Das System Wissenschaft aus Sicht synergetischer Selbstorganisationstheorie

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MS-Version. Erschien 2011 in Brunner, E-J., Tschacher, W. & Kenklies, K. (Hg.): Selbstorganisation von Wissenschaft. Jena: IKS Geramond, S. 11 - 33 Jürgen Kriz Das System Wissenschaft aus Sicht synergetischer Selbstorganisationstheorie 1. Einleitung: Einige begrifflich-konzeptionelle Klärungen Der folgende Beitrag dient vor allem dazu, die Konzepte synergetischer Selbstorganisations- theorie, die ursprünglich in den Naturwissenschaften entwickelt wurden, für den Gegen- standsbereich „System Wissenschaft“, welcher fraglos den Sozial- und Kulturwissenschaften zuzuordnen ist, so aufzubereiten, dass ein fruchtbarer Diskurs überhaupt möglich werden kann. In den letzten Jahren haben nämlich zunehmend systemtheoretisch ausgerichtete Diskurse faktisch alle wissenschaftlichen Disziplinen erfasst – und sind sogar in Begriff, mit ihren Konzepten und Terminologien auch in zahlreiche Domänen des Alltagslebens vorzudringen. Diese große Verbreitung – um nicht von Mode zu sprechen – kann aber den Systemtheoreti- ker nicht nur erfreuen: Denn es gibt keineswegs „die Systemtheorie“, sondern vielmehr ein beachtliches Spektrum recht unterschiedlicher Ansätze. Diese reichen von eher verbal vor- getragenen, primär philosophisch und/oder erkenntnistheoretisch ausgerichteten Konzepten wie der „Autopoiese“ (Maturana & Varela 1987; Luhmann 1984), über recht spezifisch angelegte Ansätze zur Beschreibung und Klärung jeweils eng umrissener Phänomene und Fragen – etwa der „Hyperzyklus“ (Eigen & Winkler 1976) oder die „Katastrophentheorie“ (Thom 1989) – bis hin zu grundlegend naturwissenschaftlichen Theorien wie den „Dissipa- tiven Strukturen“ (Prigogine 1992) oder dem inzwischen interdisziplinär entfalteten Theorie- programm der Synergetik (Haken 1981, 1992). Es ist nicht verwunderlich, dass angesichts einer solchen Breite nicht nur recht unterschiedliche Vorstellungen damit verbunden sind, wenn jeweils von „System“ geredet wird, sondern dass auch hinsichtlich der Details innerhalb eines Ansatzes keineswegs immer alle dasselbe meinen, wenn sie denselben Begriff gebrau- chen. Dies ist vielleicht am augenfälligsten innerhalb der „Autopoiese“-Begriffs-Familie, die deutlich in zwei getrennte Stammeslinien zerfallen ist: Einerseits „Autopoiese“ à la Maturana & Varela, andererseits „Autopoiese“ à la Luhmann – wobei sich die Vertreter und Anhänger beider Gruppen gegenseitig inadäquate Begriffsverwendung, Konfusion und Ärgeres vor- werfen (vgl. Kriz 1999, S 86f). Doch, wie gleich noch näher ausgeführt werden wird, besteht selbst bei einem zunächst so präzise definierten Konzept wie der Synergetik die Gefahr zu stark divergierender Vorstellungen. Was alle Systemtheorien gemeinsam haben, ist auf jeden Fall der Aspekt von „Selbstorgani- sation“. Bei allen Unterschieden im Detail der auch hiermit verbundenen Vorstellungen – bei- spielsweise umschließt „Autopoiese“ den sehr weitreichenden rekursiven Aspekt der Selbst- Herstellung der Systemelemente durch eben diese Elemente – ist dieser in deutlicher Abhe-

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MS-Version. Erschien 2011 in Brunner, E-J., Tschacher, W. & Kenklies, K. (Hg.): Selbstorganisation von Wissenschaft. Jena: IKS Geramond, S. 11 - 33

Jürgen Kriz

Das System Wissenschaft aus Sicht synergetischer Selbstorganisationstheorie

1. Einleitung: Einige begrifflich-konzeptionelle Klärungen

Der folgende Beitrag dient vor allem dazu, die Konzepte synergetischer Selbstorganisations-theorie, die ursprünglich in den Naturwissenschaften entwickelt wurden, für den Gegen-standsbereich „System Wissenschaft“, welcher fraglos den Sozial- und Kulturwissenschaften zuzuordnen ist, so aufzubereiten, dass ein fruchtbarer Diskurs überhaupt möglich werden kann.

In den letzten Jahren haben nämlich zunehmend systemtheoretisch ausgerichtete Diskurse faktisch alle wissenschaftlichen Disziplinen erfasst – und sind sogar in Begriff, mit ihren Konzepten und Terminologien auch in zahlreiche Domänen des Alltagslebens vorzudringen. Diese große Verbreitung – um nicht von Mode zu sprechen – kann aber den Systemtheoreti-ker nicht nur erfreuen: Denn es gibt keineswegs „die Systemtheorie“, sondern vielmehr ein beachtliches Spektrum recht unterschiedlicher Ansätze. Diese reichen von eher verbal vor-getragenen, primär philosophisch und/oder erkenntnistheoretisch ausgerichteten Konzepten wie der „Autopoiese“ (Maturana & Varela 1987; Luhmann 1984), über recht spezifisch angelegte Ansätze zur Beschreibung und Klärung jeweils eng umrissener Phänomene und Fragen – etwa der „Hyperzyklus“ (Eigen & Winkler 1976) oder die „Katastrophentheorie“ (Thom 1989) – bis hin zu grundlegend naturwissenschaftlichen Theorien wie den „Dissipa-tiven Strukturen“ (Prigogine 1992) oder dem inzwischen interdisziplinär entfalteten Theorie-programm der Synergetik (Haken 1981, 1992). Es ist nicht verwunderlich, dass angesichts einer solchen Breite nicht nur recht unterschiedliche Vorstellungen damit verbunden sind, wenn jeweils von „System“ geredet wird, sondern dass auch hinsichtlich der Details innerhalb eines Ansatzes keineswegs immer alle dasselbe meinen, wenn sie denselben Begriff gebrau-chen. Dies ist vielleicht am augenfälligsten innerhalb der „Autopoiese“-Begriffs-Familie, die deutlich in zwei getrennte Stammeslinien zerfallen ist: Einerseits „Autopoiese“ à la Maturana & Varela, andererseits „Autopoiese“ à la Luhmann – wobei sich die Vertreter und Anhänger beider Gruppen gegenseitig inadäquate Begriffsverwendung, Konfusion und Ärgeres vor-werfen (vgl. Kriz 1999, S 86f). Doch, wie gleich noch näher ausgeführt werden wird, besteht selbst bei einem zunächst so präzise definierten Konzept wie der Synergetik die Gefahr zu stark divergierender Vorstellungen.

