Blätter für deutsche und internationale Politik - Blaetter....

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Blätter für deutsche und internationale Politik Einzelheft 10 € Im Abo 6,55/5,10 € 3’16 Integration: Gesucht wird ein »neues Wir« Paul Scheffer Das alte Denken der neuen Rechten Micha Brumlik Macht und Ohnmacht der EZB Rudolf Hickel Die Verachtung der Armen Sebastian Dörfler und Julia Fritzsche In falscher Sicherheit Thomas Gebauer Fünf Jahre Fukushima: Kettenreaktion außer Kontrolle Jürgen Scheffran Graphic Novels: Siegeszug des Comics Steffen Vogel Wir Sklavenhalter Evi Hartmann

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3’16

Blätter fürdeutsche undinternationale

Politik

Einzelheft 10 €Im Abo 6,55/5,10 € 3’16

Integration: Gesucht wird ein

»neues Wir«Paul Scheffer

Das alte Denken der neuen RechtenMicha Brumlik

Macht und Ohnmacht der EZBRudolf Hickel

Die Verachtung der ArmenSebastian Dörfler und Julia Fritzsche

In falscher SicherheitThomas Gebauer

Fünf Jahre Fukushima: Kettenreaktion außer KontrolleJürgen Scheffran

Graphic Novels: Siegeszug des ComicsSteffen Vogel

Wir Sklavenhalter Evi Hartmann

DEMOCRACY LECTURE 2016der Blätter für deutsche und internationale Politik

5.4.2016, 19 Uhr | Haus der Kulturen der Welt | www.blaetter.de

PAUL MASONNACH DEM

KAPITALISMUS?!

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Hinweis: In dieser Ausgabe finden Sie eine Beilage der Wochenzeitung »der Freitag«. Wir bitten um freundliche Beachtung.

Micha Brumlik, geb. 1947 in Davos/Schweiz, Dr. phil., Prof. em. für allge-meine Erziehungswissenschaft an der Universität Frankfurt a. M., Mitheraus-geber der „Blätter“.

Sebastian Dörfler, geb. 1982 in Nürn-berg, Politikwissenschaftler, freier Journalist für Print und Hörfunk.

Achim Engelberg, geb. 1965 in Ber-lin, Dr. phil., Historiker, Journalist und Buchautor.

Thomas Feltes, geb. 1951 in Mainz, Dr. phil., Professor für Kriminologie, Kri-minalpolitik und Polizeiwissenschaft an der Ruhr-Universität Bochum.

Julia Fritzsche, geb. 1983 in Mün-chen, Rechtswissenschaftlerin, Auto-rin u.a. für den Bayerischen Rundfunk und arte.

Thomas Gebauer, geb. 1955 in Kons-tanz, Psychologe, Geschäftsführer der Hilfsorganisation medico internatio-nal.

Gülistan Gürbey, geb. 1963 in Bingöl/Türkei, Dr. habil., Privatdozentin am Fachbereich Politik- und Sozialwis-senschaften der FU Berlin.

Evi Hartmann, geb. 1974 in Burghau-sen, Dr.-Ing., Professorin für Supply Chain Management an der Universität Erlangen-Nürnberg.

Rudolf Hickel, geb. 1942 in Nürnberg, Dr. rer. pol., Prof. em. für Finanzwis-senschaft an der Universität Bremen, Mitherausgeber der „Blätter“.

Wieslaw Jurczenko, geb. 1959 in Beu-then, Rechtsanwalt mit Schwerpunkt Banken, Kapitalmarkt und Wert-papierrecht, ehem. Chief Risk Officer der UBS Deutschland AG.

Jan Kursko, geb. 1967 in Hildesheim, freier Journalist in Berlin.

Daniel Leisegang, geb. 1978 in Unna, Politikwissenschaftler, „Blätter“-Re-dakteur.

Albrecht von Lucke, geb. 1967 in In-gelheim am Rhein, Jurist und Politik-wissenschaftler, „Blätter“-Redakteur.

Thomas Piketty, geb. 1971 in Clichy/Frankreich, Wirtschaftswissenschaft-ler, Professor an der Paris School of Economics und der École des Hautes Études en Science Sociales (EHESS).

Roland Roth, geb. 1949 in Schöllkrip-pen, Dr. phil., Prof. für Politikwissen-schaft an der Hochschule Magdeburg-Stendal, Mitgründer des Komitees für Grundrechte und Demokratie.

Paul Scheffer, geb. 1954 in Nijmegen/Niederlande, Professor für Europa-wissenschaften an der Universität Til-burg.

Jürgen Scheffran, geb. 1957 in Weyer-busch, Dr. rer. nat., Professor für Kli-mawandel und Sicherheit an der Uni-versität Hamburg.

Anke Schwarzer, geb. 1970 in Heil-bronn, Soziologin, freie Journalistin, lebt in Hamburg.

Steffen Vogel, geb. 1978 in Siegen, So-zialwissenschaftler, „Blätter“-Redak-teur.

Rudolf Walther, geb. 1944 in Uznach/Schweiz, Historiker und Publizist, lebt in Frankfurt a.M.

Autorinnen und Autoren dieses HeftesWolfgang Abendroth

Elmar Altvater

Samir Amin

Katajun Amirpur

Günther Anders

Franziska Augstein

Uri Avnery

Susanne Baer

Patrick Bahners

Egon Bahr

Etienne Balibar

Wolf Graf Baudissin

Fritz Bauer

Yehuda Bauer

Ulrich Beck

Seyla Benhabib

Homi K. Bhabha

Norman Birnbaum

Ernst Bloch

Norberto Bobbio

E.-W. Böckenförde

Thilo Bode

Bärbel Bohley

Heinrich Böll

Pierre Bourdieu

Ulrich Brand

Karl D. Bredthauer

Micha Brumlik

Nicholas Carr

Noam Chomsky

Daniela Dahn

Ralf Dahrendorf

György Dalos

Mike Davis

Alex Demirovic

Frank Deppe

Dan Diner

Walter Dirks

Rudi Dutschke

Daniel Ellsberg

Wolfgang Engler

Hans-M. Enzensberger

Erhard Eppler

Gøsta Esping-Andersen

Iring Fetscher

Joschka Fischer

Heiner Flassbeck

Ernst Fraenkel

Nancy Fraser

Norbert Frei

Thomas L. Friedman

Erich Fromm

Georg Fülberth

James K. Galbraith

Heinz Galinski

Johan Galtung

Timothy Garton Ash

Bettina Gaus

Günter Gaus

Heiner Geißler

Susan George

Sven Giegold

Peter Glotz

Daniel J. Goldhagen

Helmut Gollwitzer

André Gorz

Glenn Greenwald

Propst Heinrich Grüber

Jürgen Habermas

Sebastian Haffner

Stuart Hall

H. Hamm-Brücher

Heinrich Hannover

David Harvey

Amira Hass

Christoph Hein

Friedhelm Hengsbach

Detlef Hensche

Hartmut von Hentig

Ulrich Herbert

Seymour M. Hersh

Hermann Hesse

Rudolf Hickel

Eric Hobsbawm

Axel Honneth

Jörg Huffschmid

Walter Jens

Hans Joas

Tony Judt

Lamya Kaddor

Robert Kagan

Petra Kelly

Robert M. W. Kempner

George F. Kennan

Paul Kennedy

Navid Kermani

Ian Kershaw

Parag Khanna

Michael T. Klare

Dieter Klein

Naomi Klein

Alexander Kluge

Jürgen Kocka

Eugen Kogon

Otto Köhler

Walter Kreck

Ekkehart Krippendorff

Paul Krugman

Adam Krzeminski

Erich Kuby

Jürgen Kuczynski

Charles A. Kupchan

Ingrid Kurz-Scherf

Oskar Lafontaine

Claus Leggewie

Gideon Levy

Hans Leyendecker

Jutta Limbach

Birgit Mahnkopf

Peter Marcuse

Mohssen Massarrat

Ingeborg Maus

Bill McKibben

Ulrike Meinhof

Manfred Messerschmidt

Bascha Mika

Pankaj Mishra

Robert Misik

Hans Mommsen

Wolfgang J. Mommsen

Albrecht Müller

Herfried Münkler

Adolf Muschg

Gunnar Myrdal

Wolf-Dieter Narr

Klaus Naumann

Antonio Negri

Oskar Negt

Kurt Nelhiebel

Oswald v. Nell-Breuning

Rupert Neudeck

Martin Niemöller

Bahman Nirumand

Claus Offe

Reinhard Opitz

Valentino Parlato

Volker Perthes

William Pfaff

Thomas Piketty

Jan M. Piskorski

Samantha Power

Heribert Prantl

Ulrich K. Preuß

Karin Priester

Avi Primor

Tariq Ramadan

Uta Ranke-Heinemann

Jan Philipp Reemtsma

Jens G. Reich

Helmut Ridder

Rainer Rilling

Romani Rose

Rossana Rossandra

Werner Rügemer

Irene Runge

Bertrand Russell

Yoshikazu Sakamoto

Saskia Sassen

Fritz W. Scharpf

Hermann Scheer

Robert Scholl

Karen Schönwälder

Friedrich Schorlemmer

Harald Schumann

Gesine Schwan

Dieter Senghaas

Richard Sennett

Vandana Shiva

Alfred Sohn-Rethel

Kurt Sontheimer

Wole Soyinka

Nicolas Stern

Joseph Stiglitz

Gerhard Stuby

Emmanuel Todd

Alain Touraine

Jürgen Trittin

Hans-Jürgen Urban

Gore Vidal

Immanuel Wallerstein

Franz Walter

Hans-Ulrich Wehler

Ernst U. von Weizsäcker

Harald Welzer

Charlotte Wiedemann

Rosemarie Will

Naomi Wolf

Jean Ziegler

Moshe Zimmermann

Moshe Zuckermann

...und viele andere.

In den »Blättern« schrieben bisher

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Monatszeitschrift 61. Jahrgang Heft 3/2016

HerausgeberkreisKatajun Amirpur . Seyla Benhabib

Norman Birnbaum . Peter Bofinger Ulrich Brand . Micha Brumlik

Dan Diner . Jürgen Habermas Detlef Hensche . Rudolf Hickel

Claus Leggewie . Ingeborg MausKlaus Naumann . Jens ReichRainer Rilling . Irene Runge

Saskia Sassen . Karen Schönwälder Friedrich Schorlemmer . Gerhard Stuby

Hans-Jürgen Urban . Rosemarie Will

Begründet vonHermann Etzel . Paul Neuhöffer und Karl Graf von Westphalen

Weitergeführt vonKarl D. Bredthauer

VerlagBlätter Verlagsgesellschaft mbH

Berlin

Blätter fürdeutsche undinternationale

Politik

Buch_Blaetter_201603.indb 1 17.02.16 10:57

REDAKTIONAnne Britt ArpsDaniel LeisegangAlbrecht von LuckeAnnett MängelSteffen Vogel

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ANZEIGENTel: 030 / 3088 - 3646E-Mail: [email protected] WEBSITEwww.blaetter.de

INHALT 3’16

Blätter für deutsche und internationale Politik 3/2016

KOMMENTARE UND BERICHTE

5 Der Triumph der AfD Albrecht von Lucke

9 Integration im Sanktionsmodus Anke Schwarzer

13 Dämon Bargeld Wieslaw Jurczenko

17 Facebook rettet die Welt Daniel Leisegang

21 Frankreich in der Eskalationsspirale Rudolf Walther

25 Erdogans »Neue Türkei« und der Krieg gegen die Kurden Gülistan Gürbey

37 Ein New Deal für Europa Thomas Piketty

33 Brauchen wir den »starken Staat«? Thomas Feltes

29 Lob des langen Atems Nachruf auf Andreas Buro Roland Roth

KOLUMNE

DEBATTE

NACHRUF

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Blätter für deutsche und internationale Politik 3/2016

EXTRAS

BUCH DES MONATS

AUFGESPIESST

ANALYSEN UND ALTERNATIVEN

39 Kurzgefasst 124 Dokumente 125 Chronik des Monats Januar 2016 128 Zurückgeblättert 128 Impressum und Autoren

121 Süd vs. Nord: Das andere Europa Achim Engelberg

41 Wir Sklavenhalter Warum die Globalisierung keine Moral kennt Evi Hartmann

51 In falscher Sicherheit Keine Stabilität ohne Menschenrechte Thomas Gebauer

61 Gesucht wird ein neues Wir Für einen realistischen Humanismus in der Integrationsdebatte Paul Scheffer

73 Die Verachtung der Armen Vom Bild des faulen Arbeitslosen zur Figur des »Asylschmarotzers« Sebastian Dörfler und Julia Fritzsche

81 Das alte Denken der neuen Rechten Mit Heidegger und Evola gegen die offene Gesellschaft Micha Brumlik

93 Macht und Ohnmacht der EZB Warum Europa eine gemeinsame Finanz- und Wirtschaftspolitik braucht Rudolf Hickel

101 Kettenreaktion außer Kontrolle Vernetzte Technik und die Gefahren der Komplexität Jürgen Scheffran

111 Graphic Novels oder Der Siegeszug des Comics Steffen Vogel

72 Scham und Charity Jan Kursko

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Blätter für deutsche und internationale Politik 3/2016

208 S., geb.€ 19,95 [D]. ISBN 978-3-8062-3236-3

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KOMMENTARE UND BERICHTE

Blätter für deutsche und internationale Politik 3/2016

Albrecht von Lucke

Der Triumph der AfD

Kurz vor den Landtagswahlen in Ba-den-Württemberg, Rheinland-Pfalz und Sachsen-Anhalt steht der Sieger bereits fest: die AfD. Gegenwärtig spricht alles dafür, dass die Rechts-populisten bei allen drei Wahlen trium-phieren werden. Dann wären sie nicht nur in den ersten beiden westdeut-schen Flächenstaaten vertreten, son-dern auch in der Hälfte der deutschen Landesparlamente – ein Durchbruch für die Partei und ein Dammbruch für die politische Kultur des Landes.

Allerdings hat die neue Partei schon zuvor das deutsche Parteienge-füge radikal verschoben. Nichts hat den Wahlkampf so beherrscht wie die Angst der Etablierten vor der rechten „Alternative“. Sämtliche „Altpartei-en“, insbesondere CDU/CSU, starrten wie das Kaninchen auf die Schlange – und agierten damit in vorauseilen-dem Gehorsam. Denn, so die Ironie der Geschichte: Die AfD ist nicht stark aus eigener Kraft – das lässt sich bei jeder Talkshow unter AfD-Beteiligung be-obachten –, sondern sie profitiert von der Schwäche ihrer Gegner. Und nie-mand hat der Union im Allgemeinen wie der Kanzlerin im Besonderen stär-ker geschadet als der bayrische Mi-nisterpräsident und seine CSU. Dass Angela Merkel heute zunehmend iso-liert dasteht – in ihrer eigenen Partei, aber auch in Europa –, daran hat Horst Seehofer entscheidenden Anteil. Von Anfang an strickte er ganz bewusst an der Legende mit, dass die Kanzle-rin höchstpersönlich für die Flücht-lingskrise und die immense Zahl der Schutzsuchenden verantwortlich sei. In dieser Legende aber liegt der eigent-liche Kern des radikalen Merkelschen Autoritätsverlusts im In- und Ausland.

Dabei hatte die Bundesregierung be-reits mit 800 000 Flüchtlingen gerech-net, bevor die Kanzlerin im September 2015 aus humanitären Gründen die Grenze für die Budapester Flüchtlin-ge öffnete.1 Zweifellos hat Merkel mit ihren Selfies den Eindruck der deut-schen Willkommenskultur verstärkt. Doch die zentrale Fluchtursache liegt, wie die Bilder aus Aleppo täglich be-legen, im syrischen Bürgerkrieg wie in der massiven Unterversorgung der Flüchtlinge in den Nachbarstaaten.

