Ding-Denken. Architektur und Spekulation (Masterarbeit)
Transcript of Ding-Denken. Architektur und Spekulation (Masterarbeit)
Ding-Denken.
Architektur und Spekulation
(Masterarbeit)
Neda Genova // M.A. Medienkulturanalyse / 4. Semester / Matrikel-Nummer: 1867145
Betreuer: Prof. Dr. Reinhold Görling / M.A. Sven Seibel
Danke an Carla und Irina.
In der Begegnung mit ihnen ist der Chor um einige Fäden und Kurven vielfältiger,
bewohnbarer und gesprächiger geworden.
Ding-Denken
beginnt mit der Sorge.
(Manning 2011)
(vgl. Heidegger 1954)
Ding-Denken
trägt der Materialität und Produktivität der Welt Rechnung und lässt keine
ursprüngliche Duplizität in der Konzeption von Denken und Erfahrung, keine
Selbstaufspaltung in “Bewusstsein” und “Inhalt”, zu.
(vgl. James 2006: 8; 11)
Ding-Denken
räumt ein, dass ein Ding zugleich Gedanke und Gedachtes sein kann, ohne dass
es sich dabei um ein Paradox handeln würde. (19)
Es ist an Schnittstellen, an Kreuzungen, Überlagerungen und Zusammenkünfte
interessiert.
Ding-Denken
ist genauso sehr auf Beziehungen, wie auf “Erfahrungsglieder” gerichtet:
[…] jede Art von erfahrener Beziehung muß für genauso 'wirklich' wie alles
andere im System auch erklärt werden. (29)
Ding-Denken
stellt Affekt und Denken, Intellekt und Intuition nicht einander gegenüber. Es ist
ein Denken, das von Ereignissen durchzogen ist und das Potenzial hat, zu
1
affizieren und “das Intervall des Noch-nicht-Gedachten im Denken fühlbar” zu
machen.
(Manning 2011)
Ding-Denken
bedeutet, dass keine vorgegebenen, feststehenden Positionen von Wissendem/r
und Gewusster/m mehr möglich sind und dass diese Beziehungen erst
“gemeinsam im und durch das Ereignis konstituiert” werden (ebd.).
Es unterwandert Vorgänge, die darauf aus sind, priviligierten Positionen im
Denken zu befestigen.
Ding-Denken
bedeutet ein Denken, das versammelt und die “Welt als eine Gemeinschaft
aktualer Dinge” erscheinen lässt.
(Whitehead 2000: 80)
Von der Sorge angetrieben, nimmt seine Bewegung die Form eines Tendierens-
hin-zu an; es verkoppelt.
(vgl. Manning 2011)
Ding-Denken
gibt Anlass zur Spekulation – als Versuch, sich erzählend dem anzunähern, das in
seiner Unbestimmtheit und seinem Selbst-Genuß, aus einer Fragilität und
Widerspenstigkeit heraus, erst Bedeutung zu erlangen beginnt.
2
Ursachen
Indem ich diese Propositionen für das Ding-Denken an den Anfang dieses Textes
setze, möchte ich sie zu einer Art Startplatz für seine kommende Entfaltung
machen. Sie sind von Erin Mannings Auseinandersetzung mit dem radikalen
Empirismus von James und Whitehead angestoßen. Ihre Formulierung aktiviert
einen spezifischen Modus des Denkens. Zum einen stelle ich mich dabei der
Frage, welche konkreten Begriffe, Gedanken und Dinge dieses Denken
vorantreiben und zu einer seiner möglichen Ursachen werden können. Zum
anderen zeigt sich in dieser Einstellung ein Interesse für Unbestimmtheiten und
Offenheiten. Ich habe mich also entschieden, das Ding-Denken als Modus – und
nicht als Thema – dieser Arbeit zu betrachten.
So wie William James darauf beharrt, dass es “keinen allgemeinen Stoff gibt, aus
dem die Erfahrung in ihrer Gesamtheit gemacht ist” (21), so musste ich
feststellen, dass dies auch für das Denken gilt, wenngleich bereits als Ding-
Denken präzisiert. Auch für dieses lässt sich keine allgemeine Zusammensetzung
oder begrifftliche Definition festmachen.
Es gibt so viele Stoffe, wie es 'Eigenschaften' an den erfahrenen Gegenständen
gibt. (ebd)
– schreibt James weiter und setzt “Eigenschaften” in Anführungszeichen, da er
weiß, dass sie genauso wenig gegeben sind, wie ein allgemeiner Stoff es wäre. Als
Teil der Erfahrung sind sie relationale Elemente aus dem Stoff der Gegenstände
und der Gedanken, sie sind wirkliche Beziehungen.
Es gibt so viele Formen des Ding-Denkens, wie es potenziell gedachte
Verkettungen von Gedanken und Dingen gibt. Deswegen wäre der Versuch, das
3
Ding-Denken theoretisch zu formulieren, ein müßiger, seinen eigenen Prämissen
widersprechender Akt. Das Ding-Denken an sich gibt es nicht, es kann vielmehr
als eine Form oder als eine Beschreibung von Prozessen des Denkens bezeichnet
werden, die sich immer in konkreten Situationen und Relationen aktualisieren.
Eine solche Situation ist für mich eine Videoarbeit von Elizabeth Price – The
Woolworths Choir of 1979 (2012), mit der ich mich intensiver beschäftigt habe
und die ich aus einem Modus des Ding-Denkens heraus spekulativ herangehen
möchte.
Wie wird der Fluss oder der Virus zu einer Ursache für das Denken? (Stengers
2008: 181)
Wie wird der Chorus oder der Film, der Raum oder das Ornament zu einer
Ursache für das Denken? Wie kann man Denken als einen materiellen,
produktiven Prozess fassen, in dem versammelt und verknüpft wird?
Mein Vorschlag ist, Spekulation als eine Methode aufzufassen, die den materiell-
relationalen Möglichkeitsbedingungen des Ding-Denkens Rechnung trägt.
In der Auseinandersetzung mit Elisabeth Price' Videoarbeit möchte ich
verschiedene Möglichkeiten ausprobieren, wie ihre eigenen Denkformen zu
beschreiben sind und welche spekulativen Methoden sie selbst entwickelt, um
Raum und Erzählung miteinander zu verbinden.
Ich möchte mich im Schreiben der Herausforderung stellen, Theorien
gemeinsam mit dem Film zu entwickeln, anstatt sie auf ihn anzuwenden. Auch
möchte ich danach fragen, welche Methoden und Theorien der Film selbst
entfaltet, um zu spekulieren und ein Verhältnis zu Anderen – seien diese
Anderen Architekturen oder Publikum – aufzubauen.
4
Mir wurde im Prozess der Beschäftigung mit der Videoarbeit und vor allem im
Schreiben klar, dass diese Herangehensweise zwar produktiv und sinnvoll sein
mag, dass sie zugleich aber gewisse Spannungen mitproduziert. So musste ich
feststellen, dass Fragen nach dem Gleichgewicht im Text immer wichtiger
wurden, etwa das Verhältnis der Titelsetzung zum Rest der Arbeit.
Ist es gerechtfertigt, in seinem Titel nicht die Topik oder das Thema, sondern den
“Modus” (des Ding-Denkens), in dem der Text entstanden ist, zu bezeichnen? Ist
es plausibel, dem begrifflichen Erfassen von “Spekulation” wesentlich weniger
Platz einzuräumen, als ihre Präsenz in der Überschrift vermuten lässt und sich
stattdessen weiteren Theorien und Fragen, die in The Woolworths Choir of 1979
entwirrt werden, zu widmen?
Doch folgt man einer theoretischen Auseinandersetzung mit der Tätigkeit der
Spekulation, so wie sie unter anderen bei Whitehead und Haraway zum
Vorschein kommt, erscheint eine solche Herangehensweise fast unabdingbar.
Denn Spekulation, so wird sich später herausstellen, ist eine Praktik, eine Form
des Geschichtenerzählens – spekulieren, erzählen, sollte ich also auch.
Ich musste im Zuge des Schreibens feststellen, dass, setzte ich mich mit The
Woolworths Choir of 1979 auseinander, zugleich Gefahr liefe, mich von anderen
Theorien oder Vorannahmen zu entfernen oder sie auch ganz fallen lassen zu
müssen. Vor allem verlor ich im Schreibprozess die Vorstellung, es gäbe etwas in
diesem Film, das ich für die Erläuterung von Konzepten wie “Architektur”,
“Denken” und “Spekulation” verwenden könnte. Ich habe mich stattdessen
entschloßen, mich mit der Frage zu beschäftigen, auf welche Art Theorie und
Film zusammengebracht werden können. Dafür muss ein spekulativer Zugang
gefunden werden und als Ziel meiner Arbeit möchte ich gerne die Suche nach
diesem formulieren.
5
Notwendigerweise musste ich mich im Schreiben viel mit Prozessen der
Versammlung, der Wissensproduktion und der Positionierung auseinandersetzen
– Themen, die sowohl für Price' Videoarbeit zentral sind, als auch ebenso bei
jedem Versuch, sich schreibend jemandem Anderen anzunähern, wichtig werden.
Auf den folgenden Seiten werde ich mich vorerst mit der Methode der
Spekulation beschäftigen. Ich werde mich dabei der Frage nähern, was mich an
dieser Herangehensweise besonders anspricht und warum ich sie für eine
produktive Schreibmethode halte. Dabei untersuche ich Affinitäten zwischen
Whiteheads Begriff der Spekulation und der Harawayschen spekulativen
Fabulation (sf).
Daraufhin setze ich die Videoarbeit von Elizabeth Price als Ursache für mein
Denken und werde versuchen, ihr in ihrer Komplexität und Verschachteltheit zu
folgen. Ich greife Elemente – Themen und Methoden, Gesten und Töne – aus ihr
heraus und mache sie zum Anlass einer spekulativen Auseinandersetzung mit
The Woolworths Choir of 1979. Eine Qualität dieser Arbeit, die immer wieder
meine Bewunderung hervorruft, ist die Unmöglichkeit, sie völlig zu erfassen oder
zu erschöpfen. Mit jedem wiederholten Sichten entfalten sich komplexere und
interessantere Bezüge, Schichten und Dimensionen, sodass es nie zu einer
Ermüdung oder Abnutzung in unserer gegenseitigen Beschäftigung kommen
kann.
Ihr Denken hat mich selbst auf spezifische Art und Weise versammelt: ich musste
ihren Themen und Bewegungen folgen, um überhaupt mit ihnen schreiben zu
können. Ohne Zweifel verdanke ich dem Chor, dass ich die Notwendigkeit
gespürt habe, aufmerksamer schauen zu lernen sowie Präzision und Spiel nicht
als entgegengesetzt zu empfinden.
6
Im Folgenden skizziere ich kurz die einzelnen Kapitel dieser Arbeit und gehe
dabei insbesondere auf meine Fragestellungen und Gedankengänge ein.
Zunächst wird die spezifisch dreiteilige Organisation der Videoarbeit
beschrieben, sowie, ihrer Chronologie folgend, einige bedeutsame Ereignisse.
In den beiden darauffolgenden Kapiteln wird es um zwei Gesten gehen, die des
Zeigens und des Kreisens. Diese Bewegungen sind als besonders wichtig
empfunden – sowohl für die Art und Weise wie das Video strukturiert und
organisiert wird, als auch für die Produktion von Zeit, Raum und Geschichten,
die mithilfe dieser beiden Gesten ermöglicht werden. Ich beziehe mich auf
Whitehead, um bestimmte Operationen wie z.B. die Abstraktion zu beschreiben.
In dem Kapitel zu “Archiv, Vergangenheit, Zukunft” wird Raum geschaffen für
eine konkretere Beschäftigung mit den Vorgängen, die in The Woolworths Choir
of 1979 in Gang gesetzt werden, um Bezüge herzustellen, die quer durch
Raumzeitkontinuen verlaufen. Eine mögliche spekulative Methode mit
Vergangenheit umzugehen, ist die der Sprache und der wird in einem Umweg
über Heideggers etymologisch inspirierte Beschäftigung mit dem Ding und
seinen Affinitäten zum “Ereignis” und “Versammlung” gefolgt. In diesem
Abschnitt wird noch Whiteheads Konzeption des Erfassen-Ereignisses
eingeführt, mit ihren Implikationen für die Erfahrung von Zeit.
“Architektur” ist der Titel des darauffolgenden Kapitels, in dem die Frage
aufgeworfen wird, auf welchen Arten und Weisen räumliche Konstellationen in
der Videoarbeit zum einen thematisiert, zum anderen hervorgebracht und
vertauscht werden. Zwei herausragende Operationen des Films werden
aufgegriffen – die Rahmung und den Rhythmus – und es wird der Versuch
unternommen, ihre Rolle in den Prozessen der Territorialisierung
nachzuvollziehen. Weitere Themen in diesem Abschnitt sind auf der eine Seite
der Einsatz von Karten und Plänen, die das Verhältnis zur Architektur
7
vervielfältigen, und auf der anderen das Einbeziehen des Chors als
Organisationsprinzip und Thematik auf mehreren Ebenen des Films.
Schließlich ist das letzte Kapitel der Beschäftigung mit der Relation von Wissen
und Erzählung und ihrer Inszenierung in The Woolworths Choir... gewidmet.
Vielleicht werde ich an dieser Stelle wieder meinen anfänglichen Fragestellungen
zu “Spekulation und Architektur” näher kommen können, doch, so hoffe ich,
folge ich dabei einer anderen Fluchtlinie – und zwar der des Films – wenn ich
dies tue.
Spekulation
Spekulation ist eine Form des Ding-Denkens, die einige seiner Aspekte aufgreift,
sie narrativisiert und in eine produktive, risikobehaftete Tätigkeit der
Wissensproduktion einbettet.
Spekulation ist als Methode zu begreifen, in Beziehung zu treten. Methoden
zeigen eine Gerichtetheit hin zu... auf, sie befinden sich im Modus des Fragens
und resultieren aus einer Sorge um... etwas. Sie entstehen dort, wo
Bedeutsamkeit zu spüren ist oder auch dort, wo diese erst anfängt notwendig zu
werden. Nach Whitehead ist die Methode an die Frage nach dem Leben, oder,
noch dringlicher, nach dem „guten“ Leben gebunden:
Die Geburt einer Methode besteht im wesentlichen in der Entdeckung eines
bestimmten Manövers, eines Kniffs, wie man leben kann. Wenn sie es zur Reife
gebracht hat, erfüllt sie die für das gute Leben unmittelbar erforderlichen
Bedingungen. Aber dieses gute Leben ist nicht stabil [...] (Whitehead 1974: 18)
8
Das Leben ist „nicht stabil“, nicht vorauszusetzen; in gewisser Weise gibt es
dieses Leben noch nicht, da es gilt, Wege herauszufinden, um zu ihm zu
gelangen. Mit dem Streben nach dem „guten“ und „besseren“ Leben erklärt
Whitehead die Notwendigkeit von Zweckursachen und einer Aufwärtsbewegung
in die Natur (vgl. Whitehead 1974). Im gleichen Aufsatz „Die Funktion der
Vernunft“ stellt er zwei Aspekte der Vernunft vor: es gibt eine praktische,
methodisch vorgehende Vernunft, die sich mit den Fragen nach den
Zweckursachen und den Bedingungen des Lebens befasst, und eine spekulative
Form, die über die methodischen Grenzen hinausgehen soll (33f) und deren
Aufgabe es ist, „erfrischende Neuheiten begrifflich zu fassen“ (22). Beide
Funktionsweisen der Vernunft sind aufeinander bezogen und angewiesen. Die
erfrischenden Neuheiten sind Teil der Frage nach dem guten Leben, aber ebenso
nach dem zukünftigen und besseren Leben, denn es ist eine Aufgabe der
Spekulation „das Denken schöpferisch in die Zukunft wirken zu lassen“ (67).
Es gibt also einen weiteren Aspekt der Spekulation: ihre Gerichtetheit auf die
Zukunft. Spekulation ist somit an der Herstellung von neuen Denk- und
Lebensweisen, von Beziehungen und Formen der Verknüpfung beteiligt. Man
könnte demnach Frische und Experiment1 als zusätzliche Faltungen in die
Formulierung der Tätigkeit der Spekulation miteinbeziehen.
Spekulation als Methode schließt immer auch die Sorge darum ein, wie figuriert
und verknüpft wird. Als Denkform kümmert sie sich, sie macht die Frage nach
den angemessenen Mitteln (in Beziehung zu treten) zu ihrer Angelegenheit. Es
entsteht dabei ein Ort, wo gespielt und mit Erzählungen experimentiert wird.
1Spekulation hat etwas mit experimentieren zu tun, da es bei ihr um die vorsichtige Erprobung
von Methoden geht (ohne „mit“ oder „an“, um keine Trennung zwischen Experimentierendem
und Experimentierten zu ziehen). So wie der Gebrauch des Verbes von Isabelle Stengers
vorgeschlagen wurde, bezeichnet es „eine Praxis der aktiven, offenen, erhöhten
Aufmerksamkeit“. (Stengers 2008: 116) 9
Spekulation ist eine Form der Narration, die sich darum bemüht Sorge, Zukunft
und Experiment in andersartigen Erzählungen anzusiedeln. Die Spekulation ist
darauf aus „bewohnbare Narrationen“ (Haraway 1995b: 93) zu entwerfen, also
immer Ort und Topik miteinander zu verschränken. Diese Tätigkeit kann nicht
nachlässig oder beiläufig sein, da die Frage nach der Bewohnbarkeit zugleich eine
ethische ist. Es muss sich bei der Konzeption einer Ethik, so meine ich, nicht
unbedingt um das Erstreben eines „guten Lebens“ handeln. Eine spekulativ-
ethische Haltung impliziert die Aufmerksamkeit für Details, die Sorgfältigkeit in
dem Umgang mit Potenzialitäten und die Offenheit für die Möglichkeit anders zu
werden. Diese Situierungen ziehen automatisch die Notwendigkeit mit sich neue
Methoden, Mittel und Modelle zu erproben, sie erzeugen eine fortwährende
Produktion.
Haraway beschreibt die sf-Praxis als „ein Modell für das 'Worlding'“ (Haraway
2012: 12) – denn es geht bei ihrer spekulativen Fabulation um die spielerischen
Neu-Konfigurationen von Welten. 'Worlding' ist Prozess und Multiplikation, es
bezeichnet das Schöpferische und Offene an Beziehungen. Sf ist das Zeichen, das
für die Verdichtung mehrerer Materialitäten, Zeiten und Strategien der
Verknüpfung steht:
Sf ist jenes potente materielle semiotische Zeichen für spekulative Fabulation,
spekulativen Feminismus, Science-Fiction, Science-Fact, Science-Fantasy und, so
würde ich vorschlagen, String-Figuren. (ebd.)
Sf ist eine Methode, die sich nicht vor der Erzählung als Praxis der
Wissensproduktion scheut. Fiktion und Narration werden als wirksame „Kniffe“
eingesetzt, um andere Welten, Existenzformen und Erkenntniszusammenhänge
denkbar zu machen, miteinander zu vertauschen und Beziehungen neu zu
fabulieren. Erzählpraktiken dieser Art machen Wissen zu ihrer Angelegenheit, da
10
sie sich bewusst sind, dass Wissen und Denken Teil der Produktion von Welt
sind. Es geht nicht um die Dekonstruktion jeglichen Wissens oder jeglicher Basis
für Gemeinplätze, sondern um die Herstellung und Vervielfältigung dieser Stätte,
um einen spielerisch-ernsthaften Umgang.
Spekulation ist eine risikobehaftete Aktion, die „Gefahr [läuft], bei der Aktion
und Passion des Sorgens Fäden fallen zu lassen und Dimensionen zu verpassen“.
(ebd.) Sie muss sich also häufig ihrem potenziellen Scheitern oder der
Aushöhlung ihrer Methoden aussetzen. Auch die Möglichkeit Räume zu
verstauen oder zu verstellen liegt nicht fern. Das Spiel mit den Fäden erfordert
Aufmerksamkeit für ihre Webart, Dichte, Elastizität und Widerständigkeit. Es
geht dabei um Koordination von den ausführ- und denkbaren Bewegungen und
den „erfrischenden Neuheiten“ (Whitehead 1974: 22), die extravagante
Verknüpfungen und String-Figuren wagen. Beide Bewegungsarten sind wichtig,
um die Fäden weiterhin halten zu können, ohne sie zu verknoten oder zu
verlieren.
Die Fragen nach den Konsequenzen des Spiels können mit dem Zugriff auf
Fiktion und Erzählung nicht vom Tisch fallen, denn es ist von Bedeutung, welche
Geschichten wie erzählt werden und wem sie zu gelten haben. Die Ausrichtung
auf die Zukunft bringt Verantwortung und Spiel in die Nähe zueinander.
Offenheit bedeutet noch keine Distanz. Entfernung, Geschwindigkeit, Frequenz
und Ausrichtung sind auch Fragen der Zukunft.
Sf muss auch „so far“ („bislang“) bedeuten und damit das eröffnen, was in den
Vergangenheiten, Gegenwarten und Zukünften proteischer Zeiten erst noch
kommen wird.“ (ebd.)
Zu spekulieren bedeutet also Zeiten zu verwirbeln und mit Ursachen, Wirkungen
und Abfolgen zu spielen. Es heißt auch, die Zeiten mit Bedeutungen zu belagern,
11
die ihnen vielleicht fremd sind, und zu Stätten von Geschehnissen zu machen,
von denen sie womöglich nichts wussten. Das, „was […] erst noch kommen wird“
(ebd.) kann auch aus der Vergangenheit einströmen. Eine spekulative Methode
verpflichtet sich also der Erforschung und Erzählung von Vergangenem ebenso
wie Zukünftigem.
Die spekulative Tätigkeit gibt Anlass zu „jenseitigen Konversationen“ (Haraway
1995b: 81ff), sie „verwandelt dadurch alle Partner und Einzelheiten und schafft
sie neu“. (84) Spekulation produziert hybride, nicht einheitliche Gemeinschaften,
die sich Affinitäten und Assoziationen2 bedienen, um neue Formen und
Strategien der Versammlung zu entwickeln.