Was alle Systemtheorien gemeinsam haben, ist auf jeden Fall der Aspekt von „Selbstorgani-sation“. Bei allen Unterschieden im Detail der auch hiermit verbundenen Vorstellungen – bei-spielsweise umschließt „Autopoiese“ den sehr weitreichenden rekursiven Aspekt der Selbst-Herstellung der Systemelemente durch eben diese Elemente – ist dieser in deutlicher Abhe-

bung zum klassisch-abendländischen mechanistischen Prinzip der Fremdorganisation ge-meint. Denn nach wie vor bestimmen unsere Alltagsvorstellungen das Prinzip, dass Ordnung nur dann entsteht, wenn „jemand“ in ordnender Weise eingreift. Wenn also beispielsweise jemand die Gegenstände auf seinem Schreibtisch in bestimmter Weise anordnet. Ansonsten, so die populäre, aber für das Alltagsverständnis sehr bedeutsame Interpretation klassischer Thermodynamik, sind Entwicklungsverläufe nur derart, dass Ordnung zerfällt. Chaos und –nur allzu leichtfertig auf die soziale Welt übertragen – Anarchie drohen. Eine Vorstellung übrigens, die den ideologisch und materiell Herrschenden sehr entgegen kommt. Eignet sie sich doch als Rechtfertigung dafür, die bestehenden Strukturen – und damit die eigenen Vorrechte – in altruistischer Scheinheiligkeit aufrecht zu erhalten, und bei Gefahr von Chaos und Anarchie entsprechend zu intervenieren (vgl. Kriz 1998). Selbstorganisation hingegen verweist auf jene Beobachtungen, dass auch ohne direkt ordnende Eingriffe durchaus Ord-nung entstehen kann und dass zudem Ordnungen in der Lage sind, sich – wieder ohne direkt ordnende Eingriffe – entsprechend neuen Erfordernissen umzuordnen. Das, was sich dabei ordnet, wird als „System“ gefasst und die Erfordernisse, welche zu einer Ordnung bzw. Umordnung führen, als dessen „Umgebung“ benannt. Wobei „System“ und „Umgebung“ konzeptionell und funktional zu verstehen sind und nicht etwa als Relation im euklidischen Raum: Für die geordnete Bewegung eines Organismus kann beispielsweise eine „innere“ Krankheit die Erfordernis sein, dass sich der Bewegungsablauf umordnet. Die Krankheit ist dann zwar für den Organismus „innerlich“, für das System „Bewegungsablauf“ hingegen wäre dies eine Erfordernis aus dessen Systemumgebung.

Während „Selbstorganisation“, „System vs. Umgebung“ und damit auch der Fokus auf der Prozesshaftigkeit der zu beschreibenden Phänomene einschließlich einer entsprechenden Ent-wicklungsdynamik wohl für alle Systemtheorien zentrale Bestandteile sind, gilt dies für die folgenden Konzepte nicht: Die besondere Leistung der Synergetik für die von uns zu erörtern-den Fragen liegt in einer spezifischen Fassung von Mikro- und Makrophänomenen im Sinne einer „bottom-up“ und „top-down“ Dynamik, die zu einer selbstorganisierten Ordnung führt, die „Attraktor“ genannt wird. Aufgrund der ständigen Rückkoppelungen zwischen den ver-netzt interagierenden Teilen eines Systems entsteht typischerweise eine Ordnung, die als eine enorme Reduktion des Möglichkeitsraums zu sehen ist. Diese Ordnung (der Attraktor) wirkt nun ordnend auf den weiteren Prozess ein, so dass dieser unter den gegebenen Randbedingun-gen dynamisch stabil bleibt. D.h. auch (nicht zu große) Abweichungen von der Ordnung wer-den entsprechend geordnet; Teilordnungen werden zur Gesamtordnung komplettiert. Es han-delt sich um eine typische zirkuläre Kausalität: die Teile ordnen sich (unter bestimmten Rand-bedingungen) selbstorganisiert (bottom-up); und diese Ordnung wirkt dann im weiteren Pro-zessverlauf ordnend auf die Dynamik der Teile (top-down) – indem z.B. die restlichen Teile ebenfalls geordnet werden (Komplettierungsdynamik) oder Störungen im Sinne der Ordnung ausgeglichen werden.

Eine solche Konzeption lag allerdings auch schon der klassischen Gestaltpsychologie der Berliner Schule – wichtige Vertreter: Max Wertheimer, Kurt Koffka, Wolfgang Köhler – vor knapp hundert Jahren zugrunde. „Gestalt“ kann durchaus als „Attraktor“ im kognitiven Be-reich verstanden werden, weshalb diese eben genannten Begriffe als wichtige Prinzipien an einem typischen Paradigma aus diesem Bereich erläutert werden sollen – nämlich dem Ver-hältnis von „gehörten Tönen“ und „Melodie“:

Eine Melodie, als eine gehörte Gestalt, entsteht in der Wahrnehmung des Hörers aus den ein-zelnen Tönen (bottom-up). Hierbei erhalten aber durch die Melodie einzelne Töne erst be-

stimmte Eigenschaften, die sie ohne diese Melodie nicht hätten – z .B. „Grundton“ oder „Leit-ton“ (top-down). Dass eine Melodie als Attraktor im obigen Sinne wirkt, kann man leicht an sich oder anderen feststellen: Fehlen einige Töne in der Mitte oder am Ende einer (erkannten) Melodie, so wird diese mehr oder weniger zu der vollständigen Melodie komplettiert. Das gilt etwas modifiziert auch für völlig unbekannte Melodien (sofern sie den Regeln typischer Me-lodien in diesem Kulturkreis folgen): bittet man Personen eine solche (unbekannte) Melodie „weiterzusingen“ (oder zu raten, welche weiteren Töne folgen), so erweist sich der Raum an realisierten Möglichkeiten deutlich kleiner als der theoretische Raum möglicher Folgetöne: So werden beispielsweise kaum Töne „aus einer anderen Tonart“ als der erkannten verwendet und auch die Rhythmik wird weitgehend fortgesetzt, wiederholt oder nur leicht abgewandelt etc. D.h. der theoretisch mögliche Raum von weiteren Tonereignissen wird durch die ersten Töne und das Entstehen einer Melodie rasch in „sinnvolle“ und „nicht-sinnvolle“ unterteilt (wobei der erstere meist sehr viel kleiner ist). Singt man einen Ton „in der Melodie“ etwas zu hoch oder etwas zu tief, oder weicht etwas vom Rhythmus ab, so werden solche Abweichun-gen beim Nachsingen – ohne explizite Ordnungsvorschriften – im Sinne der Melodie wieder nivelliert.

2. Probleme der Verwendung von Synergetik im Bereich der Kultur- und Sozialwissen-schaften

Einige zentrale Konzepte der Synergetik konnten oben ohne jeden Rückgriff auf naturwissen-schaftliche Beispiele erläutert werden. Damit sollte gleich einem Missverständnis vorgebeugt werden: Eine häufig vorgebrachte Kritik an der Verwendung synergetischer Konzepte in Psy-chologie, Sozial- und Kulturwissenschaft lautet, dass damit versucht werde, Fragen in diesen Wissenschaften durch Rückgriff auf die Naturwissenschaften zu beantworten. In der Tat wurde ja die Synergetik von Haken zunächst als Theorie zu Erklärung der Phänomene in einem Laser entwickelt (Haken 1981). Und auch in den inzwischen mehrere tausend Arbeiten umfassenden Beiträgen zum interdisziplinär erweiterten Ansatz der Synergetik stammt der allergrößte Teil aus den Bereichen der Naturwissenschaften. Die angesprochenen Prinzipien haben hierbei eine präzise Begrifflichkeit: „Emergenz“ benennt das selbstorganisierte Ent-stehen von Ordnung und „Phasenübergang“ den selbstorganisierten Übergang von einem Ordnungszustand in einen anderen aufgrund von veränderten Umgebungsbedingungen; „Ord-nungsparameter“ beschreiben die Dynamik der Ordnung, während „Kontrollparameter“ die Umgebungsbedingungen repräsentieren. Ordnungs- und Kontrollparameter sind zudem quan-titativ fassbar und in präzisen Zeitreihen messbar.

