Eine Untersuchung des Idealismus-Realismus-Problems bei E. Husserl und R. Ingarden

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Ludwig-Maximilians-Universität München Camilla Castellaz SoSe 2013 Fortgeschrittenenseminar: „Edmund Husserl: Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie. Allgemeine Einführung in die reine Phänomenologie“ Prof. C. Erhard Eine Untersuchung des Idealismus-Realismus-Problems bei E. Husserl und R. Ingarden in Bezug auf die „Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie“

Transcript of Eine Untersuchung des Idealismus-Realismus-Problems bei E. Husserl und R. Ingarden

Ludwig-Maximilians-Universität München Camilla Castellaz SoSe 2013

Fortgeschrittenenseminar: „Edmund Husserl: Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie. Allgemeine Einführung in die reine Phänomenologie“

Prof. C. Erhard

Eine Untersuchung des Idealismus-Realismus-Problems beiE. Husserl und R. Ingarden in Bezug auf die „Ideen zueiner reinen Phänomenologie und phänomenologischen

Philosophie“

1. Einleitung

Diese Hausarbeit will die grundlegenden Differenzen zwischen

Husserl und Ingarden hinsichtlich des Idealismus-Realismus-

Problems in der Phänomenologie darstellen. Lehrer und Schüler

teilten, auch aufgrund ihrer langjährigen Zusammenarbeit, viele

philosophische Ansichten, aber, trotz der häufigen1 Diskussionen,

fanden sie keine Einigkeit über die Frage, was in Husserls System

Idealismus ist; wegen der ständigen Entwicklung der Gedanken von

Husserl, die zu verschiedenen Positionen hinsichtlich dieses

Problems führte, ist sein Idealismus nicht so einfach zu

definieren. Ingarden legte sich auf den Realismus fest, hielt den

Idealismus für das Hauptproblem hinsichtlich der Phänomenologie

Husserls und schrieb deshalb sein ganzes Leben in

verschiedenartigen Texten darüber. Die Streitfrage bleibt in der

hier benutzten Schrift Ingardens ungelöst wegen des Umfangs des

nicht veröffentlichten Werks von Husserl, das Aufzeichnungen,

Merkblätter und Fragmente umfasst, die von einer permanenten

1"Über den Idealismus habe ich mit Husserl viele Jahre lang, eigentlich seit 1918, eine Diskussion geführt, sei es brieflich oder mündlich während meiner, nach 1918 nur flüchtigen, Aufenthalten in Freiburg." R. Ingarden, „Schriften zur Phänomenologie Edmund Husserls“, in Gesammelte Werke, Band 5, Max Niemeyer Verlag, Tübingen 1998, S. 199.

Entwicklung des Gedankens zeugen und aus diesem Grund die Arbeit

schwer macht für denjenigen, der diese Entwicklung herausarbeiten

will, um die Folgerichtigkeit dieses Gedankens zu finden. Gerade

darüber können wir die Wörter Ingardens lesen, die er am Schluss

eines kleinen Aufsatzes schrieb:

"Mit der Darstellung gewisser Veränderung, die inHusserl Ansichten, sofern man dies den von ihm selbstveröffentlichten Schriften entnehmen kann, vor sichgegangen sind, habe ich natürlich das Thema nichterschöpft. [...] Es würde sich auch empfehlen, diesenVeränderungen diejenigen Sätze Husserlsentgegenzustellen, an denen er sein ganzes Leben langfestgehalten hat. Um dies zu machen, müsste ich jedochnicht einen Aufsatz, sondern ein umfangreiches Buchschreiben, wobei ich eine längere Zeit in Husserl-Archivverbringen müsste, um mir auf Grund der bisher nichtveröffentlichten Manuskripte eine Klarheit zuverschaffen über eine Reihe von Fragen, die noch offenstehen. Dies ist mir leider auch heute noch unmöglich.Deswegen habe ich mich entschlossen, diese Skizze –ergänzt durch gewisse Einzelheiten – dennoch wiederholterscheinen zu lassen"2

Hinsichtlich der These des Idealismus, auch wenn der Husserlsche

Gedanke immer in Evolution ist, scheint es, wie schon gesagt, dass

der Philosoph im wichtigsten Kern immer darüber treu bis zum Ende

bleibt, auch wenn es nicht klar ist, wie diese These verträglich

mit den letzten theoretischen Folgen sein kann3. Aber tauchen wir

2 Ivi, S. 2083"Dadurch, dass er die Existenz vieler Monaden und deren wechselseitige Verständigung in der Einfühlung annimmt, ist Husserl schließlich in der Lage, die jedem Idealisten frohenden Gefahren des Solipsismus zu vermeiden. Dieser Solipsismus würde indes erst dann wirklich überwunden, wenn es Husserl gelänge, zu erklären, mit welchem Recht er – trotz der transzendenz der Alter Ego und trotz ihrer Konstituierung in reinen Erlebnissen eines Ego – das absolute sein dieser Alter Ego annimmt. Man kann jedoch nicht sagen, dass Husserl diese Aufgabe Wirklich bewältigt hat, zumal seine Analyse der "Einfühlung" äußerst unbefriedigend scheint. Um dies zu zeigen, müsste man aber in eine Kritik von Husserls Ansichten eintreten, was über den Rahmen dieser Arbeit bereits Hinausgeht." Ivi, S. 207.

in das Problem ein.

2. Husserl und der Idealismus

2.1 Epochè

Auf dem Wege der Rekonstruktion des Idealismus von Husserl werde

ich in Anlehnung an das Werk ""Ideen zu einer reinen Phänomenologie und

phänomenologischen Philosophie. Erstes Buch: Allgemeine Einführung in die reine

Phänomenologie"4 schreiben. Ingarden nach offenbart sich gerade in

diesem Werk für das erste Mal der Idealismus Husserls; allerdings

nicht deshalb, weil er vorher eine total verschiedene Position

vertreten hätte, sondern weil er früher dieses Problem einfach

nicht berücksichtigt hatte, noch konzentriert nur auf andere

Fragen seiner aufgehenden Theorie5. In Bezug darauf scheint es,

dass seine Position in den „Ideen“ klar und explizit wird, aber

sie ist hier Ingarden gemäß noch nur „halb idealistisch“6, d.h.

dass Husserl in den „Ideen“ eine Abhängigkeit des Seins der

physischen Gegenstände vom Bewusstsein setzt, aber nicht des Seins

der idealistischen, wie er es später machen wird.

