Eine originale Syntax. Psychoanalyse, Diskursanalyse und Wissenschaftsgeschichte (on Friedrich...

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Henning Schmidgen Eine originale Syntax Psychoanalyse, Diskursanalyse und Wissenschaftsgeschichte [erschienen in Archiv für Mediengeschichte, Bd. 13 (2013), S. 27-43, Sonderheft „Mediengeschichte nach Friedrich Kittler“] Kittler kam zu spät nach Kalifornien. Als er 1982 zum ersten Mal als Gastprofessor nach Berkeley und Stanford ging, war es schon zwei Jahre her, daß Michel Foucault in Berkeley seine programmatischen Howison-Lectures über »Wahrheit und Subjektivität« gehalten hatte. Noch früher hatte Bruno Latour, etwas weiter südlich, bei San Diego, die ethnographische Untersuchung des Salk Institutes zum Abschluß gebracht, die in Laboratory Life (1979) zu einer bioinformatischen Sicht des Wissenschaftsprozesses führen sollte. Ebenfalls 1979 hatte Ian Hacking den Philosophiestudenten in Berkeley und Stanford sein Delphi-Manifest über »Wirklichkeit und Darstellung« präsentiert, um im Anschluß daran mit dem Stanforder Physiker

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Henning Schmidgen

Eine originale Syntax

Psychoanalyse, Diskursanalyse und Wissenschaftsgeschichte

[erschienen in Archiv für Mediengeschichte, Bd. 13 (2013), S. 27-43,

Sonderheft „Mediengeschichte nach Friedrich Kittler“]

Kittler kam zu spät nach Kalifornien. Als er 1982 zum ersten

Mal als Gastprofessor nach Berkeley und Stanford ging, war es

schon zwei Jahre her, daß Michel Foucault in Berkeley seine

programmatischen Howison-Lectures über »Wahrheit und

Subjektivität« gehalten hatte. Noch früher hatte Bruno Latour,

etwas weiter südlich, bei San Diego, die ethnographische

Untersuchung des Salk Institutes zum Abschluß gebracht, die in

Laboratory Life (1979) zu einer bioinformatischen Sicht des

Wissenschaftsprozesses führen sollte. Ebenfalls 1979 hatte Ian

Hacking den Philosophiestudenten in Berkeley und Stanford sein

Delphi-Manifest über »Wirklichkeit und Darstellung«

präsentiert, um im Anschluß daran mit dem Stanforder Physiker

Francis Everitt eine wegweisende Philosophie der

experimentellen Praxis zu entwickeln.1

Aus Sicht der Wissenschaftsgeschichte ist kaum zu sagen,

welche versäumte Begegnung stärker zu bedauern ist: die mit

Latour, der mit inscription device den Begriff in die

Wissenschaftsforschung einführte, der am offenkundigsten in die

Richtung weist, die auch von Kittlers »Aufschreibesystemen«

anvisiert wird; die mit Hacking, der – wie David Wellbery

gezeigt hat – schon in Why Does Language Matter to Philosophy? ein

»hermeneutisches Regime« der Bedeutung von einem »materiellen

Regime« einzelner Sätze unterschied und damit auf seine Weise

jene Äußerlichkeit des Schreibens thematisierte, die auch in

den Analysen Kittlers zentrale Bedeutung hat;2 oder die mit

Donna Haraway, die, wenig später, aber ebenfalls unweit von

Stanford, die Informatik der Herrschaft als ontologische Verschaltung

1 Michel Foucault, Truth and Subjectivity, Howison-Lectures, University of

California, Berkeley, 20./21. Oktober 1980, als Audio-Files zugänglich

unter <http://www.lib.berkeley.edu/MRC/foucault/howison.html> (letzter

Zugriff 22. Juli 2013); Bruno Latour/Steve Woolgar, Laboratory Life. The

Social Construction of Scientific Facts, Beverly Hills 1979 und Ian

Hacking, Representing and Intervening. Introductory Topics in the

Philosophy of Natural Science, Cambridge 1983, S. 130-146.2 David Wellbery, The Exteriority of Writing, in: Stanford Literature

Review 9, 1992, S. 11-23, hier S. 13.

2

zwischen Techniken und Körpern beschrieb: »Die Maschine, das

sind wir...«?3

Jedenfalls hat Kittler auf Versäumnisse dieser Art in

durchaus lacaniascher Weise reagiert: Er hat sie in

invertierter Form zurückgegeben. 1995, im »Nachwort zur dritten

Auflage« seines bis heute bekanntesten Buches, beklagt er den

Zustand der aktuellen Wissenschaftsgeschichte. Mit Blick auf

mögliche Anschlüsse an die Analysen der laborgestützten

»Vivisektionen von Sprache und Schrift«,4 wie sie vor allem im

zweiten Teil der Aufschreibesysteme enthalten sind, konstatiert

Kittler, es gebe, »trotz aller Versuche, Physiologie und

Medientechnik der Jahrhundertwende enger zu korrelieren, die

angemessene Wissenschaftsgeschichte erst in Ansätzen«.5

3 Donna Haraway, Lieber Kyborg als Göttin! Für eine sozialistisch-

feministische Unterwanderung der Gentechnologie, in: Bernd-Peter Lange/Anna

Maria Stuby (Hg.), »1984«, Berlin 1984, S. 66-84, hier S. 67 und S. 81. 4 Friedrich A. Kittler, Aufschreibesysteme 1800/1900, 3. vollst. überarb.

Aufl., München 1995, S. 270. Die erste Auflage stammt von 1985, die zweite

erschien 1987.5 Ebenda, S. 524. An anderer Stelle wird den anglo-amerikanischen Historikern

wenigstens das Verdienst zugesprochen, »Wissenschaftsgeschichte als

Kriegsgeschichte« schreiben zu können, und zwar deshalb weil sie auf der

Seite derer stünden, die ihre Siege im Zweiten Weltkrieg einer »neuen

Technik des Denkens selber: dem Computer« verdankt hätten. Siehe Friedrich

Kittler/Christoph Tholen, Vorwort der Herausgeber, in: dies. (Hg.),

Arsenale der Seele. Literatur- und Medienanalyse seit 1870, München 1989,

S. 7-11, hier S. 7.

3

Die »Versuche«, von denen an dieser Stelle ohne nähere

Angaben die Rede ist, sind allem Anschein nach die Studien von

François Dagognet, Anson Rabinbach, Marta Braun und Soraya de

Chadarevian, die am Beispiel von Mareys »graphischer Methode«

den Zusammenhang von Wissenschafts- und Mediengeschichte in der

Tat prägnant verdeutlicht hatten – teilweise mit explizitem

Bezug auf Kittler.6

Fragt sich also, was »angemessen« heißt. Zunächst einmal

sieht Kittler die Wissenschaftsgeschichte in der Pflicht, die

Hintergründe für bezeichnende Begegnungen zwischen Physiologen

und Medientechnikern zu erhellen, beispielsweise zu klären,

»was Helmholtz in Chicago dazu gebracht hat, vor allen anderen

Kollegen Edison die Hand zu schütteln« – erst dann könne man

6 François Dagognet, Etienne-Jules Marey. La passion de la trace, Paris

1987; Anson Rabinbach, The Human Motor. Energy, Fatigue, and the Origins of

Modernity, New York 1990; Marta Braun Picturing Time. The Work of Etienne-

Jules Marey (1830-1904), Chicago 1992 und Soraya de Chadarevian, Die

»Methode der Kurven« in der Physiologie zwischen 1850 und 1900, in: Hans-

Jörg Rheinberger/Michael Hagner (Hg.), Die Experimentalisierung des Lebens.

Experimentalsysteme in den biologischen Wissenschaften 1850-1950, Berlin

1993, S. 28-49. Siehe ferner die Arbeiten von Timothy Lenoir, The Eye as

Mathematician. Clinical Practice, Instrumentation, and Helmholtz's

Construction of an Empiricist Theory of Vision, in: David Cahan (Hg.),

Hermann von Helmholtz and the Foundations of Nineteenth-Century Science,

Berkeley – Los Angeles – London 1993, S. 109-153 sowie ders., Helmholtz and

the Materialities of Communication, in: Osiris 9, 1994, S. 185-207.

4

wissen, »was Augen heute sehen und Ohren heute hören«.7 Die

Aussagekraft solcher Begegnungen wird allerdings gleich wieder

heruntergespielt. Eine »angemessene Wissenschaftsgeschichte«

dürfe sich, so Kittler nämlich weiter, nicht mit »Anekdote[n]

über Muybridge oder Edison« zufrieden geben, sondern müsse sich

der Mathematik öffnen: »Das Aufschreibesystem von 1900, wenn es

denn zur Schließung kommt, wird ohne Peano, Hilbert, Turing

nicht beschreibbar gewesen sein.«8

Auch dies erscheint als lacanianische Wendung. Von der

Wissenschaftsgeschichte verläuft der Weg über eine Kombination

von Wissenschafts- und Technikgeschichte, um schließlich in der

Mathematik und ihrer Geschichte zu seinem eigentlichen

Bestimmungsort zu finden. Auf gedrängtem Raum wird so vom

Imaginären der Subjekte über »Gadgets oder Instrumente«9 auf

die symbolische Ordnung rekurriert. Denn es ist der Zug der

Signifikanten in dieser Ordnung, dem, wie Lacan (und Kittler

7 Kittler, Aufschreibesysteme, wie Anm. 4, S. 524.8 Ebenda.9 Jacques Lacan, Le séminaire, livre XX. Encore, Paris 1975, S. 33-34,

zitiert nach Friedrich Kittler, Draculas Vermächtnis, in: Dieter Hombach

(Hg.), Zeta 02. Mit Lacan, Berlin 1982, S. 103-136, hier S. 105.