Das Seehofersche Dauerfeuer hat diese Kausalität jedoch zum Ver-schwinden gebracht. Und seine Nebenaußenpolitik mit „lupenreinen Demokraten“ vom Schlage Orbáns und Putins musste zusätzlich den Ein-druck in Europa verfestigen, dass die Kanzlerin das eigene Land nicht mehr hinter sich weiß. Prompt verabschie-deten sich erst die Visegrádstaaten (Ungarn, Polen, Tschechien, Slowa-kei) und schließlich sogar Frankreich aus der europäischen Solidargemein-schaft. Die deutsch-französische Achse besteht in der Flüchtlingsfrage heute nicht einmal mehr auf dem Papier.

Merkels dürftige Zwischenbilanz nach dem jüngsten EU-Gipfel ist so-mit auch das Ergebnis einer gezielten innenpolitischen Demontage. Horst Seehofer hat den Eindruck einer völ-lig handlungsunfähigen Bundesregie-rung wenn nicht erzeugt, so doch er-heblich verstärkt. Die Alternative da-zu hätte auf der Hand gelegen: Ge-schlossenheit in der Regierung – und eine geschlossene Abwehr der Positio-nen der AfD. Schließlich haben deren

1 So die Prognose des Bundesinnenministers und des Bundesamts für Migration und Flücht-linge (BAMF) vom 19.8.2015.

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Blätter für deutsche und internationale Politik 3/2016

Vertreterinnen beste Argumente für ihre entschiedene Bekämpfung gelie-fert, siehe nur den Vorschlag der AfD-Vorsitzenden Frauke Petry, die Gren-zen mit Schusswaffen gegen Migran-ten zu schützen. Doch Seehofer tat das Gegenteil. Er selbst setzte sich an die Spitze der eskalierenden Bewegung. So aber konnte das Modell AfD Schu-le machen, das da lautet: Polarisierung, Radikalisierung, Rechtsverschiebung.

Kurzum: Seehofers Eskalation und die fehlende Geschlossenheit der Union haben den Rechtspopulisten erst den Boden bereitet. Seine Strate-gie, mit einer dezidiert rechts-autori-tären Ansprache die Wähler der Union bei der Stange zu halten, wird jedoch schon deshalb nicht aufgehen, weil die CSU bei den anstehenden Urnen-gängen gar nicht selbst zur Wahl steht, sondern nur die liberale CDU Ange-la Merkels. Besser kann man keine Wahlhilfe für die AfD betreiben.

Hinzu kommt, dass die CSU bis heu-te keinerlei Rechenschaft über die Konsequenzen einer Schließung der Grenzen ablegt. Ganz zu schweigen davon, dass ihren immer radikale-ren Drohungen noch immer keine Ta-ten gefolgt sind. So aber konterkariert die eigene Politik die selbst aufgestell-ten Forderungen. Wen aber wählt man dann? Natürlich das radikale Original, sprich die AfD.

Politische Brandstiftung ...

Der von Horst Seehofer angerichtete Schaden geht jedoch weit über die Wahlwerbung für die AfD hinaus – er betrifft die gesamte politische Kul-tur des Landes. Merkels Machtverfall geht einher mit einer erschreckenden verbalen Verrohung. Und auch hier spielt Seehofer eine fatale Rolle. Bis-her galt in der CSU die alte Strauß-Lo-gik: „Rechts von uns ist nur noch die Wand.“ Heute scheint Seehofer mit dem Kopf durch die Wand zu wollen, um selbst ganz rechts anzukommen.

Bisheriger Höhepunkt war sein Aschermittwochs-Interview in der „Passauer Neuen Presse“. Darin spricht Seehofer von einer „Herrschaft des Unrechts“, weil Flüchtlinge angeblich unkontrolliert ins Land kommen dürf-ten. Dieser Unrechtsbegriff war selbst in der CSU bisher totalitären Regimen vorbehalten. Nun rückt Seehofer die Bundesrepublik und die Merkel-Re-gierung in die Nähe von Unrechtstaa-ten – eine unsägliche Relativierung der wahren Diktaturen –, um sich dann bei Autokraten wie Orbán und Putin auch noch die Absolution dafür abzuholen.

Mit dieser Äußerung ist der neue Geist der CSU aus der Flasche; mit ihr empfahl sich Horst Seehofer selbst als rechten Volkstribun – gegen die „Herrschaft des Unrechts“ seiner Par-teifreundin. Eine derartige Diktion ist ansonsten auf jeder Pegida-Demo zu hören. Ob gezielt oder fahrlässig: In je-dem Fall betreibt Seehofer damit eine brandgefährliche Rechtsverschiebung im Land.

Denn wer von einer Herrschaft des Unrechts spricht, der legitimiert jegli-chen Widerstand gegen die Regierung. Seehofers „Sorge um den Inneren Frie-den“ entpuppt sich damit als bloß vor-geschoben: Seine Semantik des Not-stands schafft selbst totale Rechtsun-sicherheit. Wie sollen heute deutsche Polizisten agieren, wenn sie für eine „Herrschaft des Unrechts“ tätig sind? Und wie hat sich der „besorgte“, recht-schaffene Bürger zu verhalten?

Faktisch bedeutet Seehofers Satz die Legitimation von Selbstjustiz, ja mehr als das – er räumt den Bürgern ein Widerstandsrecht ein, wenn nicht gar eine Pflicht. „Wo Recht zu Unrecht wird, wird Widerstand zur Pflicht“, heißt ein Bertolt Brecht zugeschriebe-ner Satz. Dieser ist inzwischen in den allgemeinen Sprachgebrauch über-gegangen – und er findet sogar eine, wenn auch engere, Entsprechung im Grundgesetz. Dort ist im Artikel 20 Absatz 4 zwar von keiner Pflicht, aber von einem „Recht zum Widerstand“

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Kommentare und Berichte 7

Blätter für deutsche und internationale Politik 3/2016

die Rede – „gegen jeden, der es unter-nimmt, diese Ordnung zu beseitigen“.2 Faktisch ruft der Bayer also zum Wi-derstand gegen die eigene Bundesre-gierung auf – ein paradoxer Zustand.

Wenn Horst Seehofer nach dem (im-merhin) massiven gesellschaftlichen Gegenwind erneut den Arglosen mim-te, ist dies alles andere als glaubwür-dig. Denn der Bayer ist ein Wiederho-lungstäter. Bereits beim politischen Aschermittwoch vor vier Jahren hatte er versprochen, dass seine Regierung sich „bis zur letzten Patrone“ gegen eine massenhafte Zuwanderung in die deutschen Sozialsysteme wehren wer-de. Nun liefert er jenen die Munition, die schon seit langem Flüchtlingshei-me in Brand stecken.

… und intellektuelle Brandbeschleunigung

Dieses Hantieren mit dem Ausnahme-zustand ist umso fataler, als es längst eine Verstärkung im medialen Raum gefunden hat. In der „Jungen Frei-heit“, von Beginn an das Zentralorgan der AfD, heißt es ganz in der Seehofer-schen Logik: „Merkel hat ein globales Problem nationalisiert und damit die Hypermoral – die Ausdehnung des Staatsauftrags vom Staatsvolk auf die Menschheit – zur Regierungsmaxime erhoben.“3 Auch hier werden bewusst Ursache und Wirkung verwechselt: Am Anfang war demnach nicht die katastrophale Situation in den Flücht-lingslagern, sondern das angeblich hypermoralische Handeln der „ge-schiedenen Frau aus dem Osten“ (Ed-mund Stoiber). Merkel allein wird so für den angeblichen Ausnahmezu-stand verantwortlich gemacht.

Doch diese Argumentation findet sich heute keineswegs nur in den no-torisch rechten Gazetten, von „Deut-

2 Allerdings nur als ultima ratio, „wenn andere Abhilfe nicht möglich ist“.

3 Thorsten Hinz, Der Wahnsinn hat Methode, in: „Junge Freiheit“, 5.2.2016.

scher Stimme“ bis „Junge Freiheit“, sondern auch in einem sich als libe-ral verstehenden Medium wie dem Magazin „Cicero“. „Jetzt entscheidet der Flüchtling über den Ausnahme-zustand“, deklamiert dort ganz in der Diktion Carl Schmitts der Philosoph Peter Sloterdijk.4

Folgt man dieser Argumentation, dann impliziert dies faktisch ein Not-wehrrecht des Staates – gegen die Flüchtlinge und damit gerade gegen die Schwächsten. Denn nur dem Staat kommt bei Carl Schmitt das Monopol der Entscheidung über den Ausnahme-zustand zu, so er als Staat tatsächlich souverän ist. Aber, so Sloterdijk weiter: „Die deutsche Regierung hat sich in einem Akt des Souveränitätsverzichts der Überrollung preisgegeben.“ Des-halb entscheide nun der Flüchtlings-strom – hinter dem bei Sloterdijk zu-dem noch die sinistre Verschwörung der USA steht, unterstützt durch die „Lügenpresse“ – über den angeblichen Ausnahmezustand. Auch das bedeu-tet eine fatale Legitimation all jener, die anstelle des vermeintlich versa-genden Staats zur Ausübung ihres Wi-derstandsrechtes schreiten, und es lie-fert in letzter Konsequenz die intellek-tuelle Untermauerung des staatlichen Schießbefehls gegen Migranten. Oder um es mit der AfD-Frau Beatrix von Storch zu sagen: „Wer das HALT an unserer Grenze nicht akzeptiert, der ist ein Angreifer. Und gegen Angreifer müssen wir uns verteidigen.“

Am 13. März wird sich diese doppel-te, politische wie kulturelle, Rechts-verschiebung in den Wahlergebnis-sen niederschlagen, als Triumph der AfD. Dann wird es in Baden-Württem-berg nach den 9,8 Prozent der NPD von 19685 und den 10,9 bzw. 9,1 Prozent für die Republikaner von 1992 und 1996

4 „Das kann nicht gut gehen“, Peter Sloterdijk im Interview mit den Cicero-Redakteuren Christoph Schwennicke und Alexander Kiss-ler, in: „Cicero“, 2/2016, S. 14-23.

5 Das ist bis heute das beste Ergebnis, das die NPD jemals bei Landtagswahlen erreicht hat.

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zum ersten Mal seit 20 Jahren wieder eine echte Rechtspartei in einem west-lichen Flächenstaat geben. Für Rhein-land-Pfalz wäre es sogar eine Premiere.

Die Union könnte allerdings – so die mögliche Ironie des Wahlausgangs – mit einem blauen Auge davonkom-men. Wenn nämlich die AfD in die bei-den West-Parlamente einzieht, dürf-te es zu zwei neuen christdemokrati-schen Ministerpräsidenten kommen, denn in beiden Ländern würde Rot-Grün bzw. Grün-Rot seine Mehrheit wohl verlieren.

Gelingt es der AfD aber tatsächlich, deutlich in den zweistelligen Bereich vorzustoßen, wird es auch in der Union zu erheblichen Eruptionen kommen. In jedem Fall wäre der Hauptverlierer aber die SPD. Tatsächlich dringt die AfD zunehmend in linke Milieus vor. Siehe Österreich: Dort sind die Rechts-populisten schon lange die Partei der Arbeiter und Abgehängten.

Doch bis heute hat die SPD-Spitze of-fenbar nicht richtig begriffen, dass wir mit der Flucht eine völlig neue sozia-le Frage erleben, die die Gefahr einer weiteren dramatischen Spaltung der Gesellschaft bedeutet. Jüngste Erhe-bungen haben ergeben, dass die Sche-re zwischen Arm und Reich – und zwar bereits vor Ankunft der Flüchtlinge – noch weiter auseinander gegangen ist. Durch die anhaltende Flucht droht sich diese gesellschaftliche Spaltung noch erheblich zu vertiefen.

Deshalb kommt dem Umgang mit dieser neuen sozialen Frage entschei-dende Bedeutung zu. Denn anders als in der bisherigen Geschichte der Bun-desrepublik gibt es heute eine sozia-le Basis für die neue rechte Bewegung und mit der Migrationsfrage ein explo-sives Mobilisationsthema. Findet die Politik keine tauglichen Antworten auf die neue soziale Frage, wird sich die Bewegung weiter nach rechts radikali-sieren. Dann wird sich die rechte Basis ihren neuen rechten Überbau organi-sieren – und umgekehrt dieser verstär-kend auf die Basis zurückwirken.

Anzeichen für einen derartigen Rechtsruck speziell der sozial Schwä-cheren gibt es längst. Denn bereits heute wird die Flüchtlingskrise oft auf ihrem Rücken und in ihren Regionen ausgetragen, was zu zunehmender Verbitterung führt. Das beginnt bei der Frage der Unterbringung, die allzu oft nur in den armen Quartieren statt-findet; das setzt sich fort bei der Frage der Bildung, obwohl bereits heute die Schulen in den sozial schwachen Ge-bieten mit massiven Sprach- und Inte-grationsproblemen zu kämpfen haben; und es endet schließlich bei der Vertei-digung des Mindestlohns, weil speziell im Niedriglohnsektor aus der Migra-tion massive Dumping- und Verdrän-gungsphänome zu resultieren drohen.

Die entscheidende Frage wird da-her sein, wie die Große Koalition nach der Wahl auf den Erfolg der AfD re-agiert. „Wenn wir ehrlich sind, haben wir bisher nicht Integration betrie-ben, sondern Obdachlosigkeit vermie-den“, bringt die Integrationsbeauftrag-te der Bundesregierung, Aydan Özo-guz (SPD), die Lage auf den Punkt. Anders ausgedrückt: Die eigentliche Integration beginnt erst jetzt – mit all ihren Herausforderungen, Chancen und Schwierigkeiten.6 Dabei steht eines bereits fest: Wenn die Integration der Flüchtlinge gelingen soll, dann nur durch massive soziale Anstren-gungen. Es ist daher an der Zeit, sie zu einer großen nationalen Aufgabe zu er-klären, die vor allem die Begüterten in die Pflicht nimmt – durch erhöhte Ab-gaben und Steuern, auf Vermögen und Erbschaften. Andernfalls droht eine weitere Verrohung der Gesellschaft.

Dringender Vorschlag: Diese Krise muss der letzte Anlass dafür sein, die fetischisierte Schwarze Null endlich zu opfern. Den Flüchtlingen käme es zu-gute – und auch dem so gefährdeten Zusammenhalt der deutschen Gesell-schaft.

6 Siehe auch den Artikel von Paul Scheffer in dieser Ausgabe.

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Kommentare und Berichte 9

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bestätigen Menschen, die nach eige-nem Selbstverständnis viel leisten und deswegen zahlen müssen, was andere – die angeblich weniger leisten – ver-brauchen, ohne sich anzustrengen. Da-her müssten sich Neue, zumal aus dem Ausland, erst einmal hinten anstellen. Es ist ein gut situiertes Milieu, das tat-sächlich einen gewichtigen Teil zum Steueraufkommen beiträgt. Gleichzei-tig profitiert es aber enorm von öffent-lichen Ausgaben: Die Kinder besuchen staatliche Schulen und kostenlose Uni-versitäten und sammeln Erfahrungen im Bundesfreiwilligendienst; es selbst nutzt das Ehegattensplitting und die subventionierten Theaterhäuser und Museen.

Wir und die Anderen

Zudem vergisst dieses Milieu gern, welche Summen der Staat freiwillig an Steuern ausgibt, um Banken zu retten, während er weitaus geringere Sum-men für rechtliche und humanitäre Pflichtaufgaben bei der Versorgung von geflüchteten Menschen aufwen-det. Hamburg und Schleswig-Holstein haben beispielsweise jüngst für die HSH Nordbank neue Kreditermächti-gungen von 16,2 Mrd. Euro beschlos-sen. Allein Hamburg wird ab 2018 für mindestens fünf Mrd. Euro aufkom-men müssen. Zum Vergleich: Die Han-sestadt veranschlagt rund 600 Mio. Euro im Jahr für zusätzliche Lehrer und Sozialpädagogen, Unterbringung, Geldleistungen, Jugendhilfe und die dringend benötigten Deutschkurse.