Spekulation lässt Unterscheidungen wie jene zwischen Theorie & Praxis,
Beschreiben & Ausführen, Produzieren & Repräsentieren zusammenfallen. Eine
Beschreibung kann schon spekulativ sein. Theorie versteht sich als Worlding und
somit als eine Praktik unter anderen. Der Idee einer getreuen, keine Differenzen
produzierenden Repräsentation wird das Vertrauen entzogen.
Ich verstehe diesen Text als eine spekulative Arbeit. Die Art und Weise, wie ich
versucht habe, mich mit The Woolworths Choir of 1979 zu verknüpfen, hat mich
genauso wenig unverändert gelassen, wie das Video selbst. Auch ich musste erst
im Schreiben vorsichtig Methoden erproben, in Beziehung zum Film zu treten
und mich Gemeinschaften hineinbegeben, die mehr als die bereits vermuteten
Konversationspartner_innen einzuschließen schienen. Es entstanden dabei
überraschende Gesprächsthemen und -Orte, Gedanken-Dinge und Fäden, denen
ich folgen musste.
2„Affinität: eine Beziehung auf der Grundlage von Wahl, nicht von Verwandtschaft, die
Anziehungskraft einer chemischen Gruppe für eine andere, Begierde.“ (Haraway 1995a: 40)
Assoziation: siehe S. 76f in dieser Arbeit. 12
Geh spielen: Geh figurieren, so fordert Haraway (2012: 14) auf. „[E]in ernster
Scherz“ (12), aber auch ein Angebot, eine Verheißung. Man spielt, genießt und
spekuliert nie alleine; das bedeutet zugleich, dass wenn Fäden fallen, auch
Andere davon betroffen werden. Die Möglichkeit, im sf-Modi neue Allianzen und
Bündnisse herzustellen, birgt die Gefahr, dass diese vielleicht nicht fortbestehen,
dass sie nicht gleichermaßen als relevant empfunden oder gar von Anderen mit-
gedacht werden.
Doch da sf zugleich Experiment, Reise, Herausforderung, Hoffnung, Wagnis,
Frische, Spiel, Humor und Gespräch bedeutet, zieht Spekulation auch eine
gewisse unwiderstehliche Notwendigkeit mit sich.
Für diesen Text bleibt es noch aus zu erproben, welche Räume, Fragen und
Gesten sich als spezifische Methoden für eine spekulative Auseinandersetzung
mit The Woolworths Choir of 1979 am ehesten eignen.
The Woolworths Choir of 1979
The Woolworths Choir of 1979 ist der Titel einer 18-minütigen Videoarbeit der
Künstlerin Elizabeth Price, die im Jahr 2012 für die mit dem britischen Turner
Preis3 ausgezeichnet wurde. Die Arbeit verbinde ich persönlich vor allem mit
einer Kinoerfahrung, da ich sie zum ersten Mal im Rahmen des transmediale
Festivals 2013 in einem Berliner Kinosaal sichten konnte. Der Abspann “the next
screening will commence in 1.29... 1.28... 1.27 minutes” gibt jedoch Auskunft
darüber, dass sie ebenso als geloopte Installation angelegt ist.
3Er wird seit 1984 jährlich an einem_r in Großbritannien geborenen, lebenden oder schaffenden
Künstler_in unter 50 Jahren von dem TATE Britain vergeben. (siehe Quellenverzeichnis)13
Das Video ist formell in drei Teile gegliedert, die auf dem ersten Blick ziemlich
unterschiedlich und gar zusammenhangslos erscheinen mögen. Es gibt jedoch
Elemente und thematische Schnittstellen, die quer durch die dreiteilige
Organisation des Werkes laufen und immer wieder auftauchen: der Einsatz von
split screen, die Arbeit mit Schrift und Rhythmus, mit Archivbildern oder mit
solchen, die aus anderen visuellen Medien wie z.B. der Fotographie, Animation
und dem Musikvideo, die in Price' Video eingeführt und neu komponiert werden.
Im Folgenden möchte ich versuchen, die Arbeit in ihrer formellen Organisation
zu beschreiben, bevor ich mich später ihrer vielfältigen Themen und spekulativen
Methoden widmen kann.
Auditorium
Im ersten Teil wird die räumliche Anordnung eines Kirchenchors aus dem 13ten
Jahrhundert (Gansing et al. 2013: 235) in Szene gesetzt. Es werden
Informationen vermittelt, wie dieser aufgebaut ist und aus welchen Elementen er
besteht. Auf der Seite von MOT International4 wird der Anfang der Arbeit als
Auditorium bezeichnet, es ginge in ihm darum, eine Stätte für das kommende
Geschehen zu etablieren und die Situation eines Zuschauerraumes zu erzeugen.
Es wird tatsächlich das Gefühl hervorgerufen, man befinde sich als Zuhörer_in in
einer Vorlesung. Es wird um Aufmerksamkeit und um Zuschauen gebeten, die
Konzentration wird durch die rasche Abwechslung von kommentierenden oder
erläuternden Bildern gefordert und nicht selten strapaziert. Es hat den Anschein,
dass es darum geht, nicht nur in einen Raum eingeführt zu werden, sondern auch
etwas über diesen zu lernen, zu erfahren, festzuhalten. Das Bild wird oft durch
einen split screen oder durch das Nebeneinanderlegen von unterschiedlichen
4 Vgl. Quellenverzeichnis.14
Fotographien gebrochen. Es handelt sich hauptsächlich nicht um Bewegtbildern,
sondern um viele einzelne abfotographierte Buchillustrationen, die zu
bestimmten Bereichen der Inneneinrichtung der Kirche gruppiert werden. Es
wird eine Spannung zwischen dem Bemühen, den Eindruck eines
dreidimensionalen Raumes zu schaffen und diesen Bildern erzeugt, bei denen es
keinen kontinuierlichen Fluss, kein Volumen, kein Eintauchen in eine
Atmosphäre gibt. Vielmehr handelt es sich um viele ausgeschnittene, auf neutrale
Flächen gelegte Fotographien, auf die gezeigt wird und die mit an
Lexikoneinträgen erinnernden Verweisen beschriftet sind. (Abb. 1-3) Dabei gibt
es oft keine Zeit, sich auf diese einzulassen oder sie kontemplativ zu betrachten.
Manchmal sind sie nur für einen Sekundenbruchteil zu sehen, bevor ein auf der
Klangebene zu hörendes Schnipsen das Eintreffen des darauffolgenden Bildes
ankündigt. Die ganze Arbeit ist von dem Geräusch des Schnipsens durchzogen, es
rhythmisiert sie5 und schafft den Eindruck einer Präsentationssituation, die unter
Zeitdruck entstanden ist. Diese Impression wurde von der Künstlerin selbst im
Rahmen eines Publikumsgespräches6 untermauert: sie habe mit ihrem Schnipsen
und mit der Wahl der Schrift nicht zuletzt an Programme wie PowerPoint
gedacht. Diese beiden Elemente – das Schnipsen und die Textverweise – sollten
nämlich das Gefühl einer didaktischen Situation verstärken, wodurch der Modus
des Zeigens/Sehens eingeleitet wird.
Eine andere Präsentationsart fügt sich zusätzlich den zum Teil anstrengenden
Aneinanderreihungen von Bildern hinzu und versucht einen Eindruck von den
5Es ruft zudem die relativ eindeutige Assoziation mit dem Auslösen eines Kameraverschlusses
hervor und wechselt sich oft mit anderen Geräuschen ab, wie z.B. mit Klatschen oder dem
Zerbrechen von Glas. Zum Verhältnis von Architektur und Rhythmus werde ich später zu
sprechen kommen. (vgl. S. 62ff)
6Das am 2. Februar 2013 im Rahmen des transmediale Festivals in dem Haus der Kulturen der
Welt (HKW) in Berlin stattfand. 15
Zusammenhängen zu verschaffen, die zwischen den unterschiedlichen
räumlichen Details bestehen. Es handelt sich um den Einsatz von Animationen
(Abb. 4; 22): schlicht gehalten, mit hellfarbigen, geraden Linien auf einem
schwarzen, gleichmäßigen Hintergrund werden die Konturen von
unterschiedlicher Komponenten des Raumes skizziert. In zwei Zügen wird dabei
die Architektur des Chors in Bewegung gesetzt: zum einen werden immer neue
Figuren in beeindruckender Geschwindigkeit entworfen und tauchen auf der
schwarzen Fläche auf, zum anderen werden wir selbst bewegt, wenn wir von
einem raschen, kameraartigen, diesmal das Volumen des Raumes schneidenden
Blick, mitgezogen werden. Er schafft sich eine Sicht von oben auf verschiedene
Seiten des Chors und stärkt das Gefühl von Klarheit, Überblick und Präzision.
Im Auditorium7 wird Wissen über die Konstruktion des Chors vermittelt: er ist
ein besonderer Bereich einer Kirche ist, in welchem normalerweise die
Geistlichen Platz nehmen. Auf Englisch kann er choir oder auch quire heißen.
Vom Mittelschiff ausgehend ist dieser Bereich durch eine Leinwand (parclose)
abgetrennt und besteht aus zwei Hauptteilen – chorus abbatis und chorus
prioris. Wir lesen außerdem wie er ausgestattet und dekoriert ist, erfahren was
Dreipass (trefoil), S-Kurve (ogee) und Vierpass (quatrefoil) sind und dass die
ornamentalen Figuren, die oft an “untergeordneten” Stellen im Raum (wie unter
den Kirchenstühlen oder an den Enden der Bänke) zu sehen sind und profane,
fantastische sowie animalische Szenen darstellen, auch als Miserikordien
(misericords) bekannt sind.
Es scheint mir, dass es einige Momente in diesem ersten Teil gibt, die eine Form
der Überraschung oder auch des Staunens hervorrufen sowie Schauen, Wissen
und Humor miteinander verbinden: ein solcher Moment ist gerade mit der 7Darunter verstehe ich sowohl den ersten Teil der Videoarbeit, als auch den Ort, der durch die
didaktische Präsentationsart hervorgebracht ist. Dieser breitet sich auf die Zuschauersituation aus,
sodass wir, die Betrachter_innen des Videos, in diese hineingezogen werden. 16
Verdichtung der Miserikordiebilder (vgl. Abb. 5-7) assoziiert. Der Anblick von
diesen “profanen” Szenen rief bei jeder Sichtung mit Anderen Gelächter und
Schnaufen im Auditorium hervor.
Ein anderes Moment findet dann statt, wenn eine Beziehung zwischen den
unterschiedlichen Bedeutungen von quire/choir gespannt wird und wir erfahren,
dass die Wörter nicht nur etymologisch mit dem griechischen chorus verwandt
sind, sondern dass der Begriff auch in der Buchbinderei verwendet wird. Diese
Stelle fällt auf, da sie eine Intensität schafft, indem sie Informationen aus
anderen Orten und Wissensbereichen einleitet und die Verknüpfung von Zeigen,
Wissen und Schauen zur Schau stellt. Sie blendet dazu noch Bilder aus dem im
zweiten Teil des Videos eine zentrale Rolle spielenden Pop-Chor ein. Es wird ein
erzählendes “wir” suggeriert, das uns adressiert, auffordert und dem wir die
Einblicke in diese Bezüge zu verdanken haben:
now see how the chorus abbatis
and the chorus prioris [.] return [.]8 [.]
how they run around the rood screen
so that the stalls encircle [*] the space
WE KNOW9 [*]
indeed we know [*]
that the word choir and quire
are derived from the [*] greek word chorus
WE KNOW [*]
8[.] wird im Folgenden für ein Schnipsen stehen, [*] für Klatschen.
9Siehe Abb. 8. Das gleiche Bild mit dem Schriftzug WE KNOW kommt an zahlreichen Stellen in
der Arbeit vor, es wird meistens für einen Sekundenbruchteil eingeblendet und vom Klatschen
begleitet. Mit halbfettem Sternchen markiere ich die Momente, in denen Klatschen und
eingeblendetes Bild gleichzeitig geschehen. 17
meaning a circle of dancers [*]
speaking and singing in unison [*]
and that the term quire
WE KNOW [*]
is also used in bookbinding [.]
to denote a fourfold
a gathering of four folded papers
assembled to form a booklet
(Price 2012: 03:37-04:09)
Der Übergang vom ersten zum zweiten Teil der Arbeit passiert kurz nachdem die
misericords vorgestellt worden sind, indem die Beschreibung des choir/quire
immer häufiger durch andersartiges Bildmaterial unterbrochen wird. In der
Übergangssektion wird noch über andere Figuren (sepulchral effigies) und
Monumente berichtet, die sich am Boden des Chors oder auch im Mittel- und
Querschiff befinden können. Es handele sich dabei um liegende Gestalten, die
jedoch höchst lebhaft wirken. An dieser Stelle des Videos werden immer mehr
Bilder aus dem Popsong10 eingeschnitten, wir hören immer öfter ihr Klatschen,
Singen und Summen. Wir nähern uns also.
Chorus11
Der Chor, deren Mitglieder (noch) nicht zu bestimmen sind, versammelt sich aus
dem Verweis auf eine “auffällige” Geste heraus: bei einer der liegenden
supulchral effigies (Abb. 9) sei die Verdrehung des rechten Handgelenks 10Out In The Streets von Shangri-Las.
11Eine Niederschrift der Minuten 06:32 bis 08:52 ist im Anhang zu finden. Ohne sich scharf von
dem Rest der Arbeit abgrenzen zu lassen, umfasst dieser Abschnitt die Herausbildung des Chors.18
überraschend und expressiv. Man könne nicht genau festlegen, was diese Geste
bedeutet, dennoch könne man versuchen, ihr in den Bögen zu folgen, in den
ornamentalen Faltungen der Drei- und Vierpässe und der S-Kurven. Die
Aussagen des versammelten Chors sind besonders wichtig für das
Zusammenhalten des Geschehens, weil sie zeigen, dass gerade die Geste der
Knotenpunkt ist, der die drei Teile der Arbeit miteinander verschränkt. So wird
nahegelegt, dass die Bewegungsart dieser Geste zum Organisationsprinzip der
Videoarbeit wird, indem eine Beziehung zwischen dem sich windenden Arm und
dem ineinander verflechtenden Bildmaterial hergestellt wird. Die Stelle wirkt
durch den schnellen Montagerhythmus und die hohe Lautstärke so intensiv, dass
die konkreten Äußerungen des Chors nicht in ihren Einzelheiten festgehalten
werden können. Sie sind nicht als separate, informationshaltige Einheiten
wahrzunehmen, sondern wird vielmehr durch die spezifische Montageart ihre
Wissensbeladenheit erfahren. Wir hören Verse aus einem Lied der Shangri-Las:
Out In The Streets. Zeitgleich wechseln sich zusammengeschnittene Bilder aus
unterschiedlichen Musikvideos ab, in denen besonders die ähnlichen
Handbewegungen der diversen Interpreten ins Auge fallen. Gerade durch diesen
Nachdruck auf die Gesten sei die Empfindung einer Versammlung erzeugt, die
uns als Zuschauer_innen adressiert – so liest man auf der Seite von MOT
International:
The emphasis upon consistent and similar hand gestures, in particular, across
many diverse performances is used to establish the dancers as a coherent
expressive assembly, addressing the viewer. (MOT International)
Zugleich wird das Klatschen immer häufiger und aufdringlicher. Es entsteht das
Gefühl von einem einzigen, aus heterogenen Figuren bestehenden Chor – dessen
Teil nicht nur die Musik_innen sind, sondern auch die S-Kurven des 19
Kirchenchors, seine Drei- und Vierpässe. WE KNOW, WE ARE TREFOIL, WE
ARE QUATREFOIL, WE ARE QUATREFOIL, WE KNOW, WE ARE
CINQUEFOIL, WE ARE FIVEFOLD, CINQUEFOLD, WE KNOW, WE ARE
CHOIR, WE ARE QUIRE, WE ARE CHORUS. Der Chorus vermengt die Räume
und die Zeiten, die Formen und die Klänge, er verführt und überfordert,
verspricht sein Wissen mit uns zu teilen – AND WE WILL SHOW YOU – ohne
aber auf uns zu warten. Es scheint so, als würden die tanzenden, singenden
Gestalten den anderen Raum, den des Kirchenchors, bevölkern: aber auch, dass
durch diese Eindringen der Raum verwirbelt und zerfetzt, multipliziert worden
ist. So kann eine Öffnung hin zu anderen Zeiträumen und Geschichten entstehen.
Feuer
Im dritten und letzten Teil der Arbeit wird der Versuch unternommen, sich
einem historischen Ereignis anzunähern: einem Brand, der 1979 im Kaufhaus
Woolworths im Zentrum von Manchester stattfand und das Leben von zehn
Menschen nahm. Der Chor verspricht uns eine Erzählung oder eine Einsicht in
das Geschehen (WE WILL SHOW YOU), doch es dauert lange, bis wir überhaupt
erfahren, was passiert ist. Die ersten Bilder, die wir zu sehen bekommen, sind
von Menschen, die darüber berichten, was ihnen an jenem Tag widerfahren ist.
Wir hören keine Stimmen (außer denen des singenden Pop-Chors), sondern
lesen neben wiederkehrenden verblüfften Gesichtern immer wieder die gleichen
Sprachfetzen, wodurch wir dem Versuch beiwohnen wie mit immer den gleichen
Gesten und Worten das Feuer, die Klänge, der Rauch in den Augen sowie das
Geräusch des aus den Fenstern fallenden Geschirrs zu beschreiben versucht wird.
(Abb. 13; 14)
20
it all went up... it all went up... it all went up... in a matter of minutes... and we
saw the smoke... it all went up... we went down... but it was full of smoke... we just
couldnt see... in a matter of minutes... smoke was in your eyes... so we just came
down... and we saw all the flames coming up... it all went up... and all the girls...
throwing the cups down... and i kept hearing the sound... they were breaking all
the glass... throwing the cups down... they just kept breaking... and i kept hearing
the sound... down to the ground here... (Price 2012: 09:25-12:40)
Das Geschehene kann nicht zusammenhängend oder von einer einzigen Person
wiedergegeben werden, es scheint vom Chor umtanzt zu sein. Denn der Chor
begegnet den Zeugen, nimmt ihnen die prägnanten Wörter aus dem Mund und
setzt sie neu zusammen, sodass er eine Art mehrstimmige Erzählung oder auch
einen Polylog zwischen den unterschiedlichen Überlebenden erstellt. Er richtet
unsere Blicke auf die kreisenden Bewegungen ihrer Hände, die vielleicht aus dem
Bemühen hervorgebracht worden sind, den Rauch oder die Gesten der im
Woolworth eingesperrten Menschen, die verzweifelt ihre Arme aus einem
vergitterten Fenster streckten und Gläser auf die Straße warfen, nachzuahmen.
(Abb. 15) Diese Aufnahmen vom Brand 1979 werden uns ebenso wie die
kreisenden Bewegungen der berichterstattenden Zeugen immer wieder gezeigt.
Der Popchor schwindet in diesem letzten Teil nicht, sondern erinnert an sich mit
kurzen eingeschnittenen Bildern aus den Musikvideos, die wir bereits kennen. Es
entsteht eine Assemblage, in der die Aufnahmen der Interpreten nicht fremd
oder deplatziert wirken, sondern Teil des Geschehens bleiben und zwar als
Erzähler_innen und Zeugen, welche die über mehrere Zeiträume hinweg
entstandene Gesprächssituation leiten, halten und als ambivalenter Tanz
erscheinen lassen.
Später erfahren wir was genau im Jahre 1979 in Manchester passiert ist: ein
tödlicher Brand, um derer Rekonstruktion sich nicht nur seine Zeugen, sondern
21
auch Experten bemühen mussten. Für die Auflösung des Geschehens werden im
Video zusätzliche Archivaufnahmen ins Spiel gebracht. Dabei handelt es sich um
nachträglich erstellte Fernsehberichte, welche mit Hilfe von Raumplänen und
Informationen über die Brenneigenschaften der gelagerten Möbel die Umstände
des Brandverlaufs erklären. Die letzten paar Minuten des Videos sind ganz dieser
Maßnahme gewidmet, die die Bedingungen für das Entstehen des Feuers zu
rekonstruieren und seine Besonderheiten – von der Dichte des Rauches bis hin
zu der Geschwindigkeit, mit der er sich ausgebreitet hat – filmisch festzuhalten
sucht.
Im Vergleich zum Rest des Videos ist dieser Teil still und von Dauer sowie eher
selten von den vertrauten Schnappschüssen unterbrochen. Die Flammen wallen
in der speziell dafür gebauten Einhausung, die sich erkennbar in einem größeren
Lagerraum befindet. Der Rauch breitet sich in großen Zügen aus. Wir sehen eine
Uhr, die vermutlich die Zeit, die das Feuer braucht, um den Raum komplett zu
vernichten, messen soll. Das Bild ist noch gespalten. Anfänglich zeigt es links
Aufnahmen in Farbe, rechts in Schwarz-Weiß, es zoomt immer mehr in das Feuer
heran, konzentriert sich auf zwei in Flammen geratenen, aufeinander gestapelten
Stühle. Dann: auf beiden Seiten nur noch Schwarz-Weiß, click, die Uhr
verschwindet, click, der Rauch beschlägt die Fläche, click, unbemerkt zeichnet
sich die Trennlinie zwischen den beiden Bildern ab, click, wieder Rauch, diesmal
auf dem ganzen, nicht gespaltenen Bildschirm verteilt: the next screening will
commence in 1.29 minutes...
22
Zeigen
Im Film sind mir zwei Arten der Bewegung aufgefallen, die durchgehend
auftauchen, prominente visuelle Elemente darstellen und ihn zugleich
strukturieren und organisieren. Zum einen ist es die Geste des Zeigens oder des
Verweisens. Zum anderen gibt es auch eine Menge kreisender, reigende
Bewegungen, die gerade die Unmöglichkeit (oder die fehlende Notwendigkeit)
der Lokalisierung und des Aufdeckens offenlegen.