5

mit ihm) sagt, die Subjekte »gehorsamer als die Schafe«

folgen.10

Der vorliegende Beitrag unternimmt einen ersten Versuch,

das Verhältnis des Kittlerschen Werks zur

Wissenschaftsgeschichte unabhängig von den gegenläufigen

Verspätungen des akademischen Betriebs zu betrachten. Die dabei

verfolgte Annahme lautet, daß dieses Verhältnis kaum als

äußerliches zu fassen ist. Denn zum einen ist es tatsächlich

nicht ausgemacht, ob (und wenn ja, ab wann) dieses Werk im

Sinne einer »Mediengeschichte« aufzufassen wäre, die sich in

mehr oder weniger umrissener Weise auf den ebenfalls mehr oder

weniger umrissenen Bereich der »Wissenschaftsgeschichte«

beziehen könnte. Wie die Herausgeber dieses Bandes in ihrem

Exposé zu Recht herausstellen, haben die Arbeiten von Kittler

nie »auf eine Theorie und Geschichte von Einzelmedien«

abgezielt, sondern waren im Grunde auf »eine Geschichte der

Literatur, des Geistes, der Seele und der Sinne« ausgerichtet –

oder, um den frühen Kittler zu bemühen, auf eine grundlegende

10 Jacques Lacan, Das Seminar über E. A. Poes »Der entwendete Brief«

[1956/1966], übers. von R. Gasché, in: ders., Schriften I, hg. von Norbert

Haas, Frankfurt am Main 1975, S. 7-60, hier S. 29 und Friedrich Kittler,

Die Welt des Symbolischen – eine Welt der Maschine, in: Götz

Großklaus/Eberhard Lämmert (Hg.), Literatur in einer industriellen Kultur,

Stuttgart 1989, S. 521-536, hier S. 531.

6

Auseinandersetzung mit dem Problemkomplex Literatur, Wahnsinn,

Wahrheit.11

Zum anderen steht Kittler, sofern er sich den »Programmen

des Poststrukturalismus« verpflichtet sieht, mit der

Wissenschaftsgeschichte sogar in direkterer Verbindung als mit

einer Mediengeschichte, die etwa an Marshall McLuhan oder

Walter Benjamin anschließen würde. Kittler betrachtet die

Archäologie des Wissens im Sinne Michel Foucaults als

wesentlichen Bestandteil der poststrukturalistischen Programme

und greift ausdrücklich Foucaults Vorhaben auf, »Macht- und

Wissensformen« auf die Regeln hin zu untersuchen, nach denen

»die faktisch ergangenen Diskurse einer Epoche« organisiert

sind.12 Auch die zahlreichen Referenzen auf Jacques Derrida,

die zumindest das Frühwerk von Kittler durchziehen, sind als

Gesten in diese Richtung zu begreifen. Derrida hat seine

frühesten Überlegungen zum Problem der Schrift ja in

Auseinandersetzung mit Edmund Husserls historisch-

epistemologischem Fragment über die »Ursprünge der Geometrie«

entwickelt, in dem das Phänomen der Schriftlichkeit mit der

11 Friedrich A. Kittler, Der Traum und die Rede. Eine Analyse der

Kommunikationssituation Conrad Ferdinand Meyers, Bern–München 1977, S. 324-

330.12 Kittler, Aufschreibesysteme, wie Anm. 4, S. 519.

7

Tradierung wissenschaftlichen Wissens in Zusammenhang steht

– ganz abgesehen davon, daß in diesem Fragment auch die Formel

vom »historischen Apriori« geprägt wird.13

In seiner Besonderheit wird das Verhältnis des

Kittlerschen Werks zur Wissenschaftsgeschichte jedoch erst

faßbar – so die zweite Annahme dieses Beitrags –, wenn die

Funktion in Rechnung gestellt wird, die der Psychoanalyse

Jacques Lacans in diesem Werk zukommt. Es ist bekannt, daß

neben Foucault (und Nietzsche) Lacan zu den wenigen

durchgängigen Bezugsgrößen der Arbeiten von Kittler zählt. Die

Rolle, die Lacan für das Kittlersche Werk spielt, wird im

Folgenden aber als eine grundsätzlich orientierende begriffen.

Zugespitzt könnte man sagen, daß sich Kittlers Anschluß an

Foucault (und Derrida) unter dem Vorzeichen der lacanianischen

13 Jacques Derrida, Husserls Weg in die Geschichte am Leitfaden der

Geometrie. Ein Kommentar zur Beilage III der »Krisis«, übers. von R.

Hentschel/A. Knop, München 1987, S. 120.

8

Psychoanalyse vollzieht, 14 was im Gegenzug zur Folge hat, daß

Lacans Theoreme (oder »Matheme«) historisiert werden. 15

Wir gehen davon aus, daß eben darin die ganze Aktualität,

aber auch die ganze Problematik von Kittlers Verhältnis zur

Wissenschaftsgeschichte liegt. Durch die Orientierung an Lacan

werden Themen generiert, die auch für die heutige

Wissenschaftsgeschichte von großem Interesse sind; die

Werkzeuge, mit denen diese Themen bearbeitet werden, bewahren

aber deutliche Distanz zu den Prinzipien und Methoden der

aktuellen Historiographie der Wissenschaften. 16

14 Es ist also nicht »die foucaultsche Umschrift Lacans«, die hier zur

Debatte steht. Siehe in diesem Sinn Geoffrey Winthrop-Young, Friedrich

Kittler zur Einführung, Hamburg 2005, S. 57. Es geht hier, genau umgekehrt,

um eine lacanianische Umschrift Foucaults. Siehe in ähnlicher Weise

Nicholas Gane, Radical Post-humanism. Friedrich Kittler and the Primacy of

Technology, in: Theory, Culture & Society 22/3, 2005, S. 25-41, hier S. 32.15 Zur Epistemologie des späten Lacan siehe Athanasios Lipowatz, Diskurs und

Macht. Jacques Lacans Begriff des Diskurses, Marburg 1982; Mark Bracher, On

the Psychological and Social Functions of Language. Lacan’s Theory of the

Four Discourses, in: ders. et al. (Hg.), Lacanian Theory of Discourse.

Subject, Structure, and Society, New York – London 1994, S. 107-128; Jason

Glynos/Yannis Stavrakakis (Hg.), Lacan & Science, London–New York 2002

sowie zuletzt Ivo Gurschler/Sándor Ivády/Andreas Wald (Hg.), Lacan 4 D. Zu

den vier Diskursen in Lacans Seminar XVII, Wien – Berlin 2013. 16 Die aktuelle Wissenschaftsgeschichte bezieht sich nur sehr selektiv auf

die Epistemologie Lacans. Siehe Latour/Woolgar, Laboratory Life, wie Anm.

1, S. 168; Hans-Jörg Rheinberger, Experimentalsysteme und epistemische

Dinge. Eine Geschichte der Proteinsynthese im Reagenzglas, Göttingen 2001,

S. 18, S. 154 und S. 246 sowie Evelyn Fox Keller, Das Leben neu denken.

9

1. Paranoia = Erkenntnis

Jeder Student der Medienwissenschaft weiß es. Die Handbücher

zur Medientheorie sagen es, der Autor selbst hat wiederholt

darauf hingewiesen: Der Titel Aufschreibesysteme verdankt sich

einer Übernahme des Ausdrucks aus Daniel Paul Schrebers

Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken. Deutlich weniger bekannt ist

demgegenüber der Sachverhalt geblieben, daß auch Lacan den

fraglichen Ausdruck verwendet hat – etwa in der Analyse, die

dieser »Unsterbliche«17 in den 1950er Jahren den Denkwürdigkeiten

gewidmet hat. Dort heißt es unter anderem, daß Schrebers Gott

die Dinge nur an der Oberfläche kenne. Dieser Gott »sieht nur,

was er sieht, was das Innere anbelangt, versteht er nichts,

aber nachdem alles durch das sogenannte Aufschreibesystem

[système de notation] irgendwo eingeschrieben ist, auf kleinen

Zetteln, wird er schließlich, am Ende dieser Totalisierung,

dennoch vollkommen auf dem laufenden sein.«18 Übrigens war es

auch Lacan, der Mitte der 1960er Jahre dafür sorgen sollte, daß

Metaphern der Biologie im 20. Jahrhundert, übers. von I. Leipold, München

1998, S. 65-102.17 Friedrich Kittler, Jacques Lacan, in: ders., Unsterbliche. Nachrufe,

Erinnerungen, Geistergespräche, München 2004, S. 117-126.18 Jacques Lacan, Das Seminar, Buch III. Die Psychosen, übers. von M.

Turnheim, Weinheim – Berlin 1997, S. 153.