So sehr Nahles auf Gleichheit be-dacht scheint, so deutlich markiert sie doch einen Gegensatz: Hier das leis-

Deutschland steckt in einer Versor-gungskrise, die lange vor dem tau-sendfachen Zuzug von Flüchtlingen über die Balkanroute begonnen hat. Bund, Länder und Kommunen schaf-fen es derzeit nicht, allen Menschen im Land die wichtigsten Güter zu gewäh-ren: Zugang zu bezahlbarem Wohn-raum, Bildung und Gesundheitsdiens-ten sowie die Gewährleistung von Si-cherheit und politischer Teilhabe. Die Herausforderung für die Parteien ist also immens, und taugliche Antwor-ten lägen im Interesse der Flüchtlinge wie der Mehrheitsgesellschaft. Jedoch schlagen deutsche Spitzenpolitiker zu-nehmend eine andere Richtung ein: Sie erklären die neu Angekommenen zu Integrationsverweigern.

Die Bundesarbeitsministerin hat es jüngst vorgemacht: „Wer signalisiert, dass er sich nicht integrieren will, dem werden wir die Leistungen kürzen“, schreibt Andrea Nahles in der FAZ.1 Ihre Drohung richtet sich keineswegs an die neu ankommenden Kaufleute, Künstlerinnen und Analphabeten, nicht an die Handwerker und Ungelernten, nicht an die Hausfrauen, Lehrerin-nen, Journalisten und Apothekerinnen aus Syrien, Afghanistan und dem Irak. Vielmehr sendet Nahles ein Signal an die Mehrheitsgesellschaft. Insbeson-dere wendet sie sich an das Wahlvolk, das in diesem Jahr über die Zusam-mensetzung von fünf Landtagen be-stimmen darf, unter anderem in Rhein-land-Pfalz, dem Heimatland der Minis-terin. Die Ausführungen der Sozialde-mokratin dienen der Selbstvergewis-serung einer bestimmten Gruppe. Sie

1 Andrea Nahles, Ohne Integration werden die Leistungen gekürzt, in: „Frankfurter Allge-meine Zeitung“ (FAZ), 31.1.2016.

Anke Schwarzer

Integration im Sanktionsmodus

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10 Kommentare und Berichte

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tungsorientierte, disziplinierte und an-gepasste „Wir“ – dort die „Anderen“, die Flüchtlinge: „Alle Menschen, die in Deutschland leben, egal welcher ethnischen Herkunft, müssen sich an-strengen, Arbeit suchen und für sich und ihre Familie aufkommen, so gut sie eben können“, schreibt die Minis-terin: „Für die Flüchtlinge heißt das im Speziellen: Wer Hilfe in Anspruch nimmt, muss sein ganzes Können, sei-ne Arbeitskraft und – übrigens wie alle anderen auch – sein eigenes Vermögen einbringen. Wer das nicht tut, der wird hier dauerhaft keine Unterstützung erhalten.“2

In der Sozialwissenschaft nennt man dieses Vorgehen „Othering“. Nahles betreibt ein Fremdmachen, betont eine scheinbare Andersartigkeit. Dabei ent-stehen nicht nur eindimensionale Bil-der von geflüchteten Menschen, son-dern es wird ein „Wir“ konstruiert, das gemeinsame Werte teilt. Diese aber werden selten konkret benannt. Sie dienen vielmehr als Containerbegriff, in den jeder das hineinpacken kann, was ihm beliebt. Zur Stimmungsmache vor der Wahl nützt das allemal.

Was aber sind die Werte der hie-sigen Gesellschaft, die eine ausge-prägte gruppenbezogene Menschen-feindlichkeit an den Tag legt? Neu an-kommende Menschen werden täg-lich mit rassistischen Parolen, sogar mit Leuchtraketen und Brandbomben empfangen.3 Oder nehmen wir die seit Silvester wieder vermehrt diskutierte Gleichberechtigung von Mann und Frau: Wie verankert ist sie im hiesigen Wertekanon? Noch keine 100 Jahre be-steht das Frauenwahlrecht, noch keine 40 Jahre die Berufsfreiheit für Ehefrau-en und noch keine 20 Jahre die Straf-bewehrung der Vergewaltigung in der Ehe. All diese Errungenschaften muss-ten Frauen hartnäckig gegen großen

2 Ebd.3 Laut Bundeskriminalamt gab es 2015 bundes-

weit 1005 Überfälle auf Asylunterkünfte. Die Zahl habe sich innerhalb eines Jahres verfünf-facht.

Widerstand erkämpfen. Und noch im Deutschland des 21. Jahrhunderts wer-den jedes Jahr über 45 000 Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung angezeigt. Wer diese Gesellschaft als Verkörperung des reinen Rechts, der Moral oder gar der Universalität prä-sentiert, argumentiert unlauter.

Dennoch wiederholt sich dieser rhe-torische Trick Wahljahr für Wahljahr: Einwanderer und Flüchtlinge werden der Öffentlichkeit als Problem, als In-tegrationsverweigerer, als Demokra-tieanfänger, als Gesetzesbrecher oder gar Werteverletzer präsentiert. Die Ab-grenzungs- und Überlegenheitspredi-ger verschiedenster Couleur fordern Gesetzesverschärfungen und Sanktio-nen, die meist schon vorhanden sind, die teilweise gegen EU-Recht versto-ßen würden oder die schlicht verfas-sungswidrig wären. Das beginnt mit der AfD-Frontfrau Frauke Petry, geht weiter bei den CSU-Politikern Chris-tine Haderthauer und Horst Seehofer und endet bei den Sozialdemokraten Hannelore Kraft und Sigmar Gabriel sowie der Linksfraktionschefin Sahra Wagenknecht. Bei allen Differenzen zwischen ihnen spielt Nahles den Wett-streit mit: um die schärfsten Grenzkon-trollen, die schnellsten Abschiebere-gelungen, die niedrigsten Obergren-zen oder die härtesten Strafen für an-geblich Integrationsunwillige.

Passend dazu sagte Nahles auf einer Wahlveranstaltung in Baden-Württem-berg: „Deutschland bietet ihnen [den Flüchtlingen, A.S.] Integration in Frie-den und Wohlstand, aber dann müssen sie auch einschlagen und den Deal an-nehmen.“4 Damit unterstellt die Minis-terin, die Flüchtlinge würden genau dies nicht tun. Obendrein handelt es sich bei dem „Deal“, der in Nahles Re-de so generös daherkommt, zunächst um nichts anderes als um eine gesetzli-che Verpflichtung. Die wiederum wird an vielen Orten Deutschlands zurzeit

4 Vgl. Lorenzo Zimmerer, Deutschland bietet fairen Deal, in: „Schwäbisches Tageblatt“, 4.2.2016.

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nicht erfüllt. Keine Frage, sehr viel ge-lingt sehr gut – nicht zuletzt aufgrund zahlreicher freiwilliger Helfer. Aber immer noch gibt es unversorgte, al-lein reisende Minderjährige, überfüll-te oder zuweilen fehlende Unterkünfte und hungernde Flüchtlinge. Es gibt al-leinerziehende Frauen, die kurz nach der Entbindung in Masseneinrichtun-gen leben müssen und Schulpflich-tige, die keinen Unterricht erhalten. Häufig fehlt es an Ressourcen, Zeit und entsprechend geschultem Personal. Das zeigt sich am deutlichsten, wenn es nicht gelingt, „besonders Schutz-bedürftige“5 – also Schwangere, Kin-der oder Menschen, die Folter, Verge-waltigung oder sonstige schwere For-men psychischer, physischer oder se-xueller Gewalt erlitten haben – in den Massenunterkünften der Erstaufnah-me zu identifizieren und angemessen zu versorgen.

Deutschland ist aber aufgrund inter-nationaler und europäischer Verein-barungen schlicht dazu verpflichtet, Asylsuchende menschenwürdig unter-zubringen und sie zunächst „leistungs-los“ zu unterstützen. Die von der Bun-desrepublik ratifizierten Menschen-rechtsverträge und das internationale Flüchtlingsrecht sind geltendes Recht, das sämtliche Staatsorgane von Bund, Ländern und Kommunen bindet. „Mit dem Anstieg der Flüchtlingszahlen sind die Probleme in Flüchtlingsunter-bringungen nicht zu rechtfertigen – diese Entwicklung war seit geraumer Zeit absehbar, ohne dass sich Bund, Länder und Kommunen angemes-sen darauf eingestellt haben“, schreibt Henrik Cremer vom Deutschen Institut für Menschenrechte.6 Und tatsächlich ist lange bekannt, dass weltweit mehr und mehr Menschen ihre Dörfer und

5 Den Begriff hat die EU bereits 2003 in ihrer Richtlinie zur „Festlegung von Mindestnor-men für die Aufnahme von Asylbewerbern“ eingeführt.

6 Hendrik Cremer, Menschenrechtliche Ver-pflichtungen bei der Unterbringung von Flüchtlingen. Empfehlungen an die Länder, Kommunen und den Bund, Berlin 2014, S. 5.

Städte verlassen. Seit 2008 steigt die Zahl der neu Ankommenden aus Sy-rien, Afghanistan, dem Iran und Irak, aus Mazedonien und Serbien, aus Erit-rea, Somalia und anderen Ländern.7

Leistungen kürzen?

Wie die Bundesarbeitsministerin über-dies Verstöße gegen „unsere Werte“ und die „Grundregeln unseres Zusam-menlebens“ bei Asylsuchenden ge-sondert indizieren und sanktionieren möchte, bleibt ihr Geheimnis. Denn die deutschen Gesetze gelten auch für Flüchtlinge, inklusive der entspre-chenden Strafbewehrungen nach rich-terlichen Entscheidungen. Dass neuer-dings Jobcenter oder Ausländerbehör-den über etwaige Verstöße befinden sollen, ist mehr als fragwürdig. Und sollte der Ministerin vorschweben, Gelder nach dem Asylbewerberleis-tungsgesetz oder das Arbeitslosengeld II (Alg II) nach gerichtlicher Verurtei-lung etwa wegen Diebstahls oder Ver-gewaltigung zu kürzen, wäre dies ein Verstoß gegen das geltende Rechtssys-tem (unter anderem gegen den Grund-satz ne bis in idem).

Konkreter wird Nahles dagegen bei der Bestimmung von angeblicher Inte-grationsunwilligkeit: Die Kürzung von Leistungen soll „an die Wahrnehmung von Sprachkursen“ geknüpft werden. Diese Drohung ist perfide: Flüchtlin-ge haben gar keinen Anspruch auf BAMF-Integrationskurse. Viele wollen einen Kurs machen, dürfen aber nicht oder finden kein Angebot. Seit meh-reren Jahren fordern Verbände und Menschenrechtsorganisationen vom Bund, Flüchtlingen endlich den Zu-gang zum BAMF-Integrationskurs mit 600 Stunden Deutsch- sowie 60 Stun-den Politik- und Geschichtsunterricht zu ermöglichen. Dem haben sich 2013 auch die Länder angeschlossen, mit

7 Bundesamt für Migration und Flüchtlinge: Aktuelle Zahlen zu Asyl, Januar 2016.

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einem einstimmigen Beschluss der In-tegrationsministerkonferenz. Mittler-weile finanzieren einige Länder, etwa Bayern, Hamburg und Schleswig-Hol-stein Deutschkurse für Flüchtlinge mit bis zu 400 Stunden bei zertifizierten Trägern.

Zu den bereits jetzt möglichen Sank-tionen zählt die Kürzung von Geldmit-teln nach dem Asylbewerberleistungs-gesetz, das ein verfassungswidriges Sonderexistenzminimum darstellt.8 Diese Möglichkeit gilt allerdings nicht für die ausbleibende Teilnahme an Integrationskursen, da Asylsuchen-de diese bisher überhaupt nicht besu-chen dürfen. Anders ist es bei Alg-II-Leistungen, wie sie in der Regel nach 15 Monaten oder ab Anerkennung als Flüchtling ausgezahlt werden. Sie können gekürzt werden, etwa wenn Wiedereingliederungsmaßnahmen ver- weigert werden. Darunter können auch Integrationskurse fallen.

Was wäre aber gewonnen, wenn den angeblichen Integrationsverwei-gerern ihre ohnehin kärgliche Versor-gung gestrichen würde? Würde es uns dem Ziel, eine breite Teilhabe zu er-möglichen, näher bringen? Würde es zu einem friedlichen und chancenglei-chen Zusammenleben beitragen?

Menschenwürde mit Abstrichen

Ohne Zweifel stehen Regierung und Gesellschaft vor großen Aufgaben. Es geht darum, transnationale Lebens-weisen zu fördern: durch Mehrspra-chigkeit an Schulen, die Öffnung von Institutionen wie den Arbeitsagen-turen, den Zugang zu Hochschulen, durch verbindliche Verfahren der An-erkennung von Berufsqualifikationen, durch integrative Stadtplanung oder die Traumabehandlung von Kindern und Jugendlichen. Das ist nicht allein eine Frage des Geldes, aber erfordert

8 Vgl. BVerfG, Urteil 1 BvL 10/10 des Ersten Se-nats vom 18.7.2012, www.bverfg.de.

dringend mehr Bundesmittel für Län-der und Kommunen.

Soll Integration gelingen, ist es aber elementar wichtig, die Menschen will-kommen zu heißen und ihnen eine Bleibeperspektive zu bieten. Das funk-tioniert nur ohne Demütigungsstrate-gien und Abschreckungsmaßnahmen. Daher sollten die Sondergesetze für Asylsuchende und Einwanderer, et-wa das Asylbewerberleistungsgesetz, ebenso abgeschafft werden wie die Kettenduldungen, der verzögerte Fa-miliennachzug, das Ausländervereins-recht oder die Residenzpflicht. Denn all dies sorgt für eine Menschenwür-de mit Abstrichen, es produziert aus-gegrenzte Menschen und fördert deren Abwertung durch Medien und im All-tag. Kurzum: Diese Sondergesetzge-bung verhindert per se Integration.

Von Thorbjørn Jagland, dem Gene-ralsekretär des Europarats, stammt die Formulierung von der „tiefen Si-cherheit“. Gemeint ist eine Vorstel-lung von Sicherheit, die sich vom poli-zeilichen und militärischen Denken abgrenzt und stattdessen Freiheit und Gleichheit vor dem Gesetz in den Mit-telpunkt rückt.9 Jagland und seine Kol-legen warnen vor dem Verlust demo-kratischer Freiheiten, vor rechtlosen Migranten und einer wachsenden In-toleranz, insbesondere gegen Euro-pas größte Minderheit, die Roma und Sinti. Genährt werden diese Gefah-ren unter anderem mit „verzerrenden Bildern und schädlichen Stereotypen über Minderheiten in den Medien und in der Öffentlichkeit“ und dem „Man-gel an Führungspersönlichkeiten, die Vertrauen wecken können“.

Statt den Platzanweiser für die hin-teren Ränge zu spielen, sollten Politi-ker wie Andrea Nahles ihren Blick lie-ber auf den Menschen als Menschen richten – und sein Streben nach Glück fördern.

9 Vgl. Zusammenleben im Europa des 21. Jahr-hunderts. Empfehlungen für offene Gesell-schaften. Bericht der hochrangigen Experten-gruppe des Europarats, 2011.

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Praktisch hat es ganz klein angefan-gen: „Kleve schafft das Kleingeld ab“, war dieser Tage in diversen Zeitun-gen zu lesen. Seit dem ersten Februar dieses Jahres sind zahlreiche Einzel-händler dazu übergegangen, Ein- und Zwei-Cent-Beträge jeweils auf- oder abzurunden, um am besten nur Schei-ne zu erhalten. Hintergrund dieser Neuerung ist die Umsetzung einer EU-Richtlinie aus dem Jahr 2010, wonach Banken bei der Entgegennahme von Münzgeld dieses mittels zertifizierter Automaten auf Echtheit und Umlauf-fähigkeit prüfen müssen.1 Die Richt-linie sah eine Übergangsfrist vor, die nun abgelaufen ist. Dieser Umstand hat dazu geführt, dass seit dem letzen Jahr zahlreiche Banken und Sparkassen für die Entgegennahme größerer Mengen Kleingeld happige Gebühren von den Einreichenden erheben.