Auch die o.a. „Komplettierungsdynamik“ wurde in der Synergetik als typisch für selbstorga-nisierende Systeme zunächst in der Physik und Chemie als „Versklavungs-Prinzip“ (mit ent-sprechender mathematischer Präzision) beschrieben: Haken (1992) hat mit Bezug auf die zir-kuläre Kausalität zwischen den Ordnungsparametern und der Dynamik auf der Mikroebene hervorgehoben, dass Musterbildung und Mustererkennung als zwei Seiten derselben Medaille aufzufassen sind. Ist ein Teil der Subsysteme bzw. Teile bereits geordnet, so generieren diese Ordnungsparameter, deren Einfluss auf die weitere Dynamik den Rest des Systems „ver-sklavt“ bzw. die Ordnung komplettiert. So bilden sich Muster bzw. Ordnungen. Andersherum werden Ordnungen „erkannt“, indem einige Eigenschaften dieser Ordnung ebenfalls Ord-

nungsparameter generieren, was die weiteren Eigenschaften der Ordnung komplettiert. Dies ist in Abb.1 veranschaulicht – wobei ich aus Gründen, die später noch erläutert werden, den Begriff des „Feldes“ (beschrieben durch die Ordnungsparameter) bevorzuge.

Abbildung 1: Zirkuläre Kausalität bei der Komplettierungsdynamik

Es sei aber betont, dass all dies keine naturwissenschaftlichen Erklärungen sind, in dem Sin-ne, dass dies nur für Phänomene im Bereich der Naturwissenschaften Sinn macht (wie etwa „Quantensprung“ oder „schwarzes Loch“). Vielmehr sind es strukturwissenschaftliche Be-schreibungen, die zwar auch für selbstorganiserende Dynamiken im Bereich der Naturwis-senschaften gelten, aber eben genauso für andere Phänomene anwendbar sind. So ist das Ent-stehen einer Melodie aus Tönen in der Wahrnehmung des Hörers und der Einfluss der Melo-die auf das Empfinden dieser Töne und die Komplettierung der Melodie sicherlich kein Un-tersuchungsgegenstand der Physik, sondern einer der Psychologie. Ein anderes, oft referiertes prototypische Beispiel ist das von Mustern in der Paardynamik – etwa zwischen einem Part-ner, der stark „kontrolliert“ und dem anderen, der stark „Freiheitsdrang zeigt“ (wie auch im-mer im einzelnen die beiden angeführten Begriffe genau gefüllt sein mögen). Der Attraktor besteht aus dem Muster der Interpretationen der Verhaltensweisen des jeweils anderen und dessen „Reaktion“ darauf, was man in den Botschaften „Kontrolliere mich nicht so!“ (und die Flucht aus der Kontrolle) sowie „Entziehe Dich mir nicht so!“ (und Verstärkung der Kontrol-le) zusammenfassen könnte. Sofern wir nicht ausgeprägte, vor Beginn der Partnerschaft be-reits vorherrschende Persönlichkeitseigenschaften und Verhaltensweisen unterstellen (was im Einzelfall so sein könnte, aber meist eben keine zuftreffende Erklärung abgibt), ist dieses Muster aus den Rückkoppelungen leichter Tendenzen emergiert und dabei immer prägnanter geworden. Auf jeden Fall handelt es sich auch hier nicht um eine Dynamik aus dem Phäno-menbereich der Physik, sondern der Psychologie bzw. Kommunikation.

Daher ist es wichtig, dass bei der Anwendung der Synergetik auf psychologische1, soziale und kulturelle Phänomene die zentralen Prinzipien nicht zu physikalistisch bzw. naturwissen-schaftlich gedeutet werden. Das gilt insbesondere auch für solche makroskopische, um Sinn und Prestige angeordnete Sozialsysteme wie „Wissenschaft“.

So spielen für die Konzepte von Attraktoren, Emergenz, Phasenübergänge oder Kontrollpara-meter im Bereich der Naturwissenschaften vor allem energetische Aspekte eine Rolle: Die Veränderung von Kontrollparametern ist oft eine Veränderung von energetischen Zuständen in der Systemumgebung (z.B. durch „Erhitzen“ oder „Erhöhen der Stromstärke“). Und die

1 Gemeint sind „psychologische“ Phänomene im engeren Sinn – und nicht etwa deren physiologische oder neurowissenschaftliche Grundlagen und Korrelate, für die durchaus z.B. energetische Betrachtungen von Interesse und Bedeutung sein können.

Attraktoren sind in der Regel durch Energieminima gekennzeichnet (z. B. bei der Konvek-tionsströmung).

Doch es muss wohl als ein physikalistischer Fehlgriff gesehen werden, wenn Studierende (wie ich in Prüfungen erlebt habe) aus einem zu engen (Miss-)Verständnis der synergetischen Prin-zipien davon sprechen, das Gehirn müsse erhitzt werden, damit man zu neuen Einsichten im Sinne eines Gestaltwandels („Aha“-Erlebnisses) komme. Selbst als Metapher wäre eine sol-che Beschreibung völlig irreführend. Nicht viel besser verhält es sich aber mit einer Darstel-lung synergetischer Prinzipien für die therapeutische Praxis, welche eine Gruppe um Günter Schiepek noch vor einem Jahrzehnt publizierte (Schiepek et al, 2000): Da wird gefordert, für Veränderungen „energetisierende und entwicklungsstrukturierende Bedingungen zu schaffen“ (S. 174), und davon gesprochen: „Sicherlich handelt es sich bei den Kontrollparametern psy-chischer und sozialer Prozesse um Energetisierungen aus den Systemen selbst heraus und nicht um solche, die extern zuführbar und experimentell kontrollierbar wären .... Externe müssen immer erst in systeminterne Energetisierungen transformiert werden“ (ebenda). Was dann (u.a.) in dem Prinzip mündet, man müsse als Therapeut oder Coach „Kontrollparameter identifizieren/ Energetisierungen ermöglichen“ (S. 175).

Es muss bezweifelt werden, dass solche physikalistische Begrifflichkeit von „Energetisie-rung“ noch zulässig ist und etwas zur Klärung der Selbstorganisation bei psychischen, sozia-len und kulturellen Prozessen beitragen könnte. Denn mit Energie hatten die obigen Beispiele von „Melodie“ und „Paardynamik“ faktisch nichts zu tun – und mir ist auch kein Beispiel im Bereich psychologischer, sozialer oder kultureller Dynamiken bekannt, wo es wesentlich um Energie oder Energiepotentiale gehen würde. Vielmehr geht es um etwas, das in der Gestalt-psychologie als „Prägnanz“ benannt wurde (ohne dass dieser Begriff derzeit sehr präzise be-stimmt ist) – um eine Verminderung der Komplexität von Sinn und Interpretationsmöglich-keiten im kognitiven Verstehensraum des Menschen. Gerade um zu betonen, dass es sich in unserem Kontext nicht um die raum-zeitliche Ordnung physischer Objekte unter energeti-schen Einflüssen handelt, sondern um sinnhafte Ordnungen kognitiver „Gegenstände“ unter den Einflüssen von Informationsprozessen, wurde hierfür der Begriff des Sinn-Attraktors (Kriz 1987) eingeführt. Der vorliegende Beitrag dient u .a. auch dazu, dieses Konzept weiter zu erhellen.