Die Videoarbeit fängt mit dem Satz this is the choir an und seit ihren ersten
Sekunden gibt sie den Anschein, dass sie uns durch ihr Zeigen als interessierte
Zuschauer_innen adressiert. Die Momente des Zeigens sind stark mit einer Logik
des Lehrens / Lernens verwoben: sie äußern sich in der bereits erwähnten
didaktisch anmutenden Situation, der Art und Weise wie die Bilder im
Auditorium präsentiert werden, der kontinuierliche Einsatz von erläuternder
Schrift, die Akzente setzt, Verweise formuliert und Definitionen liefert. Das
Zeigen ist scharf, es bildet einen Punkt, hat eine Spitze, es kratzt sich in das Bild
ein, es ist aggressiv und fokussierend. Es bietet eine Richtung an, es führt
Bedeutung herbei, es ist parteiisch und lenkend. Somit ist es spekulativ, wenn
Spekulation als eine Methode verstanden wird, Beziehungen und Tendenzen
herzustellen. Das Zeigen verschafft auch Raum, es zeugt von einem Geschehen,
das hier, genau an jenem Ort, an dieser Stelle passiert ist. (Abb. 17-18) RIGHT
HERE lesen wir immer wieder von neuem: das Feuer ist hier ausgebrochen, in
der Möbelabteilung und den Rauch haben sie da, genau da gesehen. (Abb. 15)
Es sind Schriftzüge, Fotos, Stifte, Karten, und ganz viele Hände, mit denen
gezeigt wird und die selbst zeigen. Irgendwann ist es nicht mehr möglich zu
unterscheiden: verweist die Hand auf etwas anderes oder ist es gerade sie, auf die
23
gezeigt wird? Der Film vermischt viele Instrumente und Modi des Zeigens und
verbündet sich lustvoll mit ihnen. Es ist vergebens, eine Grenze zwischen ihm
und einer PowerPoint ähnlichen Präsentation ziehen zu wollen. Ganz und gar ist
er sie geworden. Wenn wir Bilder aus wissenschaftlichen Rekonstruktionen des
Feuers sehen, wenn wir Experten begegnen, die uns mithilfe von Karten,
Animationen und Lehrfilmen erklären, wie es zu dem tödlichen Brand
gekommen ist, dann ist der Film selbst Teil dieser investigativen Arbeit
geworden. Der Film forscht mit.
Zeigen abstrahiert
Im Film ist die Geste des Zeigens eine sonderbare: einerseits wird stets auf etwas
anderes verwiesen. So wird in die Richtung eines anderen Ortes, eines weit
zurückliegenden oder noch zu kommenden Geschehens gewiesen. Andererseits
impliziert die Geste immer auch eine gewisse Selbstreferentialität. Da der Film
selbst durch seine Operationen der Rahmung und der Organisation von Zeit, also
der Rhythmisierung darauf aus ist, aus einer Mannigfaltigkeit heraus Bilder und
Töne zu abstrahieren und sie neu zusammenzusetzen – und zwar im Hinblick
auf etwas oder jemanden anderen – muss er sich ständig mit dem Zeigen als
Modus des In-Beziehung-Tretens auseinandersetzen.
Wenn wir jedoch in The Woolworths Choir... exzessiv Hände zu Gesicht
bekommen, bedeutet das nicht, dass der Film einfach nur sich selbst behaupten
oder eine abgehobene Metaebene erschaffen würde. Vielmehr experimentiert er
andersartige Bewegungen und folgt ihnen: zum Beispiel den sich
ausstreckenden, klatschenden, kreisenden, umschreibenden Händen. Er wird
dabei unweigerlich anders und verweist darauf, dass mit dem Zeigen nie das
Wiedergeben von etwas bloß Vorhandenem gemeint werden kann. Die zeigende
24
Geste ist eine denkende und sich kümmernde Geste. Sie objektiviert das, worauf
sie zeigt.
Whitehead schreibt, dass jede Objektivierung eine Abstraktion sei. Es handele
sich dabei um die spezifische Art und Weise, wie jedes aktuale Ding in die
Erfahrung von anderen eingeht. Die Abstraktion ist der Interaktionsmodus der
Natur und nur wenn das Denken abstrahiert, folgt es der Natur. (Whitehead
2000: 84f) Das Eingehen in die Erfahrung von Anderen als Tätigkeit der
Abstraktion zu begreifen, bedeutet zugleich der Tatsache Rechnung zu tragen,
dass das aktuale Ding in seiner “Vollständigkeit” (84) nie komplett erfasst
werden kann. Es handelt sich um die Welt, begriffen als “funktionale Aktivität”:
Damit meine ich, daß jedes aktuale Ding etwas aufgrund seiner Aktivität ist.
Deshalb besteht die Natur des aktualen Dings in seiner Relevanz für andere
Dinge, und die Individualität des aktualen Dings besteht in seiner Synthese
anderer Dinge, soweit wie diese für es relevant sind. (85)
Zeigen bedeutet
Beim Zeigen handelt es sich ebenso um das Herausstellen als auch um das
Zurschaustellen von Relevanz. Gerade im Fall der Erzählung und Rekonstruktion
des Brandes prägt sich das Gefühl von Dringlichkeit und Bedeutung. Seine
Zeugen und Ermittler ringen darum, den Ort des Geschehens aufzuzeigen, so als
ob seine einfache Lokalisierung dem Ereignis eine höhere Glaubwürdigkeit
verleihen würde. Als könnte das Ereignis, wenn nur einmal die Frage nach dem
Ort geklärt ist, auch in seiner Ganzheit gefasst werden.
Wir sind schon längst in das Geschehen eingezogen von seiner Wichtigkeit und
Ungeheuerlichkeit eingenommen worden, als die kurzen erklärenden Notizen im
dritten Teil erscheinen und wir erfahren, was der tatsächliche Auslöser der
25
Anstrengung ist, Worte für den Rauch und das zerbrochene Glas zu finden.
Wieder einmal bekommen wir zuerst ein Bild (des Kaufhauses) zu sehen und
lesen dazu die Erläuterung: this is Woolworths. (Abb. 20) Und weiter: In the
centre of Manchester... ten people died... although there were several escape
routes... from the second floor... where the fire started...(Price 2012: 14:12 –
14:30)
Durch die mehrfache Wiederholung der gleichen Gesten, die der Feststellung des
Brandes vorausgehen, hat man den Eindruck, dass sie stückweise nachgemacht
und weitergeführt werden – ob von dem Chor oder dem Film ist nicht zu
bestimmen. Ihr Beharren – die Tatsache, dass sie immer wieder neu gezeigt
werden – birgt eine Faszination dafür oder auch den Wunsch, sie zu studieren
und zu verstehen. Als wäre in den fragilen Gesten ein Wissen von dem Ereignis
sedimentiert und als seien die kreisenden Hände seine tatsächlichen Zeugen.
Zeigen denkt mit
Bei dem Moment des Zeigens handelt es sich um einen Akt des gemeinsamen
Denkens. Der mehrstimmige Chor – der uns bereits versprochen hat – WE WILL
SHOW YOU und der uns dazu verleitet hat, von den Ornamenten der kirchlichen
Inneneinrichtung des 13. Jahrhunderts zum Manchester im Jahre 1979 zu
gelangen – versammelt weiter. Ob in der kreisenden Bewegung, die nirgendwo
ankommt oder an einer ganz bestimmten Stelle (RIGHT HERE) fügt der Chor
immer mehrere Zeiten, Formen und Interessen zusammen: der Chor ist der
Dreipass, der mit den Händen der Shangri-Las spielt und sich obsessiv auf die
Gesten der Überlebenden des Brandes konzentriert.
Der Chor assoziiert sich mit dem Kugelschreiber, um auf eine Stelle des
Woolworths-Raumplans zu deuten, die den Ort bezeichnet, wo das Feuer
26
ausgebrochen ist (Abb. 19). An der Spitze des Stiftes konzentriert sich die von
allen Anwesenden geteilte Aufmerksamkeit, es wird ein Moment der gespannten
Erwartung geschaffen.
Durch den Split-Screen und innerhalb von diesem werden die Aussagen der
Überlebenden verdoppelt, zersplittert, farblich verzerrt, zeitlich verschoben,
vervielfacht, in Bezug zueinander gesetzt. Der Chor beteiligt sich an der Tätigkeit
des Schneidens und der Montage, er ist produktiv und denkend im Geschehen
eingebunden. Die präzisen, scharfen Schnitte, die er vollzieht, das wiederholte
Insistieren auf die gleichen Bilder – selbst dann, wenn man meinen könnte, sie
seien bereits längst ihrem Inhalt ausgehöhlt worden und es gäbe gar nichts mehr
übrig, was zu sehen oder zu erkennen wäre – diese Operationen geben den
Anschein, dass ein genaueres Hinschauen immer noch notwendig ist und dass
gerade der Chor der Träger dieses Blickes sein könnte. Zugleich lädt er uns dazu
ein, seine Bemühen und seine Sicht zu teilen – als Zuschauer_innen von Anfang
an adressiert, bemühen wir uns, dem Chor und dem Geschehen zu folgen, bleiben
aber stets zurück. Erschöpft, angestrengt und überfordert gehen wir ihnen
trotzdem weiterhin nach, weil gerade das Gefühl der Dringlichkeit das ist, was es
uns ermöglicht, die Suche nach einem Zugang nicht aufzugeben. Die Ausrichtung
auf die Aussagen und Gesten der Zeugen produziert die Situation eines Sich-
Kümmern um..., in der es nicht mehr wichtig ist, was unsere ursprüngliche
Intentionen gewesen sind: ob wir vielleicht ganz zufällig im Jahr 1979 in
Manchester gelandet sind, ob uns der Tod von zehn Menschen überhaupt
interessiert, ob uns der Chor einen Streich gespielt hat um uns dahin zu führen
oder auch nicht. Die Absichten vermischen sich und interferieren miteinander,
sodass ein Bereich der Ununterscheidbarkeit geschaffen wird, in dem eine
saubere Trennung der Prämissen nicht mehr notwendig ist. Da kann eine
gemeinsame, sehnende Richtung hin zu geschlagen werden. Es handelt sich bei
27
diesen Tendenzen nicht um homogene oder reibungslose Bewegungen, die in
eine einzige, geradlinige Richtung münden würden – und die Videoarbeit selbst
hört nie auf, uns daran zu erinnern. Das Schnipsen, das Klatschen, die
zersplitterten Bilder führen immer wieder Brüche ein, die darauf hinweisen, dass
die gegenwärtige Situation aus einer Vielfalt von Blicken, Wissens- und
Begehrensformen, Geschichten und Interessen geschaffen ist. Sie ist fragil,
vergänglich und seltsam, unheimlich, genüsslich und fiktiv.
Die Geste des Zeigens ist auch eine Form der Spekulation, in der die Tätigkeit des
Ding-Denkens spürbar wird: sie versammelt heterogene Elemente, tendiert hin
zu anderen und weist Sorge oder Interesse für sie auf. Papier, Tinte,
Kugelschreiber, Hand, Blick und Oberfläche schaffen gemeinsam einen Raum der
Aufmerksamkeit und der Relevanz. (Abb. 19)
Zeigen erzählt
Das Zeigen verknüpft Erzählung und Raum, indem es ein ganz bestimmtes
Element eines Raumes mit Bedeutung assoziiert. Auf eine Frage reagierend,
verortet die verweisende Geste ihre mögliche Antwort an einer konkreten Stelle
und ist damit schon dabei, eine Geschichte zu produzieren, trópos und topos
explizit aufeinander zu beziehen.
Wenn Donna Haraway von der Natur als einem Gemeinplatz, der nicht nicht
begehrt werden kann, schreibt, dann meint sie damit, dass “Natur” als eine Figur
das Potenzial hat zu versammeln und zugleich den Ort für mehrstimmige
Geschichten und jenseitige Konversationen zu bieten. Sie sei als wirkmächtige,
konstruierte, nicht unschuldige Metapher ein “topos, ein Ort in dem Sinne, wie
der Rhetor für die Erörterung allgemeiner Themen einen Ort, eine Topik
28
benötigt”, aber auch trópos, Trope als “Figur, Konstruktion, Artefakt, Bewegung,
Verschiebung” (Haraway 1995b: 13f).
Mich interessiert gerade die Möglichkeit einer spekulativen Verschränkung von
Ort und Geschichtenerzählen. Man kann vielleicht das Zeigen und auch das
Kreisen als narrativisierende, versammelnde Gesten verstehen, die Gemeinplätze
im Sinne Haraways entstehen lassen können. So wie die Natur vor ihrer
Konstruktion nicht existieren kann (ebd.), so gibt es auch weder den
Kirchenchor, noch die Popsong-Assemblage, noch Woolworths als Ort eines
traumatischen Geschehens, bevor sie alle als Chor in/mit der Filmarbeit von
Elizabeth Price erzählt werden. Es handelt sich nicht einfach um die Aufdeckung
oder die Rekonstruktion eines fixierten historischen Ereignisses, das an einen
feststehenden Ort gekoppelt wäre, sondern geht es darum, ihr Verhältnis
zueinander erst mit den Mitteln des Filmes zu spekulieren.
Zeigen zeitet
Zeigen abstrahiert, dingdenkt, spekuliert, erschafft Raum und erzählt. Die Geste
ist aber auch an der Produktion von Zeitlichkeiten gekoppelt. Sie bringt mehrere
Zeiten in die Nähe zueinander. So wie die Pläne von Woolworths (Abb. 17, 19)
oder der Bericht über die Brennmerkmale der Möbel schon auf andere Räume
verweisen, ziehen sie auch unterschiedliche Zeiten mit. Mit der verknüpfenden
Geste des Zeigens werden sie in eine Gegenwart miteinander gebracht – sie
gehen in die jeweilige Erfahrung des Anderen ein, um es in Whiteheads Worten
auszudrücken.
In seiner Abhandlung über die Art und Weise, wie menschliche Symbolisierung
funktioniert, schreibt Whitehead, dass es das Zusammenspiel zwischen zweier
Modi der direkten Wahrnehmung der Welt ist, das diese möglich macht.
29
(Whitehead 2000: 89) Es handelt sich um das, was er “präsentative
Unmittelbarkeit” zum einen und “kausale Wirksamkeit” zum anderen nennt. In
beiden geht es um die Herstellung von Beziehungen zur Welt, verstanden als
Tätigkeit der Abstraktion und der Objektivierung. Bei der ersteren geschehe dies
jedoch unter dem Anschein von Gleichzeitigkeit und der Gegebenheit von
aktualen Dingen (vgl. ebd. 77, 80f), während es sich bei dem anderen
Erfahrungstypus um die Notwendigkeit von Konformation handelt, die den
Eindruck von Signifikanz und Kausalität herstellt. (105f)
Die synthetische Aktivität, durch die die zwei Modi in eine Wahrnehmung
verschmolzen werden, ist das, was ich als “symbolische Referenz” bezeichnet
habe. Durch die symbolische Referenz werden die verschiedenen Aktualitäten,
die in den zwei Modi auf jeweils verschiedene Weisen erschlossen werden […] als
in unserer Umgebung aufeinander bezogene Elemente korreliert. Das Ergebnis
der symbolischen Referenz ist, was die aktuale Welt für uns ist: dasjenige
Gegebene in unserer Erfahrung, das Gefühle, Emotionen, Befriedigungen und
Aktionen produziert... (77f)
Ich glaube, dass beide Modi der Erfahrung von Zeit und Welt eine Rolle im Akt
des Zeigens in The Woolworths Choir... spielen. Auf der einen Seite handelt es
sich, wie erwähnt, um das Näherbringen unterschiedlicher Dinge, denen jeweils
heterogene Zeiten inhärent sind. Sie können dann eine Gegenwart teilen und zu
Zeitgenossen in einer bestimmten Umgebung werden. Auf der anderen Seite
handelt es sich um das Herstellen von Relevanz, die aus einer Sorge oder aus
einer Frage resultieren kann: die Dinge werden aus ihren Vergangenheiten und
gegebenen Positionierungen abstrahiert, um aufs Neue verbunden zu werden.
Das aktuale Ding kann jedoch nie vollständig objektiviert werden, es handelt sich
also um das Aufrechterhalten seiner relativen Unabhängigkeit. Das Ornament,
30
das Blatt Papier, die Hand, das Gebäude werden nur auf einer bestimmten Art
und Weise von einer anderen Menge der Komponenten (z.B. der Fotographie,
dem Stift, der Schrift, der Hand) erfasst und individualisiert. Im Zeigen werden
einige besondere Qualitäten der Dinge thematisiert und abstrahiert:
Diese Qualitäten sind relational zwischen dem wahrnehmenden Subjekt und den
wahrgenommenen Dingen. Sie können nur dadurch isoliert werden, daß sie von
ihren Implikationen im Schema der räumlichen Relationen der
wahrgenommenen Dinge zueinander und zum wahrnehmenden Subjekt
abstrahiert werden. (81; Herv. N.G.)
Doch was bedeutet es, wenn die infrage kommenden Qualitäten, die von
Interesse sind – RIGHT HERE – selbst räumliche Relationen sind? Für
Whitehead bieten diese Relationen im Modus der präsentativen Unmittelbarkeit
lediglich Perspektiven für die Sinnesdaten (81), “durch die die äußeren
gleichzeitigen Dinge in diesem Ausmaß Teil unserer Erfahrung” werden. Damit
dieser Modus zum Vorschein kommt, ist ein neutraler Raum der Ausdehnung
notwendig, als Bedingung der geteilten Gleichzeitigkeit:
Daher ist das Bekanntwerden einer gleichzeitigen Welt durch die präsentative
Unmittelbarkeit eng verknüpft mit dem Bekanntwerden der Solidarität aktualer
Dinge aufgrund ihrer Partizipation in einem neutralen System räumlicher
Ausdehnung. (82; Herv. N.G.)
Wenn im Film auf die Position der Miserikordien verwiesen oder wenn es um die
Feststellung des genauen Ortes, an dem die gelagerten Möbel in Flammen
geraten sind, gerungen wird, dann ist der Raum alles anderes neutral. Er wird in
diesen Momenten bereits abstrahiert und geschnitten. Der Raum bildet nicht
31
einfach den Hintergrund, vor welchem andere bedeutsame Qualitäten isoliert
werden können, sondern ist selbst ein Thema der Objektivierung. Es stellt sich
also heraus, dass der Raum selbst eine Abstraktion ist, die z.B. durch Tanzen,
Zeigen oder Kreisen erst hergeleitet wird. So wie eine Metapher zugleich trope
und trópos ist und an einen konkreten Ort divergierende Geschichten, Absichten,
Sprachen und Bilder zusammenbringen kann, so handelt es sich auch im
Moment des abstrahierenden Zeigens um die Vermischung von Artikulationen, in
denen Klang, Bewegung, “affektive Tönung” (Whitehead 1971: 326) und Lokalität
ineinander greifen und neue Aspekte des jeweiligen aktualen Dinges erzeugen. Es
handelt sich somit um die Konstruktion eines hybriden, nicht neutralen,
multitemporalen Raumes.
Dank der Tätigkeit der symbolischen Referenz schließen sich die Erfahrungen der
präsentativen Unmittelbarkeit mit ihren Implikationen einer gleichzeitigen und
gegenwärtigen Welt, in der die “Solidarität aktualer Dinge” (82) spürbar wird
und der Modus der kausalen Wirksamkeit gegenseitig nicht aus. Im letzteren
geht es gerade darum, “wie die anderen aktualen Dinge sich selbst als
Komponenten zu unserer individuellen Erfahrung beitragen, d.h. wie andere
Aktualitäten einzelne Objekte für uns sind.” (77) Es bleibt aus zu beobachten, ob
und wie ein Moment des Raumes als Aktualität begriffen wird, individualisiert,
in unsere Erfahrung eintreten kann. Gleichzeitig legt die Formulierung „sich
selbst... beitragen” das Verständnis der Welt als funktionale Aktivität nahe, in der
Handlung nie nur im Menschen, im Wahrnehmenden oder im Subjekt ruht.
Laut Whitehead ist den Abstraktionen die Erfahrung von Raum (als “Umgebung”
formuliert) zu verdanken:
„Mit dem Wort ‚Umgebung‘ sind diejenigen anderen aktualen Dinge gemeint, die
in irgendwelchen relevanten Weisen ‚objektiviert werden‘, um einzelne Elemente
in unserer individuellen Erfahrung zu bilden.“ (ebd.)32
Die Verknüpfung von Zeit und Raum erweist sich also als äußerst komplex und
als Teil einer immerwährenden Aktivität der Welt, in der Erfahrung als mal
gegenwärtig, solidarisch und gleichzeitig, mal als bedeutungsvoll,
relevanzbeladen und vielschichtig aufgefasst wird. Das Zeigen kann vielleicht
demnach als eine Geste begriffen werden, die die beiden Modi der Wahrnehmung
in Austausch bringt und einen Wechsel oder sogar eine Verdichtung der
Zustände ermöglicht.
Kreisen
Neben dem Zeigen ist das Kreisen eine andere Technik, die The Woolworths
Choir... entwickelt um Film, Architektur und Denken zu verbinden: als Loop,
Drehung, Windung, Wiederholung, Bewegung der Hand und Form der
Strukturierung der Arbeit.