Nun müsste das noch niemanden aufregen, wenn es denn dabei bliebe – wenngleich man sich durchaus fragen kann, was die EU dazu bewogen haben mag, das Fälschungsrisiko für Ein- und Zwei-Cent-Münzen als so hoch einzu-schätzen, dass man hierzu gleich eine hoch detaillierte Verordnung erlassen musste. Gleichzeitig jedoch bläst die Politik im Verbund mit Ökonomen und der EZB zum Generalangriff auf das Bargeld an sich.

Zunächst sollen Obergrenzen ein-geführt werden für die Bezahlung von Waren und Dienstleistungen in bar. In Deutschland soll diese Grenze künftig bei 5000 Euro liegen, so ein Vorschlag von Bundeswirtschaftsminister Sigmar Gabriel. Ihm sekundierte sogleich

1 Verordnung (EU) Nr. 1210/2010 des Euro-päischen Parlaments und des Rates vom 15.12.2010.

EZB-Chef Mario Draghi, indem er die Abschaffung des 500-Euro-Scheins forderte.

Der „Wirtschaftsweise“ und „Blät-ter“-Herausgeber Peter Bofinger for-derte gar, das Bargeld gänzlich ab-zuschaffen.2 Und auch der neue Vor-standschef der Deutschen Bank, John Cryan, beklagte auf dem diesjähri-gen Weltwirtschaftsforum in Davos die schreckliche Ineffizienz des Bargeldes und verlangte dessen Abschaffung.

Braucht das organisierte Verbrechen wirklich Bares?

Die hierfür ins Feld geführten Argu-mente sind immer die Gleichen: Da-nach sei Bargeld das Kardinalsmedium, das Steuerhinterziehung, Terrorfinan-zierung, Korruption und Geldwäsche erleichtere oder gar erst möglich mache und eigentlich nur dem organisierten Verbrechen jeder Couleur gute Dienste leiste. Denn ansonsten sei es ineffizient, sein Transport teuer, Fälschungen ein großes Problem – und jetzt kommt es: man kann es sogar stehlen oder rauben. Was für eine Erkenntnis!

Hierbei wird jedoch gerne ver-schwiegen, dass die Entwendung elek-tronischer Guthaben längst zu einem lukrativen Geschäftsfeld von Cyber-kriminellen geworden ist. Diese klau-en aber nicht mal eben eine Geldbörse, sondern räumen gleich ganze Konten ab. Die Schäden steigen Jahr für Jahr – nicht zuletzt deshalb, weil die meisten Banken in diesem Punkt viel zu we-nig für die Sicherheit ihrer Konten und

2 Macht Bargeld noch Sinn?, in: „Frankfurter Rundschau“, 8.2.2016.

Wieslaw Jurczenko

Dämon Bargeld

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heute durch den Wirtschaftskreislauf wabern. Allein die größten Strafzah-lungen der Banken von 2011 bis 2014 belaufen sich auf über 10 Mrd. Dollar.5 Und dies sind nur die Strafzahlungen. Die mit solchen „Geschäftsmodellen“ erwirtschafteten Gewinne fallen deut-lich höher aus. Bargeld spielt hier eine absolut untergeordnete Rolle.

John Cryan und seine Branchenkol-legen täten daher gut daran, über se-riösere Geschäftsmodelle ihrer Häu-ser nachzudenken, anstatt über das Bargeld zu schwadronieren. Sie sollten endlich diesen institutionellen Betrug beenden. Es ist allerhöchste Zeit.

Der Schlaf des Gesetzgebers

Doch an dieser Stelle schläft auch der Gesetzgeber seit Jahrzehnten. Es gibt bis heute in Deutschland keine effek-tive gesetzliche Regelung, um Off-Shore-Gesellschaften zu identifizieren und auch die Herkunft ihrer Mittel so-wie deren eigentliche Geldgeber fest-zustellen. Schlimmer noch: Die deut-sche Kreditwirtschaft hat sich von der Bankenaufsicht abgesegnete Regelun-gen gegeben, die geradezu eine Ein-ladung an diese Off-Shore-„Firmen“ sind, ihre Gelder in Deutschland zu verbuchen und über deutsche Ban-ken zu bewegen.6 Daher nutzen diese Gesellschaften mit Vorliebe deutsche Finanzdienstleister für ihre selbstver-ständlich unbaren Geschäfte.

Auch die Tatsache, dass sich hierzu-lande eigentlich niemand für Steuer-ausländer interessiert, ist nachgerade ein Förderprogramm für undurchsich-tige Firmen und macht Deutschland zu einem Eldorado für Geldwäscher. Die Existenz des Bargeldes, des 500-Euro-

5 Vgl. die Auflistung unter https://.de.wikipe-dia.org/wiki/Liste_der_höchsten_Strafen_gegen_Banken.

6 Vgl. „Auslegungs- und Anwendungshinwei-se der DK zur Verhinderung von Geldwäsche, Terrorismusfinanzierung und ‚sonstigen straf-baren Handlungen‘“ (DK-Hinweise), Ziffer 38, www.die-deutsche-kreditwirtschaft.de.

Karten tun.3 Der Öffentlichkeit soll da-gegen suggeriert werden, dass mit der Begrenzung von Barzahlungen oder gar mit der Abschaffung des Bargel-des eine neue, effizientere und besse-re Welt vor uns liege. Das aber ist mit-nichten der Fall.

Geldwäsche in bar?

Experten zufolge werden allein in Deutschland pro Jahr zwischen 60 und 100 Mrd. Euro gewaschen. Es stellt sich allerdings die Frage, ob die hier ge-nannten Beträge auch nur annähernd realistisch sind. Der Straftatbestand der Geldwäsche ist mittlerweile derart weitreichend, dass mit größter Wahr-scheinlichkeit von weit höheren Beträ-gen ausgegangen werden kann.4 Ein Großteil dieser Gelder wird in unbarer Form gewaschen. Und das auch aus gutem Grund: Bargeld ist für das or-ganisierte Verbrechen schlicht zu teu-er und zu ineffizient, John Cryan lässt grüßen, siehe oben.

Die Umsätze und Gewinne aus or-ganisiertem Verbrechen sind einfach zu hoch, um sie noch mit Bargeld ab-zuwickeln. Daher werden sie vorwie-gend über Off-Shore-Gesellschaften und Scheinfirmen in die Wirtschaft geschleust. Mit derart inkriminierten Geldern werden Beteiligungen erwor-ben und Akquisitionen getätigt; ja, mitunter werden sie auch in der rea-len Wirtschaft hoch gewinnbringend eingesetzt. Verlässliche Zahlen hierzu existieren praktisch nicht. Nicht zu-letzt haben die Banken selbst durch hoch betrügerische Geschäftsmodel-len inkriminierte Gelder in unvorstell-baren Dimensionen geschaffen, die – wohlgemerkt in unbarer Form – bis

3 MacGyvers Karten: Kreditkarten-Betrug trotz Chip+PIN, in: „c‘t“, 3/2016, S. 76, vgl. www.heise.de.

4 Eine beeindruckende Sicht auf das Thema lieferte der Vorsitzende Richter des Zweiten Strafsenats am Bundesgerichtshofs, Thomas Fischer, am 13.10.2015 in seiner Kolumne auf www.zeit.de.

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Scheins oder gar die Abwesenheit von Obergrenzen für Barzahlungen hat da-mit relativ wenig zu tun.

Die in Sachen Geldwäsche gern ge-schmähte Schweiz ist an diesem Punkt wesentlich weiter. Dort hat man längst Regelungen für Off-Shore-Gesellschaf- ten eingeführt. Größere Bargeldbewe-gungen, so auch die langjährigen be-ruflichen Erfahrung des Autors, spie-len im Zusammenhang mit Geldwä-sche dagegen bereits seit vielen Jahren praktisch keine Rolle mehr. Im Gegen-teil: Bargeld stellt für das organisierte Verbrechen eher ein Problem als eine Lösung dar.

Doch auch was die Einziehung und das Einfrieren von Vermögenswerten krimineller Organisationen angeht, besteht in Deutschland seit vielen Jah-ren größter Handlungsbedarf. Ermitt-ler müssen hierzulande jedem Ver-dächtigen Cent für Cent nachweisen, ob dieses Geld aus Straftaten stammt oder nicht. Anders in den USA oder Ita-lien: Dort herrscht die Beweislastum-kehr, das heißt der Verdächtige muss nachweisen, dass sein Geld sauber ist.

Die große Koalition hat in ihrem Ko-alitionsvertrag zwar Gesetzesverschär-fungen in Aussicht gestellt; wie die vom Justizminister noch in diesem Jahr vor-zulegenden Regelungen aussehen wer-den, bleibt jedoch abzuwarten.

Terrorfinanzierung: Fünf Euro für eine Handgranate

Die Abschaffung des Bargelds wird zudem mit der angeblichen Terror- finanzierung begründet. Während die Geldwäsche an eine bereits begange-ne Tat anknüpft, besteht das Beson-dere hier darin, dass Gelder für Taten fließen, die noch gar nicht begangen wurden. Das Erkennen des Zwecks solcher Geldströme ist daher praktisch unmöglich – auch und gerade im elek- tronischen Geldverkehr.

Die Anschläge des 11. September 2001 wurden denn auch überwiegend

unbar vorbereitet. Es wurden Mieten überwiesen, Flugstunden gebucht, eine Flugsimulationssoftware erworben so- wie übliche Lebenshaltungskosten be-stritten. Gewiss, die bei den Flugzeug-entführungen benutzten Teppichmes-ser wurden wohl bar bezahlt. Es waren aber völlig legal zu erwerbende Mas-senartikel, die schon für Kleingeld zu haben sind.

Eine der seinerzeit betroffenen Ban-ken in Deutschland, die Dresdner Bank, hat nach Abschluss ihrer inter-nen Aufarbeitung des Falles eingeste-hen müssen, dass sie, sollten solche Ta-ten abermals über ihre Konten finan-ziert werden, kein Mittel sehe, diese eindeutig zu erkennen. Und diese Ein-schätzung wird unter Fachleuten ge-teilt: Terrorfinanzierung ist nicht nur wegen der hier beschriebenen Eigen-heit einer noch nicht begangenen Tat kaum aufzudecken, sie ist auch noch ziemlich billig.

Waffen sind heute für ausgespro-chen kleines Geld auch in Europa zu bekommen. So kann man auf dem Bal-kan eine Handgranate schon für fünf Euro erwerben.7 Aber auch bei größe-ren Waffenkäufen ist kaum davon aus-zugehen, dass sich Terroristen oder Waffenhändler, die ihren Lebensunter-halt mit gesetzwidrigem Verhalten verdienen, plötzlich an die geltende Obergrenze von Barzahlungen halten würden.

Schließlich ist Terrorfinanzierung nicht an einen bestimmten Ort gebun-den. Sie kann überall auf diesem Glo-bus stattfinden. Und auch hier gilt: Die großen Geldströme laufen längst un-bar über Off-Shore-Gesellschaften, obskure Stiftungen, vermeintlich reli-giöse oder undurchsichtige Interessen-vereinigungen, von denen es weltweit eine schiere Unzahl gibt. Doch allen ist eines gemeinsam, dass gerade größere Summen vorzugsweise unbar hin- und herbewegt werden. Und ein weiteres:

7 Vgl. die Dokumentation „Kalaschnikows für Terroristen. Waffenschmuggel in Europa“ vom 3.2.2016, www.zdf.de.

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Viele davon sind Kunden deutscher Geldhäuser.

Alles Geld den Banken: Die privatisierte Geldversorgung

Auch die Bekämpfung der Schwarz-arbeit – dieser Aspekt sei hier nur der Vollständigkeit halber erwähnt – wird immer wieder gerne als Argument für die Einschränkung von Barzahlungen genutzt. Zwar spielt Bargeld bei der Schwarzarbeit durchaus eine Rolle, ist aber keineswegs ihre Ursache. Diese ist eher in einem Steuersystem zu se-hen, das Kapitaleinkommen gegenüber Arbeitseinkommen stark privilegiert. Ein Umstand, der zu einer immer stär-ker wachsenden Ungleichverteilung von Vermögen führt und von der Poli-tik konsequent nicht angegangen wird. Ein gerechteres Steuersystem würde der Schwarzarbeit daher wesentlich effektiver Einhalt gebieten als die Ein-schränkung von Barzahlungen.

Sämtliche Initiativen, von der Ab-schaffung des Kleingeldes bis hin zur völligen Abschaffung des Bargeldes, zielen indes nur in eine Richtung: die vollständige Privatisierung der Geld-versorgung und des Geldkreislaufs. Die Geldversorgung soll der alleinigen Verfügung und Kontrolle ausgerech-net derjenigen unterworfen werden, die immer wieder aufs Neue bewiesen haben, dass sie weder in der Lage sind, ihr Geschäft ausschließlich seriös zu betreiben noch dazu, mit ihrem eige-nen Geld verantwortungsvoll umzuge-hen: den Banken.

Sie träumen längst vom neuen Gold-standard des 21. Jahrhunderts: Daten. Je mehr davon, desto einträglicher. Auch der Bankensektor glaubt an Big Data – dieser Begriff bezeichnet nicht nur Projekte, die der Kontrolle dessen dienen, was ein Mensch in der Ver-gangenheit getan hat. Das Ziel ist die zuverlässige Prognose über künftiges Verhalten von Menschen. Eine Horror-vision!

Dass die Menschen mit dem Verlust des Bargeldes einen bedeutenden Teil ihrer verfassungsrechtlich garantier-ten Privatsphäre und ihrer Handlungs-freiheit verlieren,8 ist den Banken völ-lig egal. Sie sehen nur den möglichen Profit. Genauso, wie sie nur ihren Profit bei den Manipulationen von Zinsen, Währungskursen, Insidergeschäften und ihren exzessiven Geldwäsche- aktivitäten im Blick hatten. Ob sie da-bei Gesetze brachen, war ihnen stets vollkommen gleichgültig. Und die Politik hat zugesehen, dereguliert und für eine Party ohnegleichen gesorgt. Eine Party, deren Zeche am Ende aus-schließlich der Steuerzahler zu beglei-chen hatte. Diese sollte nun eher zu En-de sein, als erneut mit absurden Ideen zum Bargeld auf neuem Feld gestartet zu werden.

Begleitet wird das Ganze von einer fatalen Niedrigzinspolitik der EZB: In einer bargeldlosen Welt würden neben der Totalkontrolle der Bürger die EZB-Negativzinsen deren unmittelbare Enteignung ermöglichen – in Form di-rekten Zugriffs. Ein Traum für die Ban-ken. Gebühren im Zahlungsverkehr könnten jederzeit nach Belieben erho-ben und erhöht werden. Die Möglich-keit des Raubs an allen wäre endlich Gesetz.

Die Politik sollte solchen Entwick-lungen entschieden entgegenwirken, anstatt sich mit plakativen Forderun-gen und falschen Heilsversprechen zum Handlanger solcher Vorstellun-gen zu machen. Bargeld, ob in Schei-nen oder Münzen, ist eine gedruck-te Form von Freiheit und Privatauto-nomie. Es bedeutet, sich staatlicher und privatwirtschaftlicher Kontrolle bei Bedarf und zu Recht entziehen zu können. Diese Freiheit darf gerne in-effizient sein und Kosten verursa-chen, Herr Cryan. Denn „there is no free lunch“, wie die Banker zu sagen pflegen.