Der hier interessierende Teil über den Idealismus findet sich

schon am Anfang des zweiten Abschnitts. Nach dem ersten, der

technischen Aspekten gewidmet ist, die als Fundament für die ganze

Theorie fungieren werden, führt Husserl einen der wichtigsten und

4 E. Husserl, "Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie. Erstes Buch: Allgemeine Einführung in die reine Phänomenologie", Max Niemeyer Verlag Tübingen 2002.Von jetzt ab in dem Text nur die "Ideen".5 "Die Logische Untersuchungen sind so geschrieben, dass die entscheidenden Stellen in Husserls Ausführungen bezüglich dieser Frage noch beide Lösungen des ProblemsIdealismus-Realismus zulassen. Man hat den Eindruck, dass eine wissenschaftlicheEntscheidung noch nicht gefallen ist, weil auch das Problem selbst noch nicht bewusst gestellt worden ist" R. Ingarden, „Schriften zur Phänomenologie“, cit., S. 182.6 Ivi, S. 183.

neuesten Grundgedanken der Phänomenologie ein: die Ausschaltung der

natürlichen Einstellung. Die natürliche Einstellung, wie schon der Name

gut erklärt, ist die Spontaneität, die Unmündigkeit, das

Vorbewusstsein, womit man einfach in der Welt lebt, womit man alle

die typischen Taten der menschlichen und tierischen Lebensweise

macht; Menschen und Tiere, die, mit der Welt in Verbindung, sie

wahrnehmen, sie erfahren, sie beurteilen, sie benutzen, von ihr

verschiedenartige Gebräuche machen, von ihr naive Erfahrung haben,

sie als die selbstverständlich vorhandene und leibhaftige Welt

setzen. „Dabei ist diese Welt für mich nicht da als eine bloße

Sachenwelt, sondern in derselben Unmittelbarkeit als Wertewelt,

Güterwelt, praktische Welt.“7

Dieses Erfahren, Wahrnehmen, Urteilen usw., sind mit einem

einzigen Wort, das alle diese Mannigfaltigkeit einschließt, das

cogito. „Im natürlichen Dahinleben lebe ich immerfort in dieser

Grundform alles „aktuellen“ Lebens, mag ich das cogito dabei

aussagen oder nicht, mag ich „reflektiv“ auf das Ich und das

cogitare gerichtet sein oder nicht.“8 Genau diese Spontaneität,

diese Unmündigkeit, genau diese natürliche Einstellung sind etwas,

das ausgeschaltet werden muss, sie sind das Objekt der sogenannten

Einklammerung. Die vorhandene Welt, der Horizont unseres Lebens,

unserer Erfahrung, wird zurückgestellt, aber in dem Sinne, dass

sie genau da bleibt, wo sie war, ohne über ihre Existenz zu

zweifeln, und trotzdem „machen wir von ihr aber keinen Gebrauch“9.

Husserl hielt es in diesem Punkt für wichtig, zu unterstreichen,

dass seine Position nichts mit dem Skeptizismus zu tun hat –

diesen kritisiert er sogar scharf (§ 20) – und dass es in seiner

7 E. Husserl, „Ideen“, cit., S. 50.8 Ivi, Ss. 50, 51.9 Ivi, S. 54.

Ansicht überhaupt keine Interesse gibt, die Welt zu negieren oder

über ihre Existenz zu zweifeln10. Diese Operation, diese

Einklammerung der ontischen Aspekte der gesamten natürlichen Welt

hat ein genaues Ziel, das die Verbindung zu unserem Hauptthema

ist: dieses Ziel ist die Eroberung eines neuen szientifischen

Gebiets.

2.2 Reines Bewusstsein

"Zwischen Bewusstsein und Realität gähnt ein wahrerAbgrund des Sinnes. Hier ein sich abschattendes, nieabsolut zu gebendes, bloß zufälliges und relatives Sein;dort ein notwendiges und absolutes sein, prinzipiellnicht durch Abschattung und Erscheinung zu geben"11

„Was kann denn übrig bleiben, wenn die ganze Welt, eingerechnet

uns selbst mit allem cogitare, ausgeschaltet ist?“12 Was kann noch

als „Sein“ gesetzt werden, wenn das Ganze der Realität

eingeklammert wird? Sicher gibt es noch Elemente, die nicht unter

diese Einklammerung fallen: die eidetischen Sphären wie z. B. die

„Zahlenreihe und der auf sie bezüglichen Arithmetik“13. Aber diese

sind kein neues Feld. Das, was wir erreichen wollen, ist ein neues

wissenschaftliches Feld, bis dahin nie genug studiert und in

seiner Reinheit und in seinen eidetischen Eigenschaften nie genug

in Erwägung gezogen. „Die Gewinnung einer neuen, in ihren

Eigenheit bisher nicht abgegrenzten Seinsregion“14 kann man mit

einer Reflexion darüber erzielen, was nach dieser Einklammerung in10 "Tue ich so, wie es meine volle Freiheit ist, dann negiere ich diese "Welt" also nicht, als wäre ich Sophist, ich bezweifle ihr Dasein nicht, als wäre ich Skeptiker." Ivi, S. 56.11 Ivi, S. 93.12 Ivi, S. 57.13 Ivi, S. 58.14 Ibidem.

einem Individuum bleibt (diesbezüglich kommt das für Husserl

wichtige Thema der Phänomenologie als Methode zum Vorschein, die

von jemandem, der daran interessiert ist, selbst ausgeführt

werden sollte und nicht nur studiert wie eine schon auf dem Papier

fertige Theorie): Dasjenige, was nach der Einklammerung der Welt

bleibt, weil es wesentlich andersartig ist, das, was wir auch

nachdem alles „verschwunden“ ist, in Rechnung tragen können, ist

das Bewusstsein, die Region des Gedankens, der Cogitationes, der

Erlebnisse, das Gebiet von immanenten und transzendenten

Wahrnehmungen. Das Bewusstsein wird von der Einklammerung der Welt

nicht essentiell berührt, sicher teilweise verändert wegen seiner

engen Beziehung mit der Welt; aber es unterliegt keiner

wesentlichen15 Veränderung, es ist von diesem freiwilligen Verzicht

auf die Welt nicht betroffen, denn es gehört nicht zu der Welt. Es ist

kein der Welt zugehöriger Gegenstand, kein Stück der Welt. Es

gehört nicht gleichermaßen wie dieser Tisch, dieses Fenster, diese

Hand, die schreibt, zur Realität. Es ist ein neues Gebiet, gerade

deshalb, weil es anders ist als alle die naiv zum Greifen nahen

Gegenständlichkeiten. Es ist eine spezifische Region, wo alle

diese Gegenständlichkeiten von uns kennengelernt werden können, wo

sie absichtlich unter unsere Aufmerksamkeit fallen, oder

unabsichtlich, wie wenn wir z. B., um ein Ding zu nehmen, das

Ganze, das dieses Ding umgibt, zu berücksichtigen gezwungen sind.