Zuvor muss aber noch eine weitere Schwierigkeit in der Verwendung von Selbstorgani-sationsmodellen angesprochen werden, die immer dann auftritt, wenn nicht einfach Selbst-organisation von Beobachtern beschreiben wird oder aber rein die Umgebungsbedingungen eines Systems beeinflusst werden, sondern wenn man am Ordnungsprozess selbst teilhat –was in therapeutischen, beraterischen und anderen Kontexten von Veränderungsunterstützung gar nicht so selten vorkommt. Die scheinbar so klare Unterscheidung zwischen Fremd- und Selbstorganisation wird dann nämlich changierend. Hierzu wieder zunächst ein prototypisch vereinfachtes Beispiel (am Ende dieses Beitrags wird allerdings ein strukturell ähnliches, reales Beispiel diskutiert):

Zunächst ist es wichtig sich klarzumachen, dass sich die gesamte Entwicklung des Univer-sums in ihren geordneten Strukturen als Selbstorganisationsprozess beschreiben ließe, wenn man das Zeitfenster vom Urknall bis heute betrachtet (jedenfalls dann, man sich nicht gerade zum „Kreationismus“ bekennt - auch wenn wohl noch keine der gängigen Selbstorganisa-tionstheorien diese selbstorganisierte Entwicklung hinreichend detailliert nachzeichnen könn-

te). Andererseits macht es Sinn, auch von Fremdorganisation zu sprechen: Mein Schreibtisch räumt sich nicht von selbst auf, sondern ich muss die Dinge immer wieder ordnen. Allerdings, wenn man das System „ich und mein Schreibtisch“ betrachtet, ist der Aufräumprozess selbst-organisiert, denn seit Jahren schreibt mir niemand mehr vor, wann und wie ich die Dinge auf meinem Schreibtisch ordnen soll.

Daran wird bereits deutlich, dass sowohl das Zeitfenster der zu betrachtenden Prozesse als auch die Konzipierung dessen, was zum System und was zur Umwelt gehören soll, stets prä-zise angegeben werden müssen, damit überhaupt sinnvoll die Frage nach Fremd- oder Selbst-organisation gestellt werden kann. Dies kann aber durchaus zu Schwierigkeiten aufgrund von Feinheiten in der Auslegung führen:

Jeder kennt das Phänomen, dass bei einer Menschenmenge nach einem Kulturereignis (z.B. Konzert, Schauspiel, Rede etc.) aus dem zunächst chaotischen Applaus nicht selten ein ge-meinsamer Klatschrhythmus emergiert – und zwar in der Regel selbstorganisiert (wobei die genaueren Phänomene in hoher Übereinstimmung mit z.B. dem physikalischen Phänomen der Benard-Instabilität beschrieben werden können – vgl. Kriz 1999). Das heißt, es springt üblicherweise gerade niemand als „Animateur“ auf die Bühne und fordert die Menge auf, mit ihm in einem vorgegebenen Rhythmus zu klatschen – was ggf. auch funktionieren würde, allerdings dann eben als Fremdorganisation. So weit scheint hier der Unterschied zwischen Selbst- und Fremdorganisation klar zu sein. Was nun aber, wenn z.B. Studenten instruiert werden, Erfahrungen mit Selbstorganisation zu sammeln, indem sie in einer kleinen Gruppe, sagen wir zu fünft, in einen Vortrag gehen und sich zunächst unter die recht große Menschenmenge mischen. Wenn dann das chaotische Klatschen beginnt, sollen sie nach kurzer Zeit auf ein verabredetes Zeichen von einem von ihnen, etwas lauter und synchron einen gemeinsamen Rhythmus klatschen, der vorher von einem kleinen elektronischen Metronom eingestellt wurde. Im Gegensatz zur Fremdorganisation im Beispiel mit dem Animateur macht die Menge hier nicht den für alle sichtbaren Rhythmus einfach nach oder mit (aus welchen Gründen auch immer). Sondern dieses Experiment gelingt nur, wenn die Studenten eine Sensibilität für den richtigen Moment zeigen (erkennbar an gewissen instabilen Fluktuationen im chaotischen Rauschen der Rhythmen) und einen hinreichend „passenden“ Rhythmus (etwa zwischen 80 und 110 Schläge/min) wählen. Dann allerdings ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass zunächst einige weitere Personen sich diesem Rhythmus anpassen, wodurch dieser lauter zu hören ist, was wiederum die Wahrscheinlichkeit für weitere Personen steigert (ein Vorgang, der Selbstverstärkung – Autokatalyse – heißt). Wird dies nicht weiter oder willentlich gestört, so klatscht letztlich der gesamte Saal im Rhythmus der Studentengruppe (allerdings auch das nur eine Zeitlang: Bald stellen sich selbstorganisiert neue Phänomene ein - z.B. wird der gemeinsame Rhythmus schneller und/oder zerfällt wieder).

Die Frage, die sich bei diesem Beispiel erhebt, lautet: Ist für diesen Vorgang „Selbstorganisa-tion“ oder „Fremdorganisation“ die angemessene Beschreibung? In „reiner“ Form trifft weder das eine noch das andere zu. Da aber die Studierenden nur dann Erfolg haben, wenn sie die Prinzipien der Selbstorganisation nutzen – nämlich: Beginn in einer instabil werdenden Situ-ation und Nutzung der Autokatalyse, indem der Rhythmus hinreichend der Gesamtsituation angemessen ist (damit sich der Effekt selbst verstärkt) – scheint es mir angemessen, von der „Nutzung von Selbstorganisationsprinzipien“ zu sprechen. Dies unterscheidet sich dennoch stark von üblicher Fremdorganisation, wo einfach mit Macht dem System – hier dem Publi-kum – eine Ordnung aufgezwängt wird.

Trotz oder wegen der nicht eindeutigen Zuordbarkeit zur scheinbaren Dichotomie zwischen Selbst- und Fremdorganisation ist dieses Klatschrhythmus-Beispiel geradezu prototypisch für viele (allerdings keineswegs alle) Konstellationen, in denen „systemisch interveniert“ wird und dabei eine erwünschte Ordnung als eine Art „Keimzelle“ sensibel für die Erfordernisse und die Gesamtsituation in den Prozess eingebracht wird. Wie bereits gesagt, wird am Ende dieses Beitrags dazu eine reale „Fallgeschichte“ aus dem Wissenschaftsbereich berichtet und diskutiert.

3. Bedeutungsfelder und Synlogisation

Fasst man als Zwischenresümee die drei bisher diskutierten nicht naturwissenschaftlichen Beispiele für zirkuläre Kausalität von bottom-up- und top-down-Dynamik zusammen, so lässt sich das übersichtlich in Abb. 2 darstellen.