8 So der frühere Verfassungsgerichtspräsident Hans-Jürgen Papier, in: „Süddeutsche Zei-tung“, 9.2.2016.

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Nach der Geburt eines Kindes schau-en Eltern meist mit einem anderen Blick auf die Welt. So offenbar auch Facebook-Chef Mark Zuckerberg und seine Frau Priscilla Chan: Nur wenige Tage nachdem ihre gemeinsame Toch-ter auf die Welt gekommen war, riefen sie Ende vergangenen Jahres die Chan Zuckerberg Initiative ins Leben. Sie soll sich unter anderem der Vernetzung von Menschen und dem Aufbau „star-ker Gemeinschaften“ widmen.12

Ein ganz ähnliches Ziel hat das Pro-jekt Internet.org, das Mark Zuckerberg im August 2013 gründete. Es soll Men-schen im globalen Süden mit kostenlo-sem Internet versorgen. Dort lebt der Großteil der insgesamt 4,2 Milliarden Menschen, die noch immer nicht on-line sind. Bereits 19 Millionen soll der Dienst, der derzeit in 38 Ländern läuft, ins Internet gebracht haben.

Allerdings verfolgt Zuckerberg kei-neswegs nur philanthropische Ziele – ganz im Gegenteil: Der Facebook-Chef will vor allem die Nutzerzahlen seines sozialen Netzwerks in die Höhe trei-ben. Und damit nicht genug: Seine Ex-pansionsstrategie trägt zudem Züge eines neuen digitalen Kolonialismus. Denn Zuckerberg will den Menschen in ärmeren Regionen vorschreiben,

1 Für besonderes Aufsehen sorgte die Ankün-digung der frischgebackenen Eltern, der Ini-tiative langfristig 99 Prozent ihrer Facebook- Aktien zu überschreiben. Sie haben aktuell einen Wert von etwa 45 Mrd. US-Dollar. Vgl. dazu John Cassidy, Mark Zuckerberg and the Rise of Philantrocapitalism, www.newyorker.com, 2.12.2015.

2 Die Initiative unterscheidet sich allerdings in vielerlei Hinsicht von einer üblichen Stiftung und bietet den Gründern zahlreiche Vorteile: Vgl. Jesse Eisinger, How Mark Zuckerberg’s Altruism Helps Himself, in: „The New York Times“, 4.12.2015.

wie und in welchem Umfang sie das Internet nutzen dürfen. Damit aber zer-stört er obendrein die Grundlagen des freien Internet.

2030: 5 Milliarden Facebook-Nutzer

Auf den ersten Blick müsste sich Mark Zuckerberg um das Wachstum von Facebook derzeit keine Sorgen ma-chen. 2015 legte der Konzern ein Re-kordjahr hin: Der Umsatz lag bei knapp 18 Mrd. US-Dollar, satte 44 Prozent mehr als im Vorjahr. Der Gewinn stieg um mehr als das Doppelte an.

Allerdings ist keineswegs ausge-macht, dass dieser Wachstumskurs an-hält. Denn die Zuwächse bei den Nut-zerzahlen bleiben weit hinter Face-books Umsatzplus zurück: Die Com-munity vergrößerte sich im vergange-nen Jahr um nur 14 Prozent – auf 1,6 Milliarden Nutzer weltweit. Der Grund für die vergleichsweise zaghafte Zu-nahme: Facebook hat den Markt in den westlichen Industrieländern weitge-hend erschlossen. Dennoch kündigte Zuckerberg Anfang Februar aus An-lass des 12. Geburtstags von Facebook an, bis 2030 die Zahl der Facebook-Nutzer auf sage und schreibe fünf Mil-liarden erhöhen zu wollen. Das aber ist nur möglich, wenn Facebook in ärme-re Weltregionen expandiert. Zu die-sem Zweck will Zuckerberg weltweit „Partnerschaften mit Regierungen und Unternehmen“ eingehen.3

Tatsächlich wirbt der Facebook-Chef bereits seit längerem in interna-tionalen Politforen für sein Vorhaben.

3 Vgl. Marco della Cava, Facebook in 2030? 5 billion users, says Zuck, www.usatoday.com, 4.2.2016.

Daniel Leisegang

Facebook rettet die Welt

Buch_Blaetter_201603.indb 17 17.02.16 10:58

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netz: Während sich wohlhabende Nut-zer Zugang zur schier unendlichen Online-Vielfalt kaufen können, erhal-ten die Ärmeren in Zuckerbergs Al-mosen-Netz gerade einmal Zugriff auf einige wenige, von Facebook verlese-ne Webseiten. Statt die digitale Kluft wie versprochen zu schließen, reißt Zuckerberg damit also vielmehr neue Gräben auf.

Hinzu kommt, dass Facebook die Nutzer in seiner künstlich verknappten Digitalwelt auf Schritt und Tritt über-wacht. Sämtliche Daten laufen über die Firmenserver, wo sie für 90 Tage ge-speichert werden. Da das Unterneh-men eine Verschlüsselung untersagt, hat es während dieser Zeit volle Ein-sicht in die wertvollen Inhalte.

Damit erinnert Zuckerbergs Vorge-hen an die Zeiten des Glasperlen-Ko-lonialismus: Als die Eroberer im 15. Jahrhundert das heutige Amerika ent-deckten, schenkten sie den Indigenen einfache Glasperlen – in der Hoffnung, so an ihr wertvolles Gold zu gelangen. Die heutigen Eroberer aus dem Silicon Valley führen ein Schmalspur-Internet mit sich, um so an die Daten der Armen zu kommen.

Zu Recht regte sich daher unmittel-bar nach Start des Dienstes in Indien heftiger Protest. 60 Bürgerrechtsgrup-pen aus mehr als 30 Ländern kritisier-ten Facebooks Angebot scharf: Es ver-letze unter anderem das Prinzip der Netzneutralität4, der Meinungsfrei-heit und der Privatsphäre. Der indische Investor Mahesh Murthy verurteil-te Facebooks Vorgehen gar als „wirt-schaftlichen Rassismus“: Der Konzern nehme ausgerechnet den Ärmsten die Entscheidung ab, wie sie das Internet nutzen wollen, und beeinflusse so ihr zukünftiges Verhalten.

Die wachsende Kritik veranlass-te die indische Regulierungsbehörde Trai schließlich dazu, den Betrieb des

4 Netzneutralität bezeichnet die Gleichbehand-lung von Daten bei der Übertragung im Inter-net und den diskriminierungsfreien Zugang bei der Nutzung von Datennetzen.

So fuhr er im vergangenen Jahr gleich zwei Mal nach Indien. Das Land wird 2030 Schätzungen zufolge 1,5 Mil-liarden Einwohner haben – und damit China als das bevölkerungsreichste Land der Welt ablösen. Im Gegenzug kam der indische Premierminister Na-renda Modi im vergangenen Septem-ber in die Facebook-Zentrale nach Ka-lifornien. Wie Zuckerberg will auch Modi die unconnected billion in sei-nem Land, also die eine Milliarde In-der ohne Internetanschluss, so rasch wie möglich online bringen.

Indien: Die nächste Milliarde

Schon jetzt ist der Subkontinent – gleich nach den Vereinigten Staaten –  der wichtigste Markt für Facebook: 130 Millionen Inderinnen und Inder sind bei dem sozialen Netzwerk regis-triert. Gleichzeitig haben zwei Drittel der dort lebenden Menschen noch im-mer keinen Internetzugang. Es gibt al-so viel Luft nach oben.

Aus diesem Grund startete Zucker-berg im April 2015 seinen Dienst Inter-net.org in Indien; Kooperationspart-ner war der dortige Telekommunika-tionsdienst Reliance. Um auf Internet.org zugreifen zu können, müssen Nut-zer vorab eine kostenlose App auf ihr Smartphone laden. Sie bietet freien Zu-griff auf ausgewählte Webseiten: Nach-richten- und Wetterdienste, Wikipedia – und nicht zuletzt auch auf Facebook.

Die Anbieter dieser Webdienste mussten sich vorab bei Facebook be-werben; etwa 100 von ihnen wählte der Konzern dann für Internet.org aus. Dass die Auswahl fair verlief, muss je-doch bezweifelt werden: So konnten die indischen Nutzer nicht auf Googles Suchmaschine zugreifen, wohl aber auf Bing, dem Konkurrenzangebot von Microsoft. Microsoft ist rein zufällig auch Anteilseigner bei Facebook.

Auf diese Weise schafft die von Mark Zuckerberg versprochene Grundver-sorgung tatsächlich ein Zweiklassen-

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Dienstes im Dezember 2015 vorüber-gehend zu unterbinden.

Weniger ist mehr!

Um einem dauerhaften Verbot zu ent-gehen, nannte Facebook sein Ange-bot kurzerhand in Free Basics um. So sei deutlicher, dass die Nutzer nur auf „ausgewählte Dienste“ zugreifen kön-nen. Gleichzeitig verteidigte Zucker-berg sein Vorhaben in einem Gastbei-trag in der „Times of India“, der größ-ten englischsprachigen Tageszeitung Indiens: Das wenige Internet, das er anbiete, sei immer noch besser als gar kein Internet. Auch öffentliche Biblio-theken würden schließlich nicht jedes Buch bereithalten.

Ein allzu schiefer Vergleich: Schließ-lich sind Bibliotheken allein schon aus Platzgründen genötigt, eine Auswahl an Büchern zu treffen. Im digitalen Raum hingegen lässt sich selbst Jor-ge Luis Borges’ legendäre Bibliothek von Babel, die alle denkbaren Bücher enthält, unterbringen.5 Vor allem aber verfolgen öffentliche Bibliotheken kei-ne ökonomischen Interessen – ganz im Gegensatz zum Gatekeeper Facebook.

Dieser setzte in seiner landesweiten PR-Schlacht neben Zeitungsartikeln auch auf haushohe Werbeplakate und doppelseitige Anzeigen – sowie auf das virtuelle Heer der indischen Facebook-Nutzer: Ohne deren ausdrückliche Zu-stimmung einzuholen, verschickte das Netzwerk mehr als 17 Mio. Nachrich-ten an die indische Regulierungsbe-hörde, in denen sich die Nutzer angeb-lich für Free Basics aussprachen.

Die Behörde ließ sich von Zucker-bergs aggressivem Lobbyismus indes nicht beeindrucken: Anfang Februar entschied sie endgültig, dass es keine Ausnahmen beim Netzzugang geben dürfe. Wer künftig bestimmte Online-Dienste bevorzugt, muss mit saftigen Strafen rechnen.

5 Vgl. www.libraryofbabel.info.

Facebooks Konzernspitze zeigte sich offen verärgert. Nur wenige Tage nach der Behördenentscheidung twitterte Marc Andreessen, Mitglied des Auf-sichtsrats, ungehalten: „Anti-Kolonia-lismus war für das indische Volk über Jahrzehnte wirtschaftlich katastro-phal. Warum also jetzt damit aufhö-ren?“ Der Kommentar löste umgehend einen Sturm der Entrüstung aus. Zu-ckerberg stellte klar, dass Andreessens Äußerungen nicht Facebooks oder sei-nen persönlichen Ansichten entsprä-chen; auch Andreessen entschuldigte sich und versicherte, er sei „zu 100 Pro-zent gegen Kolonialismus“.

Facebook aus der Luft

Es war gewiss jedoch nicht diese Ein-sicht, die Facebook schließlich zum Rückzug bewegte: Mitte Februar gab der Konzern bekannt, Free Basics nicht länger in Indien anbieten zu wollen. Eine bittere Niederlage insbesondere für Mark Zuckerberg.

Dessen ungeachtet verfolgt er wei-ter seine kolonialen Expansionspläne: Free Basics ist nach wie vor in anderen Ländern verfügbar. Und künftig soll der globale Süden auch aus der Luft er-obert werden.

Im März 2014 kaufte Facebook für 20 Mio. US-Dollar den britischen Droh-nenentwickler Ascenta. Dessen Flug-roboter Aquila ist soeben der Planungs-phase entwachsen: Er verfügt über die Spannweite eines Airbus 737, wiegt aber nur rund 500 Kilogramm. Weil die Drohne solarbetrieben ist, kann sie sie-ben Monate lang ohne Unterlass in der Luft bleiben. Zehntausende von ihnen sollen in naher Zukunft entlegene Re-gionen mit Facebooks Funknetzen ver-sorgen – und zwar weltweit.6

Sobald Zuckerberg aber über eine eigene technische Infrastruktur ver-fügt, wäre er unabhängig von den

6 Vgl. Jessi Hempel, Inside Facebook’s Ambi- tious Plan to Connect the Whole World, in: „Wired“, 12/2015.

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Telekommunikationsanbietern. Regie-rungen in weniger entwickelten Län-dern könnten dann – beispielsweise um Kosten einzusparen – auf den Be-trieb eigener Handynetze verzichten und die vermeintliche Grundversor-gung vollständig Facebook überlassen.

Die Folgen wären fatal. Denn mehr und mehr Menschen setzen schon jetzt Facebooks Dienste mit dem Internet gleich – nicht zuletzt im globalen Sü-den. Stolz verkündete Facebooks Ge-schäftsführerin Sheryl Sandberg Ende Januar auf dem Weltwirtschaftsforum in Davos: „Die Menschen kommen tat-sächlich in die Telefonläden und sagen ‚Ich will Facebook’.“

Gezielte Manipulation

Vor allem aber hätte Facebooks glo-bales Ersatzinternet dramatische Aus-wirkungen auf die politische Öffent-lichkeit. Welche Manipulationen das soziale Netzwerk diesbezüglich bereits heute erlaubt, verdeutlicht der Blick in den globalen Norden – genauer, in das Heimatland Facebooks: die Vereinig-ten Staaten.

63 Prozent der dort lebenden Face-book-Nutzer bezeichnen das soziale Netzwerk als ihre zentrale Nachrich-tenquelle. Gleichzeitig musste Face-book 2014 erstmals einräumen, den Newsfeed von mehreren hunderttau-send Nutzern systematisch manipu-liert zu haben. Über eine Woche hin-weg erhielt die eine Hälfte von ihnen mehr positive, die andere mehr nega-tive Beiträge angezeigt. Die hauseige-nen Soziologen wollten so ermitteln, welche Auswirkungen Emotionen auf die einzelnen Nutzer haben.7

Für eine derartige Einflussnahme interessiert sich längst auch die Politik. So hat das Team um Ted Cruz, der im gegenwärtigen US-Vorwahlkampf bei den Republikanern antritt, die Face-

7 Vgl. Pew Research Center, The Evolving Role of News on Twitter and Facebook, www.jour nalism.org, 14.7.2015.

book-Profile von Millionen Nutzern gekauft und ausgewertet – zumeist oh-ne deren Wissen.

Um an die Daten zu gelangen, nutz-ten die Wissenschaftler Amazons Dienst „Mechanical Turk“. Dieser Marktplatz vermittelt gegen geringe Summen Mini-Dienstleistungen be-liebiger Art. In diesem Fall gewähr-ten zehntausende Nutzer den Wissen-schaftlern für jeweils einen US-Dollar Zugriff auf ihre Facebook-Profile – und damit auch auf die Daten ihrer nichts-ahnenden Freundinnen und Freun-de. Da jeder Facebook-Nutzer durch-schnittlich etwa 340 Freunde hat, konnten die Wissenschaftler so ein ge-waltiges Datenvolumen zusammentra-gen – darunter Namen, Wohnorte, Ge-burtsdaten und Geschlecht sowie die persönlichen Vorlieben eines jeden Nutzers. Die „psychographischen Pro-file“, die sie dann erstellten, wurden unterschiedlichen Wählergruppen zu-geordnet und seither von Cruz’ Team gezielt umworben.8

Gerade autokratische Regierungen im globalen Süden, die ihre Macht si-chern und demokratische Proteste unterdrücken wollen, dürften sich für eine derart leicht durchschau- wie be-einflussbare digitale Öffentlichkeit interessieren. Es bleibt daher zu hof-fen, dass die Bürgerinnen und Bürger dieser Länder ebenfalls gegen Face-books Offerte vorgehen und stattdes-sen einen ungehinderten Netzzugang von ihren Regierungen einklagen – ganz so, wie es die nigerianische Web-aktivistin Nnenna Nwakanma fordert: „Das ganze Internet. Für alle Men-schen. Jederzeit.“9 Dieses Ziel verweist – im Gegensatz zu Zuckerbergs digi-talem Kolonialismus – tatsächlich auf eine philanthropische und vor allem demokratische Utopie.

