den Beitrag von Busse / Teubert 1994, S. 10 – 28. Der

Forschungsansatz der Historischen Semantik, wie er in der Literaturwissenschaft in dervon Reinhart Koselleck bzw. in einer gewissen Abgrenzung zu dessen Konzeption vonNiklas Luhmann geprägten Form praktiziert wird, unterscheidet sich dabei von dersprachwissenschaftlichen Ausrichtung, die bei der Untersuchung sprachlichen Bedeu-tungswandels zwar nach den relevanten diskursiven und situativen Kontexten fragt, abereben nicht primär an diesen Kontexten und der konstitutiven Funktion von Semantik fürdie gesellschaftliche Wirklichkeit interessiert ist.

Methodisch-theoretische Vorüberlegungen 61

Texten oder Äußerungen« verstanden, »die nicht […] in einer realen Ge-sprächssituation verknüpft sind, sondern ein intertextuelles ›Gespräch‹ in einerKommunikationsgemeinschaft bilden«150:

Die Äußerungen des D[iskurses] konstituieren und differenzieren gemeinsam einglobales Thema und sind verknüpft durch thematische und begriffliche Beziehungen,durch gemeinsame Werthaltungen oder auch konkret durch Zitate und andere Formender Reformulierung. In den zentralen Konzepten und Argumentationsmustern derverschiedenen D[iskurse] spiegeln sich die aktuellen Interessen und das topischeWissen einer Gesellschaft […]. Den Einzeltext in seinen vielfältigen Sinnbezügen kannman wiederum als ›interdiskursive‹ Schnittstelle unterschiedlicher D[iskurse] auffas-sen.151

Diese Explikation steht in sichtbarer Nähe zum Diskursbegriff bei Foucault.Zwar verwendet er diesen nicht immer einheitlich, in der Archäologie des Wis-sens bezeichnet ›Diskurs‹ im engeren Sinne jedoch »eine Menge von Aussagen,die einem gleichen Formationssystem zugehören«152. ›Diskurse‹ setzen sich fürFoucault aus Komplexen von Aussagen zusammen, deren Verbindung oder›Formation‹ bestimmten Regeln gehorcht, die historisch variabel sind. Ein›Diskurs‹ ist damit eine Summe von Aussagen zu einem bestimmten Thema, derdas Wahrnehmen, Denken und Handeln von Individuen steuert und dazu bei-trägt, gesellschaftliche Realität zu konstituieren. Bis dahin scheint der in dervorliegenden Arbeit verwendete Diskursbegriff mit der (terminologischen)Konzeption der Diskursanalyse nach Foucault vereinbar zu sein. Ein weitereranschlussfähiger Aspekt ist die eindeutige Verabschiedung intentionalistischerErklärungsansätze, wie sie auch die oben bereits problematisierte Repressi-onshypothese darstellt : Da aus diskursanalytischer Sicht mit Blick auf gesell-schaftliche (Sprach-)Machtverhältnisse nicht von einer »Dichotomie von Un-terdrückten und Unterdrückenden«153 auszugehen ist, kann auch die »Vorstel-lung einer allgemeinen Theorie des Patriarchats«154 nicht als Deutungsgrundlagegesellschaftlicher Verhandlungen von ›Geschlecht‹ fungieren.

Trotz dieser Überschneidungen mit diskursanalytischen Prämissen liegt daswesentliche Moment der methodisch-theoretischen Abgrenzung der vorlie-genden Studie jedoch begründet in einer disparaten Auffassung von derStruktur und den Ursachen des Wandels von (literarischer) Kommunikationund deren Regeln. Philip Ajouri bringt die entsprechende Untersuchungsper-

150 Bußmann 2002, S. 171.151 Bußmann 2002, S. 171 f.152 Foucault 1973, S. 156.153 Jäger 2010, S. 390.154 Jäger 2010, S. 390. Mit Jäger ist »patriarchale Herrschaft [aus diskursanalytischer Per-

spektive, N.I.] immer im Geflecht verschiedener Machtdimensionen positioniert« (ebd.).

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spektive von Foucaults Diskursanalyse, wie sie in seiner oben genannten Schriftdeutlich wird, überzeugend auf den Punkt:

Aussagen aus verschiedenen Texten werden dort hinsichtlich gemeinsamer Formati-onsregeln untersucht, das sind Regeln, die diese Aussagen konstituieren und ihreVervielfältigung bestimmen. Dabei wird der Erklärung des Wandels dieser Formati-onsregeln (und damit der Diskurse und der Literatur) meist wenig Aufmerksamkeitgeschenkt. Es sollen gerade keine Veränderungen, sondern Brüche beschrieben wer-den.155