Abbildung 2: Beispiele für zirkuläre Kausalität und Komplettierungsdynamiken

Allerdings sind dies stets idealisierte Beispiele, bei denen auf die Wirkung jeweils eines einzi-gen selbstorganisierten Feldes fokussiert wurde. In der Realität psychischer, sozialer und kul-tureller Prozesse hingegen wirken in der Regel stets mehrere Felder gleichzeitig, was zunächst wieder an einem Beispiel erläutert werden soll:

Bereits ein klassisches gestaltpsychologischen Experiment von Asch (1946) - in der Literatur oft als „Primacy-Effekt“ zitiert - lässt sich im Kontext der Komplettierungsdynamik bei kog-nitiven Prozessen neu interpretieren. Entsprechend seiner gestaltpsychologischen Orientie-rung betonte Asch, dass der Gesamteindruck von einer Situation oder von einer fremden Person nicht nur eine Sammlung verschiedener einzelner Informationen ist, sondern dass diese Informationen in einem Kontext gesehen werden und somit ein organisiertes Ganzes ergeben. Seine Arbeit beginnt mit der Feststellung: "Wir schauen einen Menschen an, und sofort bildet sich in uns ein bestimmter Eindruck über seinen Charakter" (Asch, 1946, S.258). Dies entspricht der Komplettierungsdynamik. In einem von Aschs vielen variantenreichen Experimenten wurden Schülern als Beschreibung einer Person langsam nacheinander 6 typische Eigenschaften vorgelesen. Einer Gruppe wurde die Eigenschafts-Liste: „intelligent -eifrig - impulsiv - kritisch - eigensinnig – neidisch“ präsentiert. Eine andere Gruppe erhielt dieselbe Liste, allerdings in umgekehrter Reihenfolge, also: „neidisch - eigensinnig - kritisch -impulsiv - eifrig – intelligent“. Es zeigte sich, dass die erste Gruppe von der beschriebenen

Person anschließend einen deutlich positiven Eindruck hatte, während die andere Gruppe die Person deutlich negativ beurteilte.

Dieser oft replizierte Befund lässt sich nun im Lichte der zirkulären Kausalität bzw. Komplet-tierungsdynamik auch wie in Abb. 3 verstehen (wobei die Pfeilrichtungen natürlich nur mög-liche Hauptrichtungen der Wirkungen darstellen): Die ersten Eigenschaften generieren einen Gesamteindruck, der die Interpretation der weiteren Eigenschaften entsprechend beeinflusst -z.B. ob „kritisch“ eher positiv oder negativ verstanden wird. Damit wiederum wird ein posi-tives bzw. negatives Bild von dieser Person weiter komplettiert.

Abb. 3: Aschs Experiment als Komplettierungsdynamik in einem kognitiven Feld

Doch schon an anderer Stelle (Kriz 2006) wurde der Frage nachgegangen, was eigentlich das Feld für die Bedeutung eines bestimmten Wortes – und in diesem Zuge: gleichfalls das innere Bild über die fiktive Person – organisiert. Zwar wird, wie eben ausgeführt, bei einem positiv entstehenden Eindruck von der Person das Wort „kritisch“ in seiner Polysemantik ebenfalls auf etwas eher Positives reduziert (z.B. im Sinne: konstruktive überlegte Kritikfähigkeit). Bei einem negativ entstehenden Eindruck der Person wird „kritisch“ hingegen deutlich anders in-terpretiert (.B. im Sinne: nörgelde, krittelnde, sich nicht einlassende Haltung). Aber das Expe-riment findet ja auch nicht im semantisch, historisch oder kulturell leeren Raum statt. Viel-mehr in einem Raum, der durch zahlreiche weitere semantische Kräfte – eben: Bedeutungs-felder – strukturiert wird. „Kritisch“ ist ein Wort der deutschen Sprache, wo es auf so etwas wie „nicht gedankenlose Zustimmung“ verweist. In der Schule, gar im Rhetorik-Unterricht sind weitere und Bedeutungskräfte am Werk – und wieder andere in der Kirche oder beim Militär. Neben den aktuellen Einflüssen des Experiments erhält „positiv“ somit bei einer bestimmten Versuchsperson in einer konkreten Situation seine spezifische Bedeutung auch durch Einflüsse aus der bisheriger persönlicher Biographie, dem Gebrauch von „positiv“ in der Familie, in der Subkultur, am Arbeitsplatz, durch den Partner usw. usw. Kurz: In der Regel wirken zahlreiche Bedeutungseinflüsse im Sinne von sich durchdringenden und sich gegenseitig beeinflussenden Feldern zusammen.

Diese Komplexität der Aspekte und Ebenen ist aber nichts Ungewöhnliches, denn Selbst-organisation findet immer nur relativ zur Systemumgebung statt. So wirken beispielsweise auch bei der Selbstorganisation von familiären Interaktionsmustern gesellschaftliche (u.a. Gesetze, Regeln, Rituale, Medien), biologische und evolutionäre, individuell- biographische und aktuelle Einflüsse immer mit. Diese Regeln und Ordnungen sind dann für eine Familie

vorgegeben und (fast) nicht beeinflussbar. Und obwohl diese Einflüsse selbstverständlich eine Rolle spielen, macht es Sinn, für das Verständnis eines bestimmten Interaktionsmuster in der Familie ggf. auf einen bestimmten Aspekt zu fokussieren – nämlich darauf, wie sich ein sol-ches Muster in der Interaktionsdynamik relativ zu den genannten Einflüssen („Umgebung“) selbstorganisiert entwickelt und stabilisiert hat.

Im Hinblick auf die Bedeutungsfelder muss auch bedacht werden, dass in unserer Kultur auf gesellschaftlicher Ebene bereits bestimmte kategoriell reduzierte Themen evolviert sind, die nun als sehr starke „Sinnattraktoren“ wirken, wie an anderer Stelle ausführlich diskutiert wurde (Kriz 1999, 2004). Diese bewirken, dass in den kognitiven Prozessen von Einzelnen, Paaren und Familien der jeweilige Wahrnehmungs- und Interpretationsraum faktisch zusam-mengezogen wird, was die Optionen für Alternativen oft aus dem Blickfeld geraten lässt. Typische Themen, die oft als solche malignen „Sinnattraktoren“ die Interpretations- und Handlungsoptionen verringern, sind z.B. „gut“ – „böse“, „wahr“ – „falsch“, „krank“ – „ge-sund“, „schuldig“ – „unschuldig“ , „richtig – falsch“, etc. Es handelt sich dabei um durchaus große und wichtige Themen menschlicher Orientierung, die aber dann eine maligne Kraft entfalten, wenn diese totalitär verstanden werden (Kriz 2004). Darüber hinaus gibt es zahl-reiche weitere Bedeutungsfelder in der Sprache, Kultur und Gesellschaft, die vom Einzelnen in kurzer Zeit wenig verändert werden können.