Es ist die Region, die der Welt erlaubt, kennengelernt zu werden

und uns erlaubt, an der Welt teilzunehmen. Es ist der Bereich, der

als das Residuum der Einklammerung der Welt nicht von letzterer

15 „dass die eventuelle Nichtexistenz der Welt das reine Bewusstsein doch « modifiziert » würde. Nicht in jeder Hinsicht also ist das Bewusstsein „unabhängig“ von der realen Welt.“ R. Ingarden, „Schriften zur Phänomenologie“, cit., S. 220. In Bezug darauf finde ich entweder eine Ungenauigkeit oder ein Missverständnis von Ingarden.

abhängig sein kann, sondern einen autonomen Status hat. Und es hat

nicht nur einen autonomen Status, es bleibt nicht nur nach der

Ausschaltung, es ist nicht nur die „Verbindung“ mit der Welt,

sondern als Region, die der Welt zum Sein zu kommen erlaubt, ist

es ihre „Bedingung der Möglichkeit“. Deswegen wird sie

transzendental genannt.

Als die Gegenstände weiter oben als „immanent“ und „transzendent“

bezeichnet worden sind, wurde nicht erklärt, was das bedeutet –

kommen wir nun zu dieser fundamentalen Unterscheidung: Mit

transzendent meint man die Wahrnehmungen, in denen die wahrgenommene

Sache eben, hinsichtlich der Wahrnehmung selber, transzendent ist,

d.h. die Wahrnehmung zielt auf etwas ab, das jenseits von ihr ist,

ihr fremd, ihr äußerlich, aus einem von der Wahrnehmung selbst

verschiedenen Stoff gemacht. Umgekehrt spricht man von Immanenz,

wenn Wahrnehmung und Wahrgenommenes homogen sind, zum gleichen

Gebiet gehören (zum gleichen Erlebnisstrom), wenn sie auf nichts ihr

Fremdes abzielt. Diese Unterscheidung ist fundamental, um zu

verstehen, wieso das Bewusstsein solch ein spezielles Gebiet ist,

wie schon der Titel von § 44 zeigt: „Bloß phänomenales Sein des

Transzendenten, absolutes Sein des Immanenten“. Bei transzendenten

Wahrnehmungen bleibt das Wahrgenommene immer in der Unschärfe, es

wird durch die sogenannten Abschattungen wahrgenommen. Wobei man

unter Abschattungen verschiedene Wahrnehmungen hinsichtlich Farbe,

Gestalt, Licht des selben Gegenstands versteht, der als die

Einheit der stets verschiedenenen Wahrnehmungen identifiziert

wird, weil diese, in ihren Unterschieden, immer auf das selbe

Element bezogen sind, das genau das Objekt der Wahrnehmung ist,

das Resultat einer Reihe der verschiedenen und nachfolgenden

Abschattungen. Der Gegenstand ist seinem Wesen nach nie in einer

definitiven Wahrnehmung gegeben; „in dieser Weise in infinitum

unvollkommen zu sein, gehört zum unaufhebbaren Wesen der

Korrelation Ding und Dingwahrnehmung“16; „prinzipiell bleibt immer

ein Horizont bestimmbarer Unbestimmtheit, wir mögen in der

Erfahrung noch so weit fortschreiten“17. Von der äußeren ist die

immanente Wahrnehmung zu unterscheiden, die eine sichere und

zweifellose ist. Was uns als immanent gegeben ist, ist uns so

gegeben, wie es sich in seinen Grenzen gibt, innerhalb derer gibt

es aber keinen Zweifel, keine Abschattung, keine Unbestimmtheit.

Wie Descartes kann ich an allem zweifeln, aber nicht an meinem

Zweifeln. „Die Erlebniswahrnehmung ist schlichtes Erschauen von

etwas, das in der Wahrnehmung als „Absolutes“ gegeben (bzw. zu

geben) ist“18. Auch wenn Husserl nichts weniger als einen

Skeptizismus vertreten will, muss man trotzdem hinsichtlich der

transzendenten wahrgenommenen Dinge zugestehen, dass sie zweifelbar

sind, dass ich nie wirklich erproben kann, dass sie tatsächlich

existieren und dass sie genau so existieren, wie ich sie

wahrnehme. Über mein Wahrnehmen, über mein Erlebnis, über mein

Bewusstseinsleben, darüber gibt es keinen Zweifel; sie sind, und

sie sind so, wie sie sich mir geben. Wenn wir diesbezüglich eine

Unbestimmtheit bekennen, ist sie erklärbar wegen der

Untrennbarkeit der Erlebnisse, nämlich des sogenannten

Erlebnisstromes, ohne Anfang, ohne Ende, unaufhörlich, untrennbar.

Deswegen ist ein bestimmtes, von den anderen getrenntes Erlebnis

nicht genau identifizierbar, vielmehr nur mit ihnen in

Zusammenhang. Dies einmal klargestellt, ist meine Wahrnehmung

absolut, notwendig, zweifellos.

Im Gebiet des Bewusstseins sind die Sachen nur, sofern sie für das

16 E. Husserl, Ideen, cit., S. 80.17 Ivi, S. 81.18 Ibidem.

Bewusstsein sind. Wie sie außerhalb des Bewusstseins sind und ob

sie außerhalb des Bewusstseins überhaupt sind, können wir nicht

wissen, außer ihm können wir sie nicht erfahren. Ich kann

unabhängig von ihm die Sachen nicht denken, weil ich sie nur durch

es erfahren, denken, wahrnehmen kann. Die Welt hängt von ihm ab,

weil es die Bedingung der Möglichkeit ihres Seins ist; alles das,

was ist, ist für das Bewusstsein, ist sein intentionales Korrelat,

besteht in ihm. „Niemals ist ein an sich seiender Gegenstand ein

solcher, den Bewusstsein und Bewusstseins-Ich nichts anginge.“19

Umgekehrt ist das Sein des Bewusstseins unabhängig, weil „das Sein

des Bewusstseins, jedes Erlebnisstroms überhaupt, durch eine

Vernichtung der Dingwelt zwar notwendig modifiziert, aber in

seiner eigenen Existenz nicht berührt würde.“20 Das Bewusstsein ist

ein absolutes, geschlossenes Sein und die räumlich-zeitliche Welt

ein für-das-Bewusstsein-Sein, intentional, relativ, kontingent,

zufällig, „es ist ein Sein, das das Bewusstsein in seinen

Erfahrungen setzt [...] darüber hinaus aber ein Nichts.“21

3. Kritische Bemerkungen Ingardens zu den Motiven, die

Husserl zum transzendentalen Idealismus geführt haben

Diese Arbeit beschränkt sich darauf, Ingardens Untersuchungen

hinsichtlich des Idealismus-Realismus-Problems in Bezug auf

Husserl darzustellen, die in einem Sammelband mit dem Titel

„Schriften zur Phänomenologie Edmund Husserls“ (Fußnote 1) enthalten sind.