Die vorliegende Untersuchung, die von einem konstitutiven Zusammenhang derKonzepte ›Bildung‹, ›Perfektibilität‹ und der Relevanz des komplementärenGeschlechtermodells innerhalb des Naturalismus ausgeht, nimmt jedoch auf derBasis einer systemtheoretisch-wissenssoziologischen Axiomatik gerade denkontinuierlichen Wandel sowie die semantische Aktualisierung und Justierungvon Konzepten in den Blick. Diese Axiomatik schließt die Prämisse ein, dasssoziale Systeme kommunikationsbasiert sind – oder genauer gesagt: aus-schließlich aus Kommunikation bestehen –, und dementsprechend für die be-ständige Anschlussfähigkeit von Kommunikation Sorge tragen müssen, umweiterhin zu existieren.156 Aus dieser Perspektive spart der Foucault’sche Ansatzgenau die Stellen aus, an denen es aus (literar-)historischer Sicht gerade span-nend wird:

Foucault konstruiert seine Epistemen, indem er konsequent alle Warum-Fragen aus-schließt. Die so entstandenen klaren Grenzen der Begriffe sollten jedoch nicht mitDiskontinuitäten des Gegenstandes konfundiert werden. Sie sind vielmehr folgerich-tiges Produkt eines restriktiven Ansatzes der Begriffsbildung, der vom Historikerwieder aufgebrochen werden muß. Und die Distinktheit der Diskurse verliert gleich-falls an Dramatik, wenn man hinzudenkt, daß es allemal personale Träger, horribiledictu: Subjekte sind, die an verschiedenen Diskursen teilhaben, kognitive Dissonanzenzu vermeiden suchen und dies nicht nur mit Strategien der Abschottung, sondern auchmit solchen der Kompatibilisierung tun, also ständig für Durchlässigkeit der Dis-kursgrenzen sorgen.157

Ein funktionalistisch ausgerichteter Forschungsansatz, der nicht nur das Wie,sondern auch das Warum von Wandel untersucht, kann also nur mit einemDiskursbegriff operieren, der ›Diskurs‹ als Kommunikation versteht, die nichtan »epistemischen Grenzen« zum Erliegen kommt, sondern über entsprechendeAus- und Umdeutungen anschlussfähig gehalten wird. In der vorliegendenStudie wird der Diskursbegriff mit einer deutlichen Nähe, jedoch zugleich mitder oben begründeten Distanz zu dessen diskursanalytischer Definition als

155 Ajouri 2009, S. 36.156 Vgl. dazu Luhmann 1987 zu ›Autopoiesis‹ als soziologischem Begriff.157 Eibl / Willems 1989, S. 4.

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praktikabler Terminus kommunikationstheoretischer Prägung aufgefasst, mitdem auf die Einbettung von Literatur in komplexe kommunikationsbasierteStrukturen und deren Relevanz im Prozess der Konstitution gesellschaftlicherWirklichkeit rekurriert werden kann. Diese Begriffsverwendung schließt an diewissenssoziologische Definition des Terminus an, wie sie Hubert Knoblauchvornimmt:

Als Pendant zum Begriff des kommunikativen Haushaltes verstehe ich Diskurse alskommunikative Prozesse der Aufrechterhaltung und Veränderung gesellschaftlichrelevanter Themen und Formen.158

›Diskurse‹ bezeichnen damit dasjenige komplexe kommunikative Gefüge, in-nerhalb dessen sprachlich-kognitive Konzepte verhandelt und gesellschaftlichstabilisiert werden – und natürlich innerhalb dessen sie sich verändern, was alssemantischer Wandel wahrnehmbar wird.159 Unter ›Diskursivierung‹ wird indiesem Sinne der komplexe wechselseitige Prozess der Bedeutungszuweisungund kommunikativen Verbreitung von Bedeutung verstanden, also der Prozess,in dem sich ›gepflegte Semantik‹ etabliert, die Mechanismen der Selektion undVorstrukturierung von Wahrnehmung und (kommunikativem) Handeln be-reitstellt, durch die wiederum die Bedeutungskonstitution und konzeptuelleAktualisierung perpetuiert wird.

158 Knoblauch 2006, S. 209.159 Vgl. dazu den exemplarisch den Band Begriffsgeschichte und Diskursgeschichte. Method-

enfragen und Forschungsergebnisse der historischen Semantik (Busse / Hermanns / Teubert[Hg.] 1994), der einen grundlegenden Überblick zum fruchtbaren Forschungsansatz einerlinguistischen Diskursanalyse gibt. Neben dem einleitenden Artikel »Ist Diskurs einsprachwissenschaftliches Objekt? Zur Methodenfrage der historischen Semantik« (Busse /Teubert 1994) ist besonders auch der Beitrag »Linguistische Anthropologie. Skizze einesGegenstandsbereichs linguistischer Mentalitätsanalyse« (Hermanns 1994) aus literatur-wissenschaftlicher Sicht interessant.

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