Wie man sich sozial-gemeinsame Bedeutungsfelder vorzustellen hat, wird vielleicht an einem einfachen Beispiel zweier Personen deutlich. So entsteht typischerweise bei einem Paar im Verlauf der Beziehung ein mehr oder minder exklusives gemeinsames Bedeutungsfeld. Diese Exklusivität wird vielleicht daran deutlich, dass er in einer Situation mit verschmitzter Mine „Olé!“ äußert. Beiden Partnern ist klar, dass es sich um eine Anspielung an einen Stierkampf im letzten Sommerurlaub in Spanien handelt, mit vielleicht einem besonders schönen gemein-samen Abend hinterher. Den Außenstehenden aber, die an dem Entstehen des gemeinsamen Bedeutungsfeldes nicht teilgenommen haben, bleibt der Sinn des „Olé!“ weitgehend verbor-gen. Trotz der hier gebotenen Kürze ist wohl einsichtig, dass die Emergenz eines gemeinsa-men Bedeutungsfeldes zweier (oder mehr) Partner durchaus im Sinne der zirkulären Kausa-lität, den Ordnern und der Komplettierungsdynamik beschrieben werden können. Abb. 1 wird modifiziert zu Abb. 4.:

Abb. 4: Zwei (links) oder mehr (rechts) Personen entwickelt ein gemeinsames Bedeutungsfeld

Der Vorteil von „Feldern“ zu sprechen, wird hier nun deutlich: Denn in unserer Alltagskultur sind wir mit der Vorstellung von Feldern, die sich überlagern, aufgewachsen (z.B. elektrische, magnetische, elektromagnetische). Jedenfalls gibt es erfahrungsgemäß kaum Schwierigkeiten bei Studierenden, sich überlagernde Felder vorzustellen, die an jedem Punkt gemeinsam ihre Einflüsse ausüben – und dies in den nicht-realen Raum zu übertragen, indem die spezifische

Reduktion der Polysemantik eines Wortes in einer konkreten Situation von vielen gleichzeitig wirkenden Einflussfeldern abhängig ist. Das gemeinsame Wirken unterschiedlicher Ord-nungs- und Kontrollparameter setzt hingegen ein hohes mathematisches Abstraktionsver-mögen voraus, zumal deren Präzision für unseren Untersuchungsgegenstand derzeit keinen Gewinn bringen würde.

Überlagernde Felder vermitteln auch eine weit adäquatere Vorstellung von Einflüssen als etwa deren mengentheoretische Konzeption: So wird beispielsweise in den Diskursen über die typischen unterschiedlichen Einflüsse in Familienunternehmen auf ein klassisches „Drei-Kreise-Modell“ zurückgegriffen (Gersick et al. 1997). Demzufolge stellt „ein Familienunter-nehmen ein soziales Gebilde dar (..), das eine Familie, die Eigentümer und ein Unternehmen mit ihren je spezifisch-charakteristischen Eigendynamiken vereint. Die bekannten drei über-lappenden Kreise, die in keinem Werk über Familienunternehmen fehlen dürfen, stehen für diese Erkenntnis“ (Groth 2008: 31). Der Nachteil solcher Mengenlehre-Modelle ist allerdings die eindeutige Zuordnung einer Person (in einer Situation) zu einem der Kreise, bzw. zu einer Schnittmenge. Bei der Konzeption von Bedeutungsfeldern können auf eine Person zu jedem Zeitpunkt gleichzeitig Feldkräfte unterschiedlicher Stärke in Form von familiären, eigentüme-rischen und unternehmerischen (und weiteren!) Situations- und Auftrags-Deutungen wirken.

Durch Bedeutungsfelder stimmen Menschen somit das Gemeinte und Verstandene in der Kommunikation ab. Jeder Ton, jedes Wort, jede Situation, etc. ist polysemantisch, enthält also eine große Fülle an Bedeutungen. Theoretisch wären es sogar stets unendlich viele Bedeu-tungen, denn die rein objektive Welt mit ihren komplex-chaotischer Reizströmen bietet eine unfassbare Polysemantik, der die sinnvolle Ordnung unserer Lebenswelt überhaupt erst abge-rungen werden muss (vgl .Kriz 1998). Doch dies ist durch unsere Phylogenese und Sozioge-nese längst in hohem Ausmaß geschehen – längst bevor der einzelne Mensch heute die Lebensbühne betritt und in der Ontogenese an die Kultur der jeweiligen Gesellschaft sozia-lisiert wird. Insofern ist der Raum an Möglichkeiten innerhalb einer Kultur bereits einge-schränkt – aber eben immer noch sehr groß, so dass jeweils spezifische Bedeutungsfelder die Polysemantik weiter reduzieren, ordnen und somit Vorhersage und Vertrauen in das Gemeinte ermöglichen.

Oft spricht man davon, dass die Beteiligten die Bedeutungen synchronisieren. Doch diese Begrifflichkeit scheint ebenfalls nicht angemessen zu sein, meint doch „synchronisieren“ eine zeitliche Abstimmung (chronos = Zeit), wie sie z.B. beim gemeinsamen Tanz wichtig ist. Auch in der face-to-face Kommunikation stimmen die Partner oft ihre Mimik und Gestik synchron aufeinander ab – doch dies ist für unsere Problematik nicht zentral. Die gegenseitige Abstimmung von Bedeutungen kann auch zeitversetzt und über große Distanz erfolgen – etwa wenn sich zwei Personen nur gelegentlich Briefe schreiben, dabei aber (in der Regel) auch ein gemeinsames Bedeutungsfeld entwickeln. Ich habe daher den Begriff „Synlogisation“ bzw., als Verb, „synlogisieren“ vorgeschlagen (Kriz 2009), um die Abstimmung hinsichtlich der Bedeutung begrifflich zu charakterisieren (logos = Sinn). Bedeutungsfelder ermöglichen so-mit die Synlogisation als hinreichend gleichsinniges, bedeutungsmäßig abgstimmtes Handeln und Kommunizieren. Menschen können somit nicht nur synchron handeln, sondern sie kön-nen vor allem synlogisch handeln - in hohem Maße müssen sie dies sogar, wenn hinreichend Verständigung gewährleistet sein soll!

4. Selbstorganisierte Strukturen im System „Wissenschaft“

Nachdem nun die zentralen Konzepte für eine gegenstandsadäquate, nicht-naturwissen-schaftliche, Beschreibung von Selbstorganisationsprozessen bei Sinnprozessen erarbeitet wurden, können damit nun Prozessaspekte des Systems „Wissenschaft“ analysiert werden. Bei allen auch unterschiedlichen Definitionen und Vorstellungen über das, was mit „Wissen-schaft“ genau gemeint sein soll, besteht sicherlich weitgehend Konsens dahingehend, dass nicht die einzelne Situation oder der Einzelfall als solche im Rahmen von Wissenschaft bedeutsam ist, sondern nur daraus abgeleitete Regelmäßigkeiten und Allgemeinheiten (sofern die Einzelfälle nicht ohnedies in einer anonymisierenden Statistik verschwinden).

Man kann auch sagen, dass die Polysemantik der Vielfalt von Situationen auf weniges Ge-meinsame reduziert wird, was ein Abstraktionsvorgang aus dem jeweils Besonderen darstellt. Viele je einmalige Aussagen je einmaliger Menschen werden wenigen Kategorien zugeordnet und dabei phänomenologische Äquivalenzklassen gebildet – Klassen somit, innerhalb derer alle Elemente als äquivalent (für eine bestimmte Forschungsfrage) behandelt werden - und dabei (für diesen Zweck) deren Einmaligkeit und Ungleichheit verschwindet.

Aus systemtheoretischer Sicht ist dies bemerkenswerterweise der umgekehrte Weg von Psychotherapie – zumindest systemischer Therapie, wo es darum geht, zu enge, eindeutige, rigide, abstrakte Beschreibungen wieder zu verflüssigen. Ohne hier auf Details eingehen zu können, ist in Abb. 5 der einfache Fall eines Punktattraktors skizziert: Aus der rekursiven Operation „multipliziere eine Zahl ialt mit 0,05, ziehe dies von 2,2 ab und multipliziere das Ergebnis nochmals mit ialt und Du erhältst ineu, die Du dann im nächsten Schritt an die Stelle von ialt setzt“ – oder etwas formaler: ( 2.2 - 0.05* ialt) * ialt ineu – ergibt sich für einen großen Zahlenbereich als Anfangszahl ialt nach etlichen Schritten immer der Attraktor 24.