8 Vgl. Harry Davies, Ted Cruz using firm that harvested data on millions of unwitting Facebook users, www.theguardian.com, 11.12.2015.

9 Vgl. RNW Media, „Your digital divide is your divide”, Interview mit Nnenna Nwakanma, www.rnw.org,

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Nach den terroristischen Attentaten vom 13. November kündigte der fran-zösische Staatspräsident François Hol-lande in einer theatralischen Insze-nierung im Schloss von Versailles dem „Terror“ (woher auch immer er kom-me oder drohe) und den „Terroristen“ (wer immer die seien) den „Krieg“ an (wie und womit auch immer). Darüber hinaus drohte er in seiner „Kriegsbot-schaft“ mit einer ganz scharfen Sank-tion: der Aberkennung der französi-schen Staatsbürgerschaft für Terroris-ten mit doppelter Staatsbürgerschaft. Die Einschränkung auf den Täter-kreis mit doppelter Staatsbürgerschaft war völkerrechtlich zwingend, denn Frankreich hat die UN-Konvention vom 30. August 1961 mitunterzeichnet, mit der – nach den Erfahrungen im und nach dem Zweiten Weltkrieg – neue „displaced persons“, „Staaten“- und „Rechtlose“, unbedingt vermieden werden sollten.

Doch tempi passati, an die restlos verstörende Geschichte des „Rechts“- mittels der Aberkennung der Staats-bürgerschaft dürfte Holland in kei-ner Weise gedacht haben. Unter dem Vichy-Regime verloren 15 154 Perso-nen die französische Staatsbürger-schaft, davon rund 7000 Juden. Dassel-be Regime entzog 446 Anhängern des nach England geflohenen Generals de Gaulle und diesem selbst die Staatsan-gehörigkeit wegen „dissidence“ („na-tionaler Abspaltung“). Das Kollabora-tionsregime Marschall Pétains folgte damit allerdings nur der letzten rechts-gerichteten, republikanischen Regie-rung Édouard Daladiers, die im Febru-ar 1940 den beiden kommunistischen Abgeordneten André Marly und Mau-rice Thorez die Staatsbürgerschaft ent-

zog – wegen ihres „Verhaltens wie An-gehörige einer ausländischen Macht“ und „Unterwerfung [soumission] unter die Sowjetunion“, die sich durch den Molotow-Ribbentrop-Stalin-Pakt mit Nazi-Deutschland verbündet hatte.1

Am „Rechts“mittel der Aberkennung der Staatsbürgerschaft klebt jedoch nicht nur die Perversion durch die Vichy-Kollaborateure. Es ist eine Aus-geburt von Kriegs- und Notrecht. Im Ersten Weltkrieg wurde 549 ehema-ligen deutschen Legionären mittels kriegsrechtlicher Dekrete die franzö-sische Staatsangehörigkeit aberkannt. Der normative Kern dieser Dekrete ging 1927/29 in die Staatsangehörig-keitsgesetze der Dritten Republik ein, wodurch einer unbekannten Zahl von Französinnen durch ihre Heirat mit Ausländern wegen „zweifelhafter Ge-sinnung“ ihre Staatsangehörigkeit ad-ministrativ abgesprochen wurde.

Noch zwischen 1949 und 1967 ver-loren 523 französische Staatsbürger mit doppelter Staatsbürgerschaft ihren französischen Pass. Erst danach wur-den die Möglichkeiten der Aberken-nung eingeschränkt. Nach der Loi Guigou vom 13. März 1998, die die Ab-erkennung an das Kriterium eines Ver-brechens band, das mit mindestens fünf Jahren Gefängnis bedroht war, sank ihre Zahl bis 2007 auf sieben Fäl-le. Zuletzt wurde am 7. Oktober 2015 sechs an den Attentaten in Casablanca beteiligten Franco-Marokkanern die

1 Zahlen nach: Robert Paxton, La France de Vichy 1940-1944, Paris 1973; Patrick Weil, His-toire et mémoire des discriminations en ma-tière de nationalité française, Vingtième Siè-cle, in: „Revue d’histoire”, 10-12/2004; Patrick Weil und Jules Lepoutre, Refusons l’extension de la déchéance de la nationalité, in: „Le Mon-de“, 12.3.2015.

Rudolf Walther

Frankreich in der Eskalationsspirale

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Staatsbürgerschaft aberkannt. Ohne auf diese heillose Geschichte des „Rechts“-instituts mit einem einzigen Wort einzugehen, zog Hollande im De-zember die Aberkennung der Staats-bürgerschaft für Doppelbürger wie ein Kaninchen aus dem Zauberhut und plädierte obendrein für die Aufwei-chung des Kriteriums zur Aberken-nung. Die situative Improvisation hat denn auch kein historisches Funda-ment, sondern folgt einer tagespoliti-schen Improvisation im Wettbewerb um die Gunst des Publikums.

Getrieben vom Front National

Diese Improvisation ist ein weiterer Be-leg dafür, wie genuin der Rechten zu-zurechnende politische Forderungen und Inhalte unter dem Druck des Front National über die konservativ-bürger-liche Mitte zum Programm einer so-zialistischen Regierung werden. Die Warnungen seiner Berater überhörte Hollande mit sturem Blick auf die Prä-sidentschaftswahlen 2017, bei denen er sich in Fragen von Sicherheit, Terror und Islamismus weder von Marine Le Pen noch von Nicolas Sarkozy überbie-ten lassen möchte. Er übernahm des-halb deren Forderungen und überholte beide rechts mit einem Umfragewert von 50 Prozent Zustimmung bei den Wählern als Rückversicherung. Aber mit dem Schielen nach rechts könnte sich Hollande verrechnen.2 Denn fak-tisch begibt er sich in eine Spirale der Eskalation.

Gleichzeitig liefern sich nämlich Nicolas Sarkozy von den konservativen „Republikanern“ und Florian Philippot, Vizepräsident des Front National, einen Streit darüber, wer zuerst und lauter die Aberkennung der Staatsbürger-schaft für Doppelbürger gefordert ha-be.3 Unbestritten ist, dass Jean-Marie

2 Vgl. Thomas Wieder, Présidentielle: François Hollande joue son va-tout, in: „Le Monde“, 3.1.2016.

3 Vgl. „Libération“, 13.1.2016.

Le Pen doppelte Staatsbürgerschaft und Einbürgerungen faktisch verhin-dern wollte – mit seinem Vorstoß, die französische Nationalität vom Territo-rialprinzip („droit du sol“) auf das Blut-rechtsprinzip („droit du sang“) um-zustellen. Schon 2007 forderte er, die „französische Staatsbürgerschaft allen abzuerkennen, die sie vor weniger als zehn Jahren durch Einbürgerung/Na-turalisierung erworben“ hatten und zu einer Strafe von mehr als sechs Mona-ten Gefängnis verurteilt worden sind. Nicolas Sarkozy lief dieser Forderung hinterher, als er nach einem Mord an Polizisten am 30. Juli 2010 in einer Re-de in Grenoble4 forderte, Delinquen-ten „ausländischer Herkunft“ die fran-zösische Staatsbürgerschaft zu entzie-hen, sobald sie französischen Polizis-ten oder Beamten mit Waffengewalt nach dem Leben trachteten. Sarkozys damaliger Innenminister Brice Horte-feux überbot seinen Staatspräsidenten noch, indem er verlangte, die Sanktion auf „illegale Arbeit, Klitorisbeschnei-dung, Menschenhandel und schwere Kriminalität“ auszudehnen. Eine ent-sprechende Gesetzesvorlage scheiter-te nur deshalb im Parlament, weil die liberalen Zentristen nicht mit den Kon-servativen, sondern mit den Linken und somit gegen das Vorhaben stimm-ten. Insofern gebührt dem Front Natio-nal die „Vaterschaft“ für die Verschär-fung der Regeln zur Aberkennung der Staatsbürgerschaft.

Das alles wusste Hollande sehr ge-nau, als er trotz der Warnungen „am Hof“ und der Widerstände aus der Par-tei an seinem Projekt nicht nur fest-hielt, sondern es gegenüber der alten Forderung des Front National noch ra-dikalisierte: Er dehnte die Möglich-keit, Personen die Staatsbürgerschaft abzuerkennen, auf in Frankreich ge-borene Kinder von Ausländern (also Franzosen nach dem „droit du sol“!) aus, während der Front National „nur“

4 Vgl. La nationalité française: 30 ans de débat, www.vie-publique.fr.

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auf Personen zielte, die vor weniger als zehn Jahre als Franzosen naturalisiert/eingebürgert wurden. Mit seiner Hart-näckigkeit wollte Hollande den Kon-servativen und den Rechten den Wind aus den Segeln nehmen und für sich selbst nach den gestiegenen Umfrage-werten auch die Dividende für seinen „Krieg“ gegen den Terror bei der Wäh-lerschaft sichern.

Der Mut der Justizministerin

Dieses Kalkül durchkreuzte gleich dreimal die mutige Justizministerin Christiane Taubira. Zuerst machte sie öffentlich, dass Hollande und Valls den sicherheitsstaatlichen Rechtsruck nach den Attentaten in Paris gegen ihren Willen durchgesetzt hatten. Als dies nichts fruchtete, trat sie am 27. Janu-ar 2016 aus „Selbstachtung“ (Taubira) zurück – ein durchaus erwarteter Rücktritt angesichts ihrer Isolierung als letzte Linke in der Regierung der juristischen Scharfmacher und frivo-len Kriegswilligen nach dem Raus-wurf von Arnaud Montebourg, Benoit Hamon und Aurélie Filippetti. Schließ-lich legte Taubira am 1. Februar mit einem medialen Paukenschlag einen 96 Seiten umfassenden, klandestin in Spanien gedruckten Essay vor („Mur-mures à la jeunesse“, „Geflüster für die Jugend“), in dem sie ihren Rücktritt politisch-moralisch ausführlich recht-fertigt.

Je mehr Hollande an politisch-mora-lischem Ansehen auf der Linken ein-büßt, weil die Unterschiede zwischen ihm und den Konservativen schwin-den, desto mehr steigt die Wahrschein-lichkeit, dass Parteilinke und radika-le Linke 2017 mit einem starken Kan-didaten antreten und Hollande damit jede Chance nehmen, auch nur in die Stichwahl zu kommen. Mit Christiane Taubira meldete sich jetzt eine Gegen-kandidatin schon für die parteiinter-nen Primärwahlen zu Wort. Faktisch sitzt Hollande in einer selbst gebas-

telten Falle: Gibt er nach in der Frage der Aberkennung der Staatsbürger-schaft, steht er bei Rechten, Konserva-tiven und deren Wählern als schlap-per „Kriegsherr“ da, bleibt er hart, zer-stört er seine Partei und seine Wahl-chancen, weil Parteilinke und radi-kale Linke 2017 geradezu mit einem eigenen Kandidaten gegen ihn antre-ten müssen, wenn sie glaubwürdig sein wollen.

Premierminister Valls goss zudem noch Öl ins Feuer und drohte den Kriti-kern, „wir werden bis ans Ende gehen, dessen sollten sich die Linken gewiss sein“, und meinte höhnisch, angesichts des „Kriegszustandes“ sei die Linke dabei, „sich im Namen hoher Werte zu verlaufen“. Vorläufiges Fazit: Hollan-des und Valls‘ hemdsärmeliges Vorge-hen bringt die sozialistische Partei an den Rand der Spaltung. Abgeordnete sprechen bereits vom „Schierlingsbe-cher“, der ihnen vorgesetzt werde, und werfen Hollande und Valls vor, „ihre Werte zu vergessen und dabei ihre Ehre zu verlieren“.5

Der Protest der Gesellschaft

Die Regierung wurde offensichtlich überrascht vom Widerstand aus der eigenen Partei, hofft aber bei der Ab-stimmung der Verfassungsänderung auf die vorgeschriebene Dreifünftel-mehrheit (Nationalversammlung und Senat) – im Sinne einer „nationalen Einheit“, weil die Konservativen wohl nicht gegen ihr ureigenes Projekt stim-men werden.

Wie nervös die Regierung ist, zeigt sich daran, dass sie die Aberkennung der Staatsbürgerschaft mit dem – histo-risch gesehen – völlig haltlosen Argu-ment verteidigt, diese habe „nichts zu tun mit diskriminierenden Akten des Vichy-Regimes“ und symbolisiere nur „den endgültigen Ausschluss jener aus dem republikanischen Pakt, die ter-

5 „Le Monde“, 29.12.2015.

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roristische Verbrechen begangen ha-ben“ (Manuel Valls).6

Die sozialistische Parteibasis ist da-gegen hell empört und zeigt weit mehr politische Sensibilität und historische Einsicht als die Parteiführung und das Pariser Regierungspersonal.

Nassera Benmarina, die aus Algerien stammende Stellvertreterin des Ab-geordneten Patrick Menucci aus Mar-seille, schrieb sogar einen Brandbrief an den Pariser Parteisekretär Chris- tophe Cambadélis und die Abgeordne-ten der Region Bouches-du-Rhône: „Ich war fassungslos, als Präsident Hollande eine alte Forderung der Rechtsextre-men rehabilitierte und zwischen ‚Fran-zösischstämmigen‘ und ‚Franzosen auf dem Papier‘ unterschied. Ein Staats-präsident, der eine solche Unterschei-dung anerkennt, […] hinterlässt Spu-ren“7 – nicht nur fehlende Stimmen in den Wahlurnen.

David Revault D’Allones, Kolumnist von „Le Monde“, zählt Hollandes Ent-scheidung gar zu den „verheerends-ten und politisch anstößigsten“ des Staatspräsidenten, der als „gemäßigter Sozialdemokrat“ angetreten sei, aber „unter dem Druck der Ereignisse eine Maßnahme verfassungsrechtlich ver-ankern möchte, die er bei den Rechts-extremen ausgeliehen“8 habe. Die frü-here Parteivorsitzende Martine Aubry erinnerte Hollande sogar öffentlich da-ran, was nach François Mitterrand den Staatsmann vom Politiker unterschei-de – nämlich nicht nach Umfragewer-ten zu regieren.9

Massiver Protest regt sich auch unter den französischen Doppelbür-gern – immerhin etwa 3,3 Millionen, von denen die meisten die neue Rege-lung zur Aberkennung der Staatsbür-gerschaft strikt ablehnen, weil sie be-fürchten, als Bürger zweiter Klasse unter den Verdacht zu geraten, „unsi-chere Kantonisten“ zu sein, denen man

6 „Le Monde“, 30.12.2015.7 „Le Monde“, 16.1.2016.8 „Le Monde“, 12.1.2016.9 „Le Monde“, 14.1.2016.

die Staatsbürgerschaft besser zu früh als zu spät aberkennen sollte.

Gegen die Menschenrechte

Auf der anderen Seite möchten die Konservativen ihre Zustimmung zur Verfassungsänderung honoriert sehen und satteln munter drauf: So sollen alle vom Geheimdienst als gefährlich ein-gestuften und mit „S“ (für „sécurité“/ „Sicherheit“) registrierten Personen zukünftig einen Wohnsitz zugewiesen bekommen und mit elektronischen Armbändern überwacht werden.