Hier wird nicht das Hauptwerk Ingardens ins Auge gefasst, wo er,

nach dem pars destruens, der Kritik des Idealismus, zum pars construens,

19 Ivi, S. 89.20 Ivi, S. 91.21 Ivi, S. 93.

der Gründung einer realistischen Phänomenologie, übergeht: Der Streit

um die Existenz der Welt22. In vorliegender Arbeit wird dessen

realistische Theorie als solche nicht behandelt, sondern nur

insofern sie Kritik des Idealismus ist.

3.1 Ingarden: die Ontologie, die Metaphysik, die

Erkenntnistheorie

Bevor auf die spezifischen Probleme eingegangen wird, die Ingarden

in den Untersuchungen Husserls findet, kann uns schon ein Blick

auf die allgemeine Aufgabenstellung Ingardens aufklären über die

fundamentalen Unterschiede zwischen den zwei Philosophen und über

den Grund ihrer Unstimmigkeit.

Um eine Antwort auf das Idealismus-Realismus-Problem zu geben,

fängt Ingarden seine Überlegungen an mit ontologischen

Ausführungen, gefolgt von metaphysischen; in diesem Zusammenhang

erläutert Ingarden sein spezifisches Verständnis von Ontologie und

Metaphysik. Unter Ontologie verstehet Ingarden die reine

Untersuchung der mögliche Seinsmodi, anhand derer vier

fundamentale Gegensätze gewonnen werden, die als der theoretische

Boden der weiteren Untersuchung in diesem Feld dienen: 1. Seins-

Autonomie – Seins-Heteronomie ; 2. Seins-Ursprünglichkeit –

Seins-Abgeleitetheit ; 3. Seins-Selbständigkeit – Seins-

Unselbständigkeit; 4. Seins-Unabhängigkeit - Seins-Abhängigkeit23,22 „Denn man müsste nicht nur einen ausreichenden Grund haben, Husserls Lösung zurückzuweisen; man benötigte darüber hinaus eine andere hinlänglich geklärte Theorie von der Seinsweise der realen Welt und deren Seinsverhältins zum Bewusstsein, in dem sie erkannt wird, und man müsste über die für die Begründungdieser Theorie angemessen Argumente verfügen. Darum sollen wir uns aber schon ineiner rein systematischen Betrachtung bemühen. Die ersten Schritte in diese Richtung habe ich im Streit um die Existenz der Welt zu machen versucht.“, R. Ingarden, ,„Schriften zur Phänomenologie“, cit., S. 351.23 Kurz erklärt: eine Gegenständlichkeit ist: Seins-autonom wenn sie in sich

und dazu ein weiterer, hinsichtlich nicht des Seins, sondern des

Soseins, nämlich: 5. Soseins-Unbedingheit – Soseins-Bedingheit.

Eine Gegenständlichkeit, die sowohl Seins-autonom, als auch -

ursprünglich, als auch –selbständig, als auch –unabhängig ist, ist

ein absolutes Sein. Wenn auch nur eines von diesem fehlen würde,

wäre es ein relatives Sein. Ausschließlich eine tiefe Erforschung,

die die Idee der Welt und des Bewusstseins und seine

entsprechenden Beziehungen in Bezug auf diese Gegensätze abwägt,

kann ein Schritt zur Lösung des Idealismus-Realismus-Problems

sein.

Wenn wir wieder die Betrachtungen Husserls über die

Abhängigkeitsbeziehungen der verschiedenen Seinsregionen

berücksichtigen, sollte auf der Grundlage der Ergebnisse jener

Untersuchungen Ingardens (existenzial-ontologische genannt) sowohl

die Beziehung, die Husserl zwischen der Welt und dem Bewusstsein

setzt, neu bewertet werden, als auch der Sinn, den absolutes und

relatives Sein bei Husserl annehmen; weiter sollten beide

ebenfalls auf der Grundlage der formal-ontologischen Untersuchung

(hinsichtlich des formalen Aufbaus) und der material-ontologischen

Untersuchung (hinsichtlich des materialen Wesens) neu bewertet

selbst ihr Seinsfundament hat, wenn sie überhaupt in sich selbst etwas ist; Seins-heteronom wenn sie ihr Seinsfundament nicht in sich selbst, sondern in einer anderen Gegenständlichkeit hat, wenn sie in sich selbst eigentlich nichts ist; Seins-ursprünglich wenn sie durch keine andere Gegenständlichkeit “geschaffen” oder “vernichtet” werden kann; Seins-abgeleitet wenn es werden kann; Seins-selbständig wenn sie zu ihrem Sein das Sein keiner anderen Gegenständlichkeit fordert, welche mithin die Einheit eines Ganzen ausmachen, wenn ihr Sein kein notwendiges Zusammensein mit einer anderen Gegenständlichkeitin der Einheit eines Ganzen ist; Seins-unselbständig wenn sie zu ihrem Sein das Zusammensein in der Einheit eines Ganzen mit einer anderen Gegenständlichkeit fordert; Seins-unabhängig wenn sie nicht nur Seins-selbständig ist, sondern außerdem zu ihrer Existenz – ihrem materialen Wesen nach- der Existenz keiner anderen seins- selbständige Gegenständlichkeit bedarf; Seins-abhängig wenn sie Seins-selbständig ist, welche trotz ihrer seins-selbständlichkeit die Existenz einer anderen selbständigen Gegenständlichkeit wesensmäßig fordert. Ivi, S. 27-30.

werden.

Auf der Basis dieser ersten und fundamentalen Stufe kommt

notwendig einen zweite: die metaphysische. Metaphysik ist die

Anwendung der Ergebnisse dieser ontologischen Untersuchungen auf

die verschiedenen Seinsregionen, die wir in unserer Erfahrung

finden, um ihren Status und die entsprechenden Beziehungen zu

determinieren. Wenn wir auch die Eigenschaften “der uns in der

Erfahrung faktisch gegeben, vermeintlich realen Welt und des

individuellen, faktisch daseienden reinen Bewusstseins24” bestimmt

haben, ist noch nichts hinsichtlich ihrer tatsächlichen Existenz

gesagt.