10

in den epistemologisch ausgerichteten Cahiers pour l’analyse in

Fortsetzungen eine Übersetzung von Schrebers Denkwürdigkeiten ins

Französische veröffentlicht wurde.19

Das sind keine bloße Koinzidenzen. Tatsächlich erschließt

sich über Lacan überhaupt erst der Grund dafür, warum Kittler

die Schreber-Rolle für sich in Anspruch nimmt. Dem liegt

nämlich nicht bloß ein nietzscheanisches »Pathos für den

leidenden Körper« zugrunde, wie Wellbery vermutet hat,20 oder

eine Auffassung des Wahnsinnigen als Prognostiker und

Seismographen der modernen Gesellschaft, wie Jussi Parikka

nahelegt hat.21 Der Buchtitel konfrontiert mit einem

abstrakteren Problem: dem Verhältnis von Wahn und Wissenschaft.

In Kittlers Augen ist Lacan das außerordentliche Kunststück

gelungen, »Definitionen von Wahnsinn« zu finden, die »auch den

Definierenden einschließen«.22 Die Aufschreibesysteme stellen den 19 Siehe dazu Jacques Lacan, Présentation, in: Cahiers pour l’analyse 5,

1966, S. 69-72. Über die Cahiers pour l’analyse siehe Peter Hallward/Knox Peden

(Hg.), Concept and Form, 2 Bde., London – New York 2012.20 David Wellbery, Foreword, in: Friedrich A. Kittler, Discourse Networks

1800/1900, übers. von M. Metteler, with C. Cullens, Stanford, CA 1990, S.

vii-xxxiii, hier S. xv.21 Jussi Parikka, What is Media Archaeology?, Cambridge – Malden, MA 2012,

S. 56-57.22 Friedrich Kittler, Flechsig/Schreber/Freud. Ein Nachrichtennetzwerk der

Jahrhundertwende, in: Der Wunderblock 11/12, 1984, S. 56-68, hier S. 66,

Anm. 2.

11

ehrgeizigen Versuch dar, dieses Kunststück vom Terrain der

Psychoanalyse auf das der Literaturwissenschaft zu übertragen.

Es geht also nicht um ein irgendwie aufschlußreiches

Unbehagen in der Kultur, aber auch nicht um Krankengeschichten,

die wie Novellen zu lesen wären. Was durch die Schreber-Lacan-

Referenz fokussiert wird, ist vielmehr die strukturelle

Verwandtschaft von Wahngebilde und Theoriebildung, auf die

schon Freud am Ende seiner Auseinandersetzung mit den

Denkwürdigkeiten angespielt hatte: »Die durch Verdichtung von

Sonnenstrahlen, Nervenfasern und Samenfäden komponierten

›Gottesstrahlen‹ Schrebers sind eigentlich nichts anderes als

die dinglich dargestellten, nach außen projizierten

Libidobesetzungen [...].«23 Die schwindelerregende Perspektive,

die sich für den Gründervater der Psychoanalyse durch diese

»auffällige Übereinstimmung« zwischen paranoidem Wahn und

psychoanalytischer Theorie eröffnete, hatte er einige Monate

zuvor in einem Brief an Ferenczi klar umrissen: »Mir ist das

23 Sigmund Freud, Psychoanalytische Bemerkungen über einen autobiographisch

beschriebenen Fall von Paranoia (Dementia paranoides) [1910/11], in: ders.,

Gesammelte Werke, chronologisch geordnet. Band 8, Werke aus den Jahren

1909-1913, 3. Aufl., London 1955, S. 239-320, hier S. 315.

12

gelungen, was dem Paranoiker mißlingt«24 – eine Vergrößerung

des Ichs durch Deutungsarbeit.

Lacan konnte vergleichsweise gelassen in diesen Abgrund

blicken. Durch seine psychiatrische Erfahrung war er seit den

1920er Jahren mit den produktiven Aspekten der paranoischen

Psychosen bestens vertraut. Diese Vertrautheit ging so weit,

daß er im Aufsatz über das Spiegelstadium im Jahr 1949

beiläufig bemerkt, daß die »gesellschaftlich[e] Dialektik [...]

die menschliche Erkenntnis als eine paranoische

strukturiert«.25 Noch knapper faßte sich Lacan ungefähr zur

selben Zeit im »Vortrag über die psychische Kausalität«, wo er

nur kurz daran erinnert, früher einmal den Begriff der

»paranoischen Erkenntnis« geprägt zu haben.26

Zieht man den damaligen Stand der Lacanschen

Theoriebildung in Betracht, läßt sich die mit solchen

24 Sigmund Freud, [Brief an Sándor Ferenczi, 6. Oktober 1910, 171 F], in:

Sigmund Freud/Sándor Ferenczi, Briefwechsel, Band I/1 (1908-1910), hg. von

Eva Brabant/Ernst Falzeder/Patrizia Giampieri-Deutsch, Wien – Köln – Weimar

1993, S. 312-314, hier S. 313.25 Jacques Lacan, Das Spiegelstadium als Bildner der Ichfunktion wie sie uns

in der psychoanalytischen Erfahrung erscheint [1949], übers. von P.

Stehlin, in: ders., Schriften I, wie Anm. 10, S. 61-70, hier S. 66.26 Jacques Lacan, Vortrag über die psychische Kausalität [1950], übers. von

H.-J. Metzger, in: ders., Schriften III, 2. Aufl., Weinheim – Berlin 1986,

S. 123-171, hier S. 157.

13

Statements aufgerufene Position etwa in folgender Weise

charakterisieren. Erkenntnis (conaissance) ist – erstens – nicht

einfach die Wahrnehmung eines Äußeren, die von einem Innen

unvermittelt aufgenommen wird, um auf diesem Wege zu

Übereinstimmungen zu kommen. Erkenntnis ist vielmehr zunächst

ein weitgehend offener, konstruktiver Vorgang, der zu durchaus

unterschiedlichen Wahrnehmungen führen kann. In ihrer Absetzung

vom common sense zeigt sich das beispielhaft an den extrem

künstlichen Wahrnehmungen der Wissenschaft, aber eben auch an

der Paranoia, die Lacan zufolge gerade nicht auf falschen

Interpretationen von Wahrnehmungen beruht, sondern zunächst

einmal auf anderen Wahrnehmungen.27

Zweitens, Erkenntnis ist ein interaktiver, sozialer

Prozeß, ein Prozeß, der nicht nur in der Auseinandersetzung von

Innen und Außen abläuft, sondern ebenso in einer

»gesellschaftlichen Dialektik«, d.h. in der Auseinandersetzung

zwischen Ich und Anderem. Deswegen sagt Lacan, connaissance sei

niemals co-naissance, also Gleichursprünglichkeit von Subjekt und

27 Jacques Lacan, Über die paranoische Psychose in ihren Beziehungen zur

Persönlichkeit [1932], übers. von H.-D. Gondek, in: ders., Über die

paranoische Psychose in ihren Beziehungen zur Persönlichkeit und Frühe

Schriften über die Paranoia, Wien 2002, S. 13-358, hier S. 289.

14

Objekt oder Subjekt und Subjekt.28 Aufgrund seiner biologischen

Unbestimmtheit läuft das Ich immer schnell Gefahr, durch

Effekte des Imaginären (Bilder, Idole, »gute Gestalten«)

dominiert zu werden. Erst die Einlassung auf die

vergleichsweise langsame Welt des Symbolischen kann dazu

beitragen, diese Effekte aus dem Weg zu räumen und damit den

Annäherungsprozeß an »das Reale« voranzubringen.

Das wäre der dritte Punkt: Menschliche Erkenntnis ist in

dem Sinne paranoisch strukturiert, als sie, egal ob in

Alltagswelt, Labor oder Krankheit beheimatet, eine grundlegend

deutende Dimension enthält. Stets ist es für sie

charakteristisch, an kein definitives Ende zu kommen.

Erkenntnis kann das Wirkliche immer besser auslegen, es aber

nie wirklich erfassen. Auch in diesem Sinne ist das Reale das

Unmögliche.

Der frühe Lacan ließ es allerdings nicht dabei bewenden,

die Aufmerksamkeit auf formale Ähnlichkeiten zwischen Paranoia

und Erkenntnis zu lenken. Auch den Wahninhalten, der gesamten

Tönung und der persönlichen Ausrichtung des Deliriums galt sein

Interesse. Im klinischem Alltag erschien ihm der Paranoiker

28 Jacques Lacan, Das Seminar, Buch II. Das Ich in der Theorie Freuds und in

der Technik der Psychoanalyse, übers. von H.-J. Metzger, 2. Aufl., Berlin

1991, S. 283.