Und auch diese neuerliche Eskala-tionsstufe zeigte prompt Wirkung: In-nerhalb der sozialistischen Partei wird inzwischen erwogen, im Sinne des Grundsatzes der Gleichheit aller vor dem Gesetz, nicht nur Doppelstaats-bürger, sondern alle Franzosen mit der Aberkennung der Staatsbürgerschaft zu bedrohen. Das liefe nun tatsächlich auf die Schaffung von Staatenlosen hi-naus, was gegen die UN-Konvention vom 30. August 1961 und gegen das „Recht auf Staatsangehörigkeit“ so-wie den Schutz vor deren Entzug ver-stößt, die der Art. 15 der „Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte“ vom 10. Dezember 1948 ausdrücklich fest-schreibt. 10

Der Rechtsexperte Patrick Weil be-fürchtet denn auch in einem Interview mit „Le Monde“, die vorgesehene Ver-fassungsänderung laufe auf nichts Ge-ringeres hinaus als auf die Schaffung von „menschlichen Tieren“ bzw. „Per-sonen ohne Rechte“.11 Mit dem Frank-reich von einst, dem stolzen Vorreiter der Menschen- und Bürgerrechte, hät-te dies nun endgültig nichts mehr zu tun.

10 Allgemeine Erklärung der Menschenrech-te vom 19. Dezember 1948, Art 15 (1): „Jeder Mensch hat Anspruch auf eine Staatsangehö-rigkeit.“ (2): „Niemandem darf seine Staats-angehörigkeit willkürlich entzogen noch ihm das Recht versagt werden, seine Staatsange-hörigkeit zu wechseln.“

11 „Le Monde“, 8.1.2016.

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Das türkische Jahr begann – vor al-lem aus deutscher Perspektive –, wie das letzte geendet hatte, nämlich mit einem Selbstmordanschlag des IS. Die-ser riss am 12. Januar vor der weltbe-rühmten Blauen Moschee in Istanbul neun deutsche Touristen in den Tod. Die türkische Regierung reagierte um-gehend, Ministerpräsident Ahmet Da-vutoglu teilte mit, dass die türkische Artillerie nach dem Anschlag rund 500 Mal Stellungen des IS auf syrischer Seite beschossen habe.

Noch bis zum Sommer 2015 stand die türkische Regierung unter interner und internationaler Kritik, überhaupt nicht gegen den IS vorzugehen, son-dern diesen zu dulden oder gar (still-schweigend) zu fördern. Tatsächlich ließ die Regierung dem IS lange Zeit ganz bewusst Bewegungsspielraum, um so das Assad-Regime zu bekämp-fen – wie auch die syrischen Kurden unter der Führung der PYD (Demokra-tische Unionspartei), die der türkisch-kurdischen PKK nahesteht.

Die ersten beiden Anschläge des IS in der Türkei trafen denn auch prompt kurdische und linke Kräfte: Am 20. Ju-li 2015 wurden in Suruc 32 Menschen getötet, die Aufbauarbeit im vom IS befreiten syrisch-kurdischen Koba-ne leisten wollten, und am 10. Okto-ber 2015 wurde in Ankara eine von der kurdischen HDP (Demokratische Par-tei der Völker) organisierte Friedens-demonstration getroffen, dabei kamen mehr als 100 Menschen ums Leben.

Trotz des jüngsten Anschlags bleibt noch abzuwarten, wie entschieden die türkische Regierung den IS bekämp-fen will – im Gegensatz zur unerbittli-

chen Haltung gegen die Kurden, die im anhaltenden Krieg gegen die PKK zum Ausdruck kommt.

Diesen betreibt die Türkei seit Mitte Februar auch direkt auf syrischem Ge-biet: Mit Kampfbombern und Artillerie griff die türkische Armee Stellungen der Kurdenmiliz YPG in Nordsyrien an – und damit jene, die sich in erster Li-nie dem IS in Syrien entgegenstellen.

Bereits seit Juli 2015 nimmt die türki-sche Armee mit Spezialeinheiten und schweren Waffen kurdische Städte im Südosten des Landes unter Beschuss. Ziel ist es, die PKK und ihre städtische Jugendorganisation YDG-H zu eli-minieren. Diese haben ihrerseits den Krieg in die Städte getragen und vieler-orts die Selbstverwaltung bzw. Autono-mie ausgerufen.

Nun fordert der radikale Gegen-schlag der Regierung Davutoglu zu-nehmend Opfer unter der kurdischen Zivilbevölkerung. Human Rights Watch und Amnesty International be-anstanden massive Menschenrechts-verletzungen durch das unverhältnis-mäßige und harte Vorgehen der Spe-zialeinheiten von Armee und Polizei. Nach ihren Angaben wurden bereits mehr als 150 Zivilisten getötet, dar-unter Kinder, Frauen und Alte. 200 000 Kurden befinden sich auf der Flucht.

Betroffen sind vor allem jene Städ-te und Provinzen, in denen die Unter-stützung für die PKK und die HDP be-sonders groß ist. Nach Angaben der Türkischen Menschenrechtsstiftung wurde über Wochen eine totale Aus-gangssperre in sieben Städten ver-hängt, unter anderem in Diyarbakir, Sirnak, Mardin und Hakkari. Die Ar-

Gülistan Gürbey

Erdogans »Neue Türkei« und der Krieg gegen die Kurden

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macht werden, würde die HDP um Jah-re zurückwerfen. Ein Ende der Gewalt-eskalation ist nicht absehbar, legt man die Äußerungen von Staatspräsident Erdogan und Ministerpräsident Davu-toglu zugrunde: „Viertel um Viertel, Haus um Haus und Straße um Straße werde von Terroristen und ihren Unter-stützern gesäubert.“ Sollte ein neuer Friedensprozess eingeleitet werden, dann nicht mehr mit PKK und HDP, sondern mit anderen kurdischen Ak-teuren – darauf scheint die neue Strate-gie der Regierung ausgerichtet zu sein.

Der Krieg in den Städten

Die Lage wird allerdings auch dadurch weiter verschärft, dass die von den USA und der EU als Terrororganisation eingestufte PKK unvermindert an ihrer Gewaltstrategie festhält – und damit der Regierung willkommene Munition liefert. Zwar hatte die PKK im Vorfeld der vorgezogenen Parlamentswahlen im November 2015 einen einseitigen Waffenstillstand erklärt (auf Druck aus der kurdischen Politik und Zivilgesell-schaft), der jedoch von der Regierung negiert wurde und ins Leere lief.

Den Krieg nun in die Städte im kur-dischen Südosten der Türkei zu tra-gen, ist eine neue Strategie der PKK. Damit hofft sie, die Bevölkerung zum Aufstand anzustacheln, um so die Re-gierung unter Druck zu setzen, die in mehreren Gebieten im Südosten aus-gerufene Selbstverwaltung endlich zu akzeptieren. Bisher geht dieses Kal-kül allerdings nicht auf. Die erhoffte Unterstützung aus der Bevölkerung ist ausgeblieben, da diese selbst zur Ziel-scheibe der Gewalteskalation wurde – seitens der Regierung, aber auch sei-tens der PKK. Ferner geriet die HDP zunehmend zwischen die Fronten.

Dabei war es ihr bei den Wahlen vom Juni 2015 gelungen, die Zehn-prozenthürde zu überwinden und da-mit als erste kurdische Partei den Ein-zug ins Parlament zu schaffen. Dieser

mee geht in den Wohngebieten mit Militärpanzern, Spezialeinheiten und Scharfschützen vor, während der Be-völkerung der Zugang zu existenziel-ler Grundversorgung (Strom, Wasser, Lebensmittel) verwehrt und der Kon-takt zur Außenwelt völlig abgeschnit-ten wird. Proteste und Demonstratio-nen werden mit exzessiver staatlicher Gewalt aufgelöst; und weil die Sicher-heitskräfte die medizinische Versor-gung verhindern, sterben immer mehr Zivilisten an ihren Verletzungen.

Der von Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan angekündigte totale Krieg trifft aber auch die HDP und ihre Bürgermeister. Bereits vor den Parla-mentswahlen vom Juni 2015 war die HDP ins Visier der Regierung geraten. Mit verbalen Attacken („politischer Arm der PKK und Unterstützer der Ter-roristen“) wurde sie öffentlich zur Ziel-scheibe, was sich in Hunderten von Übergriffen auf HDP-Büros nieder-schlug (darunter ein Bombenanschlag auf der Wahlkampf-Abschlusskundge-bung in Diyarbakir).

Hinzu kommen massive strafrecht-liche Repressionen: Gegen den Co-vorsitzenden Selahattin Demirtas und weitere HDP-Politiker laufen derzeit Ermittlungsverfahren. Betroffen sind auch zahlreiche HDP-Bürgermeister. Sie bilden den Nukleus der Partei. Ihre erfolgreiche lokale Politik schlägt sich in kommunalen Wahlsiegen nie-der. Viele von ihnen haben die jüngste Ausrufung der Selbstverwaltung mit-getragen und stehen daher im Visier der Regierung. Sie wirft den Bürger-meistern unter anderem vor, Finanz-mittel aus Ankara zur Unterstützung des Terrorismus verwendet zu haben. Zahlreiche Bürgermeister wurden be-reits ihrer Ämter enthoben und verhaf-tet. Nun plant die Regierung, an ihrer Stelle staatliche Verwalter einzuset-zen und ihnen die Kontrolle und Ver-waltung zu übergeben. Dass auf die-se Weise die demokratisch legitimier-ten Errungenschaften kurdischer Poli-tik von heute auf morgen zunichte ge-

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Kommentare und Berichte 27

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Wahlsieg bedeutete eine empfindli-che Niederlage für Präsident Erdogan, dessen AKP die absolute Mehrheit ver-loren hatte. Hinzu kam das Erstarken der PKK und ihres Ablegers PYD durch ihren erfolgreichen Kampf gegen den IS in Syrien und im Irak. Besonderer Dorn im Auge Ankaras ist das kurdi-sche De-facto-Selbstverwaltungsge-biet (Rojava) im Norden Syriens unter Führung der PYD. Erdogan erklärte immer wieder unmissverständlich, die Türkei werde eine Autonomie wie im kurdischen Nordirak in Syrien niemals akzeptieren.

Auf diese Weise spitzte sich das Kräftemessen zwischen Regierung und PKK immer mehr zu. Ohnehin war der seit Herbst 2012 laufende Friedens-prozess zwischen Ankara und der PKK fragil, weil beide Seiten diametral ver-schiedene Ziele verfolgten. Die Re-gierung verlangt eine bedingungslo-se Niederlegung der Waffen. Sie lehnt föderale oder autonome Formen der Selbstverwaltung sowie das Recht auf Erziehung in kurdischer Sprache im Rahmen einer neuen Verfassung strikt ab. Genau das sind aber die zentralen Forderungen der PKK, aber auch der HDP und von zivilgesellschaftlichen Organisationen.

So aber nutzte die Regierung den Friedensprozess, um ihre militärische Handlungsfähigkeit im kurdischen Südosten der Türkei durch den Bau von neuen Militärstationen gezielt zu stärken. Die PKK baute hingegen ihre städtischen Strukturen aus und testete in einigen Gebieten die Ausrufung der Selbstverwaltung.

Nicht zuletzt dank dieser Eskalation der Gewalt gelang es Erdogans AKP, bei den vorgezogenen Parlamentswah-len vom 1. November 2015 die absolu-te parlamentarische Mehrheit zurück-zuerobern. Doch damit sind die inne-ren Spannungen nicht geringer ge-worden, im Gegenteil: Human Rights Watch zeichnet in seinem Türkei-Be-richt 2015 ein dramatisches Bild der Lage: die Kriminalisierung jeder Op-

position, die Unterdrückung der Presse und der freien Meinungsäußerung wie die Missachtung des Lebensrechts des kurdischen Volkes.

Freiheit unter Staatskontrolle

In den türkischen Medien spiegelt sich die dramatische Entwicklung im kur-dischen Südosten kaum wider. Wäh-rend regierungsnahe Medien die Poli-tik der Regierung unterstützen und öffentliche Diffamierung kritischer Stimmen nicht scheuen, bleibt der Rest der Medien im engen Korsett gefan-gen: Denn jede kritische Stimme, ob in den Medien oder woanders, läuft Ge-fahr, ins Visier der Regierung zu gera-ten. Prominentes Beispiel ist die Hetz-jagd auf jene Akademikerinnen und Akademiker, die in einem Friedensap-pell Anfang Januar 2016 die Regierung für ihr Vorgehen im Südosten scharf kritisiert hatten. Der türkische Hoch-schulrat YÖK kündigte daraufhin Dis-ziplinarstrafen und Entlassungen an, während die Justiz gegen sämtliche Unterzeichner wegen „Propaganda für eine Terrororganisation“ ermittelt. Zuvor hatte Erdogan alle öffentlichen Institutionen aufgefordert, die „Vater-landsverräter“ und „Bande, die sich selbst Akademiker nennt“, sofort und ohne Verzögerung zu bestrafen.

Im Pressefreiheitsindex der Organi-sation „Reporter ohne Grenzen“ steht die Türkei inzwischen auf Platz 149 von 189 Ländern, zwischen Mexiko und der Demokratischen Republik Kongo. Auch der EU-Fortschrittsbericht 2015 konstatiert massive Rückschritte bei der Meinungs- und Versammlungs-freiheit. Neue polizeiliche Ermittlungs-verfahren gegen Journalisten, Schrift-steller und die Nutzer sozialer Medien seien besorgniserregend. Tatsächlich wird jede kritische Berichterstattung durch drastische Maßnahmen unter-bunden: Razzien gegen Medienkon-zerne, fragwürdige Finanzkontrollen in Medienhäusern, zwangsweise Ent-

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28 Kommentare und Berichte

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eignungen von oppositionellen Zeitun-gen, willkürliche Entlassungen, ver-schärfte Kontrolle des Internets. Dut-zende Journalisten müssen sich wegen Beleidigung vor Gericht verantwor-ten. Aber auch die starke wirtschaft-liche Verflechtung der Medien führt zu vermehrter Selbstzensur. Fast je-der Medienkonzern ist gleichzeitig im Bau- oder Energiesektor tätig. Im Wett-rennen um staatliche Ausschreibungen haben die Eigentümer keine Chance, wenn sie die Regierung kritisieren.

Besonders umstritten ist das bereits Anfang 2015 verabschiedete Sicher-heitspaket. Nach Auffassung der Op-position bedeutet es einen entschei-denden Schritt auf dem Weg zum Polizeistaat. Die Befugnisse der Poli-zei wurden erheblich erweitert, ins-besondere bei Festnahmen, Durchsu-chungen, Demonstrationen und beim Schusswaffengebrauch. Unter ande-rem darf sie dort scharf schießen und Menschen 48 Stunden festhalten, oh-ne dass diese Kontakt zu einem Anwalt erhalten oder einem Haftrichter vorge-führt werden. Bereits zuvor hatte die Regierung die Kompetenzen des türki-schen Geheimdienstes ausgeweitet.

Das Schweigen der EU

Und wie verhalten sich bei alledem die Europäische Union und ihre stärkste Kraft, die Bundesrepublik Deutsch-land? Obgleich all diese besorgniserre-genden Entwicklungen enorme Rück-schläge für die türkische Demokratie bedeuten und das Abdriften in ein autoritäres System beschleunigen, ver-meidet die EU jede öffentliche Kritik, um die Türkei nicht als Türwächter in der Flüchtlingskrise zu verlieren.