Dieses letzte Problem wird erst in den erkenntnistheoretischen

Untersuchungen berücksichtigt, besonders “die Frage, ob die

Bezweifelbarkeit sich ausschließlich auf das faktische Sosein oder

auch auf das Dasein der realen Welt bezieht.”25 Auf diesem Gebiet

treffen sich Husserl und Ingarden, um sich dann noch schärfer zu

trennen: Denn von beiden wird zwar die phänomenologische Reduktion

angewandt, aber mit einem entscheidenden Unterschied, der Grund

der Unstimmigkeit sein wird. Ingarden gemäß gilt die Reduktion nur

innerhalb der Erkenntnistheorie und muss dann aufgehoben werden,

um den Übergang zu ermöglichen von dem Gegenstandssinn, einem

Erzeugnis des Bewusstseins, zum Gegenstand selbst, dem Objekt

unserer Erfahrung; sonst unterliegt man dem impliziten Risiko

dieser Operation: “dass man … im Vollzug der Methode der

phänomenologischen Reduktion darauf verzichtet, über jedes Seiende,

das kein Bewusstseinselement ist, irgendein kategorisches Urteil zu

fällen”26.24 Ivi, S. 42.25 Ivi, S. 45.

26 Ivi, Ss. 47, 48.

Husserl zufolge steht noch viel mehr auf dem Spiel, das nicht nur

hinsichtlich der Erkenntnistheorie wichtig ist: die Reduktion kann

nicht einfach benutzt und dann aufgehoben werden, denn nur durch sie

ist Philosophie als Wissenschaft möglich und man gewinnt durch sie ein

Gebiet, das die fundamentale Rolle in all den folgenden

Betrachtungen spielt: das reine Bewusstsein. Darum wäre die

Operation Ingardens, von der Erkenntnistheorie zur Metaphysik

durch die Aufhebung der Reduktion überzugehen, nämlich zum

Gegenstand selbst zu kommen, in Husserls Augen nicht legitim, wenn

unser Ziel noch die Philosophie als Wissenschaft ist, weil nichts

wissenschaftlich (im Sinne von „zweifellos“, „nicht relativ“)

gesagt werden kann, wenn man über die äußere Welt in sich sprechen

will und weil nichts unabhängig vom Bewusstsein gesagt werden

kann, da man nur durch es die Welt erfährt.

Nur wenn die erkenntnistheoretischen Betrachtungen unser Erkennen

als ein objektives bestätigen, können sie einen Einfluss auf

metaphysische Untersuchungen haben. Wenn sie aber die Nicht-

Objektivität unserer Erkenntnisweise behaupten, können sie “in

keinem Sinne die metaphysischen und die ontologischen Lösungen der

früher angedeuteten Probleme beeinflussen”27, “kein Argument für

die Nichtexistenz der letzteren oder für ihre “Idealität” im Sinne

einer Bewusstseinsimmanenz oder ihres “bloß intentional Seins”

geschöpft werden”28. Unmöglich hier nicht zu sehen, dass diese

Behauptungen Ingardens auch auf die Operationen bezogen sind, die

der Gründer der Phänomenologie in den „Ideen“ macht, wo die

Bezweifelbarkeit der äußeren Wahrnehmungen genau eines von den

Elementen zu sein scheint, das Husserl zu seiner metaphysischen

Entscheidung führt. Eine Folge, die Ingarden nach nicht hinnehmbar

27 Ivi, S. 45.28 Ibidem.

ist, wie wir in Kürze sehen werden.

3.2 Die Rolle der Reduktion, die Rolle der

Phänomenologie, die Rolle der Philosophie selbst

"Denn es entsteht hier die prinzipielle Schwierigkeit,wie es möglich ist, in der Untersuchung über ein Artvon Gegenstände von keinem begründeten Wissen überdiese Gegenstände Gebrauch zu machen und zugleich denErkenntniskontakt mit der Wirklichkeit nicht zuverlieren, auf welche die betreffende Erkenntnis sichbezieht "29

Eine der Ursachen, die Husserl zu seiner idealistischen

Entscheidung geführt hat, ist Ingarden zufolge der Wille,

Philosophie als Wissenschaft zu gründen. Mithin die Möglichkeit

ausschließlich zu sagen, was nicht relativ ist, nicht zufällig,

sondern zweifellos, „wissenschaftlich“ und notwendig. Um dies zu

erreichen, wendete er sich, auf der Grundlage seiner

erkenntnistheoretischen Untersuchungen und mithin schon bewusst

über die Bezweifelbarkeit der äußeren Wahrnehmungen, den inneren,

immanenten zu („er war ja ein Schüler Brentanos, der u.a. den

Begriff des „inneren Bewusstseins“ eingeführt hat“30). Laut

Ingarden war es von da aus nur ein Schritt zur Überzeugung, dass

die Forschung, um wissenschaftlich zu sein, nicht mehr außerhalb

des Bewusstsein sein könnte, und dann ein letzter zum Übergang vom

Bewusstsein als Quelle des Erkenntnis der Welt zum Bewusstsein als

Bedingung der Möglichkeit des Seins der Welt „bei einer

natürlichen Problemverschiebung, die übrigens in der Geschichte

29 Ivi, S. 93.

30 Ivi, S. 284

mehrfach passiert ist 31“.

Wenn die Philosophie sich an den inneren Wahrnehmungen begrenzt,

weil die äußeren unlösbare Probleme mit sich bringen, wie darf die

Phänomenologie dann etwas über die physische Dinge sagen? In dem

Versuch, eine neue Philosophie zu gründen, eine wissenschaftliche,

die sich nicht auf die Tradition stützt, die nichts annimmt, was

unbegründet ist, sieht Ingarden eine der Ursachen, die Husserl

dazu führte, um vor dieser Gefahr sich zu schützen, zu der

gegenteiligen zu geraten: der unbegründeten Subjektivität. Um

nichts zu sagen, was jenseits unserer Möglichkeiten als

erkennender Subjekte den Anspruch habe, objektiv zu sein, sich

dagegen aber als unbegründet erweist, wird nur gesagt, was

subjektiv ist und somit nicht als unbegründet verworfen werden

kann. Das Problem liegt für Ingarden nun genau darin, dass dieses

Subjektive einen objektiven Wert annimmt. Und über Unbegründetheit

kann man schon sprechen, aber nicht im Sinne Husserls, sondern in

gegensätzlichem, den Ingarden klar sieht: Wenn diese Ergebnisse,

nämlich die Erforschung der inneren Wahrnehmungen und der Struktur

des Bewusstseins, nur benutzt würden, um die Formation des

Gegenstandssinnes, die Phänomene als Erscheinung der Objekte

selbst, die Rolle der konstitutiven Akte, kurz gesagt, um den

Prozess des Erkennens zu erforschen, wären diese Untersuchungen

nicht nur annehmbar, sondern fundamental. Wenn man aber von dem

Gegenstandssinn nicht mehr zu dem Gegenstand selbst, dem

Gegenstand in sich, dem Gegenstand unserer Erfahrung zurückgeht,

wenn man bei diesem intentionalen Korrelat bleibt, aber sagt, dass

der Gegenstand selbst nur dieses Korrelat sei, so liegt darin Ingarden

zufolge eine Unbegründheit, nämlich die Unbegründetheit, die

Gegenstände selbst zu betrachten „ausschließlich als Korrelate dieser31 Ivi, S. 285.