15

nicht als böswilliger, aggressiver Psychotiker, sondern als

idealistische, sozial engagierte und überaus moralische,

»hypermoralische« Persönlichkeit,29 die dazu tendiert, sich

selbst zu bestrafen. Der paranoische Psychotiker ist demzufolge

nicht in sich gekehrt, sondern richtet sich mit seiner

gesteigerten Aufmerksamkeit und Empfindsamkeit auf die Umwelt,

in der er lebt. Diesen Umweltaspekt bekräftigt Lacan, wenn er

erklärt, der Deutungswahn sei »ein Wahn des Treppenabsatzes,

der Straße, des öffentlichen Raumes«.30 In diesem Umfeld sei

der paranoische Psychotiker aufgrund seiner gesteigerten

Empfindsamkeit dazu in der Lage, blitzschnell »die Relevanz

eines vernommenen Satzes, eines kurz erblickten Bildes, der

Geste eines Passanten, der ›Spaltenlinie‹, an der der Blick

beim Lesen einer Zeitung hängen bleibt«, zu erkennen.31

Die Pointe ist, daß dem paranoiden Wahn in dieser

Sichtweise ein erheblicher »Realitätswert« zugesprochen wird.32

Lacan geht sogar so weit zu sagen, daß die paranoische Psychose

jene »instinktiven und sozialen Komplexe« klar zum Ausdruck

bringe, die die Psychoanalyse bei den Neurotikern nur unter

29 Lacan, Über die paranoische Psychose, wie Anm. 27, S. 267.30 Ebenda, S. 212.31 Ebenda, S. 211.32 Ebenda, S. 293.

16

Schwierigkeiten zutage fördere. Im Gegensatz zu »den Träumen,

die gedeutet werden müssen« sei der Wahn des Paranoikers »aus sich

heraus eine deutende Tätigkeit des Unbewußten«.33

Diese Form einer »deutenden Tätigkeit des Unbewußten« ist

es, an die Kittler mit seiner Übernahme der Schreber-Rolle

anschließt. Mit Lacan wäre zu präzisieren, daß es sich dabei

auch um eine Frage des Stils handelt: »Man kann das paranoische

Erlebnis und die Weltauffassung, die es hervorbringt, als eine

originale Syntax betrachten, die dazu beiträgt, durch die ihr

eigenen Verständniszusammenhänge die menschliche Gesellschaft

zu bestätigen.«34 Insofern scheint es nicht ganz treffend, mit

Blick auf Kittlers frühe Arbeiten von der Emergenz einer

»historischen Sensibilität« zu sprechen.35 Tatsächlich haben

wir es mit der Ausprägung einer historischen Sensitivität zu tun,

eines auf die Geschichte orientierten Beziehungsdenkens, das 33 Ebenda, S. 290.34 Jacques Lacan, Das Problem des Stils und die psychiatrische Auffassung

paranoischer Erlebnisformen, übers. von B. Weidmann, in: Salvador Dalí,

Unabhängigkeitserklärung der Phantasie und Erklärung der Rechtes des

Menschen auf seine Verrücktheit. Gesammelte Schriften, hg. von Axel

Matthes/Tilbert Diego Stegmann, Frankfurt am Main 1974, S. 352-356, hier S.

356 (Hervorhebung hinzugefügt).35 Hans Ulrich Gumbrecht, Mediengeschichte als Wahrheitsereignis. Zur

Singularität von Friedrich A. Kittlers Werk, in: Friedrich A. Kittler, Die

Wahrheit der technischen Welt. Essays zur Genealogie der Gegenwart,

Frankfurt am Main 2013, S. 396-422, hier S. 402.

17

(wie wir noch sehen werden) mit enormer Hellsichtigkeit

zwischen biographischen Details und großen Diskursformationen

oszilliert – wie ein Analytiker zwischen kleinen Versprechern

und ganzen Familienkomplexen oder ein Paranoiker zwischen dem

flüchtigen Blick eines Passanten und einem göttlichen System.

Die Form der Analyse, die so entsteht, ist nichts anderes

als »geglückte Paranoia«, wie Kittler an anderer Stelle mit

einer Formulierung Lacans sagt, die ihrerseits auf die oben

erwähnte Passage aus Freuds Brief an Ferenczi anspielt.36 Diese

Form der Analyse beschränkt sich nicht darauf, die für sie

spezifische Außenwelt – etwa die Literatur oder das Werk eines

Autors – abzubilden, sondern nähert sich dem von ihr selbst

generierten Gegenstand –»Diskursen« – an, ohne indes den

Ehrgeiz haben zu können, ihn letztlich dingfest zu machen. Ihre

Produktivität liegt genau darin, »von der Wahrheit nichts

wissen zu wollen«,37 d. h. deutlichen Abstand zum Generellen

und Allgemeinen zu halten, um im Gegenzug Treue zum konkreten

36 Friedrich A. Kittler, Einleitung, in: ders. (Hg.), Austreibung des

Geistes aus den Geisteswissenschaften. Programme des Poststrukturalismus,

Paderborn 1980, S. 7-14, hier S. 12 und Jacques Lacan, Die Wissenschaft und

die Wahrheit, übers. von H.-J. Rheinberger, in: ders., Schriften II, hg.

von Norbert Haas, 3., korr. Aufl., Weinheim—Berlin 1991, S. 231-257, hier

S. 254.37 Kittler, Einleitung, wie Anm. 36, S. 12.

18

Material bewahren zu können – oder eben zum Stil, zur

»originalen Syntax«.

Auf diese Weise kann Kittlers Analyse sich auf einer Ebene

mit den Denkwürdigkeiten Schrebers oder etwa den Romanen Thomas

Pynchons verorten. Sie sucht die Nähe zum Realitätswert

bestimmter Wahnvorstellungen, und zwar unabhängig davon, ob

diese nun in der Klinik oder durch den Literaturbetrieb

hervorgebracht werden. Umgekehrt ist eben deswegen Literatur

überhaupt dazu in der Lage, »Klartext« zu reden: weil sie

wahlweise »Paranoia der schlimmstmöglichen Wendung oder

Erkenntnis« ist.38

2. Die Historisierung einer Epistemologie

Vor diesem Hintergrund erscheint es nicht mehr als ganz so

selbstverständlich, daß Kittler die Nähe zur Diskursanalyse

Foucaults gesucht hat. Zwar erinnert das Schema, das im

Nachwort zur zweiten Auflage der Aufschreibesysteme suggeriert

wird, an Kittlers frühe Beiträge zur »psychoanalytischen und

psychopathologischen Literaturwissenschaft«. So wird in der

1981 veröffentlichten Studie zu Novalis’ »Heinrich von

Ofterdingen« ein erster, an Lacan orientierter Teil zur

38 Kittler/Tholen, Vorwort der Herausgeber, wie Anm. 5, S. 7.

19

»Psychoanalyse von Klingsohrs Märchen« klar von einem zweiten,

auf Foucault (und Derrida) ausgerichteten Teil zur

»Diskursanalyse des romantischen Romans« unterschieden.39

Aber es wäre etwas zu einfach, die Dissertationsschrift,

Der Traum und die Rede, in analoger Weise von der

Habilitationsschrift, den Aufschreibesystemen, abzugrenzen. Denn

zum einen hat schon die Studie über Conrad Ferdinand Meyer sich

auf Lacan und Foucault berufen, um den Wahn ebenso wie die

Literatur auf die »Kommunikationssituation« des Schreibers

zurückzubeziehen: »Vor den Texten, deren Autor Conrad Ferdinand

Meyer heißt, heißt es Meyer als Hörer der Diskurse Anderer zu

analysieren.«40 Zum anderen bleiben auch und gerade die

Aufschreibesysteme insofern psychoanalytisch orientiert, als sie

Diskurse im Sinne Lacans als eine »symbolische Form«, also

letztlich als eine gegen das Imaginäre arbeitende Schrift

begreifen, mit »der sich das Unbewußte in sozialen Beziehungen

manifestiert«.41

39 Friedrich A. Kittler, Die Irrwege des Eros und die »absolute Familie«.

Psychoanalytischer und diskursanalytischer Kommentar zu Klingsohrs Märchen

in Novalis’ »Heinrich von Ofterdingen«, in: Bernd Urban/Winfried Kudszus

(Hg.), Psychoanalytische und psychopathologische Literaturinterpretation,

Darmstadt 1981, S. 421-470 (Hervorhebung hinzugefügt).40 Kittler, Der Traum und die Rede, wie Anm. 11, S. 24.41 Lipowatz, Diskurs und Macht, wie Anm. 15, S. 123.

20

Damit steht zwar auch die Frage nach den

»Möglichkeitsbedingungen von Literaturwissenschaft« im Raum.42

Aber die Antwort, die Kittler auf diese Frage gibt, bleibt auf

Distanz zu dem, was diesbezüglich von einer Archäologie des

Wissens oder einer Wissenschaftsgeschichte der

Literaturwissenschaft zu erwarten wäre. Statt nämlich etwa im

Sinne Foucaults die Formationsregeln anzugeben, denen die

Gegenstände, Äußerungsmodalitäten, Begriffe und thematische

Entscheidungen dieser Wissenschaft unterlagen,43 warten die

Aufschreibesysteme mit einer an Lacans Unterscheidung der »Vier

Diskurse« ausgerichteten Rekonstruktion von zwei Macht- und

Wissensformen auf, die in ihrer Entstehung zwar datiert sind,

aber bis heute die Relationierung zwischen Literatur und

Wahnsinn bestimmen. Auf der einen Seite steht die um 1800

aufkommende Hermeneutik, die in Lacans Schema dem »Diskurs des

Herrn« und dem »Diskurs des universitären Wissens« entspricht,

insofern sie die Herrschaft eines vorgeblich neutralen Wissens

begründet, das den Wahnsinn als sinnlos verurteilt. Auf der

anderen Seite wird der um 1900 entstandene Strukturalismus als

eine Kombination aus dem »Diskurs der Hysterie« und dem

42 Kittler, Aufschreibesysteme, wie Anm. 4, S. 519.43 Michel Foucault, Archäologie des Wissens, übers. von U. Köppen, 7. Aufl.,

Frankfurt am Main 1995, S. 58.

21

»Diskurs des Analytikers« in Stellung gebracht, der die

Unabschließbarkeit des Wissensprozesses akzeptiert und mit der

Willkürlichkeit von Signifikanten buchstäblich rechnen kann.