Im Auditorium, dem ersten Teil der Videoarbeit, werden wir an einer Stelle, die
von animierten, bewegten Ansichten des Innenraumes des Kirchenchors begleitet
wird, zu folgendem aufgefordert:
now see how the chorus abbatis
and the chorus prioris [.] return [.] [.]
how they run around the rood screen
so that the stalls encircle [*] the space (Price 2012: 03:37-03:43)
Ich rufe diese Zeilen deswegen in Erinnerung, da sie, so scheint es mir, den
ersten Moment kennzeichnen, in dem der Raum in Bewegung gesetzt wird und
33
aus den festhaltenden, aufzeigenden Fotographien entgleist. Aus der
Aufforderung zum Schauem heraus (now see) werden die einzelnen
Raumkomponenten versammelt und zu einem Chor aneinandergefügt. “Chor”
meint sowohl ein besonderes Element der Architektur der Kirche, als auch die
dynamische Zusammensetzung von tanzenden Figuren, die gemeinsam reden
und singen. In allen Bedeutungen des Wortes steht Chor für eine Versammlung
und Assemblage: er erschafft einen Gemeinplatz, eine Konversationstopik; er legt
die Bewegung des Kreisens nahe. Zu tanzenden Figuren werden nicht nur die
Shangri-Las oder die anderen Musizierenden, die sich bereits in das Auditorium
einschleichen und schnipsend oder klatschend auf ihre Anwesenheit hindeuten,
sondern auch die Ornamente und Monumente, welche die Kirchenarchitektur
bevölkern. Sie alle bringen ihre eigenen verwirrenden, seltsamen Geschichten,
Formen und Perspektiven mit weisen nicht zu entschlüsselnde Gesten und
Wendungen auf. Es gibt eine irreduzible Alterität, die jedem einzigartigen,
gegenwärtigen Ding, das an den Zeitraumspekulationen teilhat, innewohnt.
“Chor” als choir, quire, chorus bedeutet stets die Versammlung heterogener
Akteure, die sich aus einer Angelegenheit heraus zusammengefunden haben.
Diese Akteure mögen unterschiedliche Konsistenzen oder Absichten haben. Sie
mögen gar fernen Zeiten entrissen worden und mit verschiedenartigen
Bewegungs- und Denkfertigkeiten ausgestattet sein. Diese Fremdheiten sind
jedoch nicht an der Konstruktion eines radikalen Bruches und Widerspruches
beteiligt, sodass das Aufwerfen einer gemeinsamen Frage als unauflösbares
Paradox erscheinen würde. Gerade die Vielstimmigkeit und die Heterogenität der
Versammelten ermöglicht es ihnen, der Angelegenheit, um die es später gehen
wird, treu zu bleiben/zu werden. Das traumatische Geschehen kann nicht einfach
wiedergegeben werden. Angemessene Bilder, Klänge, Gesten und Worte müssen
34
erst produziert und gefunden werden. Auch ihre spezifischen Verknüpfungen und
ob sie eine Gesprächssituation ermöglichen, kann nicht vorab gesichert werden.
Kreisen übersetzt
Treue und Verantwortung gegenüber dem, was noch kommen wird, werden auch
in Benjamins Übersetzer-Aufsatz (Benjamin 2007: 119ff) in Frage gestellt. In was
für einem Verhältnis sind Treue und Freiheit eingeflochten – als potenzielle
Formen, welche die Relation von Übersetzung und Original beschreiben
vermögen? Stehen sie im Gegensatz zueinander, so wie es wäre, wenn man mit
“Treue” eine genaue, auf Ähnlichkeit abzielende Wiedergabe der Form meinen
würde, und mit “Freiheit” die “zuchtlose” (119) Art und Weise, in der sich
schlechte Übersetzer anmaßen, die “sinngemäße Wiedergabe” (ebd.) des
Originals vorzunehmen?
Wenn das Wesentliche einer Dichtung und überhaupt allen sprachlichen
Gebilden das Nicht-Mitteilbare (111; 120) ist, so müssen beide Konzeptionen, die
Treue und die Freiheit, neu gedacht werden. In Benjamins Theorie stehen sich
die Sprachen als Bruchstücke eines Gefäßes gegenüber (120), eine radikale
Fremdheit zieht sich durch ihre alle Arten des Meinens, also ihre
“symbolisierende Gebilden” (121). Zugleich sind sich die Sprachen verwandt,
stehen sich nahe und bilden somit das bruchstückhafte Gefäß einer größeren
Sprache: das in allen Sprachen Gemeinte ist das, was eine gemeinsame Intention
oder Ausrichtung hin zur reinen Sprache ermöglicht. In ihrer Tätigkeit bemüht
sich die Übersetzerin darum, das Licht der wahren Sprache auf das Original
fallen zu lassen, die Übersetzung müsste dabei “durchscheinend” bleiben und den
originalen Text nicht verdecken. (120)
35
Wie die Tangente den Kreis flüchtig und nur in einem Punkte berührt und wie ihr
wohl diese Berührung, nicht aber der Punkt, das Gesetz vorschreibt, nach dem sie
weiter ins Unendliche ihre gerade Bahn zieht, so berührt die Übersetzung flüchtig
und nur in dem unendlich kleinen Punkte des Sinnes das Original, um nach dem
Gesetze der Treue in der Freiheit der Sprachbewegung ihre eigenste Bahn zu
verfolgen. (121)
Die Treue gegenüber dem Original kümmert sich um das strahlende Licht, um
die flüchtige Bahn, mit der es die Übersetzung berührt. Die Freiheit der
Übersetzung resultiert aus dieser Bewegung und ermöglicht der “eigenen”
Sprache fremd und seltsam zu werden, die Anderen in ihr schwingen zu lassen.
Wie es Whitehead um die gegenseitige Relevanz von aktualen Dingen inmitten
einer Unabhängigkeit ging, so ist auch Benjamin wichtig, die Spannungen von
Treue und Freiheit, Original und Übersetzung nicht zu leugnen oder fallen zu
lassen, sondern diese (aus)zu halten.
Die Beziehung von Kreis und Tangente, von der Benjamin schreibt, legt zwar die
Bewegung einer sich ins Unendliche richtenden Fluchtlinie nahe, während der
Chor sich dreht und windet, er reigt und kreist. Die Art, in der er sich dem
Ereignis des Brandes in Woolworths im Jahre 1979 nähern möchte, erinnert
nichtsdestotrotz mit ihrer Flüchtig- und Sorgfältigkeit an die Art der Beziehung,
um die es in der Kreis-Tangente Relation geht. Es handelt sich vielleicht im Chor
um eine Versammlung von Übersetzerinnen und Übersetzern aus ihren
Unterschieden und Fremdheiten heraus sich gemeinsam bemühen werden
Ausdrucksformen und Gesprächsorte zu finden, die dem Geschehen angemessen
sind. Es kann im Sprechen, Singen, Erzählen, Kreisen und Zeigen des Chors nicht
um die Produktion von Ähnlichkeiten gehen, die ein historisch verankertes
Datum reflektieren. Es muss eine andere Art der Treue gefunden werden. Die
Methoden, die der Chor entwickelt, sind höchst spekulativ und zielen nicht auf
36
das Wiedergeben des Ereignisses in seiner Ganzheit ab. Gerade dadurch, dass die
Versammlung beispielsweise auf eine konkrete verdrehte und auffällige Geste der
Hand fokussiert ist und sie zu ihrem Organisationsprinzip macht, deutet sie
darauf hin, dass sie an spezifischen, fiktiven und uneindeutigen Aktualitäten
interessiert ist.
Die Versammlung leugnet jedoch nicht die Tatsache, dass es sich bei dem
tödlichen Brand um ein tatsächliches Ereignis von Gewicht handelt und dass es
an diesem etwas Nicht-Mitteilbares gibt, einen Überrest, der sich in keinem Bild
und in keiner Aussage lokalisieren lässt. Es handelt sich um etwas Irreduzibles –
als Trauma, Verletzung und Überschreitung.
Das Verstummen oder die Aussicht, dass vielleicht bald weder dem Chor noch
uns Bilder zur Verfügung stehen werden, sind als reale Gefahr stets präsent. In
Elizabeth Price' Arbeit schneiden sich immer wieder längere Abschnitte ein, die –
anders als die sonst extrem rasch und präzise geschnittenen Aufnahmen – uns
Bildern von Dauer aussetzen. Diese zeigen entweder nichts, sind komplett
schwarz oder ganz weiß (vgl. z.B. Price 2012: 09:32-09:37) oder legen eine
Bildfläche offen, die nur ganz minimale Veränderungen aufweist. So
beispielweise in einer halbminütigen Sequenz (12:55-13:25), die dann eintritt,
wenn sich der Chor mit der Überschrift WE ARE THE CHORUS angekündigt und
darauf folgend wiederholt: WE KNOW. An dieser Stelle ist nur noch weißer
Rauch zu sehen, der langsam durch das Bild zieht. Die Verschiebungen sind
gerade noch zu erkennen: es gibt kaum Kontraste und auch keinen Anhaltspunkt
für den Blick. Nur ein schriller, metallartiger Ton ist zu hören. Dem Beharren auf
das Wissen wird etwas entzogen. Das Wissen wird ins Wanken gebracht und es
besteht die Gefahr, dass es ins Leere läuft, mit dem Rauch verzieht.
Gleichzeitig ist gerade dieses Wanken das, was eine eigentümliche Produktivität
in Gang setzt und die Videoarbeit nicht zum endgültigen Stillstand kommen lässt.
37
Diese Kraft schlägt sich in der Form des Filmes nieder, seine Struktur resultiert
aus dem Aufeinanderbeziehen mehrerer Empfindungen, die Linien ziehen sowie
Geschwindigkeiten und Rhythmen vorgeben. Solche Kräfte sind auf der einen
Seite das beschriebene Gefühl von Relevanz, Dringlichkeit und Bedeutsamkeit –
das sehnende Tendenzen miteinander verschränken wird. Auf der anderen: der
Eindruck, dass es sich bei dem traumatischen Geschehen um etwas handelt, das
zwar umtanzt oder umkreist werden kann, bei welchem es aber keinen Sinn
machen würde nach einem tatsächlichen Kern oder nach einer Mitteilung zu
suchen, die zu transportieren wäre.
Kreisen versammelt
Es ist die “auffällige” (conspicuous) Geste des sich wendenden Handgelenks, in
der sich die Bewegung des Kreisens konzentriert verkörpert. Vom Chor in der
liegenden Gestalt (Abb. 9) in der Kirche bemerkt, wird sie aufgenommen und in
vielerlei unterschiedlichen Arten und Weisen ausgeführt. Die Hände der
Popsänger_innen tanzen miteinander und mit den Kirchenfiguren, über mehrere
Zeite, Räume und Existenzformen hinweg. Shangri-Las und der Dreipass
gehören beide zum Chor: sie bedienen sich verschiedener Materialien, um
Elemente daraus zu abstrahieren, die sie als relevant empfinden: von der
expressiven, in Stein festgehaltenen Geste, hin zu den Handbewegungen, die auf
den verpixelten, abgefilmten Internetvideos zu erkennen sind. Eigentlich gibt es
gar keinen Chor, der von diesen Abstraktionen und Verknüpfungen zu trennen
wäre, genauswowenig wie es einen übergeordneten Ich-Erzähler gibt, der sich die
passenden Worte und Klänge auslesen würde, um eine Ebene auf die andere zu
setzen und so eine Vielschichtigkeit zu erzeugen. Vielmehr handelt es sich um
eine kontingente Entstehung des Chors, welcher immer mehr Elemente
38
heranzuziehen scheint, bei dem es jedoch keine vorgegebene Position gibt, von
wo aus so etwas wie eine abgeschloßene Subjektivität erzählt werden würde.
Die kreisförmige Bewegung ist der Chor selbst. In ihr ist er verdichtet und er
dehnt sie auf die Form der Videoarbeit aus. In der Art und Weise wie mit den
zeigenden und verweisenden Gesten spekuliert wird, wie sie sich darum
bemühen, einen Ort für das Geschehen zu etablieren, Wissen zu produzieren und
besondere Formen des Raumes und der Zeit herzustellen, so entwickelt sich auch
aus der Figur des Kreises eine eigene Methode des In-Beziehung-Setzens. Beide
Gesten differieren miteinander und ihrem Zusammenspiel ist die Komplexität
der Arbeit zu verdanken.
Besonders an der Stelle, wo wir im Film den Überlebenden des Woolworthsfeuers
begegnen und ihre Aussagen über die Erfahrung anfangen nachzuvollziehen,
wird die Versammlung durch die mühsame Wiederholung von gleichen Sätzen
und Bildern um noch mehr Gesichter, Eindrücke, Hände erweitert. Der
VierpassMiserikordieShangriLasPopChor wird nicht aufgelöst und steht nicht
diesen noch zu fassenden Elementen gegenüber, sondern fügen sie sich einander
an. Das passiert zum einen durch die zahlreichen sich überlagernden
Wiederholungen unterschiedlicher Aussagen und Bildern. Zum anderen durch
die rhythmischen Töne des Klatschens und des Schnipsens, welche die Situation
einer geteilten Gleichzeitigkeit und Gemeinschaft akustisch hervorbringen.
Durch die kreisenden Wiederholungen werden Aufmerksamkeit und
Konzentration, aber auch Raum und Zeit geschaffen. An der Schwelle zwischen
Chorus und The Fire wird eine den Kopf verdrehende Assemblage geschaffen, die
so viele heterogene Gesten nebeneinander stellt, dass der Eindruck eines
geteilten Zeitraumes entsteht. In diesem können Ähnlichkeiten wieder erstaunen,
da sie auf eine zuvor nichterkannbare Verwandtschaft hindeuten. Dabei handelt
es sich nicht um Angleichung oder ein Imitieren, sondern um überraschende
39
Kontinuitäten in der Ausführung sonderbarer Handverdrehungen – im Moment
des Singens oder des Beschreibens, des Tanzens oder der Suche nach Worten.
Diese Bewegungen fallen nicht zusammen, sie sind nicht uniform, sondern
behalten ihre Fremdartigkeit bei. Und trotzdem: dadurch, dass sie mit dem Chor
und als Chor zusammengebracht worden sind, schleicht sich die Empfindung
einer Verwandtschaft ein, sodass man, durchaus im Sinne von Benjamin fragen
könnte: kann es sein, dass sie ein Gemeintes teilen?
Das Gemeinte in dem Raum des Filmes zu teilen bedeutet nicht, dass jede Geste
aus ihrem jeweiligen Kontext ein für alle Mal entrissen wird. Ganz im Gegenteil
ist es gerade wichtig zu verstehen was genau supulchral effigies sind und auf die
Einzigartigkeit des Brandes zu bestehen, auf seine Bedingungen, die auf die
besonderen Brennmerkmale der gelagerten Möbel zurückzuführen sind. Wären
die Entstehungsbedingungen des Brandes und die Konsistenz des Rauches
anders, so wären vermutlich ja auch die Gesten der Zeugen andere. (Abb. 13; 14)
In dem schwingenden, sich aufdringenden Tanz der Hände wird jedoch ein
gemeinsamer Raum erschaffen, in dem so etwas wie ein von allen Gemeintes
durchzuscheinen beginnt. Gerade weil es sich um eine ständige Abwechslung von
verschiedenen Zuständen handelt, kann aus dieser produzierten Unbestimmtheit
des nie ankommenden Kreisens heraus ein gemeinsam Gedachtes, Erträumtes,
Fabuliertes spekuliert werden. Mal hat das Kreisen etwas mit der traumatischen
Unmöglichkeit zu tun, dem ungeheuren Ereignis, das passiert, aber nicht
vergessen ist, gerecht zu werden. Mal wird es von einer überraschenden,
genüsslichen Leichtigkeit abgelöst. Da kreisen Hände aneinander vorbei, die
Bilder verschränken sich und lösen so einen ambivalenten Tanz aus.
Ohne jede Unschuld (Haraway 1995a: 35) ist dieser Tanz, aber auch ohne jede
Möglichkeit Verantwortung abzulegen oder Treue gegen Freiheit auszuspielen. Es
geht darum, weite Falten zu werfen (Benjamin 2007: 117), Formen und Klänge zu
40
experimentieren, “das Symbolisierende zum Symbolisierten selbst zu machen”
(121). Nur wenn sich die Übersetzung ernsthaft mit den Fremdheiten der eigenen
Sprache auseinandersetzt, kann sie hoffen, näher an die reine Sprache zu
kommen, das in allen Sprachen Gemeinte zu artikulieren. Das gilt auch für den
Chor als Versammlung von Übersetzerinnen und Erzählern, von Tänzern und
Spekulierenden, von Zuhörern und Zuschauerinnen.
Es ist die Geste der Hand – die auffällige, expressive, fremdartige und komische
Geste. Sie tritt an überraschenden Stellen von neuem hervor und pflegt
unerwartete Verknüpfungen zwischen weitgelegenen, unzusammenhängenden
Orten und Zeiten zu ziehen. Sie nistet sich ins Gedächtnis ein und erinnert immer
wieder an sich. Sie wird mit Bedeutungen und Möglichkeiten spielen, um sich
dann jeglicher Eindeutigkeit zu entziehen. Sie wird eine Mannigfaltigkeit aus
dem nichtigsten Ausdruck entstehen lassen. Ihr muss man folgen – in den
Kurven des Dreipasses, in den Wendungen der Vierpässe, in den Ausdrücken der
absurden, niederkauernden Gestalten. Sie wird zur Wiederholung herausfordern
und zum Tanzen einladen, sie wird Geschichten hervorlocken. Aus der Intensität
ihrer Fremdheit, aus ihrer zügellosen Produktivität könnte dem Gemeinten einen
Ort eingeräumt werden – ein Ort für das, was noch kommen wird.
Archiv, Vergangenheit, Zukunft
Inwiefern bilden die Gesten des Kreisens und des Zeigens in The Woolworths
Choir of 1979 spekulative Momente, bei denen eine besondere Beziehung
zwischen Zeiten und Dingen hergestellt wird? Eine Möglichkeit wäre, diese
verknüpfende Tätigkeit als eine archäologische oder archivarische Arbeit
aufzufassen. Bei ihr würde es genauso sehr um das Erforschen von Vergangenem
41
gehen, verstanden als produktiver und teilhabender Prozess, als auch um Fragen,
die der Zukunft geschuldet sind. Es bleibt aus zu verstehen, was für ein Raum
inmitten dieser Verfahren entsteht, welche Charakteristika er aufweist und wie
von ihm aus das Verhältnis von Gegenwart/Gleichzeitigkeit, Zukunft und
Vergangenheit formuliert werden kann.
Vergangenheit und Geschichte bilden nicht nur eine Topik der Videoarbeit – es
handelt sich ja bei der Narration des versammelten Chors um das
Wiederaufrufen eines historischen Ereignisses. Sie sind auch Mittel, die
Erzählung, Raum und ihre besondere affektive Aufladung herstellen. Der Einsatz
von Archivaufnahmen, von Fotographien aus Katalogen zu mittelalterlicher
Kirchenarchitektur, von nachträglich erstellten Berichten zum Brand und sogar
von Musikvideocollagen – sie alle sind in vergangene Zeiten eingebunden und
werden durch die Tätigkeit der Montage neu im und als Film aktualisiert und in
Verbindung gesetzt.
Wenn diese Materialien des Vergangenen ins Gespräch gebracht werden,
beginnen sie aufeinander zu verweisen und entwickleln die Fähigkeit, einzelne
Elemente aus der jeweiligen Eingebundenheit der konkreten medialen Formen in
ihren unterschiedlichen aktualen Umgebungen zu abstrahieren. Sie bringen sich
gegenseitig als relevant hervor: beispielsweise versammeln sich die ornamentalen
Figuren des Kirchenchors, um auf die Gestik der Überlebenden des Feuers
hinzudeuten. Durch das Zeigen werden “Dinge [zusammengebracht], von denen
andere sagen, daß man sie auseinanderzuhalten habe” (Haraway 1995a: 103).
Das Kreisen wiederum ist auf einer anderen Art und Weise in der Praxis der
Dingzeitproduktionen eingebettet. Als Bewegung- und Organisationsprinzip
wiederholt und komprimiert es Gesten und Orte: es verdichtet Zeit und macht sie
spürbar. Auf diese Weise ermöglicht das Kreisen eine Wiederkehr und ein
Verweilen; es eignet sich den Nachklang an und verlängert ihn in die Zukunft. Im
42
Kreisen geschieht etwas. Wobei sich auf seine Wendungen einzulassen bedeutet
sich ebenso der Möglichkeit auszusetzen, dass sich die Bewegung nicht schließt,
sondern zu einer unerwarteten, noch nicht gedachten Stelle gelangt.
Beide Gesten gehen in ihrer eigenen Art abstrahierend vor, also denken sie.
Zudem sind sie auf Welt und Dinge angewiesen – sie konfigurieren sie neu und
setzten sich mit ihnen auseinander. Es handelt sich um ein materielles,
bedeutungsproduzierendes Ding-Denken, aus dem heraus Zeiträume und
Geschichten spekuliert werden.
Sprache, Ding, Vergangenheit
Heidegger und Whitehead hätten sich wahrscheinlich nichts zu sagen, so
vermutet Latour an einer Stelle in seinem Aufsatz “Elend der Kritik” (2007: 53),
wo er die Praxis der Kritik neu zu konzeptualisieren sucht, so dass es bei ihr nicht
mehr darum geht matters of fact aufzustellen, um sie dann in einer entlarvenden
Geste zu dekonstruieren, sondern an ihrem Platz matters of concern, also Dinge
von Belang, auftreten zu lassen.
Sie hätten sich vielleicht nichts zu sagen, dennoch bringt sie Latours Text über
die Frage nach den Operationen des Versammelns zusammen: durch das Ding,
dessen verknüpfendes Potenzial Heidegger mit der altgermanischen Etymologie
des Wortes zu beschreiben versucht, und Whiteheads “wirkliches Ereignis”, das
er mit “societé” in “Prozess und Realität” bezeichnet hat (vgl. ebd.). Beiden geht
es um die Aktivität des Versammelns, die vom Ding/Ereignis angeleitet wird.
In seinem Aufsatz “Das Ding” bemüht sich Heidegger darum, das Ding als ein
relationales Ereignis zu fassen. Um seine Vorgehensweise des Versammelns zu
beschreiben, benutzt er ein unvermutetes Vokabular: das Ding weltet, es ringt, es
dingt, es verweilt, es hat was mit An-Denken zu tun.