Akte, Korrelate die leidlich in diesen Akten ihre Seinsquelle und

ihr Seins- wie auch Soseinsfundament haben „32.

Dieses Problem ist mit dem der Rolle der Reduktion verbunden, und

mithin auch mit dem der Rolle der Phänomenologie selbst: die Rolle

der Reduktion, oder besser der Reduktionen (die Reduktion ist nach

Ingarden von verschiedener Art, je nachdem, ob man beispielsweise

über „Dinge“ oder über „psychische Subjekte“ spricht) ist wichtig

für die Erkenntnistheorie, ist „sogar unentbehrlich“33 als

Maßnahme, um die Struktur des Bewusstseins zu erforschen, die

Konstitution des Sinns, die Rolle der konstitutiven Akte (die

kreativen und die nur rezeptiven), unsere Erkennensweise.

Außer dieser fundamentalen Rolle sollte die Reduktion keine andere

haben, um alle metaphysischen Lösungen gleich möglich zu lassen,

um die Phänomenologie nicht nur wie eine Erkenntnistheorie oder

wie eine Ontologie des reinen Bewusstseins zu verstehen, sondern

wie eine Ontologie, die etwas hinsichtlich „verschiedener anderer

Gegenstandsgebiete“34 zu sagen hat.

Bei Husserl geht man, nach dieser Reduktion, aus ihr und dem

reinen Bewusstsein nicht mehr hinaus. Statt dieses wichtige

erkenntnistheoretische Instrument zu benutzen, um dann auf der

Grundlage des Erkenntniswerts zu metaphysischen Untersuchungen

über die reale Gegenstände überzugehen, bleibt man innerhalb

dieser Reduktion, die die Objekte der Erfahrung ausschließt, mit

dem Anspruch aber, trotzdem etwas über diese aussagen zu können.

Und diese Aussagen über die Objekte, ohne die Objekte zu

erforschen, scheint dann eine Vor-entscheidung. Um eine

Unbegründetheit zu vermeiden, wird eine andere eingeführt, die

32 Ivi, S. 313.33 Ivi, S. 317.34 Ivi, S. 315.

eine Ambiguität in den “Ideen” offenlegt: die Umwandlung der

Ergebnisse der erkenntnistheoretischen und ontologischen

Untersuchungen in Ergebnisse der metaphysischen Untersuchungen,

ohne eine adäquate Begründung, die sie legitim macht und die die

Urteile über die Gegenstände als Vor-urteile erscheinen lässt.

3.3 Gegenstandssinn, Gegenstand selbst

"Es ist also nicht nur zulässig, sondern auchnotwendig, eine Unterscheidung zwischen demkonstituierten Gegenstandssinn und dem Gegenstand zumachen, der durch diesen Sinn mehr oder weniger getreuerscheint"35

Dass die Dinge, die sich in den äußeren Wahrnehmungen geben,

transzendent sind, ist eine Position, die Ingarden teilt. In den

äußeren Wahrnehmungen sind die wahrgenommene Dinge transzendent

und, sozusagen, gegenüber den Akten des Wahrnehmens, mithin von

einer anderen Natur als die in den inneren Wahrnehmungen

wahrgenommenen Gegenständlichkeiten: in diesem letzten Fall

besteht zwischen Gegenständlichkeiten und Wahrnehmen Homogenität,

sie gehören beide zu dem gleichen Erlebnissstrom. Dann macht

Husserl einen weiteren Schritt: die Dinge, die in den äußeren

Wahrnehmungen wahrgenommen werden, geben sich nur und

ausschließlich, bzw. wesentlich, durch “Abschattungen“; eine

Tatsache, die sich in den inneren nicht ereignet, weil sie immer

deutlich und unzweifelhaft hinsichtlich ihrem Objekt sind. Ist

diese Unterscheidung zwischen Wahrnehmungen und

Wahrnehmungsobjekten, nämlich Ergebnissen und Dingen, auch wenn

35 Ivi, Ss. 340, 341.

sie wesentlich ist, ausreichend, um zu behaupten, dass auch die

Seinsmodi verschiedene sind? “Kann ein solcher Unterschied daran

liegen, dass etwas ein echter Teil des Erlebnisses oder kein

solcher Teil ist?”36 Kann die These der Transzendenz der physischen

Dinge und der Abschattungen implizieren, dass die physische Dinge

selbst nur diese intentionale Einheit sind, wodurch sie

erscheinen? Die Zweifel über die Gültigkeit der transzendenten

Wahrnehmungen, über ihre Relativität und ihre Einseitigkeit, sind

legitim, aber es ist nicht legitim, die Folge zu ziehen, dass der

Gegenstand selbst identisch mit der Sinneinheit ist, wodurch er

zur Erscheinung kommt, dass er nichts mehr als diese Erscheinung ist.

Es wäre vernünftig zu denken, dass die physischen

Gegenständlichkeiten sich wesentlich nie als erkennbar geben

könnten, oder dass wir, so geformte Erkenntnissubjekte, wesentlich

nicht imstande wären, eine objektive und gewisse Erkenntnis

hinsichtlich des Soseins zu haben: In beiden Fällen können wir

nicht folgern, dass die Dinge in sich nur als Korrelate bestehen.

Dass eine Gegenständlichkeit ausschließlich durch transzendente

Wahrnehmungen, nämlich durch Abschattungen, wahrgenommen werden

kann, könnte davon abhängen, dass sie eine Gegenständlichkeit in

sich ist, mit einer bestimmten Natur, mit Eigenschaften in sich,

die vom Bewusstsein unabhängig sind. Die These der Transzendenz und

der Abschattungen scheint zu Folgen zu führen, die denen Husserls

entgegengesetzt sind. Wenn die Gegenständlichkeit nur eine

Sinneinheit wäre, wieso sollte sie sich abschatten? Wenn sie nur

ein Korrelat wäre, in Bezug worauf sollte sie sich abschatten?

Genau diese Veränderungen in den Gegebenheitsweisen führen uns

dazu, vernünftigerweise vorauszusetzen, dass es jenseits dieser

36 Ivi, S. 322.

Abschattungen einen Gegenstand in sich gibt, der sie veranlasst.

Das, was bezweifelbar und durch Abschattungen gegeben ist, ist

nicht die Sinneinheit, sondern etwas anderes, was nicht vom

Bewusstsein abhängt und sich darum in verschiedenen Weisen geben

kann. Es kann sich darum dem Bewusstsein geben, weil es eine

Wirklichkeit gegenüber der Sinneinheit ist.