Abb. 5: Unterschiedliche Anfangswerte laufen auf den Attraktor „24“ zu

Abb. 5 stellt gleichzeitig eine Metapher für die oft viel zu reduzierten, verkrusteten, mono-semantischen Beschreibungen dar, mit der Familien beispielsweise ein Problem darstellen (hier etwa: „Kevin hat eine Verhaltensstörung“). Für solche festgeschriebenen „Erklärungen“ allen Geschehens mit und um Kevin ist dann oft auch der Lösungsraum, den Familien selbst zur Verfügung haben, zusammengeschrumpft. Ein wesentliches Element von Therapie besteht dann darin, den Weg der verkrusteten Reduktion (von links nach rechts) wieder rückgängig zu machen, und die Beschreibungen zu verflüssigen (von rechts nach links) – d.h. die Vielfalt der Situationen wieder ins Gespräch und Bewusstsein zu bringen (vgl. Abb. 6, wobei die Beschreibungen links zwar bereits eine deutlich größere Vielfalt zeigen, aber natürlich immer noch Klassen von Situationen sind).

Abb. 6: Komplexitätsanreichernde Verflüssigung (v. rechts n. links) als wesentliches Element Syste-mischer Therapie einer pathogen reduzierenden Verkrustung (v. links n. rechts) (nach Kriz 2010)

Wissenschaft hingegen erreicht durch ihre abstrakte, reduzierende Präzision auf der Ebene der Begriffe, der Handlungen, der Instrumente und der Methoden eben gerade die Loslösung von der alltagsweltlichen Polyvalenz und Erlebensnähe. Die einzelnen Disziplinen kreieren zwar in hohem Maße neue Bedeutungsfelder durch Fachbegriffe und -sprache – die beteiligten Akteure synlogisieren geradezu ständig – aber diese sind eben sehr scharf und möglichst monosemantisch umrissen und grenzen sich gleichzeitig gegenüber Nachbardisziplinen ab.

Die Autokatalyse von zugemessener Bedeutsamkeit in der Wissenschaft zeigt sich am deut-lichsten im Publizier- und Zitierverhalten: Wird ein Beitrag zunächst einmal von einigen für wichtig gehalten (wozu, als längerfristige Umgebungsbedingungen, für wichtig gehaltene Journals und soziale Hierarchiestrukturen im Wissenschaftssystem wichtige begünstigende Bedingungen sind), so steigt die Wahrscheinlichkeit, dass sich andere darauf beziehen und er damit noch wichtiger wird, womit die Wahrscheinlichkeit weiter steigt … Und natürlich sind auch die Inhalte dieser dann als so wichtig angesehenen Publikationen strukturierende Felder für die Forschungsgegenstände, mit denen sich andere beschäftigen. So empfindlich in der Regel Wissenschaftler gegenüber inhaltlichen Vorgaben „von außen“ sind, so sehr sind sie diesen selbstorganisierenden „Versklavungseinflüssen“ innerhalb des Systems offen gegen-über („Versklavung“ ist ein Begriff der Synergetik, der genau die Komplettierungsdynamik und ihre Autokatalyse kennzeichnet). Die Idee, Zitationsindizes zu berechnen und als Grund-lagen für Ressourcen und Berufungen zu nehmen, ist immerhin innerhalb des Systems er-wachsen und nicht etwa von außen vorgegeben worden.

Hingegen sind von außen – also als Umgebungsbedingungen der Selbstorganisationsprozesse – durchaus etliche Kontrollparameter von der Gesellschaft und ihren politischen Instanzen zu setzen. Die wichtigsten sind wohl die finanziellen Ressourcen, wozu die Grundausstattungen der Hochschulen und zentralen Forschungseinrichtungen gehört, sowie bestimmte (aber ver-gleichsweise wenige) Förderungsprogramme und Neuschaffung von Institutionen (z.B. für Umwelt-, Friedens- oder Kleinkindforschung). Gerade in der BRD werden in beachtlichem Maße auch sehr unspezifisch Mittel zur Verfügung gestellt, die dann im Rahmen selbstorgani-sierender Dynamiken im Wissenschaftssystem selbst verteilt werden (etwa DFG-Sonderfor-schungsbereiche und Graduiertenkollegs). Auch Wissenschaftspreise zählen zu den wichtigen Umgebungsbedingungen, wobei hier weniger der finanzielle Anreiz (mit wenigen Ausnah-men) sondern eher die soziale Anerkennung im System eine Einflussgröße ist – bei ver-

gleichsweise ähnlichen und zudem eher schlechten finanziellen persönlichen Bezügen der Beteiligten ist die „Reputation“ ein bedeutsamer Aspekt für Differenzierungen.

Solche Umgebungsbedingungen wirken sowohl auf die Differenzierungsprozesse der Ein-zelnen innerhalb von Gruppen als auch auf die der Gruppen selbst ein: So ist derzeit bei-spielsweise „Cognitive Science“ ein mit vielen Stellen und Forschungsgeldern versehener Bereich. Und in unserer Gesellschaft gibt es ein Wertigkeitsgefälle von den Naturwissen-schaften, Sozialwissenschaften hin zu den Geisteswissenschaften: erstere sehen sich wegen ihres (oft nur scheinbaren) unmittelbaren wirtschaftlichen Nutzens weit weniger unter Recht-fertigungszwang für den Verbrauch gesellschaftlicher Ressourcen als die letzteren.

Das hohe Ausmaß autokatalytisch verstärkter Synlogisation mit den sehr stark ausgeprägten Fachbegriffen macht es auch verständlich, warum interdisziplinäre Diskurse so schwierig sind – ja, warum selbst innerhalb einer Disziplin, wie beispielsweise der Psychologie, unterschied-liche Subgruppen oft Schwierigkeiten haben, sich mit anderen zu verständigen. Förderlich wäre vielleicht ein stärkeres Einbeziehen gemeinsamer strukturwissenschaftlicher Betrach-tungsweisen – wie es eben die Synergetik vorschlägt.

5. Fallgeschichte: Ein synergetisches „Feldexperiment“ im Wissenschaftssystem

Abschließend sei die bereits angekündigte Fallgeschichte vorgestellt, bei der im Sinne des Abschnittes 2 die „Nutzung von Selbstorganisationsprinzipien“ eine bedeutsame Rolle spielte:

In dem jahrzehntelange Bemühen der Gesprächspsychotherapie (im folgenden: GPT) als Ver-fahren in die sozialrechtliche Versorgung der BRD aufgenommen zu werden, hatte der dafür zuständige "Bundesausschuß der Ärzte und Krankenkassen" es Ende 1997 abgelehnt, die GPT als Verfahren gemäß den Psychotherapierichtlinien anzuerkennen. Dies allerdings wäre not-wendig gewesen, damit für die Psychotherapeuten und die Patienten nicht erhebliche Nach-teile entstehen, denn ein Psychotherapeutengesetz stand erstmals zur Debatte (es trat 1999 in Kraft) und sah nur die bis dahin anerkannten Richtlinienverfahren für die dann folgende Psy-chotherapeutenausbildung und Behandlung der Patienten im Rahmen der gesetzlichen Kran-kenversicherung vor.