43
Heideggers spekulative Methode ist die der Etymologie. Mit ihrer Hilfe
experimentiert er Sprache und weist Sorge um... auf. Man kann versuchen, seine
Bewegungen nachzuvollziehen, um sich am Ende auch die Figur des Reigens
vorzustellen, die sich dabei gezeichnet hat.12
Mit der Frage nach der Nähe beginnt sich ein Diskurs aufzurollen, der aus einer
Vielzahl von aneinander gekoppelten Propositionen zu bestehen scheint. Man
kann sich vielleicht die Bewegung von Heideggers Text als eine Art Anreihung
von Erfassens-Ereignissen im whiteheadschen Sinne vorstellen: jede Aussage
weist bereits eine Richtung auf, sie zeigt auf einen vermeintlichen Endpunkt,
doch kurz bevor sie an dem geglaubten Ziel ankommt, wird sie von einer anderen
Proposition gepackt, die sie mit sich zieht, um gemeinsam eine neue Richtung zu
entwerfen. Das Ankommen wird so lange verschoben, bis die erste
Erfahrung/Aussage die letzte kennt: “Bis zum Ende [des] Prozesses ist die
Kenntnis in eine Qualität der Offenheit und Unentschiedenheit eingehüllt.”
(Manning 2011)
Bei der etymologischen Arbeit handelt es sich um eine archäologische Tätigkeit.
Es wird ein besonderer Zugang zur Sprache geschaffen, der sich der Aufgabe
stellt, potenzielle Bedeutungen und Beziehungen aus ihrem Vergangenen für die
Zukunft fruchtbar zu machen. In seinem Text lotet Heidegger die Möglichkeiten
der Sprache als Formen der Auseinandersetzung mit Dingen und ihrem Tun aus.
Sprache wird mal als Methode eingesetzt, um Zusammenhänge freizulegen, die in
ihrer “Vergangenheit” zu liegen scheinen, mal um neue Elemente in ihr wirksam
werden zu lassen. Aus dem Althochdeutschen oder -Lateinischen ausgegraben,
erscheinen Worte wie res, causa, dinc und besonders welten geradezu als
Neuschöpfungen. Bei ihrem Gebrauch handelt es sich um unterschiedliche
12Vgl. Anhang für eine spekulative Aneignung von Heideggers Aufsatz. Es wird versucht, das
Dichterische seines Textes in einer Zusammenfassung sichtbar zu machen. 44
Methoden der Spekulation von Beziehungen. Die Worte sind schon kleine
Ereignisse, die von der Produktivität und Zeitlichkeit der Sprache zeugen – auf
die Zukunft gerichtet, ist Sprache nicht ein für alle Mal gegeben. Wir befinden
uns nicht an einem vermeintlichen Endpunkt ihrer Entwicklung, von wo aus
sämtliche Bezüge ihrer zurückgelegten Vergangenheit ersichtlich sind, vielmehr
handelt es sich bei der etymologischen Arbeit ebenso um das Herstellen von
Beziehungen, die erst noch Bedeutung zu erlangen haben. Zudem besteht die
etymologische Arbeit darin, eine gewisse Kontinuität und Sukzession
nahezulegen – wie die zwischen dem dinc und dem Ding, dem Versammeln und
dem Ereignen – wodurch die aufgezeigten Beziehungen erst plausibel erscheinen.
Der Vorschlag der Abfolge ist vielleicht am besten ebenso als Abstraktion nach
Whitehead zu begreifen – “Denken folgt der Natur, wenn es abstrahiert...”
(Whitehead 2000: 85):
Für Whitehead ist die Vorstellung reiner zeitlichen Sukzession eine Abstraktion –
und nicht auf eine Naturgegebenheit zurückzuführen. So wie es keine “bloße
Farbe” gibt, sondern nur eine besondere, so “gibt es keine reine Sukzession,
sondern immer nur eine besondere relationale Grundlage, in [B]ezug auf die die
Zeitspannen aufeinander folgen.” (94; Herv. N.G.) Es handelt sich bei der
Herstellung dieser kohärenten Abfolge um eine “Konformation”,. Der Begriff der
Konformation beschreibt einen Prozess in dem “widerspenstige Tatsachen”13,
indem sie sich auf das beziehen, was abgeschlossen und aktual ist, mit diesem “in
angemessenen Umfang konform gehen” müssen. (95) Whitehead gibt keine
Anweisungen dafür, wie das Maß des angemessenen Umfangs festzustellen ist, es
handelt sich dabei eher um die Notwendigkeit der Konformation. Offensichtlich
13“Die primäre Phase, aus der jedes aktuale Ding entsteht, ist die widerspenstige Tatsache, welche
seiner Existenz zugrunde liegt.” (96)45
ist dieser Prozess aber nicht einer, der zwingend gleich ablaufen würde. Es geht
um die Zurückverfolgbarkeit der Schritte, wie Bruno Latour sagen würde (vgl.
Latour 2000: 36ff): wenn etwas Unvorhersehbares geschieht – wie zum Beispiel
die plötzliche Explosion einer Dynamitstange, dann können trotzdem, laut
Whitehead, die Bedingungen des Ereignisses in seiner unmittelbaren
Vergangenheit aufgesucht und zurückverfolgt werden. (vgl. Whitehead 2000:
105)
Vielleicht sind die Worte, die in dem Text von Heidegger auftauchen – sowohl
das dinc, als auch das Dingen – solche Explosionen, die in Beziehung zu dem
treten, was “vergangen und festgelegt” (88) ist, die jedoch mit der spekulativen,
auf die Zukunft gerichteten, Geste neu aktualisiert und artikuliert werden:
Die Vergangenheit besteht aus der Gemeinschaft abgeschlossener Akte, welche
aufgrund ihrer Objektivierungen in dem gegenwärtigen Akt die Bedingungen
herstellen, denen dieser Akt Rechnung tragen muss. (94)
Die Notwendigkeit, der Gemeinschaft abgeschlossener Akte Rechnung zu tragen,
schließt also die Ereignishaftig- und Plötzlichkeit des gegenwärtigen Momentes
nicht aus.
Wenn man Sprache als eine besondere relationale Grundlage auffasst, dann
entstehen neue Elemente immer aus einem In-Beziehung-Treten zu dem, was
bereits ausgesprochen, niedergeschrieben ist, aber vielleicht auch zu dem, was
verschwiegen oder vergessen wurde. Es bleibt aus zu verstehen, wie diese
eigentümliche Aktivität der Welt geschieht und inwiefern das Vergangene
tatsächlich festgelegt und abgeschlossen ist – wenn es doch immer wieder in
neue Ereignisse und “gegenwärtige Akte” übergeht.
Es liegt auf der Hand, dass man mit Whitehead jeden – geschriebenen oder
gesprochenen – Text als eine Entität begreifen kann, die einerseits selbst schon
46
Ereignis ist und aus der Relation zu anderen textuellen Ereignissen hervorgeht;
gleichzeitig aber auch in sich Beziehungsformen entwickelt, die in gewisser Weise
unabhängig und selbstbezüglich sind14. Ein Text schreibt sich weder ohne
jeglichen Bezug zu seinem Umfeld aus sich selbst heraus, noch geht er völlig mit
der Gemeinschaft anderer Texte konform. Der Satz, der sich eintippt, ist dem
vorherigen, aber auch dem kommenden verpflichtet und entwickelt gleichzeitig
einen Selbst-Genuss im Sich-Entfalten, wenn er sich der vorgegebenen Seiten-
Formatierung fügt, sich an bestimmten Worten erfreut oder auch nach anderen
verzweifelt sucht. Ein Text stellt nicht einfach fest, was sowieso schon da ist. Es
kann aber durchaus sein, dass er sich darum bemüht, eine Beständigkeit
herzustellen. Dieser Ort muss nicht unbedingt von Dauer oder stabil sein, er lädt
aber manchmal dazu ein, in ihm zu verweilen. Es kann sein, dass ein Text eine 14 Man kann wieder mit Hilfe von Whitehead diese Unabhängigkeit besser verstehen. Sie bedeutet
keine absolute Autonomie und auch keine Verleugnung der Relationalität von Ereignissen.
Whitehead spricht in “Kulturelle Symbolisierung” von der “präsentativen Unmittelbarkeit” als
Modus der Wahrnehmung. Wenn es sich beispielweise um die besondere Beziehung von Mensch
und Wand handelt, in der Eigenschaften der Wand, wie Farbe oder Ausdehnung, in unsere
(menschliche) Erfahrung eingehen, stellt es sich als unmöglich heraus, diese Charakteristika von
der Wand selbst zu isolieren. Es ist die Farbe der Wand, die wir erfahren: “Daher sind Farbe und
räumliche Perspektive abstrakte Elemente, die die konkrete Art charakterisieren, in der die Wand
in unsere Erfahrung eingeht.” Die Wand in jenem Moment ist nicht von ihrer Farbe oder
Ausdehnung zu trennen. Whitehead geht noch weiter, indem er sagt, dass es durchaus sein kann,
dass bestimmte Aspekte der gegenwärtigen Relation dem einen oder dem anderen aktualen Ding
gleichgültig sein mögen: er unterstellt zum Beispiel der Wand, ihr sei ihre Farbe nicht unbedingt
so wichtig, wie sie dem Wahrnehmenden in dem konkreten Moment des Aufeinandertreffens ist.
Dennoch handelt es sich bei dieser Zusammenkunft um eine simultane Relevanz und
Unabhängigkeit von Ereignissen:
“Diese Relevanz inmitten einer Unabhängigkeit ist das besondere Charakteristikum von
Gleichzeitigkeit.” (ebd.)47
besondere Bewegung nahe legt, wie ein Reigen, oder auch, dass er eine
bestimmte Anzahl an Propositionen, zum Beispiel sieben, anbietet, an denen man
sich entlanghangeln kann.
In ihrem Video arbeitet Elizabeth Price auch viel mit Sprache, die sich als Schrift
materialisiert. Niedergeschrieben erscheinen die Beiträge der unterschiedlichen
Beteiligten am Chor, während auf der Tonspur selten sprachliche Gebilde zu
differenzieren sind. Die auditive Ebene ist stattdessen von verschiedenartigen
rhythmisierenden Tönen durchzogen, von Musik und schrillen, schwer
beschreibbaren Geräuschen, die in die Herstellung einer besonderen Atmosphäre
und affektiver Ladung verwickelt sind.
Die geschriebenen Zeilen leiten die Erzählung an, sie kommentieren oder
erklären oft das Geschehen und stellen erst die relevanten Zusammenhänge
zwischen Bildern und Tönen verschiedener Art her. Diese Verhältnisse wären
ohne die Schriftzüge meistens nicht zu erschließen.
Eine der zahlreichen Erzählformen der Videoarbeit könnte als etymologische
Tätigkeit verstanden werden. Der Moment, in dem die vielfältigen Bedeutungen
des Wortes “choir” offengelegt werden, ist eines, in dem Beziehungen zu
verschiedenen Dingformen gespannt werden. Vielleicht kann man in diesem
etymologischen Verfahren Ähnlichkeiten zu der Geste des Kreisens finden,
insofern, als dass es sich bei beiden um eine bestimmte versammelnde Bewegung
handelt, die in ihrem Vollzug eine gewisse zeitliche Abfolge sichtbar macht. Es ist
ein Entfalten, aber auch ein Verdichten von materiell-semiotischen Zeichen mit
und in der kreisenden Geste. In ihrem Fortschreiten weist sie jedoch keine
einfache Linearität auf. Das Kreisen als archäologische Aushöhlung und
Fabulation von Bedeutungen ist verdreht und verzwickt. Es verbiegt Zeiten, die
mit bestimmten Signifikanzen beladen sind und lässt sie auswuchern oder an
48
unvermuteten Orten miteinander verwachsen. Diese ruhelose Tätigkeit löst eine
besondere Wirkung aus: wenn auf einmal die Beziehung zwischen einem aus
vierundzwanzig Bögen bestehenden Buch (quire) und dem Chor (choir) über die
Ansammlung von zusammen im Kreis singenden und sprechenden Tänzern
(chorus) aufgezeigt wird, passiert das in einem unmittelbar gegenwärtigen
Augenblick des wissensbeladenen Staunens. Diese Wirkung entsteht, indem der
infrage kommende Moment vergangener Entitäten andersartig aneinander
koppelt und sie somit für die Gegenwart beansprucht. Es ist die Schrift, ihre
vermeintlich neutrale und erläuternde Stimme den anderen hinzufügend, die
diese Verweise vornimmt und – Dinge und Worte durcheinanderbringend –
jegliche Gegenüberstellungen explodieren lässt.
Offensichtlich geht es Heidegger und Price um sehr unterschiedliche
Unterfangen. Ihre Vorgehensweisen und Selbstverständlichkeiten in Bezug auf
die Verantwortungsträger_innen bei der Wissensproduktion und ihrer
Präsentation sind sehr verschieden. Dennoch scheint beiden die Materialität von
Sprache als Grundlage eines kreativ-spekulativen Umgangs mit der Welt wichtig
zu sein. In ihrem “dinglichen” Verständnis von Sprache handelt es sich ebenso
um einen Prozess, der affektives Erleben und Denken nicht als sich gegenseitig
ausschließende Vorgänge voraussetzt. Ganz im Gegenteil: es ist gerade ihre
Vermengung, die die Bedingung dafür liefert, dass Relevanzen und komplexe
(Un-)Abhängigkeiten erfasst und nachvollzogen werden können.
Der Einsatz von Schrift in The Woolworths Choir... kann vielleicht als eine Form
des Erfassens im Sinne Whiteheads verstanden werden. Bei diesem Modus der
Aktivität handelt es sich immer um die besondere Zusammenkunft von
zueinander in spezifische Relation gebrachten, nicht von vornherein an festen
Positionen gekoppelten Entitäten, die wir als “Subjekte” und “Objekte”
bezeichnen können. (Whitehead 1971: 327)
49
Man kann vielleicht versuchen, die Weise, in der sich verschiedene Elemente im
und als Film aufeinander beziehen, als Erfassensereignisse zu formulieren. Es
mag sein, dass diese eigentümliche Bezeichnung des Verhältnisses nicht nur für
die Bezüge verschiedener distinkter Einheiten (wie Fotographie-Musik,
Archivaufnahme-Schrift, Schrift-Animation usw.) zutreffend ist, sondern auch
für die Möglichkeitsbedingung der Erfahrung von Film?
Erfassen
In “Abenteuer der Ideen” (1971) definiert Whitehead auf folgende
bemerkenswerte Weise die Grundlage von Erfahrung der Welt:
Die Basis des Erlebens und der Erfahrung ist emotional; allgemeiner gesagt: das
fundamentale Faktum ist das Aufkommen einer affektiven Tönung, die von
Dingen ausgeht, deren Relevanz bereits gegeben ist. (326; Herv. N.G.)
Zu Recht verweist Judith Butler in ihrem Vortrag mit dem Titel “On This
Occasion...”15 auf die Komplexität und Wichtigkeit dieser Passage. Es ginge dabei
nicht einfach um eine Umkehrung der Verteilung von Aktivität Subjekt und
Objekt. (Butler 2012: 5) In dieser Konzeption der Subjekt-Objekt-Struktur der
von Erfahrung geht um ein Bezugssystem, das die jeweiligen Elemente erst in
Beziehung zueinander als solche (Objekte / Subjekte) hervortreten lässt. Da es
15Er wurde am 3. Dezember 2009 an der Claremont Graduate University in Kalifornien im
Rahmen der dritten Konferenz von 'Whitehead Research Project' (WRP) gehalten. Die Tagung
lief unter dem Titel “Becomings, Misplacings, Departures: Butler and Whitehead as Catalysts for
Contemporary Thought” und resultierte 2012 in die Veröffentlichung des Bandes “Butler on
Whitehead: On the Occasion”. (siehe Quellenverzeichnis)50
sich um Dinge/Objekte16 handelt, die durch ihre affektive Tönung die “subjektive
Form des Erfassens” (Whitehead 1971: 327; Herv. N.G.) bestimmen, deren
Relevanz jedoch bereits gegeben sein muss.
Once again, we have to be able to think the situation in which both subject and
object emerge from, or arise out of, occasions. (Butler 2012: 9)
Das Ereignis ist der Moment des Erfassens, in dem Aktivitäten und agencies auf
beiden Seiten von statten gehen und zwar immer in Bezug auf Andere. Der
Charakter der Beziehung sei, laut Whitehead, am besten mit concern zu
beschreiben: “eine substanstivische Wendung für 'es geht hier ernstlich um'.”
(Whitehead 1971: 326) (Es geht hier ernstlich um eine besondere verdrehte
Geste, es geht hier ernstlich um die Feststellung der Gründe eines tödlichen
Brandes, es geht hier ernstlich um einen Ort und auch, ernstlich, um das
Behaupten eines Wissens.)
Relevanz entsteht dort, wo es um etwas geht.
Sie besteht fort, wenn sie, indem sie Anlass einer affektiven Tönung von Dingen
wird, eine bestimmte Aktivität im Subjekt anleitet. Wobei die Bezeichnung “im
Subjekt” bereits den Prozess der gegenseitigen Konstituierung vor dem
Hintergrund der Relevanz verfehlt. Es findet nicht einfach etwas innerhalb einer
existierenden Entität statt, sondern diese nimmt erst dann Form und Konsistenz
16Whitehead scheint “Ding” und “Objekt” synonym zu benutzen. Wenn wir ihm folgen, würde
sich nicht nur die gängige Vorstellung von passiven, aufnehmenden Objekten, denen aktive
Subjekte als Handlungsträger entgegengesetzt sind, auflösen, sondern würde auch jeder Versuch,
die Grenze zwischen Ding und Welt vorzubestimmen, leerlaufen. So eine abstrahierende
Operation könnte sich nicht mehr vorgefertigten Kategorien wie menschlich/nicht-menschlich,
organisch/anorganisch, lebendig/tot, materiell/nicht-materiell bedienen, sondern müsste sich erst
mal der Frage nach der Aktivität und dem Tun von Objekten/Dingen und Subjekten stellen.51
an, wenn sie auf eine besondere Art und Weise auf die Bedeutsamkeit der Welt
reagiert oder aber die Bedeutsamkeit bzw. die Aktivität von Anderen provoziert.
Ein Erlebnisvorgang ist Subjekt im Hinblick auf die Aktivität, in der es um ein
bestimmtes Objekt geht; und alles ist Objekt, was eine bestimmte Aktivität in
einem Subjekt hervorruft. (327)
Es ist eine fortwährende Aktivität, in der die Welt immer am Werden wird: als
sich entfaltende Multitude dynamischer Verkettungen von bedeutungs- und
relevanzbeladenen Dingen von Belang.17 Wenn wir damit beginnen, jegliche
Prozesse und Konzepte, die mit der Vorstellung der Eingebundenheit und der
Teilnahme an dem Werden der Welt verknüpft sind, aus diesem Verständnis der
Subjekt-Objekt-Beziehung heraus konsequent neuzudenken, dann müssen
folgende Schlüsse gezogen werden:
I. Da die Basis der Erfahrung affektiv und da die Rolle der Dinge in ihr eine
der besonderen Aktivität ist, kann Erkenntnis nicht als eine Tätigkeit verstanden
werden, die von einem abgekoppelten Subjekt ausgehen.
Jede Erkenntnis ist ein bewußt artikulierendes Auffassen erlebter Objekte. Aber
dieses [...] ist nichts weiter als ein zusätzlicher Faktor in der subjektiven Form des
Wechselspiels zwischen Subjekt und Objekt. (328)
Wenn die Grundannahmen über die Subjekt-Objekt-Struktur des Erlebens der
Welt beibehalten bleiben, dann folgt daraus, dass auch der Erkenntnis eine
17Bruno Latour benutzt in Anlehnung an Whitehead diesen Ausdruck (engl. matters of concern),
um gerade die Unterscheidung zwischen den Dingen von Belang und den bloßen Tatsachen
(matters of fact) treffen und auf die verschiedenen Auffassungen von Welt zu verweisen, die mit
dem jeweiligen Verständnis des Stellenwertes von Dingen verbunden sind. (Vgl. Latour 2007)52
affektive Basis zukommt. Bei ihr handelt es sich ebenso um Erfassensereignisse,
die von einer Auseinandersetzung mit relevanten Dingen angeleitet worden sind.
II. Es kann nicht oft genug wiederholt werden, dass es sich bei dieser
Auffassung von “Subjekten” und “Objekten” um eine radikal relationale handelt.
Die Basis des Erlebens ist affektiv, da die Erfahrung jedes einzelnen aktualen
Ereignisses und Erlebensaktes von vielen Anderen konstitutiert ist:
Die Objekte sind diejenigen Faktoren des Erlebens, die in ihrer Funktion zum
Ausdruck bringen, daß jeder Erlebensvorgang in seinem Entstehen ein
transzendentes Universum anderer Dinge einschließt. Es gehört also zum Wesen
jedes Erlebensvorgangs, daß es in ihm um ein Anderes geht, das ihn
transzendiert. (332; Herv. N.G.)
Die Eingebundenheit fremdartiger Existenzweisen in jedem gegenwärtigen
aktualen Ereignis ist das, was das schöpferische Potenzial und die ethische
Herausforderung dieses Verständnisses des Erfahrungsaktes ausmacht. Denn
daraus resultiert, dass jedes Erfassen, als Verknüpfung mit dem Universum der
zukünftigen und vergangenen Anderen, sich auch der Frage stellen muss, ob und
wie es den Anderen Rechnung zu tragen hat. So wie nicht alle gleichzeitigen
Dinge von Relevanz für einander sind oder überhaupt etwas voneinander wissen
müssen, kann und sollte auch nie jeder Forderung zur Konformität zu der
“Gemeinschaft abgeschlossener Akte” (Whitehead 2000: 94) gefolgt werden.
Ebenso wird sich nicht jede Notwendigkeit, die Zukunft auf eine bestimmte Art
und Weise zu verkörpern, Gehör verschaffen können.