Die hier kenntlich werdende Differenz zu Foucault zeigt

sich am deutlichsten an der Geschlechterfrage. Sicherlich, auch

Kittler ist an der Beziehung von »Sexualität und Wahrheit«

interessiert, aber dieses Interesse ist, anders als bei

Foucault, nicht am relativ abstrakten Gebrauch der Lüste,

sondern an Strukturen konkreter Familien zurückgebunden: Dichter-

Mutter-Kind.44 »Das Andere« heißt in dieser Sichtweise »immer das

andere Geschlecht«, wie Kittler ausdrücklich betont,45 und

dementsprechend läßt sich der wesentliche Unterschied zwischen

den beiden »Aufschreibesystemen« nicht nur insgesamt an der

Frage des Wahnsinnsausschlusses, sondern auch und insbesondere

an der jeweils unterschiedlichen Rolle des Geschlechts

festmachen.

44 Vermutlich hat Kittler aus diesem Grund den Familien-Text von Lacan

übersetzt und erläutert. Siehe Jacques Lacan, Die Familie [1938], übers.

von F. A. Kittler, in: ders., Schriften III, wie Anm. 26, S. 40-100. Die

bedeutende Rolle, die Kittler in der deutschsprachigen Lacan-Rezeption

gespielt hat, ist noch nicht gewürdigt worden. Siehe immerhin Hans-Dieter

Gondek/Michael Schmid/Peter Widmer, Lacan in den deutschsprachigen Ländern

– eine Bilanz, Riss 33/34, 1996, S. 113-139, hier S. 117.45 Kittler, Aufschreibesysteme, wie Anm. 4, S. 218.

22

So steht die Hermeneutik für die Einsetzung der Mutter als

oberster Diskursmacht und damit zugleich als eines großen,

umfassenden und einheitlichen Tresors von Signifikaten, deren

Sinn letztlich festgelegt ist. Der Strukturalismus markiert

dagegen das Aufkommen von »Frauen im Plural«, die das Subjekt

des Wissens mit einer unbegrenzten Vielzahl von willkürlichen

und zufällig verteilten Zeichen, also Signifikanten

konfrontiert. Deshalb läßt sich auch sagen, daß die Einsetzung

des Aufschreibesystems 1900 auf einem »Damenopfer« beruht.46 Es

liquidiert alle Diskurse, »die Geschlechter unifizieren«, und

löst damit eine Wissensform ab, die – gestern wie heute – auf

einem »Männerbund der Erziehungsbeamten« beruht, der

sicherstellt, daß der Funktionsort »Mutter« immer auch durch

Abstraktionen wie »Die Natur« oder Institutionen wie »Die

Universität« alias Alma Mater besetzt werden kann.47

Neben einer Geschichte der Literaturwissenschaft und einer

Geschichte der Geschlechterverhältnisse in den

Geisteswissenschaften ist dies das dritte große Thema, das die

Aufschreibesysteme umreißen: die Geschichte der Universität. Und

erneut ist es die Orientierung an Lacan, die hierbei zu

46 Ebenda, S. 441.47 Ebenda, S. 439.

23

interessanten Perspektivierungen führt. Zwar rekurriert Kittler

in diesem Zusammenhang auch immer wieder auf Nietzsches quasi-

ethnographische Beschreibung der Universität als

»Bildungsmaschine«, in der diese als Zusammenfügung eines

professoralen Munds und einer Masse von studentischen Ohren

erscheint.48 Aber es ist die Lacansche Charakterisierung des

Diskurses des universitären Wissens als eines bürokratischen

Diskurses, auf die er sich in seinen Analysen vor allem stützt.

Lacan zufolge ist der »Diskurs der Universität« nämlich

mit dem »Diskurs des Herrn« insofern verwandt, als er die

Herrschaft eines objektiven Wissens proklamiert – eines

Wissens, das sich zum einen durch den Ausschluß der

Geschlechterdifferenz, also des Ausschlusses von Angst vor dem

unassimilierbaren Rest, dem »Objekt klein a«, konstituiert, und

das sich zum anderen durch eine Unterwerfung realisiert, die

eine bestimmte Art von Subjekt hervorbringt. Der Diskurs des

universitären Wissens ist der Diskurs eines All-Wissens (tout-

savoir) und zugleich der Diskurs eines unpersönlichen Systems,

einer Bürokratie.49 In diesem System können Studenten nur eins 48 Ebenda, S. 26 sowie z.B. Friedrich Kittler, Optische Medien. Berliner

Vorlesung 1999, Berlin 2002, S. 9.49 Jacques Lacan, Le séminaire, livre XVII. L’envers de la psychanalyse,

Paris 1991, S. 34. Die deutschsprachige Rezeption dieses Lacan-Seminars

basierte in den 1970er und 1980er Jahren auf einer Vorlesungsmitschrift von

24

werden: Verfasser von Doktorarbeiten, d. h. Produzenten von

Kultur.50

Die Aufschreibesysteme unternehmen es nun, diese Sichtweise

der Universität zu historisieren: beispielsweise indem sie mit

Blick auf das Aufschreibesystem 1800 bündig feststellen, »der

universitäre Diskurs geht vom Diskurs eines Herrn aus«;51

beispielsweise indem sie unterstreichen, daß die Universität

des 19. Jahrhunderts dadurch zur nährenden Mutter wird, daß sie

»Posititivität in einem bürokratischen und damit schriftlichen

Apparat« annimmt, »der ihre Karikatur und Fortschreibung

zugleich ist«;52 beispielsweise indem sie, zunächst auf

Foucault anspielend, behaupten, daß die preußische

Universitätsreform von 1908 eine »radikale Zäsur im Verhältnis

von Sexualität und Wahrheit« darstellt, dieses Verhältnis aber

wenig später – im Rekurs auf Lacan – wesentlich auf »Frauen«

zuschneiden, die »von Sexualität reden«.53

Der Anspruch dieser Analyse des universitären Diskurses

ist kein geringer. Einerseits reklamiert Kittler, damit einen

Monique Chollet. Siehe dazu Thanos Lipowatz, Die vier Diskurse, in: Zeta 02,

wie Anm. 9, S. 137-154, hier S. 152, Anm. 11. 50 Lacan, Le séminaire, livre XVII, wie Anm. 49, S. 220.51 Kittler, Aufschreibesysteme, wie Anm. 4, S. 83.52 Ebenda, S. 70.53 Ebenda, S. 445.

25

blinden Fleck zu erschließen, der noch für die Archäologie des

Wissens kennzeichnend ist: »Selbst Foucault hat 1970, als er

seine künftigen Forschungsprogramme skizzierte und begründete,

nämlich den ›Willen zur Wahrheit‹ auf seiner institutionellen

Basis mitsamt seinen ›materiellen, technischen, instrumentellen

Investitionen der Erkenntnis‹ zu erforschen, die Untersuchung

jener Institution ausgelassen, die ihn eben diese ›Ordnung des

Diskurses‹ entwerfen ließ: die akademische Institution des

Collège de France.«54

Andererseits soll diese Analyse der Universität nicht auf

der Makroebene der Sozial- oder Wirtschaftsgeschichte, sondern

auf der Ebene jener »kleinen Anordnungen« oder Strukturen

durchgeführt werden, die das Funktionieren dieser Institution

in der alltäglichen Praxis sichern. Dazu zählen einerseits die

»kleinen Pädagogiken, die den Kindern erst einmal die Geister

austreiben, um sie hochschulreif zu machen«,55 sowie

andererseits jene Kompilierungsverfahren und Vortragstechniken,

54 Friedrich Kittler/Manfred Schneider, Editorial, in: Friedrich A.

Kittler/Manfred Schneider/Samuel Weber (Hg.), Diskursanalysen 2.

Institution Universität, Opladen 1990, S. 7-11, hier S. 7. Das ist die eine

Absetzung von Foucault. Die andere formulierte Kittler in dem berühmten

Satz »Um 1850 endeten die historischen Untersuchungen Foucaults.« Siehe

dazu Kittler, Aufschreibesysteme, wie Anm. 4, S. 519.55 Kittler, Einleitung, wie Anm. 36, S. 8.

26

mit denen Hochschullehrer ihre Professoralität autorisieren.

Hegel verläßt sich auf einen Zettelkasten, um Weltgeschichte

»auf einen pädagogischen Schattenriß« zu verkleinern,56 während

Lacan einen »Medienverbund zwischen Recorder, Kopfhörer,

Schreibmaschine« einrichtet, um die für sein Seminar

erforderlichen feedback loops zwischen Gelesenem und Gesprochenem

herzustellen.57 Worauf Kittlers Analyse des universitären

Diskurses letztlich abzielt, könnte somit als Untersuchung von

University in Action bezeichnet werden.58

3. Verschiedene Schicksale

Nach Kittlers Rückkehr aus Kalifornien scheint sich, trotz der

dort versäumten Begegnungen, dennoch ein Übergang zu eröffnen,

der von den Aufschreibesystemen zur neueren Wissenschaftsgeschichte

führt. Ende der 1980er Jahre gibt Kittler mit Manfred Schneider

und Samuel Weber zwei Sammelbände heraus, die den eben nicht

nur an Foucault, sondern besonders an Lacan erinnernden Titel

Diskursanalysen tragen. Der erste dieser Bände ist den »Medien«

56 Friedrich Kittler, Die Nacht der Substanz, Bern 1989, S. 19.57 Kittler, Draculas Vermächtnis, wie Anm. 9, S. 103.58 Siehe in diesem Sinn etwa William Clark, Academic Charisma and the

Origins of the Research University, Chicago – London 2006, in der die

Aufschreibesysteme zwar in der Bibliographie auftauchen, aber an keiner Stelle

im Text zitiert werden.