Den meisten Beteiligten im Gesundheitssystem war klar, dass es um reine Macht- und Inter-essenpolitik ging. Denn die GPT zählte an vielen Universitäten zu den etablierten Verfahren in der Ausbildung von Psychotherapeuten, und zehntausende an Patienten waren die Jahr-zehnte zuvor kassenfinanziert und erfolgreich mit GPT behandelt worden. Andererseits war sowohl in der Psychotherapie als auch an Universitäten durchaus ein Konkurrenzkampf um die Verfahren in Gange: Viele Hochschullehrer und Funktionäre hatten eher im Auge, für „ihr“ Verfahren claims im kommenden Ausbildungssektor abzustecken und an Hochschulen entsprechende Professuren zu besetzen (denn natürlich stellt ein bestimmtes Verfahren einen starken Sinnattraktor dar, der zur Gruppenbildung führt und in den kognitiven Landschaften zu einer Ausdifferenzierung in die Gruppe der „Freunde“ mit gleichem Verfahren und „Au-ßenstehende“, mit anderen Verfahren). Es gab somit keinen Grund, auf große Unterstützung zu hoffen, wenn man einfach einen Aufruf gestartet hätte – so, wie vermutlich kaum eine Menschenmenge auf einem Marktlatz rhythmisch an zu klatschen fängt, nur weil einige Per-

sonen damit wie im Konzertsaal beginnen. Es braucht eben passender Umgebungsbedingun-gen.

Als eine solche Umgebungsbedingung diente zunächst die Schaffung eines gemeinsamem Be-deutungsfeldes – bzw. besser: den Aufmerksamkeitsfokus auf eines der bereits vorhandenen Bedeutungsfelder zu richten. Da Wissenschaftler, wie oben bereits gesagt, vergleichsweise sensibel gegenüber direktes Einmischen „von außen“ sind, konnte dies als ein solches Feld genutzt werden, indem auf das „Hineinregieren“ von Gesundheitsbürokraten in Belange, die eigentlich die Fachwissenschaftlern zusteht, verwiesen wurde: nämlich die Entscheidung über den Nutzen und die Wirksamkeit eines Psychotherapieverfahrens. Entsprechend lautete der Text einer „Erklärung Deutscher Universitätsprofessorinnen und –professoren im Bereich Psychotherapie/ Klinische Psychologie/Medizinische Psychologie“ wie folgt:

Der "Bundesausschuß der Ärzte und Krankenkassen" hat es Ende 1997 abgelehnt, Gesprächspsychotherapie als Verfahren gemäß den Psychotherapierichtlinien anzuerkennen. Wir nehmen diese Entscheidung als Anlaß für folgende Feststellung:

Die Gesprächspsychotherapie gehört sowohl international als auch in Deutschland seit Jahrzehnten zu den praktizierten und bewährten Verfahren. Tausende von Patienten wurden mit Gesprächspsychotherapie erfolgreich ambulant bzw. stationär behandelt. In zahlreichen Lehrbüchern der Psychotherapie/Klinischen Psychologie wird dieses Verfahren als wissenschaftlich ausgewiesen und als effektiv dokumentiert. An vielen deutschen Universitäten gehört die Gesprächspsychotherapie sowohl zur Forschung als auch zur Lehre und somit zum Prüfungsstoff u.a. im Hauptdiplom in Psychologie.

Wir halten es für nicht akzeptabel, wenn ein Ausschuß der Ärzte und Krankenkassen sich durch Auslegung von Richtlinien über geltende Lehrmeinungen der Scientific Community hinwegsetzt.

In einem solchen Bedeutungsfeld konnten nun erste Ordnungen induziert werden – analog wie beim Klatschrhythmus –, indem einige wenige Professorinnen und Professoren diese Er-klärung öffentlich wirksam unterschrieben. Wie aus der Synergetik bekannt, entstehen aller-dings bei allen Umgebungsbedingungen im System auch konkurrierende Moden, die ggf. die Oberhand gewinnen können. Hier wäre die Gefahr gewesen, dass Personen, die eher gegen einen stärkeren Einfluss der GPT sind (z.B. weil sie fürchten, damit könnte der Einfluss „ich-res“ Verfahrens geschmälert werden), sich rasch untereinander verständigen, diesen Aufruf keinesfalls zu unterschreiben. Das muss keineswegs gezielt und in bösem Willen geschehen: Es hätte ja so sein können, dass bei einem der vielfältigen (Telefon-)Gespräche unter Kolle-gen zufällig auch der Aufruf angesprochen wird – vielleicht so: „Ich habe da einen so merk-würdigen Aufruf bekommen – Du auch? - Sollen wir da etwa unterschreiben?“ und man einigt sich schnell, dies nicht zu tun. Und zudem, auch die Kollegen X, Y und Z anzuspre-chen. Kurz: es war wichtig, gar nicht erst eine Dynamik entstehen zu lassen, bei der eine Gruppe „Ablehner“ entsteht. Hingegen wurde das Prinzip der Autokatalyse in seiner Wirkung dadurch gefördert, dass eine Liste aller Professorinnen und Professoren erstellt und danach sortiert wurde, wie wahrscheinlich sie wohl zustimmen würden. Die Unterschriften wurden dann genau in dieser Reihenfolge erbeten – d.h. jene Personen mit der größten Wahrschein-lichkeit zuerst – und jeweils die Liste bisheriger Unterzeichner mitgeteilt. Je geringer somit die (eingeschätzte) Wahrscheinlichkeit einer Unterzeichnung war, desto länger war bereits die Liste der Kolleginnen und Kollegen, die schon unterzeichnet hatten. Und desto stärker wirkte

dann auch die Komplettierungsdynamik – etwa in dem Sinne: „naja, wenn die alle schon unterschrieben haben, dann kann ich ja auch…!“

Auf diese Weise konnten innerhalb weniger Tage bereits 80 Unterschriften gesammelt werden – das waren fast alle, die als Fachkollegen i.o.S. infrage kamen. Das „synergetische Feldexpe-riment“ darf so gesehen als voller Erfolg gewertet werden.

Freilich muss auch konzidiert werden, dass der Erfolg auf der gesundheitspolitischen Ebene bisher mittelfristig ausgeblieben ist: Denn kurz nach dem Gesetz änderte sich auch der o.a. Ausschuss in einen „Gemeinsamen Bundesausschuss“ (G-BA) und es entstand ein weiterer Ausschuss, der „Wissenschaftliche Beirat“ (WBP). Beiden wurde so viel Macht zugespro-chen, dass sie sich weder um die Meinung der „scientific community“ noch um die der Psy-chotherapeuten und ihrer neu gebildeten Institutionen, den Kammern, zu kümmern brauchten. Trotz zahlreicher eindeutiger Resolutionen der Kammern, trotz der inzwischen erfolgten An-erkennung der Wirksamkeit und Wissenschaftlichkeit der GPT durch den WBP, konnte der G-BA bisher verhindern, dass die GPT oder irgend ein anderes Verfahren in der BRD für Kassenpatienten ambulant zur Verfügung steht. Hier wurde die Selbstorganisation der Wis-senschaft und der psychotherapeutischen Profession aufgrund politischer und verwaltungs-technischer Machtstrukturen schlicht ausgehebelt. Für Wissenschaftler, wie den Verfasser dieses Beitrags, ist es erstaunlich, wie perfide, unredlich, fachignorant und unter Verletzung vieler Regeln eines ordentliches Verfahrens ein solcher G-BA in einem demokratischen Land wie der BRD vorgehen kann, ohne dafür zur Rechenschaft gezogen zu werden. Das freilich ist eine andere Geschichte.

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