Deswegen ist die Frage danach, welche Potenzialitäten aktualisiert werden und
welche Gestalt die Beziehungen zu anderen Anderen zu nehmen haben, eine
dringliche. Auch wenn sie nicht bei jedem Erfassen ausdrücklich gestellt wird, so
wohnt sie ihm zumindest bei und erinnert daran, dass sich Erfahrung vor dem
53
Hintergrund von concerns abspielt: als Sorge um das Aufrechterhalten von
Bedeutung und Relevanz in und mit der Welt.
III. Es geht bei der Konstitution des Erfassensereignisses nicht nur um
räumlich lokalisierbare Dinge. Mithilfe der Idee von der Subjekt-Objekt-Struktur
der Erfahrung auch das Erleben von Zeit beschrieben werden. Für den
gegenwärtigen Augenblick sind Zukunft und Vergangenheit unterschiedlich
emotional gefärbt. Sie erheben einen unterschiedlichen Anspruch an ihn und
bringen unterschiedliche Notwendigkeiten mit sich. Als Objekte für den
gegenwärtigen Moment agierend, erzeugen sie ihn beisammen.
Der gegenwärtige Augenblick konstituiert sich durch das Einströmen des
Anderen in die sich erhaltende Identität des unmittelbar Vergangenen mit der
unmittelbaren Gegenwart. (334; Herv. d. A.)
Die Bedeutsamkeit der Vergangenheit für die Gegenwart sei das einleuchtendste
Beispiel des unbestreitbaren Einflusses von der nicht-sinnlichen Wahrnehmung
auf die Erfahrung von Welt. (ebd.) Selbst bei der Betrachtung kleinerer
Zeitspannen können wir merken, wie durch die Tätigkeit des Erinnerns bereits
vergangene, nicht-(mehr)-sinnlich erfahrene Geschehnisse auf die Gegenwart
einwirken. Die Kenntnis von ihnen zwingt sich immer weiter in
unterschiedlichem Ausmaß der Gegenwart auf – sie sind ihr immanent und
haben je für sich eine objektive Existenz. (348; 354) Im Vergleich dazu steht die
Zukunft ebenso als Objekt der Gegenwart gegenüber, sie ist “jedem
gegenwärtigen Vorgang immanent” (352), da sie ihm die Notwendigkeit
aufbürdet von ihm verkörpert zu werden, sowie den Anspruch darauf erhebt,
“daß es eine Zukunft gibt” (ebd.). In ihr gibt es aber keine separate reale, für sich
existierende, bereits entfaltete Vorgänge – die Zukunft ist, als Ganzes genommen,
reine Potenzialität. (354)54
Nach diesem kurzen Abstecher in Whiteheads abenteuerliche Darstellung der
gegenseitigen Hervorbringung von Subjekten und Objekten und ihrer
weitreichenden Konsequenzen, kann versucht werden mit The Woolworths
Choir 1979 davon Gebrauch zu machen. Insbesondere interessiert mich die
bereits aufgeworfene Frage nach der Möglichkeit eines Denkens komplexer
Zeitlichkeiten und den aus unterschiedlichen Zeitmodi resultierenden
schöpferisch-kreativen Prozessen.
Es scheint mir, dass sich mit Whiteheads Verständnis des gegenwärtigen
Augenblicks auch die Art und Weise, wie die Videoarbeit von Elizabeth Price
funktioniert, sehr treffend beschreiben lässt. Sie verbindet unterschiedliche
Verfahren der Organisation von Zeit – nicht nur bedient sie sich filmischen
Mitteln, sondern, wie schon beschrieben, auch anderer Medien, beispielsweise
der Fotographie und Architektur. Wenn wir The Woolworths Choir... oft als Film
(und nicht als Fotocollage oder als architektonischen Raum) bezeichnen, dann
vielleicht weil trotz der Vermischung heterogener Elemente, die Zeiterfahrung
beim Rezipieren der Arbeit zum größten Teil mit dem, was wir filmische
Zeiterfahrung nennen, konform gehen lässt.
Whitehead beschreibt den Moment der Gegenwart als einen, der sich im
“Umschlag von der Wiederholung zur Antizipation” (352) befindet, jeder Vorgang
“[entsteht] als eine in die Vergangenheit zurückblickende Wirkung und [endet]
als eine in die Zukunft vorausschauende Ursache” (ebd.) Wenn wir uns ein
filmisches Bild als einen gegenwärtigen Vorgang vorstellen, merken wir, dass
eines seiner besonderen Merkmale gerade jene Unmöglichkeit ist, auf die auch
Whitehead verweist (vgl. 334), und zwar, es als klar umrissen und für sich
stehend heraus zu präparieren. Zu der gewohnten Erfahrung von Film gehört das
Vermögen, sich auf den Fluss von aufeinander verweisenden und ineinander
55
übergehenden Tönen und Bildern einzulassen und in jedem Augenblick die
Bewegungen der Wiederholung (der Aufnahme des unmittelbar Vergangenen in
die Gegenwart) und der Antizipation (des Beziehens des unmittelbar
Bevorstehenden) (nach)zuvollziehen.
Wenn ein Film beginnt, sich zu entfalten, erlegt jedes Bild dem darauf folgenden
die Notwendigkeit auf, sich irgendwie auf es zu beziehen. Anfangs steht nicht
fest, wie die Bezugnahme aussehen wird und es gehört zu der Tätigkeit jeden
Films, an spezifischen Formen der Beziehungen mithilfe der Montage zu
arbeiten. Vielleicht zeichnet sich das, was wir unter 'Experimentalfilm' verstehen,
gerade durch Vervielfältigung solcher Verbindungsformen aus. In The
Woolworths Choir of 1979 erscheint z.B. das Klatschen und das zeitgleiche oder
leicht verrückte kurze Einblenden von den Worten WE KNOW (Abb. 8) als ein
besonderer BildTon-Komplex, das dem restlichen Umfeld eine zusätzliche
affektive Ladung gibt. Dem Bild, das noch kommen wird, wird vielleicht erhöhte
Aufmerksamkeit geschenkt. Vielleicht wird uns der Verweis auf den wissenden
Chor für den jeweiligen Augenblick stückweise in seine Gegenwart versetzen. Die
intensive rote Farbe mit ihrem starken Kontrast zum vorherigen und
nachfolgenden Bild, begleitet von dem abrupten Geräusch der klatschenden
Hände, könnte ebenso einen kurzen Schock erzeugen. Es könnte auch sein, dass
mit jedem schlagartigen Einblenden das Gefühl einer Wiederholung oder
Wiederkehr angestoßen wird. Oder auch, dass dabei Ermüdung, Spannung und
Ungeduld entstehen. In jedem Fall zwingt der BildTon-Komplex, so flüchtig und
eigenwillig er auch ist, dem Zukünftigen eine emotionale Richtung auf. Für das
Nächste ist es insofern ein Objekt, als dass es bereits auf einer bestimmten Art
und Weise abgeschlossen und verwirklicht ist und deswegen in der Lage ist,
andere Komplexe zu affizieren und sie zur Subjektivierung zu bringen. Für die
Gemeinschaft vergangener BildTon-Akte ist das aktualisierte, gegenwärtige Bild
56
eine Antwort auf die Notwendigkeit, dass es eine Zukunft bzw. einen Film gibt.
Wenn es um die Beziehung von Zukunft und Vergangenheit geht, ist es schwer,
aus der Perspektive des bereits verwirklichten Momentes zu schreiben. Denn in
der Zukunft gibt es keine realen Vorgänge, nur eine Potenzialität, die kein klar
umrissenes Bild und auch kein herauszuhörender Ton ist.
Als gegenwärtiges Bild (Abb. 8) ist das aktuale Geschehen der Zukunft und der
Vergangenheit geschuldet, es ist der Umschlag, in dem die Spannung zwischen
Antizipation und Wiederholung am Werk ist, um Neues zu schöpfen. Immer geht
es um “das Einströmen des Anderen” (334) in den jeweiligen Augenblick; gerade
auf diese andersweltlichen, anderszeitlichen Fremdheiten ist das Kristallisieren
der Gegenwart angewiesen.
In dem Herausbilden des gegenwärtigen BildTon-Komplexes gibt es aber ebenso
das Element des Selbst-Bezuges, das ein integraler Bestandteil seiner
Individualisierung ist:
...den entscheidenden Augenblick seiner Selbsterfüllung genießt [der
Erlebensvorgang] als emotionale Einheit. (328)
Als emotionale Einheit beschreibt Whitehead den Zustand der actual entities (dt.
“wirklich Seiende”), die absolute Realität besitzen und zwar nachdem sie durch
einen affektiven Selbstgenuss zu ihr gelangt. In einer solchen Lage befindet sich
auch das Geschehen, das im filmischen Ereignis eingebunden ist – nicht als
Leugnung seiner Verwickeltheit, sondern gerade aus dieser verzwickten Position
heraus. Seine Seltsamkeit und Eigentümlichkeit ergibt sich aus der Operation der
gegenseitigen Konstituierung als Subjekt und Objekt im Verhältnis zu anderen
Komplexen. Zugleich wird es weder vollkommen objektiviert (es gibt nicht sein
ganzes affektives Potenzial Anderen ab) noch subjektiviert (es antwortet nicht auf
57
alle Impulse, die von Anderen ausgehen, um sie in seinen Prozess der
Subjektivierung zu integrieren). Es stellt sich eine gewisse Unabhängigkeit und
Selbstbezüglichkeit her, in dem das BildTon-Ereignis im Selbstgenuss seiner auf
der Klippe stehenden Aktualität verharrt.
Archiv und Erfassen
Das, was für die kleinsten Zeitspannen gilt, wenn die Frage nach der Beziehung
von Zukunft – Vergangenheit – Gegenwart aufgeworfen wird, muss auch auf ihre
dezidierte Thematisierung zutreffen – so wie sie in The Woolworths Choir of
1979 zu geschehen scheint.
Es wurde bereits darauf hingewiesen, dass der Chor verschiedene Zeitformen
miteinander verknüpft, indem er zwei spezifische Bewegungen in Austausch mit
einander bringt: durch die kreisenden und zeigenden Gesten, die auf je eigener
Art Gleichzeitigkeiten, verdrehte Reihen und disparate Verkettungen schaffen.
Zudem ist der Chor als Ergebnis dieser Verknüpfungen zu verstehen.
Es handelt sich um Erfassensereignisse auf unterschiedlichen Ebenen: zum einen
kann man die Verweise, die zwischen den einzelnen BildTon-Komplexen von
statten gehen, als Erfassensvorgänge bezeichnen. Zum anderen sind auch größere
Gruppierungen dieser Vorgängen in komplexeren Gemengen als
Erfassenseriegnisse zu beschreiben. Solche sind zum Beispiel die drei Teile der
Arbeit: The Auditorium, The Chorus und The Fire, aber auch die verschiedenen
herausgebildeten Elemente, die in ihrem Verlauf etabliert werden. So kann es
sich dabei sowohl um die Schrift handeln, die eine erzählende und erläuternde
Funktionen erfüllt, als auch um die Präsentationsart von nebeneinander gelegten
Fotographien, die Katalogen zur mittelalterlichen Kirchenarchitektur
58
entstammen oder aber auch um das Einfügen von archiventnommenen
Aufzeichnungen vom Tag des Brandes in Woolworths.
Auffällig ist der häufige Einsatz von Bildern und Aufnahmen, die etwas mit
Vermitteln oder Bewahren von konkretem Wissen über die Vergangenheit zu tun
haben: die Dokumentar- und Lehrfilme (Abb. 18), das komplette Geschehen im
Auditorium (1-7), die alten Raumpläne (17; 19; 21) – sie sind auf Vergangenes
verweisende Materialien, deren Angelegenheit das Aufrechterhalten und die
Herstellung seiner Relevanz ist.
Die abgefilmten Musikvideos oder die Aufnahmen, auf denen die Gesichter von
den Zeugen zu sehen sind, sind vermutlich anfänglich einem anderen Bemühen
entsprungen – es stand höchstwahrscheinlich nicht das Anstreben einer
Erkenntnis oder die Erforschung bestimmter Zusammenhänge im Vordergrund,
sondern, im Fall der Pop-Songs, die Produktion eines genussvollen,
animierenden musikalischen Ereignisses. Was den tonlosen Ausschnitten aus
den Interviews mit den Zeugen betrifft, sind sie mutmaßlich Reportagen
entnommen worden, die sich gerade um die Herstellung eines ausgedehnten
aktualen Momentes bemühen und ihre Wirksamkeit aus dem Anspruch auf
Gleichzeitigkeit mit relevanten Geschehen gewinnen.
Durch die Art und Weise, wie die jeweiligen Gruppierungen unterschiedlicher
Filmereignissen geschnitten sind, wird einerseits der Eindruck von einer
Nachträglichkeit ihrer Produktion und andererseits eine andere Form von
Wissensbeladenheit erzeugt. Die Musikvideos sind mit den aufschlussreichsten
Aussagen des Chors gespickt, die Auskunft über seine Zusammensetzung und
seinen Anliegen geben (siehe Anhang). Es werden unermüdlich einzelne Gesten
der Interpreten abstrahiert und dazwischen die Titel WE KNOW eingeschoben.
Die stark mit versetzten Loops und Überlagerungen arbeitende Montage der
Reportagenausschnitte kreist einerseits um die Unmöglichkeit der Erzählung und
59
des Wissens. Gerade aber durch die Übertreibung in der Wiederholung weist die
Montage andererseits immer wieder auf ihre eigenen Produktionsbedingungen
und die Gemachtheit hin.
Wenn BildTon-Komplexe, die in der Vergangenheit bereits verwirklicht sind,
vom und als Chor wiederaufgenommen werden, kann dabei eine methodische
Auseinandersetzung mit den Vorgängen des Erfassens nachgespürt werden. Die
vorgefundenen Archivmaterialien dienen als Objekte für den gegenwärtigen
Moment, zu dem auch The Woolworths Choir of 1979 als Ganzes gezählt werden
kann. Der Film als komplexes Ensemble kurzlebiger und fragiler
Erfassensereignisse kann auch als eine Aktualität begriffen werden, die aus
Relationen zu den vergangenen Anderen hervorgeht – zu den Orten und
Geschehnissen, die anderen Zeiten entstammen und welche die affektive
Grundlage für ihre Subjektivierung bilden. Solche Stätte sind zum Beispiel
Woolworths im Jahre 1979, der Bildschirm eines MacBooks (Abb. 12) oder der
mittelalterliche Kirchenchor, in dem das Auditorium platziert ist und dessen
Topik er bildet.
Architektur
Es ist an der Zeit, sich genauer die Art und Weise anzuschauen, wie
Architekturen in Elizabeth Price' The Woolworths Choir of 1979 hergestellt
werden.
Der Film richtet uns von Anfang auf einen konkreten Raum aus – den des
mittelalterlichen Kirchenchors, den er sich mithilfe von abfotographierten
Bildern und punktuell eingesetzten Animationen erschließt. Verschiedene
architektonische Elemente werden zu t/r/opoi der Versammlung: durch die
60
Ausstellung der Konfiguration von Kirchenstühlen und Trennwand, der einander
gegenüberstehenden Seiten des Chors, (abbatis und prioris) sowie der Figuren
des Dreipasses, der Miserikordie und der S-Kurve wird ein Wissen über den
Raum akkumuliert. Dabei schleichen sich in seine Präsentationsweise
erzählerische oder gar dramatische Momente ein. Zugleich bleibt aber der so
artikulierte Chor in gewisser Weise unbetretbar – womöglich gibt es den Chor gar
nicht. Die bereits18 beschriebene Spannung zwischen der Flachheit der
nebeneinandergelegten Bilder und dem Volumen, das von den bewegten
Animationen erzeugt wird, äußert sich auch als die Erfahrung eines nicht-
einheitlichen, nicht-lokalisierbaren und dennoch von spezifischen
Charakteristika durchzogenen Raumes. In der Tat ist es so, dass die
detailreichen, oft ein bestimmtes Element aufzeigenden Bilder durchaus an sehr
unterschiedlichen Orten hätten aufgenommen sein können und nicht zu einem
einzigen, “tatsächlich” in dieser Zusammensetzung existierenden Raum gehören.
Die Fotographien bieten oft keinerlei Perspektive, die eine Immersion in der
Architektur erlauben würde. Spezifisch und konkret sind die Details, fügen sich
aber nicht zu der Idee eines im Voraus bestimmten Raumes. Die
architektonischen Elemente werden eher individuell erfasst, als dass sie
zusammen ein größeres Bild ergeben würden. Sie sind nicht darauf aus, einen
Prototyp des mittelalterlichen Chors zu konstruieren, selbst wenn sie durchaus
Merkmale der Kirchenarchitektur ansprechen, die einen seriellen Charakter zu
haben scheinen. Dennoch sind die Verweise auf die seltsamen hervorstechenden
Ornamente, sowie der Einsatz von versetzten, verblasten, nebeneinander
gelegten, ausgeschnittenen und abfotographierten Bildern, Mittel, die darauf
hindeuten, dass es sich nicht um die getreue Rekonstruktion eines bereits
existierenden Raumes handelt.
18Vgl. S. 15.61
Gleichzeitig wird durchaus eine räumliche Situation geschaffen, die eine neue,
andersartige Architektur aufkommen lässt. Wir bleiben im ersten Teil der Arbeit,
um eine Beschreibung der Art und Weise zu versuchen, wie das Auditorium
hervorgebracht wird – als Raum, wo Wissen und Erzählung zusammenfinden.
Rhythmus/Rahmen
Das Gefühl, dass wir uns als Zuhörer_innen irgendwo befinden, wo es
Fluchtlinien gibt, welche die Richtung und den Modus unserer Aufmerksamkeit
beeinflussen, wird durch verschiedene Elemente erzeugt. Eins davon ist die Geste
des Zeigens19, indem es verknüpft, auf eine Frage antwortet und Relevanzen
herstellt oder legt sie offen legt. Es gibt zwei weitere Verfahren, die eine
besondere Rolle in The Woolworths Choir of 1979 zu spielen scheinen und die ich
gerne in der Nähe zueinander betrachten möchte. Es handelt sich dabei um die
Operation des Rhythmus und die des Rahmens, oder der Einrahmung. Sie ziehen
die ganze Arbeit durch, treten aber im ersten Teil in ein sehr explizites Verhältnis
zueinander. Dieses ermöglicht es ihnen sich an der Fabulation der Architektur
des Auditoriums zu beteiligen.
Die Geräusche des Klicks, des Klatschens und des Schnipsens, die mit ihrer
Prägnanz und relativ leichter Zuordenbarkeit fast bildlich wirken, werden
kontinuierlich während der ganzen Arbeit eingesetzt, um sie zu rhythmisieren
und in Bewegung zu setzen. Sie dienen als Intervalle, die das Geschehen
unterbrechen und es der Stille aussetzen. Von einer Zerlegbarkeit und
Sezierbarkeit des Gezeigten zeugend, führen sie Momente einer zweispitzigen
Produktivität ein: dadurch, dass die Geräusche gerade keinen ununterbrochenen
Fluss von einem Bild zum nächsten erlauben, weisen sie darauf hin, dass es sich
19Vgl. S. 23ff.62
um eine gelenkte, in hohem Maße produzierte Situation handelt. Sie ist mit
Wissen überlagert oder auch von der Notwendigkeit geprägt dieses herzustellen.
Diese rhythmischen Töne sind hybride Schnittstellen: als Intervalle sind sie nicht
das bloße Gegenteil von den sichtbaren Bildern, sondern treten in Verbindung zu
ihnen, um sie zu kommentieren, neue Verknüpfungen zu anderen Komplexen zu
ermöglichen und um einen konzentrierten Sehmodus zu provozieren. Bei
genauerem Zuhören wird auch spürbar, dass es sich nicht immer um die gleichen
Art von Schnipsen und Klatschen handelt. Mal rufen sie die unmittelbare
Assoziation mit Händen hervor, die tatsächlich die entsprechenden Bewegungen
vollziehen; mal driften die Töne in eine Zone ab, wo es nicht mehr möglich ist, sie
auf einen menschlichen Körper zurückzuführen. Sie wirken dann mechanischer,
ihre Wahrnehmung ist aber noch von jener der bereits vergangenen Geräusche
beeinflusst. Es gibt auch die seltenen Bilder von klatschenden Händen20. Diese
Aufnahmen sind synchron mit dem entsprechenden Geräusch zu sehen, sodass
ein Kurzschluss zwischen Bild und Ton entsteht. Diese Erfahrung hallt im
darauffolgenden Geschehen nach, selbst wenn keine direkte indexikalische
Verbindung mehr festzustellen ist. Vielleicht lässt sich damit erklären, wieso von
“Klatschen” die Rede sein kann, selbst wenn keine klatschende Händen im Blick
sind und auch wenn das Geräusch selbst fremd und unbestimmter zu werden
beginnt.
In The Woolworths Choir... sind sowohl der Rahmen als auch die Prozesse der
Einrahmung und Isolierung oft explizit thematisiert. Das Zeigen ist, wie wir
bereits gesehen haben, eine Geste, die abstrahiert und individualisiert. Wenn die
Rede vom “Modus des Zeigens” ist, ist damit nicht nur ein zeigender Finger, ein
Stift, eine richtungsweisende Hand oder eine erläuternde Schrift (Abb. 17-19) 20Vgl. 06:31. Es lässt sich (leider) keinen Screenshot von diesem Moment der Arbeit aufnehmen,
da das angehaltene Bild viel zu unscharf und wenig differenziert wirkt. Den Film betrachtend,
sind die klatschenden Hände von Musikerinnen jedoch eindeutig zu erkennen.63
gemeint. Vielmehr kann sich auch die An- und Nebeneinanderreihnung von
Fotographien als eine zeigende Geste verstehen. Die Bilder, die bestimmte
bedeutende Details aufweisen, sind häufig als solche ausgestellt: ihre Kanten sind
deutlich zu sehen (Abb. 5; 6). Sie werden auch nicht selten verdoppelt – ob durch
den Einsatz von split screen handelt oder einfach durch das Nebeneinanderlegen
von zwei sich ergänzenden Ausschnitten (Abb. 1; 2). In der Tat ist der Rahmen
nicht etwas, was ausgeblendet wird, sondern etwas, das in das Auditorium als ein
ihm wesentlicher Bestandteil eingeführt wird.