Eine derart unbegründete Entscheidung besteht Ingarden nach auch

in einer bestimmten Eigenschaft der Abschattungen, nämlich dass

die Dinge sich nicht nur durch Abschattungen geben, sondern durch

eine unendliche Mannigfaltigkeit von Abschattungen, die nie

erlaubt, ein Objekt wie ein so und so bestimmtes und mit diesen

präzisen Eigenschaften zu determinieren. Ein Gegenstand kann uns

so und so erscheinen, aber wir haben nicht die Sicherheit, dass er

uns im Lauf der Erfahrung wieder mit genau diesen

Eigentümlichkeiten erscheinen wird, weshalb seine Charakteristika

nur im Moment und für das Erkenntnissubjekt sind, ohne etwas über

seine Natur in sich erkennen zu können. In höheren Stufen der

Beziehung des Welt-Bewusstseins als der Wahrnehmungen, nämlich z.

B. in den natürlichen Wissenschaften, ist es nicht anders: die

Ergebnisse sind nur weitere Phasen des Objektivationsprozesses und in

keinem Fall haben wir mit der Wirklichkeit selbst zu tun, wie sie

an sich ist37.

Nochmals scheint diese Entscheidung eine Vor-entscheidung und

nicht eine Folge von adäquaten Betrachtungen: die Forschung

hinsichtlich der Wahrnehmungen führt uns zum Gegenstandssinn; um

etwas hinsichtlich des Gegenstands selbst zu sagen, sollte man

erforschen, wie dieser Sinn sich konstituiert, was in diesem Sinn

objektiv ist und was darin nur ein kreativer Aufbau des Subjekts:

37 „Widersinnigerweise verknüpft man also Sinnendinge und physikalische durch Kausalität“. E. Husserl, „Ideen“; cit., S. 101.

“alles hängt davon ab, ob wir eine Betrachtungsmethode zu

konstruieren vermögen”38. Laut Ingarden ist das Problem in diesem

Fall, eine richtige Methode zu gewinnen, die erreichbar ist durch

die Erforschung des Bewusstseins des Erkenntnissubjekts, und die

uns erlaubt, in den Bewusstseinserzeugnissen die kreativen,

produktiven Momente, die etwas subjektiv hinzufügen, zu

unterscheiden von den Momenten, die ausschließlich rezeptiv sind,

„ein Mittel diese Daten verständlich zu machen“39. Mit diesem Wissen und

dieser Fähigkeit, die verschiedenen Momente zu unterscheiden,

erlangen wir auch die Möglichkeit, etwas objektiv über den

Gegenstand selbst zu sagen, wenn wir nur das berücksichtigen, was

nicht subjektiv ist. Wenn es nicht so sein sollte, wenn es

unmöglich wäre, etwas objektiv über die unendliche

Mannigfaltigkeit der Wahrnehmungen zu wissen, wenn uns der

Gegenstand selbst unbekannt bleiben würde, würde die These

Husserls eher zu einer agnostischen oder skeptischen Haltung als

zu einer idealistischen zu führen scheinen. Es wäre logischer, die

Unmöglichkeit, etwas über die Welt zu behaupten, anzunehmen oder

die Bezweifelbarkeit ihrer Existenz offen zu lassen; aber wieder

führen diese Behauptungen in keinem Fall zu der Folge, dass der

Gegenstand nur ein bloßes Korrelat ist. Ausschließlich auf der

Grundlage des Erscheinungsmodus darf man eine Entscheidung über

den Seinsmodus nicht treffen. “Dass nämlich an der Erzeugung des

Gegenstandsinnes eine Entität teilnimmt, die in ihrer Existenz und

Beschaffenheit vom Wahrnehmungssubjekt verschieden ist”: D.h. der

Gegenstand wird nicht erzeugt40, sondern gefunden; er besteht wie

38 R. Ingarden, „Schriften zur Phänomenologie“, cit., S. 331.39 Ibidem.40 „Nun hat Husserl zum einen nicht gezeigt, dass dieser extrem „kreativ“ Prozess bei der Konstituierung der Gegenstandssinne in Wahrheit stattfindet“, Ivi,S. 342.

etwas in sich Seiendes; in Bezug auf seine Existenz kommt es auf

die Wahrnehmungen nicht an. Transzendental gegeben, ist er etwas,

das jenseits unseres Wahrnehmens existiert, “etwas in Verhältnis

wozu die Wahrnehmung machtlos ist”41. Er existiert nicht nur für das

Bewusstsein, sondern seinsautonom. Es ist nicht das Wahrnehmen, das

ihn setzt, vielmehr findet das Wahrnehmen ihn als schon geformte

und in sich seiende Gegenständlichkeit vor. Es bleibt die

Möglichkeit, dass unsere Wahrnehmungen uns betrügen und dass wir,

statt echten Wahrnehmungen, nur Täuschungen haben, aber selbst in

diesem Fall können wir zumindest a posteriori die Täuschung als

Täuschung erkennen. Und tatsächlich nimmt Ingarden an, dass die

Wahrnehmungen uns nicht genau vermitteln, wie der Gegenstand mit

allen seinen Eigenschaften ist und es könnte sogar sein, dass der

Gegenstand nicht existiert. Trotzdem wären wir nicht berechtigt zu

der Behauptung, dass er nur ein Korrelat ist.

Auch bei den reflexiven Betrachtungen findet Ingarden das gleiche

Grundproblem wieder: Sind die noematischen Sinne der niedrigeren

Schicht ausreichend, um den Sinn des Objekts zu konstruieren, oder

ist das kreative Moment des Erkenntnissubjekts notwendig? Auch

wenn das Zweite der Fall wäre, könnten wir das Objekt in sich

nicht ausschließen. Seine Existenz auszuschließen, ist wie

anzunehmen, dass wir etwas über seine Essenz wissen können: eben

seine Nicht-Existenz. Wenn man treu an der Behauptung festhält,

dass man nichts hinsichtlich seiner Essenz wissen kann, muss man

auch über die Existenz oder Nicht-Existenz schweigen, wie

hinsichtlich jeder wesentlichen Eigenschaft.

In Bezug auf die Empfindungsdaten gibt es noch andere Elemente,

die schwerlich zu Husserls These führen: wir können diese Daten

nicht nach Belieben verändern oder löschen. Wir nehmen sie auf wie41 Ivi, S. 333.

etwas Fremdes, Widerstandsfähiges; Sie scheinen, eine äußere und

nicht innere Quelle zu haben, sonst, wenn sie unser Erzeugnis

wären, hätten sie diesen Fremd- und Widerstandscharakter nicht.

Wieder zielt die Kritik Ingardens darauf, dass die Objekte nicht

nur lebendig in den Akten des Bewusstseins und abhängig von ihm

sind, sondern dass sie “ein[en] Sinn, der die Seinsautonomie

desselben Dinges anzeigt (das also “an sich” ist)” haben42.