27

gewidmet,59 der zweite der »Institution Universität«. Das

Editorial des zweiten Bandes benennt zumindest die Frage, die

sich mit der Passage zur Wissenschaftsgeschichte stellen würde:

»Wie läßt sich ein Wissen/Forschen noch fassen, das als

Experiment das Reale selbst manipuliert [...]?«60

Es ist aber nicht Kittler, sondern Samuel Weber, der diese

Frage konkretisiert. Im Anschluß an Gaston Bachelards

Einschätzung, daß wissenschaftliche Beobachtung »stets

polemische Beobachtung« ist, schlägt Weber vor, diesen

polemischen Charakter nicht nur – wie Bachelard – auf das

Verhältnis neuer Theorien zu älteren zu beziehen, sondern – mit

Latour – auch im Prozeß des Experimentierens selber zu

verorten. Demzufolge sind Latours Untersuchungen als

Fortführung des anti-realistischen Ansatzes von Bachelard zu

lesen, insbesondere insofern sich schon dieser dafür

interessierte, wie wissenschaftliche Phänomene im Labor

»sortiert, gefiltert, gereinigt, in die Form der Instrumente

gegossen werden.«61

59 Friedrich A. Kittler/Manfred Schneider/Samuel Weber (Hg.),

Diskursanalysen 1. Medien, Opladen 1987.60 Kittler/Schneider, Editorial, wie Anm. 54, S. 10.61 Samuel Weber, Interpretation und Institution, übers. von R. Landvogt, in:

Kittler/Schneider/Weber (Hg.), Diskursanalysen 2, wie Anm. 54, S. 152-166,

hier S. 156.

28

Es bleibt bei der Konkretisierung einer Frage. Die an

dieser Stelle eigentlich naheliegende Verschaltung von

»Aufschreibesystemen« und inscription devices findet nicht statt. Im

Gegenteil, Kittler entfernt sich in den folgenden Jahren immer

mehr von dem Vorhaben, das regelhafte Funktionieren der

Institution Universität auf der Ebene »kleiner Anordnungen« zu

analysieren. Das hat nicht nur mit dem Aufstreben der

Medienwissenschaft (und damit der Mediengeschichte) im

deutschsprachigen Raum zu tun. Dafür gibt es auch

programmatische Gründe. Schon im Nachwort zur zweiten Auflage

der Aufschreibesysteme spricht Kittler sich für historiographische

Momentaufnahmen aus, »deren Perioden in Jahrhunderten zählen«,

um im gleichen Atemzug detailliertere und stärker

kontextualisierte Rekonstruktionen als Beiträge zu einer

letztlich irrelevanten Geschichte »kleinster Schritte oder

Unterschiede« erscheinen zu lassen.62 In späteren Arbeiten

wendet sich Kittlers Gebrauch der Geschichte aber selbst vom

Prinzip der kontrastierenden Diskursschnappschüsse ab, um sich

traditionelleren Formen der Historiographie anzunähern.

Während im Gefolge der Aufschreibesysteme eine jüngere

Generation von Medienwissenschaftlern beginnt, sich mit ihren

62 Kittler, Aufschreibesysteme, wie Anm. 4, S. 521.

29

historischen Projekten in eigenständiger Weise an Derrida,

Foucault oder etwa Canguilhem zu orientieren,63 nehmen die

Aufsätze Kittlers zusehends den Charakter von Fallstudien an,

in denen die Logik ausgedehnter Diskurskomplexe zum Subjekt

avanciert, an dem sich die kleinteilige Geschichtlichkeit der

Subjekte nur noch im Sinne von Symptomen niederschlägt. So

verbindet »Die künstliche Intelligenz des Weltkriegs« einen

rasant kompilierten Überblick zur Entwicklung militärischer

Logistik mit pointierten Einzelbeobachtungen zur Biographie

Turings. Der für das Handbuch Vom Menschen verfaßte Artikel

»Kommunikationsmedien« kombiniert den ebenfalls

kompilatorischen Versuch, über die Geschichte dieser Medien »im

ganzen und allgemeinen zu sprechen«, mit Fokussierungen auf

vielsagende Details, beispielsweise die unterschiedliche

Beschaffenheit von »Schreibflächen«.64 Der späte Essay

Universities. Wet, Hard, Soft, and Harder bringt das Prinzip solcher

Oszillationen auf den Punkt. Der erste Teil, der mit einem 63 Siehe zum Beispiel Bernhard Siegert, Relais. Geschicke der Literatur als

Epoche der Post, 1751-1913, Berlin 1993, Bernhard Dotzler, Papiermaschinen.

Versuch über Communication & Control in Literatur und Technik, Berlin 1996

und Peter Berz, 08/15. Ein Standard des 20. Jahrhunderts, München 2001. 64 Friedrich Kittler, Die künstliche Intelligenz des Weltkriegs. Alan

Turing, in: Arsenale der Seele, wie Anm. 5, S. 187-202 und ders.

Kommunikationsmedien, in: Christoph Wulf (Hg.), Vom Menschen. Handbuch

Historische Anthropologie, Weinheim – Basel 1997, S. 649-661.

30

Kurzabriß der europäischen Universitätsgeschichte aufwartet,

ist »Anamnese« überschrieben. Weitere Teile werden als

»Diagnose« und »Prognose« betitelt.65 Die Nähe zu Lacan wird

damit nochmals unterstrichen.

Unsterbliche greift dagegen auf ein anderes Modell zurück.

Mit den in diesem Band enthaltenen »Nachrufen«, »Erinnerungen«

und »Geistergesprächen« verwandelt sich Kittler die Form der

Elogen an, die Bernard Le Bovier Fontenelle seit Anfang des 18.

Jahrhunderts in der Académie des Sciences auf verstorbene

Mitglieder gehalten hat und damit – Canguilhem zufolge – der

Wissenschaftsgeschichte im heutigen Sinn einen entscheidenden

Anstoß gegeben hat: durch die zusammenfassende, populär

gehaltene Darstellung des Verhältnisses von Leben und

Erkenntnis.66 Ähnlich weit greifen die Vorlesungen über

Kulturgeschichte der Kulturwissenschaft und Optische Medien zurück, indem

sie, orientiert am Vorbild der Hegelschen Enzyklopädie, ein

»gleichermaßen historisches und systematisches Wissen« über

eine bestimmte Disziplin oder einen bestimmten

65 Friedrich Kittler, Universities. Wet, Hard, Soft, and Harder, in:

Critical Inquiry, Herbst 2004, S. 244-255.66 Kittler, Unsterbliche, wie Anm. 17 und Georges Canguilhem, Fontenelle,

philosophe et historien des sciences [1957], in: ders., Etudes d’histoire

et de philosophie des sciences concernant les vivants et la vie,

7. erw. Auflage, Paris 2002, S. 51-58.

31

Gegenstandsbereich präsentieren. Der Zweck dieser

Präsentationen ist die Einführung von Studenten in die Medien-

und Kulturwissenschaft. Geschichte tendiert hier dazu, zu einem

bloßen Werkzeug der Lehre zu werden – zum »pädagogischen

Schattenriß«.67

Für diese Entwicklung gibt es auch methodologische Gründe.

Trotz der wiederholten Anrufung des »Archivs« als zentralen

Wissensraums von Geschichtsschreibung und trotz des

gelegentlich als Routine präsentierten Einsehens von »Akten«,68

hat Kittlers Auseinandersetzung mit Geschichte nämlich im

Grunde stets an der Vorstellung festgehalten, daß Diskurse

»veröffentlichte Reden« sind. In diesem Sinne heißt es bereits

in Der Traum und die Rede: »Wie bei der Königsfelder Internierung

[Conrad Ferdinand Meyers] wird auch bei den anderen Reden

Anderer nur untersucht, was überliefert ist. Die

unveröffentlichten Dokumente des Zürcher Meyer-Archivs sind

nicht eingesehen worden.«69 Vor diesem Hintergrund liegt es

denkbar fern, einen Blick hinter die Kulissen des universitären

67 Friedrich A. Kittler, Eine Kulturgeschichte der Kulturwissenschaft,

München 2000 sowie ders., Optische Medien, wie Anm. 48, S. 17.68 Friedrich Kittler/Stefan Banz, Platz der Luftbrücke. Ein Gespräch, hg.

von Iwan Wirth, Berlin 1996, S. 11.69 Kittler, Der Traum und die Rede, wie Anm. 11, S. 25.

32

Betriebs zu werfen, um etwa der kleinteiligen Verfertigung von

wissenschaftlichen oder technischen Tatsachen auf der Ebene von

unveröffentlichten Notizbüchern, Zeichnungen und Briefen

nachzuspüren.

Darüber hinaus bleibt Kittlers Interesse an dem, was die

heutige Wissenschaftsgeschichte als »materielle Kultur«

bezeichnet,70 deutlich begrenzt. Mit Lacan geht er nicht nur

davon aus, daß die »Welt des Symbolischen« eine »Welt der

Maschine« ist.71 Umgekehrt gilt für Kittler auch, daß die Welt

der Maschine letztlich eine Welt des Symbolischen ist.