Der Rahmen und die rhythmischen Töne treten in eine Beziehung zu einander –
beide vollziehen Schnitte. Sie operieren zwar auf unterschiedlichen Ebenen, aber
gerade durch die Affinität in ihrer Vorgehensweise vermengen sie sich und
erschaffen sie zusammen die besondere Architektur des Auditoriums.
In ihrem Buch “Chaos, Territory, Art” (2008) nähert sich Elizabeth Grosz in einer
Auseinandersetzung mit den Schriften von Deleuze und Guattari an die Frage wie
das Verhältnis zwischen Rahmen, Rhythmus und Bildschirm (screen) aussehen
könnte. Sie bezieht sich auf das Buch “Was ist Philosophie?” (2000), in denen
Deleuze und Guattari den ersten künstlerischen Impuls als einen
architektonischen bezeichnen:
Die Kunst beginnt nicht mit dem Leib, sondern mit dem Haus; deshalb ist die
Architektur die erste der Künste. (222)
Laut Deleuze und Guattari ist das so, da die Architektur und – ihr folgend – alle
anderen Künsten, darauf aus sind, dem Chaos Perzepte und Affekte zu
entnehmen und sie rahmend in ein Territorium überzuführen. In den Künsten
handelt es sich um ein ständiges Wechselspiel und Ineinandergreifen von den
Bewegungen der Territorialisierung und der Deterritorialisierung:
64
It is the frame that consitutes painting and cinema just as readily as
architecture... The frame is what establishes territory out of the chaos that is the
earth21. (Grosz 2008: 11)
Mit der Rahmung wird ein Territorium als Raum geschaffen, dem Empfindungen
entspringen, um wiederum als einzelne Elemente abstrahiert werden zu
können22. Im Territorium werden Objekte abgegrenzt (17) und in ein bestimmtes
räumliches Verhältnis zueinander gesetzt, sodass komplexe Architekturen
entstehen können. Der Rahmen hat auch eine Affinität zum Rhythmus, der
ebenso aus dem Chaos schöpft und es auf vielfältige Arten und Weisen ordnet.
Musik sei das Resultat davon, dass Töne und Vibrationen aus dem Kosmos
gezogen und als rhythmische Elemente zusammengebracht worden sind. (20)
The refrain is how rhythm stakes out a territory from chaos... (19)
Der Refrain ist dasjenige rhythmische Element, das meistens eine auditive
Territorialisierung vollzieht. Der Refrain ist Wiederholung und Wiederkehr. Er
zergliedert das Lied oder das Gedicht, schafft aber auch einen Gemeinplatz, einen
Moment des Verweilens. Die Bewegung, die er vornimmt, ist eine des Kreisens –
kreisend ist der Refrain mit dem versammelnden Chor verbündet.
21Man könnte den letzten Satz missverständlich als Gleichsetzung von Erde und Chaos lesen,
wobei das nicht im Sinne von der Territorialisierung, die Deleuze und Guattari bescheiben, wäre.
Deswegen sollte man “that is the earth” gerade auf den Prozess der Rahmung – als Erde –
beziehen.
22“...a rhythm, a tone, coloring, weight, texture may be extracted and moved elsewhere, may
function for its own sake, may resonate for the sake of intensity alone.” (12)65
Interessant ist, dass in The Woolworths Choir of 1979 als Refrain das bereits
beschriebene rot gefärbte, von Klatschen begleitete, mit WE KNOW beschriftete
Bild aufgefasst werden kann. (Abb. 8) Es ist ein zusammengesetzter BildTon-
Komplex, in dem die Qualitäten der einzelnen Elemente nur dann erfahren
werden, wenn sie miteinander zu resonieren beginnen. So ist die rote Farbe in
WE KNOW klangvoll und beim Klatschen handelt es sich um den geteilten
Augenblick, in dem kurzlebige Gruppierungen verschiedener Entitäten zum
Vorschein kommen. Sie finden zueinander, um flüchtige Handlungen
auszuführen: Hände zielen auf einander ab, um sich geräuschvoll zu berühren,
zwei Buchstaben behaupten ein wissendes Wir.
Die Wiederkehr dieses Refrains ist eine der Bewegungen, welche die Videoarbeit
territorialisieren. Der BildTon-Komplex steht in einer Spannung zu den
Geräuschen des Klatschens und des Schnipsens, die kurzlebiger, sporadischer
und weniger eindeutig sind als ihn, und auch zu der windenden Form, die der
Chor dem ganzen Film auferlegt. Diese “chorige” Organisation bedient sich allen
weiteren Komponenten und bezieht sie in eine Narration ein.
Zurück ins Auditorium, wo eine Verschränkung von Rahmen und Rhythmus
aufgeführt wird: die Vielfalt an Rahmen, die sich ins Bild einschneiden sowie die
Töne, die das Bild ebenso zerlegen und unterbrechen, schaffen verflochtene
Territorien. Diese kleinsten Elemente sind zugleich Brüche und Brücken, Leer-
und Schnittstellen – sie erzeugen einen Raum, indem sie ihn zersplittern und
mit Unterbrechungen versehen. Sowohl Rahmen als auch Rhythmus wirken
isolierend, indem sie bestimmte Qualitäten aus dem Chaos abstrahieren. Dabei
setzen sie die abstrahierten Elemente in Bewegung und ermöglichen es ihnen,
mit einander zu resonieren und architektonisch-intensive Zusammenhänge zu
fabrizieren.
66
If framing creates the very condition for the plane of composition and thus any
particular works of art, art itself is equally a project that disjars, distends, and
transforms frames, that focuses on the intervals and conjunctions between
frames. (18)
Die Art und Weise, wie das Auditorium als Raum für den Chor und das erzählte
Geschehen konstituiert wird, scheint gerade in einer Auseinandersetzung mit den
Operationen der Rahmung und des Rhythmus stattzufinden. Seine Erschaffung
ist zugleich noch komplexer, da es sich um eine Vielzahl von ihn strukturierenden
Bewegungen handelt.
Die sichtbaren Rahmen prägen horizontal ihre Ecken und Kanten in das
filmische Bild ein und führen eine Spannung zum Bildschirm oder zu der
Leinwand ein.23
Die vertikalen Geräusche des Schnipsens und Klatschens fallen von oben auf die
Bilder herab und unterbrechen sie. Manchmal bleiben sie etwas länger und
haften an ihnen.
Der territorialisierende Refrain weist Affinitäten zum noch kommenden Chor
auf. Somit richtet der Refrain mit seiner Ankunft das Auditorium in die Zukunft.
Und schließlich machen die verdrehten Ornamente die Architektur mehrdeutiger
und vielschichtiger. Sie versehen sie mit fremdartigen Zeitlichkeiten und lassen
den Raum in sich falten. Sie antworten als Elemente der Inneneinrichtung einem
territorialisierenden Impuls, sind “architecture of architecture” (15), da sie aus
dem Inneren eines Raumes Momente abstrahieren und sie in ein bewohnbares
System einführen:
23“Architectural framing produces the very possibility of the screen, the screen functioning as a
plane for virtual projection, a hybrid of wall, window, and mirror. [...] The history of the frame is
the evolution of an increasing dematerialization, a territory-wall-painting-window-mirror-screen-
becoming.” (17)67
Within the architectural frame, in miniaturized form, the frame reenacts itself
and its territorializing function through furniture... (ebd.)
Die ornamentalen Figuren und die Möbel, die in dem Woolworths Geschäft
gelagert wurden, entspringen also dem Rahmen und seiner isolierenden,
beziehenden, koordinierenden Funktionen. Zum anderen sind sie als solche aber
auch narrative Momente. Aus ihren Unentschlüsselbarkeiten und Ambivalenzen
heraus werden Fragen und Geschichten entworren. Sie machen sie zu
Angelegenheiten.
Da es sich gerade beim Auditorium nicht um das Abbilden von einem tatsächlich
existierenden, realen Ort handelt, sondern um die Herstellung eines gemeinsam
geteilten Wissens, ist es der Raum, wo sich all diese Bewegungen kreuzen und
verschiedene Richtungen bieten, denen Zuhörer_innen nachgehen können. Seine
spekulierte Architektur fällt nicht mit der des vorgestellten Kirchenchors
zusammen. Man kann aber das Auditorium genauso wenig als eine bloße
Verlängerung in den Raum der Rezipient_innen verstehen. Als Zuschauer_innen
sind wir zwar in das Auditorium versetzt: wir sind ein Teil des adressierten
Publikums, das mithilfe von screens in eine räumliche Relation zum Geschehen
gesetzt wird. Wenn wir jedoch behaupten würden, dass die Wirkungskraft des
Films darin besteht, erst durch dieses In-Verhältnis-Setzen die Situation des
Auditoriums zu etablieren, würde das bedeuten, dass wir einen bestimmten
Schnitt oder Rahmen (z.B. den der Bildschirmoberfläche) und auch eine konkrete
Position (die des zuschauenden Menschen) privilegieren. Das würde die
komplexen Zusammenhänge, die im Chor und auch im Auditorium hergestellt
werden sowie die spezifische Produktivität von den rahmenden, kreisenden und
zeigenden Gesten leugnen. Adressiert werden im Auditorium nicht nur “wir” 68
sondern auch die Drei- und Vierpässe, die Hände der Popsänger_innen und die
Blicke der Überlebenden des Feuers. Nicht nur “wir” lernen etwas und nicht nur
auf “unsere” Aufmerksamkeit oder Anerkennung kommt es an, um Relevanzen
und Bedeutungen im Film zu erzeugen. Wenn wir dieser Heterogenität Rechnung
tragen, ist es nicht mehr möglich, eine scharfe Trennung zwischen
(menschlichen) Betrachter_innen und betrachteten Objekten zu vollziehen.
Unsere Positionen verschieben und vervielfältigen sich. Es steht nicht mehr fest,
was dieses “wir” ist und aus was für Wesen, Bewegungs- und Begehrensformen es
zusammengesetzt ist.
“Innen” und “Außen”, “Subjekt” und “Objekt”, sowie “Wissende/r” und
“Gewusstes” werden in den Prozessen der Rahmung konstituiert. Im Kreisen, im
Zeigen und mit dem Rhythmus werden diese Positionen bestärkt, neu
komponiert, durcheinander gebracht, in Frage gestellt, ununterscheidbar oder
auch irrelevant gemacht.
Das Auditorium wird also nicht durch einen entscheidenden Bruch (Film –
Bildschirm/Leinwand – Zuschauer_in) konstituiert. Seine Wirkungskraft hängt
vielmehr gerade von dem Spiel mit den möglichen Schichten und Positionen ab,
die sich herauskristallisieren sowie von der Artikulation verschiedener
Methoden, mit welchen die Positionen gehandhabt, erzählt, vertauscht und
exponiert werden.
Die Verfahren, die im Auditorium von besonderer Prägnanz sind, sind die der
Rahmung und des Rhythmus als Schnitt- und Montageformen. Durch ihr Einsatz
wird eine brüchige, für Wissen und Interesse offene Architektur geschaffen, die
auch als Versammlungsort oder auch als Ort, von wo aus Geschichten erzählt
werden, auftreten kann.
69
Karten und Pläne
Eine andere Operation, mit Hilfe welcher Architektur zum Thema der
Videoarbeit gemacht wird, ist die der Territorialisierung durch Karten und Pläne.
Der Einsatz dieser Materialien ist mit der Geste des Zeigens verschränkt. Der
Eindruck eines klaren Territoriums wird außerdem durch den wiederholten
Verweis auf einen bestimmten Ort – RIGHT HERE – heraufbeschworen: aus
einem räumlichen Zusammenhang wird eine Stelle als besonders relevant
hervorgehoben (Abb. 17; 19). Gleichzeitig wird in den Karten und den animierten
Ansichten aber auch eine Komplexität ausgestellt, in der verschiedene räumliche
Momente nebeneinander bestehen können. Selbst wenn sie nicht direkt
thematisiert werden, sind sie dennoch Teil des räumlichen Schemas und bieten
die Bedingungen, aus denen heraus der besondere Ort isoliert werden kann (der
Ort, an dem die Möbel gelagert wurden oder auch dort, wo das Feuer
ausgebrochen ist).
So wie im Auditorium die Fotographie das Medium ist, das am häufigsten
mobilisiert wird, um einen verschnittenen, versammelnden Raum zu erzeugen,
so werden im dritten Teil der Videoarbeit oft Pläne und Karten eingesetzt, um die
Aufmerksamkeit auf die Ermittlung des Ortes des traumatischen Geschehens zu
lenken. Der Ort des Brandes wird zur Topik, zur Angelegenheit des Chors. An
seiner genauen Lokalisierung ist das Gefühl von Bedeutsamkeit und Dringlichkeit
gekoppelt. Dabei wird der Ort ständig präzisiert: von Woolworths zu der
Möbelabteilung zu der Art und Weise, wie die Möbel aufeinander gestapelt
waren.
Sowohl die Karten und die von Price erstellten Animationen (Abb. 22), als auch
der Lehrfilm, der sich darum bemüht, die Bedingungen für das Feuer
nachzubilden, versuchen, sich den Ort in Woolworths zu erschließen. Während
70
es bei der nachträglichen Rekonstruktion des Brandes (Abb. 18) und deren
Aufnahme für Lehrzwecke gerade auf die Spezifität der damaligen Situation
ankommt, sind die dabei verwendeten Raumpläne bar, fast ohne jegliche Details.
In allen Herangehensweisen (in den Animationen, den Plänen, den Lehrfilmen)
wird auf der einen Seite auf Präzision bestanden, auf der anderen bedingt die
getroffene Selektion von bestimmten relevanten Elementen die Notwendigkeit,
sich für konkrete Stilmittel in ihrer Erkundung zu entscheiden. Es handelt sich
also um Annäherungsversuche, die zwar Aspekte des Raumes artikulieren, sie
jedoch nie eins zu eins abbilden werden. Bei der Territorialisierung wird
abstrahiert und objektiviert – es handelt sich bei ihr somit um
Erfassensereignisse. Bestimmte Komponenten greifen andere auf und erfassen
sie wiederum so, dass die letzteren die affektive Tönung für eine neue
Subjektivierung bieten. Woolworths' Möbelabteilung stellt die Vergangenheit und
die emotionale Grundlage für die spätere Aufnahme einiger ihrer Elemente im
Akt der Territorialisierung dar. Sie werden als Karten, Animationen,
Raumplänen aktualisiert. Einerseits werden einige Elemente im Hinblick auf das
in der Welt wieder aufgeführt, was “vergangen und festgelegt” (Whitehead 2000:
88) ist, sie müssen damit konform gehen und auch der notwendigen Zukunft
Rechnung tragen. Andererseits gibt es in der mittleren Phase eines jeden
Erfassensereignisses die Möglichkeit der Aufnahme neuer Inhalte (Whitehead
1971: 351). In dieser leistet jedes Ding seinen “individuellen Beitrag” zur
Umformung der vorgegebenen Tatsachen (ebd.) und genau diese Stelle kann man
vielleicht als eine schöpferische Öffnung zum Neuen oder zum Kosmos (mit
Deleuze und Guattari) bezeichnen. Sie steht nicht im Gegensatz zur oder abseits
der Notwendigkeit der Konformation mit der Vergangenheit und der Antizipation
der Zukunft. Ihre Existenz erklärt aber womöglich wieso, wenn Woolworths
71
gefilmt, kartographiert und animiert wird, dabei nie genau das gleiche Bild
entsteht.
...das Territorium beschränkt sich nicht nur aufs Isolieren und Verbinden, es
bietet eine Öffnung hin zu kosmischen Kräften, die aus dem Inneren aufsteigen
oder von außen eindringen, und macht den Bewohner für deren Wirkung
empfänglich. (Deleuze/Guattari 2000: 221)
Chor
Eine Art und Weise, in der die Öffnung beansprucht wird und in die Struktur der
Videoarbeit einfließt, ist ihr Einbeziehen in den Chor24. Die “auffällige” Bewegung
der Hand, die sowohl in einer liegenden Statue in der Kirche zu erkennen ist, als
auch von den Musikinterpret_innen und den Zeugen des Kaufhaus-Brandes
aufgeführt wird, wird vom Film selbst aufgenommen und zum
Organisationsprinzip gemacht.
Die Arbeit besteht zwar aus drei relativ selbstständigen Teilen, die gar disparat
wirken können, doch sind diese durch verschiedene Elemente miteinander
verwoben: durch den Rhythmus, durch die fortwährende Beschäftigung mit dem
Verhältnis zwischen Raum und Geste und auch dadurch, dass Bilder, die dem
mittleren Abschnitt entstammen, sich in die beiden anderen einschleichen. Sie
markieren die besonders wichtige Stellen und schaffen mit ihrem Erscheinen den
Eindruck von Bedeutsamkeit und Gemeinschaft.25 Bedeutsamkeit, weil gerade die
24Für eine Beschreibung des Chors siehe das Kapitel zu “Kreisen” (S. 33ff)
25Ein solcher Moment im Auditorium ist beispielsweise zwischen 03:42 und 03:58, wenn der
klatschende Pop-Chor über die verschiedenen Bedeutungen des Wortes “choir/quire” berichtet. In
dem letzten Teil der Arbeit werden unter anderem im Abschnitt von 10:03 bis 10:15 die Gesten
der Überlebenden aus dem Feuer mit den Handbewegungen des tanzenden und singenden Chors 72
fremdartigen Bilder und Töne diejenigen sind, die provozieren und
Aufmerksamkeit für sich und ihre Umgebung beanspruchen. Gemeinschaft, da
das Gefühl entsteht, dass der gegenwärtige Moment von mehreren Wesen, Orten
und Zeiten getragen wird, die sich aus einer Angelegenheit heraus versammelt
haben.
Im ersten Teil würde das Auditorium als Ort inszeniert, wo das Ereignis
stattzufinden hat.; der zweite Teil würde den Chor versammeln, um über das
Geschehen zu erzählen, während der dritte schließlich die Erzählung selbst
liefern würde.26 Diese formale Aufteilung ist tatsächlich spürbar, doch meiner
Meinung nach lassen sich ihre Komponente nicht sehr strikt voneinander
trennen. Eine formale Aufteilung der Videoarbeit ist zwar spürbar, doch, meiner
Meinung nach, jedoch vor allem durch die Präsenz des Chors nicht aufrecht zu
erhalten. Denn er versammelt quer durch alle drei Abschnitte und wird dadurch
im selben Zug auch selbst versammelt. Der Chor streckt sich in diese anderen
Zeiten aus und vervielfältigt sich somit. Die Gesten von verschiedenen Zeugen,
Ornamenten und Sänger_innen werden miteinander verflochten, sodass sich der
Chor als Assemblage von miteinander im Einklang singenden und tanzenden
Teilnehmer_innen herausbilden kann.
Deswegen scheint sich die spezifische Organisationsform des Chors auf den
ganzen Film auszubreiten. Ihre Bewegung ist die des Verknüpfens und des
Kreisens. Dabei entsteht die Öffnung hin zu den “kosmischen Kräften” nicht aus
der Leere des Kreises heraus, sondern ist das Resultat von komplexen
Produktions- und Territorialisierungsprozessen, die sich unterschiedlicher
Methoden aneignen, um Architekturen zu entwerfen. Der Raum wird strukturiert
und organisiert, aber auch gesprengt und auseinandergenommen. Es entstehen
zusammengeschnitten.26Vgl. MOT International (siehe Quellenverzeichnis).
73
Verflechtungen, Überlagerungen; Fluchtlinien bahnen sich eine Richtung hin zu
anderen Zeiträumen und Existenzformen. Das, was sie zusammenhält, ist der
Chor als Versammlung, in der es um das Austragen, Übersetzen und Erzählen
von Wissen geht.
Wissen, Erzählen
Als Stadtstreicherin Geschichten erzählen heißt [...], unerwartete Partner und
irreduzible Einzelheiten in eine ausgefranste und löchige Einkaufstasche zu
packen. Dies Zusammentreffen bringt stockende Konversationen in Gang,
verwandelt dadurch alle Partner und Einzelheiten und schafft sie neu. Die
Geschichten haben keinen Anfang und kein Ende, sondern werden fortgesetzt,
unterbrochen, reformuliert [...] (Haraway 1995b: 84)
Die Tätigkeit der Wissensakkumulation als Geschichtenerzählen aufzufassen
bedeutet die Produktionsweisen und Möglichkeitsbedingungen von Wissen nicht
zu leugnen. Es heißt, den Fragen nach den Mitteln nicht zu entgehen, sondern
sich mit ihrer Materialität und Wirkungskraft zu beschäftigen und sie selbst in
die Geschichten einzubeziehen. Es ist von Bedeutung, welche Bilder, Rhythmen,
Bewegungsarten, Schnitten und Sprachfiguren sich an der Narration beteiligen,
sie erschaffen gemeinsam einen Ort der Erzählung und des Wissens. Als
Partner_innen in einer Konversation sind sie immer dabei, sich im Gespräch zu
verändern, aber auch das Gespräch selbst, seine Topik und seinen Ort zu
verwandeln.
Bei der Produktion von Wissen handelt es sich um einen Prozess, an deren
Entfaltung mehrere Akteur_innen beteiligt sind. Das bedeutet nicht, dass es sich
in diesem um ein symmetrisches Verhältnis handelt oder dass alle Partner_innen 74
in gleicher Weise sichtbar und präsent sind. Einige Stimmen verschaffen sich
mehr Gehör – einigen Gewichten wird mehr Platz eingeräumt.