In den vorhergehenden Betrachtungen ist die Kritik Ingardens an

Husserl immer die, dass – wenn man nur den Gegenstandssinn

berücksichtigt – die Rede über den Gegenstand selbst unbegründet

ist und dass es missbräuchlich ist, eine so wesentliche

Unterscheidung aufzuheben. Dazu kommt eine andere Problematik, auf

die Ingarden nur kurz hindeutet, die aber alt wie die Philosophie

selbst ist: Wenn man über transzendente Gegenstände spricht, ist

einer von ihnen der Leib, und wenn laut Husserl “zur Einheit

eines individuellen Gegenstandes das und nur das gehören könne,

was den übrigen in demselben Gegenstand auftretenden Bestandteilen

oder unselbständigen Momenten wesensverwandt ist”43, heißt dies

zweifellos, dass es zwischen Bewusstsein und Körper keine Einheit

gibt. Eine Fremdheit, ein Dualismus, die an Descartes erinnern,

oder zumindest eine Leerstelle: das “Verhältnis der Seele zum Leib

ist durch Husserls Untersuchungen nicht erledigt worden”44.

4. Schluss

42 Ivi, S. 338.43 Ivi, S. 346.44 Ivi, S. 350.

Diese Arbeit hat nicht den Anspruch, die Bemerkungen Ingardens zum

Idealismus Husserls oder die diesbezüglichen theoretischen

Streitpunkte erschöpfend zu behandeln, weil dies ein

weitgreifender Bereich ist, der den Umfang einer Arbeit wie diese

übersteigt. In Bezug darauf habe ich nicht alle Betrachtungen

Ingardens genau berücksichtigt, um nicht ein einfaches Abbild

seiner Essays zu geben, sondern ich habe versucht, eine

Darstellung zu präsentieren, die die Kritiken, die ähnlich sind

oder sich auf das gleiche Problem beziehen, zusammen thematisiert.

Die schärfste Kritik, die ich in Ingarden gefunden habe, ist

sicher die, welche auch im Seminar profiliert und kurz in 3.2

dargestellt wurde, über den undeutlichen Schritt Husserls von der

Möglichkeit des Nicht-Seins der Welt zur Betrachtung dieser

Eventualität. Von der Behandlung der Grenzen unseres Erkennens und

von der entsprechenden Bezweifelbarkeit des Erkenntnisswerts

unserer natürlichen Einstellung geht er zu metaphysischen

Betrachtungen über die Abhängigkeit des Seins der Welt vom

Bewusstsein über. Mit Ingarden bemerke ich, dass dieser Schritt

unbegründet scheinen kann und dass weitere Forschungen über das

Sein der Welt notwendig scheinen.

Dieser Widerspruch löst sich aber wenn man die anfänglichen

Voraussetzungen Husserls ernst nimmt und dazu die Rolle der

Reduktion, die Ingarden unterbewertet oder missversteht. Wenn

Husserl die Reduktion verwirklicht, trifft er eine bestimmte

Entscheidung, ohne die Möglichkeit einer Umkehr. Sie ist nicht eine bloße

Maßnahme, um das Bewusstsein zu erforschen und um eine

Erkenntnistheorie zu begründen, sondern eine prinzipielle

Entscheidung: der Verzicht auf bedeutende Erkenntnisgebiete, um

zur Möglichkeit zu kommen, ausschließlich das Legitimes zu sagen. Die

Husserlsche Reduktion ist die Bedingung der Möglichkeit, zur

Wissenschaft zu kommen und zugleich eine Absichtserklärung: um

nichts unbegründet zu sagen, um die Nachteile der Objektivität

nicht hinnehmen zu wollen, die nicht wirklich befriedigend ist,

weil sie mit Relativität und der Möglichkeit des Zweifels behaftet

ist und immer sein wird, trifft man die Entscheidung, zur

Subjektivität überzugehen, um in ihr Objektivität und

Wissenschaftlichkeit zu finden. Um dem Zweck treu zu bleiben,

nichts Illegitimes zu sagen, verengt man das Feld der Erforschung,

bis man auf alles außer dem Bewusstsein verzichtet, und von ihm

wieder anfängt, um nur Legitimes zu begründen. Wenn wir die Sachen

in sich nicht kennen dürfen, können wir jedoch genau den Bereich

kennen, woraus die Welt, und wir mit ihr, zur Erkenntnis, zum Sein

aufsteigt. In Bezug darauf, glaube ich, dass man sagen darf, dass

die Kritiken Ingardens ihre Prägnanz verlieren, insofern Ingarden

will noch zu den Gegenständen in sich gehen, er hat den Anspruch, die

kreativen und die rezeptiven Akte des Bewusstseins zu

unterscheiden. Das Ziel der Betrachtungen Ingardens stimmt nur

teilweise mit dem von Husserl überein, insofern er eine Ontologie

auf der Grundlage von Bereichen gründen will, auf die Husserl

sofort und prinzipiell verzichtet hatte. Aber nachträgliche

Bemerkungen hätten einen Sinn nur wenn zu den Texten, die hier

berücksichtigt wurden, die Hauptwerke Ingardens heranziehen wären,

um seine Betrachtungen besser zu verstehen, weil er in diesen

Essays manchmal Behauptungen nicht beweist, wie eben über das

autonome Sein der Welt und das In-sich-Sein45 der Sachen oder über

die Betrachtungsmethode, die zwischen den kreativen und objektiven

45 “…gegebene Gegenstand den anschaulichen Charakter von etwas ´für sich selbst´….”, “der Charakter von etwas, das von uns nicht erzeugt, sondern nur vorgefunden wird”, “…wie man sich verhalten soll gegenüber der festgestellten – meiner Meinung nach unzweifelhaften – Tatsache …” Ivi, S. 328.

Akten unterscheiden soll. Vom Gesichtspunkt Husserls scheinen

diese Behauptungen zunächst unannehmbar; allerdings sollte ein

definitives Urteil darüber nur nach einer intensiven Untersuchung

derjenigen Werke Ingardens gefällt werden, die dessen Theorie

beinhalten.

Das Vorgehen sollte jetzt sein, und darüber kann ich mich an

dieser Stelle nicht äußern, in den Werken Ingardens zu forschen,

wie legitim dessen Betrachtungen sind und ob sie einen Beitrag zur

phänomenologischen Theorie leisten oder ob sie dagegen hinter die

Probleme zurückfallen, die Husserl mit der Reduktion schon behoben

hatte.

Bibliografie:

- E. Husserl: Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen

Philosophie. Erstes Buch: Allgemeine Einführung in die reine Phänomenologie, Max

Niemeyer Verlag Tübingen 2002;

- R. Ingarden: Schriften zur Phänomenologie Edmund Husserls, in

Gesammelte Werke, herausgegeben von Wlodzimir Galewicz, Max

Niemeyer Verlag, Tübingen 1998.