Bei Lacan wird diese Auffassung in nicht unerheblichem

Maße durch den Rekurs auf die wissenschaftshistorischen und -

philosophischen Studien Alexandre Koyrés gestützt, mit dem der

Psychoanalytiker seit den 1930er Jahren befreundet war. Koyré

zufolge besitzen wissenschaftliche Instrumente im

70 Siehe zum Beispiel Peter Galison, Image and Logic. A Material Culture of

Microphysics, Chicago – London 1997, S. 1-7, wo ausgeführt wird, die

»materielle Kultur« einer Wissenschaft bestehe aus den Maschinen,

Instrumenten und Ausrüstungsgegenständen, die den Alltag des Labors

bestimmen. Siehe in ähnlicher Weise Andrew Pickering, The Mangle of

Practice. Time, Agency, and Science, Chicago – London 1995, S. 1-34, der

als zentralen Gegenstand der Wissenschaftsforschung die »materiellen

Performanzen« sieht, die Wissenschaftler durch ihr Agieren im

»maschinischen Feld« des Labors hervorbringen.71 Kittler, Die Welt des Symbolischen, wie Anm. 10.

33

Wissenschaftsprozeß nämlich nur insofern Bedeutung, als sie

bereits ausformulierte Hypothesen verkörpern. Lacan übersetzt

diese Sichtweise in die zugespitzte These, daß die »physische

Natur« letztlich nichts anderes sei als »eine Hervorbringung

des Geistes [...], deren Instrument das mathematische Symbol

darstellt«.72 Oder in Koyrés eigenen Worten: »Nicht nur gültige

Experimente beruhen auf Theorie, sogar die Mittel, um sie

durchzuführen, sind nichts anderes als leibhaftige Theorie.«73

Damit ist genau die Position bezeichnet, gegen die sich die

Wissenschaftsgeschichte seit Hacking und Latour wendet.

Es überrascht daher nicht, daß der Materialismus, auf den

Kittler sich in seinen Analysen gelegentlich beruft, mit einem

historischen Materialismus nichts zu tun hat.74 Kittlers

vielzitierter Medienmaterialismus begreift sich vielmehr als

72 Jacques Lacan, Funktion und Feld des Sprechens und der Sprache in der

Psychoanalyse, übers. von K. Laermann, in: ders., Schriften I, wie Anm. 10,

S. 70-169, hier S. 128. Siehe auch Jacques Lacan, Psychoanalyse und

Kybernetik oder Von der Natur der Sprache, in: ders., Das Seminar, Buch II,

wie Anm. 28, S. 373-390: »Und wenn das Instrument gemacht ist, um die

Hypothese zu bestätigen, so besteht keinerlei Bedarf, das Experiment zu

machen [...]« (S. 378). 73 Alexandre Koyré, Ein Messversuch [1953], in: ders., Leonardo, Pascal und

die Entwicklung der kosmologischen Wissenschaft, übers. von H. Günther,

Berlin 1994, S. 47-80, hier S. 66.74 Diedrich Diederichsen, On All Channels. Media, Technology, and the

Culture Industry, Artforum, September 2012, S. 446-453, hier S. 448.

34

»informationstheoretischer Materialismus«, der vor allem darauf

ausgerichtet ist, Schriftsätze auf die

Kommunikationssituationen zurückzubeziehen, in denen sie

entstanden sind oder entstehen werden.75 Daß die »materielle

Kultur« dieser Kommunikationssituationen erschlossen wird, um

sie am Leitfaden von Schreibzeug und Schreibflächen, von

Instrumenten und Maschinen in eine übergreifende Geschichte von

Kultur und Gesellschaft einzubetten, mag programmatisch

vertreten werden, ist in konkreter Weise aber an keiner Stelle

ausgeführt worden. Trotz des immer wieder bekräftigten

Bekenntnis zur Hardware hat es in Kittlers Arbeit eine

historisch motivierte Untersuchung einzelner medientechnischer

Gerätschaften, die mit den museumsbasierten instrument studies der

Wissenschaftsgeschichte vergleichbar wäre, nicht gegeben. 76

75 Friedrich Kittler, Real Time Analysis, Time Axis Manipulation, in: Georg

Christoph Tholen/Michael O. Scholl (Hg.), Zeit-Zeichen. Aufschübe und

Interferenzen zwischen Endzeit und Echtzeit, Weinheim 1990, S. 363-377,

hier S. 363. Siehe auch ders., Aufschreibesysteme, wie Anm. 4, S. 520. Das

elementare Datum für eine materialistische Diskursanalyse wird darin

gesehen, »daß Literatur (was immer sie sonst noch in Leserkreisen bedeuten

mag) Daten verarbeitet, speichert, überträgt«. Insofern scheint es

fraglich, ob Kittlers Ansatz tatsächlich als eine Überbietung des

Posthumanismus in der aktuellen Wissenschaftsforschung zu verstehen ist.

Siehe in diesem Sinn aber Gane, Radical Post-humanism, wie Anm. 14, S. 39.76 Zu den ›instrument studies‹ siehe zum Beispiel José Ramon Bertomeu

Sánchez/Antonio García Belmar (Hg.), Abriendo las cajas negras. Colección

de instrumentos científicos de la Universitat de València, València 2002

35

Und wenn sich in Kittlers Schriften doch einmal Hinweise

auf die historische Dichte der Medien finden, dann fungieren

diese nicht unter dem Label »Materialität«, sondern sind mit

dem schillernden Begriff des »Realen« im Sinne Lacans

verknüpft. Das Reale wird von Kittler nämlich nicht nur als das

Unmögliche schlechthin betrachtet oder in die Mathematik

reeller Zahlen aufgelöst.77 Es ist für ihn immer wieder auch

eine greifbare Körperlichkeit von Medien – so etwa wenn er mit

Blick auf das Kino schreibt: »Real ist nicht die Seele, sondern

das Zelluloid.«78 Oder wenn es im Kontext der Auschreibesysteme

heißt: »Diesseits der Illusionen Mensch und Welt bleibt an

Realem einzig eine Kontaktfläche oder Haut, wo etwas auf etwas

schreibt.«79

sowie David Pantalony/Richard L. Kremer/Francis Manasek, Study, Measure,

Experiment. Stories of Scientific Instruments at Dartmouth College,

Norwich, VT 2005.77 Siehe dazu etwa die überarbeitete Fassung von Friedrich Kittler, Die Welt

des Symbolischen – eine Welt der Maschine, in: ders., Draculas Vermächtnis.

Technische Schriften, Leipzig 1993, S. 58-80, hier S. 65-70, wo eine

eingeschobene Passage den Unterschied zwischen »dem Realen« und »dem

Reellen« mit Blick auf die Geschichte der Mathematik begründet.78 Friedrich Kittler, Romantik – Psychoanalyse – Film. Eine

Doppelgängergeschichte, in: Jochen Hörisch/Georg Christoph Tholen (Hg.),

Eingebildete Texte. Affairen zwischen Psychoanalyse und

Literaturwissenschaft, München 1985, S. 118-135, hier S. 133. 79 Kittler, Auschreibesysteme, wie Anm. 4, S. 282.

36

4. Schluß

Bis solche und andere Möglichkeiten des Anknüpfens genutzt

werden, wird es beim spannungsvollen Dialog zwischen Analyse

und Geschichte bleiben. Der Analytiker sieht sich dabei auf

eine Dialektik der Diskurse verpflichtet, die vor allem darauf

zielt, in großen Überblicken den einzig möglichen, den

»logischen« Wechsel von einer Macht- und Wissensform zur

anderen zu skizzieren. Der Historiker setzt dagegen am Netzwerk

der materiellen Kultur an, um schon innerhalb einzelner Macht-

und Wissensformen eine »Vielfalt und Komplexität der

vermittelnden Wege« zu rekonstruieren.80 Während ersterer den

Zusammenhang von Macht und Wissen im Sinne des Herr/Knecht-

Schemas erfaßt, begreift letzterer diesen Konnex nach dem

Vorbild multipler Relationen zwischen unpersönlichen Kräften.

Der Analytiker untersucht die medientechnischen Bedingungen

bestimmter Erfahrungen und die Möglichkeitsbedingungen

einzelner Wissenschaften. Der Historiker weist die damit

unterstellte Trennung zwischen Apriori und Aposteriori zurück

und versucht, die Immanenz der Ereignisse in einem Feld der

80 Michel Serres, Einleitung. Das Kommunikationsnetz: Penelope [1964], in:

ders., Kommunikation. Hermes I, übers. von M. Bischoff, Berlin 1991, S. 9-

23, hier S. 11.

37

Wissenschaft, das immer auch ein Feld der Medien ist, zu

rekonstruieren.

Daraus leitet sich ein wichtiger Unterschied in den

Darstellungsweisen ab. Der Analytiker kann nämlich mühelos von

der Panorama-Ansicht zur Detailaufnahme wechseln. Zunächst

zeigt er – um auf die Einleitung dieses Beitrags zurückzukommen

– die Konstellation »Medientechnik und Physiologie um die

Jahrhundertwende«. Im nächsten Moment sieht man, wie Helmholtz

»vor allen anderen Kollegen« Edison die Hand schüttelt. Dem

Historiker bleibt demgegenüber nichts anderes, als auf die

geduldige Arbeit an long shots zu setzen, mit der einzelne

Figuren, humane und non-humane Akteure, oder ganze Gruppen in

ihrer jeweiligen Umgebung sichtbar gemacht werden – im

fraglichen Beispiel etwa dem International Electrical Congress,

der im August 1893 im Rahmen der Weltausstellung in Chicago

stattfand.