Wenn wir Wissen als in einen produktiven Prozess eingebunden verstehen, dann
ist dieses Wissen kein Gegebes. Es ist nicht irgendwo versteckt und es wartet
auch nicht darauf, ans Licht geholt zu werden. Es wird erst in seiner Entfaltung
intelligibel und mitteilbar. Dabei ist es immer ein kollektives, materielles und
narrativisiertes Wissen – was nicht bedeutet, dass den produzierten Tatsachen
konsequent Rechnung getragen wird. Es kann durchaus sein, dass seine
relationalen Grundlagen geleugnet werden oder dass in seiner Artikulation ein
Anspruch auf “Objektivität” erhoben wird, der “objektiv” mit “losgebunden”,
“distanziert” und “entkoppelt” verwechselt.
Demgegenüber versteht sich ein Wissen, das erst in der Erzählung und mit der
Verknüpfung Bedeutung erlangt, als eines, in dem Objektivität gerade einer
relationalen Grundlage entspringt. Mit Whitehead könnten wir diesen Prozess so
beschreiben: um einen “objektiven” Status erlangt zu haben, muss das Ding sich
auf eine komplexe Verkettung von Erfassensereignissen eingelassen haben, in
denen eine Vielzahl fremdartiger, relevanter Existenzen in die Erfahrung eines
jeden aktualen Dinges eingegangen sind, um eine Synthese herbeizuführen –
zwischen abgeschlossenen, gegebenen Vorgängen, die ihre affektive Tönung dem
kommenden Ereignis abgeben, zwischen der Forderung nach einer Zukunft und
zwischen den eingeflossenen neuen Inhalte im gegenwärtigen Moment. (vgl.
Whitehead 1971: 351)
So verstanden ist objektives Wissen ein Konglomerat stabilisierter Ereignisse, die
vor dem Hintergrund von Interesse und Relevanz auf eine bestimmte Art und
Weise Form an- und Stellung genommen haben.
Gleichzeitig ist dieses Wissen auch spekuliert und fiktiv. So wie Haraways
Geschichten keinen Anfang und auch kein Ende haben, so wird es ständig
75
“fortgesetzt, unterbrochen, reformuliert”. In diesen Fortsetzungen handelt es sich
um risikobehaftete Einmischungen und um das Einbeziehen von
nichteingeladenen Anderen. Das Wissen ist heterogen, es versammelt. Immer ist
es auf Andere angewiesen; deswegen ist die Rede von Entfaltung: es wendet sich
an andere Blicke, Interessen und Arten, um ihre Sympathie und Komplizenschaft
zu gewinnen. Die Erzählung verlockt und verführt, sie muss genossen und
lustvoll verfolgt werden.
Wissen, als materiell-produktiver Prozess aufgefasst, ist ein möglicher Terminus
des spekulativen Ding-Denkens. Jede Kenntnis ist spekulativ; jede Erzählung
produziert Modi des Wissens.
In The Woolworths Choir of 1979 wird das Zusammenspiel von Wissen und
Erzählung aufgeführt. Der Chor ist Erzählender und Erzählter, er narrativisiert
den Raum, der er zum Teil selbst ist, und setzt an problematischen Stellen an, um
sie als Ausgangspunkt für seine Geschichten zu nehmen. Das Behaupten eines
Wissens – WE KNOW – ist der Refrain, der den Chor zusammenhält, ihn zu
einem Topos macht und ihn in seiner Vielstimmigkeit ausstellt.
Die Momente im Film, die ein kollektiv-spekuliertes Wissen produzieren, sind
mehrdeutig und unentwirrbar, doch gerade als solche können sie provozieren
und Interesse erwecken. So zum Beispiel die Miserikordien, die, laut der
Erzählung profane, absurde und gewaltsame Bilder darstellen. Sie sind Teil einer
ungleichartigen, subversiven Versammlung, ihre fantastischen und seltsamen
Gestalten regen fantastische Assoziationen an. Sie wären nicht in einem
Kirchenchor einzuordnen oder zu erwarten. Doch mit ihrer Präsenz und dadurch,
dass sie vom Film ins Zentrum gerückt werden, verfransen sie die Architektur: sie
sind wie die löchrige Einkaufstasche von Haraway, aus der gelegentlich
76
unvermutete Artefakte fallen. Die Miserikordien stoßen verschiedenartige
Erzählungen an, da sie nicht einer homogenen Raumkonzeption entsprechen.
Die S-Kurve (ogee) windet sich wie wallende Flammen (vgl. Price 2012: 02:20).
Dieser Vergleich schafft eine Assoziation, die in die Zukunft reicht und sich an
einer noch kommenden Erzählung orientiert. Das Aufrollen von den
Worten ...which curls like flowing flames ist so flüchtig und wird für so kurze
Zeit auf der Unterlage von mindestens drei verschiedenen Bildern (darunter auch
eins, auf dem quatrefoil zu lesen ist) eingeblendet, dass sie fast unterhalb der
Wahrnehmungsschwelle der (menschlichen) Zuschauer_innen bleibt. So
vergänglich die Assoziation von ogee zu den Flamen der Aufnahmen
Woolworthsbrandes auch ist, ist sie nicht bedeutungslos. Als kleinstes Detail ist
sie auch Teil des Geschehens und verknüpft sich mit anderen Ereignissen quer
durch und mithilfe des Films. In diesem Moment, wie in vielen anderen der
Videoarbeit, wird die Ununterscheidbarkeit zwischen Erzählung und Vermittlung
von Wissen ausgestellt. Der zerbröckelte “Satz”, der sich an die geschnitzten
Figuren wendet, hat eine narrative Tönung – erzählend führt er Informationen
über die unterschiedlichen Figuren aus, er eignet sich den Raum als einen
gewussten Raum an, doch trennt er dabei nicht zwischen vermeintlich neutralen
Inhalten und spekulativen Interpretationen oder Assoziationen. Er bringt sie
zusammen, um die Architektur ambivalenter und vielschichtiger erscheinen zu
lassen: they are decorated with foliate carvings... with tracery based on the
trefoil... on the quatrefoil... and on the ogee... an 's' shaped curve... which curls
like flowing flames (ebd. 01:57-02:21; Herv. N.G.)
Wenn sich der Chor um die “auffällige” Geste einer liegenden Statue versammelt
(Abb. 9), tut er das auch aus einer problematischen Situation heraus. Es ist
unmöglich, die verdrehte, ausdrucksvolle Geste auf eine feste Bedeutung zu
reduzieren: man muss ihr eher folgen:
77
the greatest expression... is precisely confined... to a conspicuous twist... of the
right wrist... [...] yet it is difficult to discern... what the gesture means... the
point of this inflection... lies in the curvature...and we shall trace it in the
ornamental foliations... (06:48-07:33; vgl. Anhang)
Aus dem Folgen entstehen neue Assoziationen und Bewegungsassemblagen, neue
Geschichten und Wissensformen. “Assoziation” im Sinne von Verknüpfung,
Gemeinschaft und Affinität wird zum kleinstmöglichen narrativen Element. Sie
wirkt auf unterschiedlichen Registern – sowohl intuitiv, als auch höchst präzise,
ist sie launenhaft, unberechenbar und spitzfindig. In ihrer Suche nach dem
entscheidenden Wendepunkt27 schafft sie ihn zugleich, indem sie mehrere
bedeutungsvolle Kurven zusammenbringt. Die Assoziation ist ein Moment des
Erfassens, in dem überraschende, unvorhersehbare Ereignisketten freigesetzt
werden. Als solche nimmt sie auch an der Tätigkeit der spekulativen Fabulation
teil, wie sie von Donna Haraway entworfen wird.
27 Point of inflection wird auf Deutsch als Wendepunkt übersetzt. In der Mathematik ist damit
folgendes gemeint: “...ein Punkt in einer Kurve, wo sich die Richtung der Kurve ändert. Das heißt
wenn die Kurve vorher nach rechts gekrümmt war, krümmt sich die Kurve hinterher nach links.”
[Online-Ressorce: Wendepunkt – Wendestelle und Wendepunkte (siehe Quellenverzeichnis)]Der
Wendepunkt in einer Erzählung ist jener Moment, in dem ein entscheidendes Geschehen passiert,
das die Geschichte nicht unverändert lassen kann und in Folge dessen sie eine andere Richtung
aufschlagen muss.
Es wird also die mögliche Assoziation von Geometrie und Literaturtheorie realisiert. Diese
Verknüpfung heftet sich wiederum an konkreten Elementen der Dekoration der Kirche an
(“ornamental foliations”) und versammelt dadurch die ansonsten eher weit voneinander
entfernten Wissensbereichen. Die assoziierende Bewegung macht Erzählung und Mathematik
zum steinernen Drei- und Vierpässe. Ssie lässt sie sich anders materialisieren und legt zugleich
diesen Verkörperungsprozess offen.78
In ihrem (d)OCUMENTA-Aufsatz (2012) schlägt Haraway eine “fiktive multiple
Integralgleichung” (12) vor, mit der sie die Konstruktion eines
mehrdimensionalen Zeitraumes umschreibt: Terrapolis ist diese
Integralgleichung. Sie ist ein Ort des Werdens-Mit, aber auch ein “Multispezies-
Geschichtenerzählen, Multispezies-Worlding in sf-Modi”. Und noch: fiktiv,
abstrakt und konkret. (13)
Die Integralgleichung ist die Methode und das Modell, mit welchen Haraway
spekuliert.
Eine Integralgleichung ist ein Modell: Dieses Modell ist hier ein sf-Satz über
unvorstellbare, blasenbildende, hyperreale, aufgeblasene Platzierungen und
Formierungen. Das sind jene Art n-dimensionaler Taten, die dafür sorgen, dass
fleischige sterbliche Welten Schleife um Schleife durch n Anheftungsstellen
zusammengehalten werden. Geh spielen: Geh figurieren. (14)
Die spekulative Fabulation wird somit an der Produktion von solchen fiktiven,
mehrdimensionalen, mehrdeutigen, heterogenen und nicht unschuldigen Orten
und Zeiten gebunden. In The Woolworths Choir of 1979 geht der Chor gerade aus
einem solchen risikobehafteten Spiel hervor, in welchem Dimensionen und
Zeiten, Wissensformen und fiktionale Realitätsentwürfe im sf-Modus
miteinander vertauscht und in Beziehung gesetzt werden. Durch die Tätigkeit der
Assoziation werden “aufgeblasene Platzierungen und Formierungen” erstellt: der
Zeitraum bläht auf, um sich in andere Dimensionen einzupressen. Die S-Kurve
ist wie Flamme – sie windet sich wie die auffälligen Gesten der Popsänger_innen,
wie die Hände der Zeugen, wie der Rauch, der aus den Fenstern des Woolworths-
Geschäftes strömt, wie die Spiralen, gezeichnet auf dem Blatt Papier. Sie ist
verdreht wie das Handgelenk der liegenden Statue. Das wie bildet keine
feststehenden Ähnlichkeiten ab, sondern schafft erst die Bezüge zwischen den
79
Zeiten, Figuren, Bewegungsformen. Das wie assoziiert, es spekuliert und erfreut
sich an hybriden Bündnissen und künstlich erzeugten Verwandtschaften.28 Jedes
der BildTon-Komplexe ist von Fremdheiten und Unstimmigkeiten durchzogen,
aber ebenso von Begehren nach anderen “irreduzible[n] Einzelheiten” (Haraway
1995b: 84), die in ihrer Bruchstückhaftigkeit zueinander finden.
In The Woolworths Choir of 1979 wird mit solcher Beharrlichkeit auf Präzision
auf Wissen bestanden, dass es umso erstaunlicher wirkt, dass dieses nicht gesetzt
oder fetischisiert wird, sondern ständig spielerisch neu konfiguriert, spekuliert
wird. Durchgängig wird der affektiven Grundlage von Erkenntnis Rechnung
getragen: “das Einströmen des Anderen” in den gegenwärtigen Augenblick
(Whitehead 1971: 334), wird nicht nur zugelassen, sondern zum integralen
Bestandteil der Organisation und Entfaltung der Videoarbeit gemacht. The
Woolworths Choir of 1979 funktioniert, in dem es immer wieder, mithilfe
unterschiedlichster Methoden, Modelle und Gesten neue Verkettungen von
Assoziationen schafft. Diese Ketten stoßen Geschichten an, die nicht auf eine
Dimension, auch nicht auf die des Films, zu begrenzen sind. Das Wissen um die
Architektur der mittelalterlichen Kirche oder um den Brand in Woolworths wird
durch den spekulativen Umgang mit ihm nicht nichtig, sondern seine
relationalen Möglichkeitsbedingungen und Angewiesenheit auf jenseitige Andere
werden im sf-Modus aufgezeigt.
Auch ich musste mich, verkettet und erfasst, an der Spekulation möglicher
Beziehungen zu Price' Video versuchen. In der noch pulsierenden Dimension, in
der ich mich gerade befinde, gibt es keine Position, von der aus ich auf den Chor
und das Geschehen in Woolworths zurückblicken könnte. Die kreisenden,
28Verwandtschaft ist nicht nur nicht heterosexuell, sondern auch nicht auf eine Spezies oder ein
Material zu begrenzen. 80
territorialisierenden, auf andere Materialien, Gesprächspartner_innen und Orte
verweisenden Bewegungen lassen mich immer noch mitschwingen, sodass ein
abschließendes Ankommen unvorstellbar bleibt. Der Chor ist womöglich um eine
oder mehrere Konversationen mehrstimmiger geworden. Neue Assoziationen
haben vielleicht zum Verweilen oder Weiterreisen eingeladen. Ding-gedacht
denke ich schreibend daran, dass die erste Erfahrung/Frage/Proposition die
letzte kennt: denkbar wäre also, vielleicht, noch eine Erzählung, ein Dreh, ein
click.
81
Anhang
Chorus (06:32 – 08:52)
whole human figures [*][*]
which lie recumbent
WE KNOW
which lie recumbent
[*][*][*][*] WE KNOW
but with an animated attitude
WE KNOW
[.] the greatest expression confined [*] [Musik setzt an: The Shangri-Las: Out in
the Streets ]
to a conspicuous twist (Abb.9)
WE KNOW [*]
to a twist
WE KNOW [*]
of the right twist
WE KNOW [*] x2
the greatest expression (Abb. 10)
WE KNOW [*]
is precisely confined
WE KNOW [*]
to a conspicuous twist
WE KNOW [*]
of the right wrist
WE KNOW [*]
82
a twist of the right wrist [.]
WE KNOW [*]
yet it is difficult to discern x2
WE KNOW [*]
what the gesture means
WE KNOW [*] x2
the point of this inflection
WE KNOW [*]
lies in the curvature
WE KNOW [*]
and we shall trace it
in the ornamental foliations
HERE THEY ARE [*]
[*][*]
HERE THEY ARE
of the trefoil
and follow it in the arcs
WE KNOW
of the flowing ogee flames
WE KNOW
and all the four folds
of the quatrefoil
WE KNOW x2
it is expressive
WE KNOW x2
it is expressive above all
of this assembly
83
WE KNOW
of this assembly
WE KNOW
WE ARE TREFOIL (Abb. 11)
WE ARE QUATREFOIL x2
WE KNOW
WE ARE CINQUEFOIL
WE ARE FIVEFOLD
CINQUEFOLD
WE KNOW
WE ARE CHOIR
WE ARE QUIRE (Abb. 12)
WE ARE CHORUS
WE KNOW
and we will show you
WE KNOW x4
and we will show you x4
how it went up x2
it went up
84
Heidegger: Das Ding
Das Fassen des Kruges macht sein “Wesen” aus und
das Fassen ist auf einer Leere angewiesen. (41)
Das Fassen der Leere bedeutet Ausgießen und
Ausgießen ist Schenken. (44)
Das Geschenk des Kruges verweilt. (46)
Es verweilt Erde und Himmel,
die Göttlichen und die Sterblichen.
Verweilen ereignet. (ebd.)
Das Geschenk versammelt.
Das Ding, the thing, ist eine Versammlung. (ebd.)
“Der Krug west als Ding. […]
Das Ding dingt.
Das Dingen versammelt.
Es sammelt, das Geviert ereignend...” (ebd.)
In einer Versammlung werden Angelegenheiten verhandelt,
etwas geht uns an. (48)
Verweilen bringt nahe.
Das Wesen des Dinges ist in diesem Näher-Bringen zu suchen. (50)
Erde und Himmel,
die Göttlichen und die Sterblichen 85
spiegeln sich gegenseitig wieder. (52)
Doch wird in diesem Spiel nichts abgebildet:
“Das Spiegeln ereignet.” (ebd.)
Das Spiegel-Spiel ist die Welt.
Und “Welt west, indem sie weltet.” (ebd.)
Im Spiel mit dem Gevier werden Ereignisse gereigt.
Das Reigen fügt die Vier “schmiegsam” mit der weltenden Welt.
Geschmeidig, fügsam, schmiegsam sind auch Worte für “ring”.
Aus dem Spiel mit den Ringen “ereignet sich das Dingen des Dinges.” (53)
Wenn wir das Ding Welt welten lassen,
denken wir an das Ding als Ding.
Andenkend, lassen wir uns vom Ding angehen.
Denkend, sind wir vom Ding gerufen. (ebd.)
“Dingen ist Nähern von Welt.” (54)
86
Inhaltsverzeichnis
Ding-Denken : 1
Ursachen : 3
Spekulation : 8
The Woolworths Choir of 1979 : 13
Zeigen : 23
Kreisen : 33
Archiv, Vergangenheit, Zukunft : 41
Architektur : 61
Wissen, Erzählen : 74
Anhang: Chorus : 82
Anhang: Das Ding : 85
Anhang: Bilder : 87
Quellenverzeichnis : 93
Selbstständigkeitserklärung : 97
92
Quellenverzeichnis
Barad, Karen: Was ist das Maß des Nichts? Unendlichkeit, Virtualität,
Gerechtigkeit. Ostfildern: Hatje Cantz Verlag 2012.
Benjamin, Walter: Die Aufgabe des Übersetzers (1921/23), In: Aura und
Reflexion. Schriften zur Kunsttheorie und Ästhetik, Suhrkamp Verlag Frankfurt
am Main 2007, S. 111-123.
Butler, Judith: On This Occasion... In: Butler on Whitehead: On the Occasion,
Lexington Books 2012, S. 3-17.
Deleuze, Gilles/Guattari, Félix: Was ist Philosophie? Suhrkamp Verlag Frankfurt
am Main 2000.
Gansing, Kristoffer / Go, Teresa / Weier, Sabine / Zupple, Lina (Ed./Transl.):
transmediale 2013 BWPWAP, medialis Berlin, Germany 2013.
Grosz, Elizabeth: Architecture from the Outside: Essays on Virtual and Real
Space. Massachusetts Institute of Technology 2001.
Grosz, Elizabeth: Chaos, Territory, Art. Deleuze and the Framing of the Earth.
Columbia University Press 2008.
Haraway, Donna: Die Neuerfindung der Natur. Primaten, Cyborgs und Frauen.
Campus Verlag 1995a, Frankfurt am Main/New York.
93
Haraway, Donna: Monströse Versprechen. Die Gender- und Technologie-Essays.
Argument Verlag Hamburg 1995b.
Haraway, Donna: SF: Speculative Fabulation and String Figures/ SF:
Spekulative Fabulation und String-Figuren, Ostfildern: Hatje Cantz Verlag 2012.
Heidegger, Martin: Vorträge und Aufsätze. 3 Teile in 3 Bänden. Teil II. Neske
Verlag, Pfullingen 1954.
James, William: Pragmatismus und radikaler Empirismus, Suhrkamp Verlag
Frankfurt am Main 2006.
Latour, Bruno: Die Hoffnung der Pandora. Untersuchungen zur Wirklichkeit
der Wissenschaft, Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 2000.
Latour, Bruno: Elend der Kritik. Vom Krieg um Fakten zu Dingen von Belang,
diaphanes, Zürich-Berlin 2007.
Stengers, Isabelle: Spekulativer Konstruktivismus, Merve Verlag Berlin 2008.
Whitehead, Alfred North: Abenteuer der Ideen, Suhrkamp Verlag Frankfurt am
Main 1971.
Whitehead, Alfred North: Die Funktion der Vernunft, Philipp Reclam jun.
Stuttgart 1974.
94
Whitehead, Alfred North: Kulturelle Symbolisierung, Suhrkamp Verlag
Frankfurt am Main 2000.
Internet-Ressourcen
Becomings, Misplacings, Departures: Butler and Whitehead as Catalysts for
Contemporary Thought. In: Becomings, Misplacements, Departures:
http://whiteheadresearch.org/occasions/conferences/butler-whitehead/ [Stand:
12.08.2013]
ELIZABETH PRICE. THE WOOLWORTHS CHOIR OF 1979. In: MOT
International: http://www.motinternational.org/ep-projects-woolworths-
choir.html [Stand: 12.08.2013]
Manning, Erin: Sieben Propositionen zur Unmöglichkeit der Isolation. Oder:
Der Radikale Empirismus des Netzwerks. In: Erin Manning: Sieben
Propositionen zur Unmöglichkeit der Isolation | eipcp.net:
http://eipcp.net/transversal/0811/manning/de [Stand: 12.08.2013]
THE WOOLWORTHS CHOIR OF 1979. [Privates Video] In: THE
WOOLWORTHS CHOIR OF 1979 on Vimeo: http://vimeo.com/51221868
[Stand: 12.08.2013]
Turner Prize. In: Turner Prize | Tate: http://www.tate.org.uk/whats-on/tate-
britain/exhibitionseries/turner-prize [Stand: 12.08.2013]
95
Wendepunkt. In: Wendepunkt – Wendepunkte und Wendestelle:
http://www.mathematik-wissen.de/wendepunkt.htm [Stand: 12.08.2013]
96
Selbstständigkeitserklärung
Hiermit erkläre ich, dass ich die vorliegende Masterarbeit selbständig und ohne
Benutzung anderer als der angegebenen Hilfsmittel angefertigt und alle Stellen,
die wörtlich oder sinngemäß aus veröffentlichten Schriften entnommen sind, als
solche kenntlich gemacht habe.
Düsseldorf, ............................
den 12. August 2013 (Neda Genova)
97