Das hat auch mit dem Tempo der Darstellung zu tun. Der

Analytiker kann durch einen einzigen Schnitt suggerieren, daß

der Physiologe Helmholtz dieses Forum nutzte, um per Handschlag

die überragende Bedeutung des Medientechnikers Edison

anzuerkennen (und er kann im nächsten Moment die Bedeutung

solcher Anekdoten mit Blick auf die symbolische Ordnung

38

herunterspielen). Der Historiker sieht sich dagegen auf das

Wissen zurückgeworfen, daß »vor allen anderen Kollegen« im

fraglichen Zusammenhang nicht zeitlich, sondern räumlich

gemeint ist. Tatsächlich war der Kongreß, auf dem Helmholtz mit

standing ovations als wissenschaftliches Genie gefeiert worden

war, schon vorbei, als sich die Delegierten des Kongresses mit

weiteren geladenen Gästen im Grand Pacific Hotel zu einem

festlichen Abendessen zusammenfanden.81 Edison gehörte nicht zu

den Delegierten und war deswegen an einem etwas abseits

stehenden Tisch plaziert worden. Als Helmholtz ihn sah, stand

er von seinem Tisch auf, ging zu Edison und begrüßte ihn per

Handschlag – so jedenfalls die apokryphe Schilderung von

Hermann Lemp, der einige Jahre zuvor von der Neuenburger

Telegraphenfabrik Matthäus Hipps in die Dienste Edisons

gewechselt war.82

81 Siehe David Cahan, Helmholtz in Gilded-Age America. The International

Electrical Congress of 1893 and the Relations of Science and Technology,

in: Annals of Science 67/1, 2010, S. 1-38, hier S. 11.82 Siehe Ronald W. Clark, Edison. Der Erfinder, der die Welt veränderte,

übers. von L. Nürenberger, Frankfurt am Main 1981, S. 193. Kittler zitiert

diese Arbeit wiederholt in den ›Aufschreibesystemen‹, führt sie dort aber nicht

in der Bibliographie auf. Wie der englischen Ausgabe von Clarks Buch zu

entnehmen ist, verlässt sich die Darstellung an der fraglichen Stelle auf

David O. Woodbury, Beloved Scientist. Elihu Thomson. A Guiding Spirit of

the Electrical Age, New York – London 1944, S. 213-214. Die dort zitierten,

aber nicht näher nachgewiesenen Erinnerungen Lemps befinden sich im

39

Die Frage des Analytikers, was Helmholtz dazu gebracht

hat, Edisons Hand zu schütteln, wird der Historiker auf

ähnliche Weise beantworten. Zum einen wird er auf Lemps

Einschätzung zurückkommen, daß Helmholtz die unter den

theoretischen Physikern der damaligen Zeit verbreitete

Hochnäsigkeit gegenüber Praktikern wie Edison nicht teilte.

Insofern wäre hier aber nicht von einer Begegnung zwischen

Physiologie und Medientechnik, sondern eigentlich von einem

Aufeinandertreffen von physikalischer Grundlagenforschung und

angewandter Physik zu sprechen. Zum anderen wird der Historiker

daran erinnern, daß Helmholtz und Edison sich schon von einer

früheren Begegnung her kannten. Im September 1889 hatten sich

Helmholtz und Edison anläßlich einer öffentlichen Vorführung

des Phonographen auf der Jahresversammlung der Deutschen

Naturforscher und Ärzte in Heidelberg kennengelernt.83 Bei

dieser Vorführung zeigte sich Helmholtz durch den

»außerordentlich deutlich[en]« Klang des Phonographen

Thomson-Nachlaß im Archiv der American Philosophical Association in

Philadelphia, PA. Siehe Hermann Lemp, Memoirs (July 2, 1938), Elihu Thomson

Papers, Series VII. Works by Others, Mss. Ms. Coll. 74, Box Series VII-2.

Die von Woodbury wiedergegebene Passage findet sich auf S. 16 des Lemp-

Typoskripts. 83 Leo Königsberger, Hermann von Helmholtz. Band 3, Braunschweig 1903, S.

24-25.

40

beeindruckt, und Edison versprach ihm daraufhin, ihm »ein

solches Instrument zu schicken«.84

Noch von Heidelberg aus wies Edison seine Werkstatt in

West Orange telegraphisch an, nicht weniger als fünf motor

phonographs an Helmholtz nach Charlottenburg zu schicken. Je

einer davon war für Helmholtz und für Siemens bestimmt, zwei

weitere für die Urania in Berlin und eines zur freien

Verwendung. Im Januar 1890 berichtet Helmholtz in einem Brief

an Edison, daß die täglichen Vorführungen der beiden

Phonographen im Observatorium der Urania und die Demonstration

eines weiteren Geräts in Stuttgart enormen Zulauf gehabt und

schnell dazu geführt hätten, daß der Phonograph »der Löwe des

Tages in Deutschland« geworden sei.85 Siemens hatte einige

Wochen zuvor noch bessere Nachrichten für Edison gehabt: Die

Regierung des Deutschen Reiches bestellte über ihn fünfzig

Phonographen für den Einsatz in preußischen Schulen.86

84 Hermann von Helmholtz, Brief an Anna von Helmholtz (20. September 1889),

in: Ellen Siemens-Helmholtz (Hg.), Anna von Helmholtz. Ein Lebensbild in

Briefen, Band 2, Berlin 1929, S. 18-19.85 Hermann von Helmholtz, Brief an Thomas Alva Edison (2. Januar 1890), in

The Thomas Edison Papers. Digital Edition, D9505AAA, online zugänglich

<http://edison. Rutgers.edu/digital.htm> (letzter Zugriff 24. Juli 2013).86 Werner von Siemens, Telegramm an Thomas Alva Edison (28. November 1889)

und ders., Brief an Thomas Alva Edison (3. Dezember 1889), in The Thomas

Edison Papers. Digital Edition, D8905AIT und D8905AJA, online zugänglich

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Helmholtz benutzte seinen Phonographen in der

Physikalisch-Technischen Reichsanstalt für einige

Probeaufnahmen von Musik und Gesang und zeigte Interesse, das

Instrument auch für Untersuchungen zur Klangfarbe der Vokale

einzusetzen.87 In seinem Brief an Edison verwies er aber auch

auf die Schwierigkeiten, die Aufzeichnungen auf den Zinnfolien

genau zu vermessen. Edison antwortete, indem er im Frühjahr

1891 drei verbesserte Phonographen an Helmholtz schickte. Ein

Gerät verblieb bei Helmholtz in der Reichsanstalt, die beiden

anderen leitete er an August zu Eulenburg, den Minister des

Königshauses, weiter.88 Zu diesem Zeitpunkt war Wilhelm II.

längst begeisterter Nutzer des Phonographen. Über Siemens hatte

der Kaiser schon Anfang 1890 einen Phonographen bei Edison

bestellen lassen89 – möglicherweise um im Verbund mit den

<http://edison. Rutgers.edu/digital.htm> (letzter Zugriff 24. Juli 2013).87 Entsprechende Untersuchungen mit dem Phonographen wurden seit Mitte der

1880er Jahre durchgeführt. Siehe dazu die Ausführungen von Alexander J.

Ellis in »Section M« des Anhangs zu seiner Übersetzung von Hermann L. F.

Helmholtz, On the Sensations of Tone As a Physiological Basis for the

Theory of Music, 2. Aufl., London 1885, S. 538-543.88 Hermann von Helmholtz, Brief an Thomas Alva Edison (19. März 1891), in

The Thomas Edison Papers. Digital Edition, D9148AAH1, online zugänglich

<http://edison. Rutgers.edu/digital.htm> (letzter Zugriff 1. August 2013).89 Werner von Siemens, Telegramm an Thomas Alva Edison (24. Februar 1890),

in The Thomas Edison Papers. Digital Edition, D9055AAH, online zugänglich

<http://edison. Rutgers.edu/digital.htm> (letzter Zugriff 24. Juli 2013).

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Schulphonographen das auf der Naturforscherversammlung in

Heidelberg skizzierte Projekt zu realisieren, »die Stimme des

alten Kaisers und des Kronprinzen Friedrich Wilhelm« weit und

breit hörbar zu machen.90

Für den Historiker würden sich somit die Gründe dafür

klären, daß Helmholtz 1893 in Chicago Edison die Hand

schüttelte. Dieser Handschlag verstünde sich nicht nur als

Ausdruck für die wissenschaftliche Wertschätzung der

technischen Produkte aus dem Hause Edisons, sondern auch – und

zuerst – als Bekräftigung einer bereits bestehenden

Bekanntschaft. Darüber hinaus reflektierte er die erfolgreiche

Einführung und Verbreitung des Edison-Phonographen in

Deutschland, die für Helmholtz mit der kostenfreien Überlassung

entsprechender Geräte für den eigenen Gebrauch verbunden war.

Aber vielleicht geht es gar nicht um Klärung, sondern um

Wirkung. Dann hätte, einmal mehr, der Analytiker das letzte

Wort.

90 Theodor Wangemann, Phonograph des Herrn Edison, Tageblatt der 62.

Versammlung deutscher Naturforscher und Ärzte in Heidelberg vom 18. bis 21.

September 1889, Heidelberg 1890, S. 141-143. Über die Vertrautheit Wilhelm

II. mit dem Phonographen siehe auch Friedrich Kittler, Grammophon Film

Typewriter, Berlin 1986, S. 123.

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