Trotz der Gefährdung der Demo-kratie ist mit der Flüchtlingskrise aber auch Bewegung in den lange stagnie-renden EU-Beitrittsprozess mit der Türkei gekommen. Immerhin bietet dies auch eine Chance für eine gestei-gerte Einflussnahme auf Ankara. Das

allerdings setzt voraus, dass die EU ein klares demokratiepolitisches Sig-nal setzt und im Rahmen des EU-Bei-trittsprozesses operative Möglichkei-ten ergreift, um die türkische Demo-kratie zu stärken und einen Friedens-prozess zwischen der Regierung und der PKK konstruktiv zu unterstützen. Denn für eine tatsächlich nachhaltige Zusammenarbeit braucht es eine stabi-le, liberale und rechtsstaatliche Türkei. Entscheidende Bedeutung für eine de-mokratiepolitische Kehrtwende könn-te der Wiederaufnahme der Diskussion über eine neue türkische Verfassung zukommen. Aufgrund von massiven Differenzen zwischen den Parteien war diese Debatte de facto beendet worden. Nach der Wiedererlangung der absolu-ten Mehrheit hat die Regierung die Er-arbeitung einer neuen Verfassung er-neut auf ihre Agenda gesetzt – jedoch mit dem Ziel, ein Präsidialsystem ein-zuführen, was die Opposition wieder-um vehement ablehnt. Auch wenn ein Grundkonsens für eine neue Verfas-sung besteht, gibt es in Kernfragen – wie dem Staatsverständnis, der Staats-struktur und der Definition des Staats-bürgers – nur schwer überbrückbare Differenzen. Dennoch bietet die Ver-fassungsdebatte eine Chance für eine substanzielle Demokratisierung des Landes: eine zivile und demokratische Verfassung ist derzeit in aller Mun-de. Allerdings muss dafür das Verfas-sungsleitbild ein demokratisches und pluralistisches sein: Die fundamentalen Grundrechte und -freiheiten, ein libe-rales Verständnis von Staat und Nation und ein liberaler Minderheitenschutz müssen gesichert sein. Dies würde die türkische Demokratie substanziell stär-ken und auch den Weg zu einem Frie-den mit den Kurden ebnen.

Gegenwärtig ist die Regierung von alledem weit entfernt: Mit ihrem au-toritären Staatskurs läuft sie genau in die entgegengesetzte Richtung. Da-mit aber droht sie die Chance auf Frie-den und Demokratie endgültig zu ver- spielen.

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NACHRUF

Wir trauern heute gemeinsam um den Verlust eines ungewöhnlichen und großartigen Menschen. Andreas Buro war dies nicht nur für seine Nächsten und Freunde, sondern er hat – wie kaum ein anderer – über fast 60 Jahre hinweg außerparlamentarische Politik in der Bundesrepublik mitgeprägt.

Dies gilt zuallererst für die diversen Friedensbewegungen und -initiativen, angefangen mit der „Sag-Nein!“-Bewe-gung gegen die Wiederaufrüstung und der Internationale der Kriegsdienstgeg-ner in den 1950er Jahren über die Oster-märsche der 60er und die sie tragende Kampagne für Demokratie und Abrüs-tung bis zur neuen Friedensbewegung, die sich in den späten 70er und den frühen 80er Jahren an der Neutronen-bombe und dem Nato-Nachrüstungsbe-schluss entzündete – und es gilt für all die Initiativen, die bis heute versuchen, diese Impulse zu verstärken.

Die Zahl der Netzwerke und Zusam-menschlüsse, in denen Andreas über die Jahre seine Themen, sein Engage-ment und seine politische Urteilskraft eingebracht hat, ist kaum zu überschau-en – ich erinnere nur an das Netzwerk Friedenskooperative, den Dialog-Kreis Türkei-Kurdistan, das Forum Zivile Konfliktbearbeitung, die Internatio-nalen Ärzte zur Verhütung des Atom-krieges (IPPNW), die Helsinki Citizens‘ Assembly (HCA) oder das regionale Friedensnetz Usinger Land. Für diese enorme politische Lebensleistung wur-de er unter anderem mit dem Aachener

und dem Göttinger Friedenspreis aus-gezeichnet.

Das Geheimnis seines Durchhaltevermögens

Zu Beginn der 1970er Jahre hatte ich mir Andreas Buro, zufällig der gleiche Jahrgang wie mein leiblicher Vater, zum Wunsch- und Ersatzvater auserkoren. Er hatte mich an der Frankfurter Universi-tät für die „links“-Redaktion geworben, er förderte mich, schätzte meine Ideen und bald freundeten wir uns an. Was aber faszinierte mich, der ich damals im Milieu der besetzten Häuser des Frank-furter Westends in einer vom „Revolu-tionären Kampf“ geprägten politischen Subkultur lebte, an Andreas so sehr, dass er zu meinem Wunschvater wurde?

Es waren Haltungen und Eigenschaf-ten, die viele faszinierten, die Andreas näher kennenlernten: Verlässlichkeit, ein kühler analytischer Verstand, ver-ständnisvolle Wärme und eine große Bereitschaft, die Motive der nachwach-senden Generation zu verstehen – ge-paart mit der Bereitschaft, zentrale Ele-mente in das eigene Politikverständnis aufzunehmen. Was bei meinen eigenen Eltern, wie der großen Mehrheit ihrer Generation, massive Ablehnung und größte Befürchtungen auslöste, fand seine Unterstützung.

Aber Andreas verkörperte gleichzei-tig Eigenschaften und Haltungen, die in meiner eigenen Generation damals eher unpopulär waren – einer politischen Generation, in der Radikalität für viele zur Pose geworden war, die zur perma-nenten Selbstüberbietung nötigte.

Lob des langen Atems Nachruf auf Andreas Buro (1928 - 2016)

* Dies ist die leicht gekürzte Abschiedsrede für Andreas Buro, die Roland Roth auf dessen Trauerfeier in Hundstadt am 30. Januar 2016 gehalten hat.

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30 Nachruf

Das dazugehörende Sponti-Motto lau-tete: „Immer radikal, niemals konse-quent!“

Andreas stand stattdessen schon da-mals für ein konsequentes und dauer- haftes politisches Engagement. Er sig-nalisierte damit den Jüngeren, dass es zwar darauf ankommt, immer wieder neue zeitgemäße Formen des politi-schen Handelns zu erfinden – aber bitte solche politische Formen, die langfristig gelebt werden können. Dies sei schon deshalb angesagt, weil radikale gesell-schaftliche Veränderungen notwendig sind, um dauerhaft Frieden, Menschen-rechte und Demokratie in einer inter-nationalen Ordnung zu schaffen, in der diese „Rechte und Freiheiten voll ver-wirklicht werden können“ – wie es in Artikel 28 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte heißt. Solche Ver-änderungen können nicht über Nacht erreicht werden. Das Lob des langen Atems verknüpft mit der Bereitschaft, organisatorisch immer wieder neue Wege zu gehen, hat ihn zu einem wich-tigen Brückenbauer zwischen den poli-tischen Generationen werden lassen – eine Funktion, die Andreas, wenn ich es richtig sehe, ein Leben lang wahrge-nommen hat.

Worin aber besteht das Geheimnis seines Durchhaltevermögens und sei-ner enormen politischen Produktivität?

Ein Schlüssel liegt sicherlich in einem von Andreas für sich selbst und seine politischen Netzwerke immer wieder reklamierten Konzept: „sozia-le und politische Lernprozesse“. Er hat sich und uns immer wieder die Frage gestellt, wie emanzipatorische gesell-schaftliche Lernprozesse unter den jeweiligen gesellschaftlichen Bedin-gungen möglich werden können, wel-che widerständigen Motive aufzugrei-fen sind. Dazu braucht es, davon war Andreas überzeugt, immer erneuter Analysen der gesellschaftlichen Ver-hältnisse und der Akteure, die auf Ver-änderungen drängen.

Dazu gehört auch, die eigenen Lern-prozesse im Blick zu behalten. Andreas

hat dies in offener und gänzlich uneit-ler Form immer wieder getan. Er nennt sich zum Beispiel selbst einen „unpoli-tischen bürgerlichen Pazifisten“, als er Anfang der 60er Jahre dem jungen, von der Arbeiterbewegung geprägten Klaus Vack zunächst mit tiefem Misstrauen begegnete,1 bis er zur dann gemeinsa-men Grundüberzeugung gelangte, ra-dikale Gesellschaftsveränderung – in der Tradition der undogmatischen Lin-ken also „Sozialismus“ – sei nötig, um die menschlichen Möglichkeiten unse-rer Gesellschaft entfalten zu können.

Zum Nachdenken über Lernpro-zesse gehört es aber auch, enttäuschte Hoffnungen, wie zum Beispiel im Falle Vietnams, zu bearbeiten. Andreas hat sich früh für einen Internationalismus eingesetzt, der nicht revolutionaris-tisch und identifikatorisch kurzschließt, sondern sich nur im Austausch über wechselseitige Abhängigkeiten und Rückwirkungen entwickeln kann. Glo-bales Denken und Handeln war für ihn selbstverständlich, lange bevor „Glo-balisierung“ zur Signatur einer Epoche wurde. Andreas war nicht nur bis zu-letzt der friedenspolitische Sprecher des „Komitees für Grundrechte“, sondern auch sein „Außenminister“.

Sozialistisches Büro und die Zeitschrift »links«

Bei der Gründung des Sozialistischen Büros und der Zeitschrift „links“ im Jahr 1970 ging es Andreas und den anderen Initiatorinnen und Initiatoren darum, die politisch-kulturellen Auf-brüche der Außerparlamentarischen Opposition (APO), die bereits die letzte Phase der Ostermarschbewegung ge-prägt hatten, zu bewahren: eine neue politische Kultur, die auf Selbstorgani-sation und Selbstveränderung, auf Kon-sensprinzip statt auf Übermächtigung und Fraktionierung setzte. Als Beitrag

1 Vgl. das Geburtstagsbuch für Klaus und Hanne Vack, Komitee für Grundrechte und Demokra-tie, 1985, S. 35.

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Nachruf 31

„zur besseren Kommunikation der un-abhängigen Linken“ „ohne Monopolan-spruch“2 setzte das Sozialistische Büro einen Kontrapunkt zu den neugegrün-deten proletarischen Parteien und an-deren Dogmatisierungen und Radika-lisierungen im Zerfallsprozess der APO. „Links“ trat an gegen „den Konsum revolutionär anmutender Euphorien“. Auch im Rückblick erscheint das Sozia-listische Büro als „Insel der Vernunft“.

Aber die Gründung lebte auch vom Schwung der APO. Auf die selbstge-stellte Frage „Warum machen wir ‚links’ – eine sozialistische Zeitung“ heißt es in der ersten Ausgabe: „Anders als noch vor einigen Jahren ist die Frage nach einer unabhängigen sozialistischen Be-wegung heute in der Bundesrepublik aktuell“. Ihre Entwicklung „kann nur Prozesscharakter haben“. Gefordert war zudem eine neue, nicht autoritäre Ant-wort auf die Frage nach der internatio-nalen Kooperation der Linken“.3

In dieser Ausgabe begründete An- dreas, wieso er die „Kampagne für De-mokratie und Abrüstung“, die „Oster-marschbewegung“, die er wesentlich mitgeprägt hat, an ihr Ende gekommen sah. Es handelte sich aus seiner Sicht um wichtige Sammelbewegungen zu einer einzigen Thematik. Mit deren Auswei-tung und Vertiefung war es nicht mehr möglich, mit einer Stimme zu sprechen, da sich ein erhoffter Lern- und Annähe-rungsprozess der beteiligten Gruppen nicht eingestellt hatte und die vorhan-denen Widersprüche spätestens nach der militärischen Niederschlagung des „Prager Frühlings“ nicht mehr zu über-brücken waren.4

Dabei gibt er zu bedenken: „An be-stimmten Konzeptionen, die bisher die Arbeit der Ostermarschbewegung be-stimmt und diese Bewegung aus vielen anderen Versuchen der Vergangenheit positiv herausgehoben haben, wäre freilich festzuhalten: so vor allem an der Einsicht, dass oppositionelle Aktionen

2 Vgl. „links“, 0-Nummer, 4/1969.3 Ebd., S. 2.4 Ebd., S. 30 f.

nicht der Bestätigung scheinbarer oder echter eigener Radikalität, sondern der Ausweitung oppositionellen Bewusst-seins und oppositionellen Engagements zu dienen haben. Oppositionelle wer-den sich in der Aktion weiterhin auf zwei vielbelächelte Verhaltensweisen einrichten müssen: auf Frustrationen und auf Kompromisse“.5

Auf der Suche nach neuen gesellschaftlichen Strukturen

Was sich bei der Gründung bereits mo-tivisch ankündigt, macht Andreas Buro ein Jahrzehnt später konzeptionell deutlicher.6 Er bekräftigte das Ziel, qua-litativ neue gesellschaftliche Struktu-ren hervorzubringen. Der Weg dorthin werde durch soziale, emanzipatorische Massenlernprozesse ermöglicht und die Aufgabe sozialistischer Politik sei es, sie zu fördern und zu ermöglichen.

Andreas nannte in diesem Zusam-menhang verschiedene Motivquellen, wie zum Beispiel eine unmittelbare Betroffenheit, die den Anlass für Bür-gerinitiativen bieten, die Ausbreitung postmaterialistischer Werte wie Par-tizipation und Selbstverwirklichung, aber auch Verletzungen der morali-schen Identität, der Normen und Werte einer Gesellschaft durch eine Politik, die zum Beispiel den Völkermord in Vietnam als Verteidigung der Freiheit verkaufte. Nicht zuletzt erinnerte er an die Eindämmung durchaus vorhande-ner gesellschaftlicher Möglichkeiten, die bereits Herbert Marcuse in den 60er Jahren als surplus repression gegeißelt hatte.

Solche Protestmotive können sich verbrauchen und herrschaftlich um-gebogen werden. Um zu dauerhafter emanzipatorischer Motivation zu ge-langen, braucht es deshalb, so Andreas, positive neue Einbindungen: die „Ent-

5 Ebd., S. 31.6 Vgl. „Verschlungene Pfade. Lernprozesse und

Emanzipation“, „links“-Sondernummer, Mai 1980, S. 50-52.

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32 Nachruf

faltung alternativer Lebenszusammen-hänge, Projekte und Umgangsformen“.

Er begrüßt die ökologische Opposi-tion und die Anti-AKW-Bewegung als „zentrale Ergänzung“ linker Gesell-schaftskritik. „Hatte die außerparla-mentarische Opposition der 60er und 70er Jahre eine weitreichende Kritik der kapitalistischen Produktionsweise und der bürgerlichen Gesellschaft geliefert, so scheinen jetzt aus der Ökologiebewe-gung heraus Ansätze entwickelbar zu sein, die Antworten auf die Frage nach der Alternative und den Wegen zu ihr in den gemeinsamen Lernprozess einbrin-gen könnten“.7 Hoffnung, aber auch die vielen Konjunktive sind unüberhörbar.

Komitee für Grundrechte und Demokratie

„Lernprozesse“ taugt auch als Über-schrift für die Gründung des Komitees für Grundrechte und Demokratie, an der sich Andreas maßgeblich beteiligt hatte und dessen Sprecher er viele Jahre wur-de. Zu dessen Vorgeschichte gehören der Pfingstkongress des Sozialistischen Büros von 1976 und das sich anschlie-ßende Russell-Tribunal.

Politische Ausgangspunkte waren die Gefährdungen der Grund- und Menschenrechte und der Abbau der Demokratie in einer „zweiten Restaura-tionsphase“ der Bundesrepublik. Einige der Stichworte dürften heute vergessen oder selbstverständlich geworden sein: Berufsverbote, Hochsicherheitstrakte, die Situation in den Gefängnissen, Ein-schränkungen des Demonstrations-rechts, ein expansiver Verfassungs-schutz und dazugehörige Geheim-dienstskandale. Jedenfalls ist sich das Komitee in den 35 Jahren seiner Arbeit in diesen Zielsetzungen treu geblieben. Die Themen haben zwar vielfältige technologische Modernisierungen und politische Zuspitzungen erfahren, aber

7 Ebd., S. 71.

nichts an grundlegender Aktualität ver-loren, wenn wir uns die Skandale von NSA bis NSU und solche Diagnosen wie Postdemokratie oder monitory democra-cy anschauen.

Wer sich an das Engagement des Komitees – nicht zuletzt von Andreas – in der neuen Friedensbewegung er-innert, an die Präsenz des Komitees in vielen anderen Protesten vom Wend-land bis zu Occupy, generell an den Versuch, Menschenrechtspolitik mit den Mitteln sozialer Bewegungen zu betreiben und zivilen Ungehorsam in der Bundesrepublik heimisch zu ma-chen, der kann unschwer erkennen, dass hier erneut Elemente früherer Protest- und Bewegungsphasen im Sinne politi-scher und sozialer Lernprozesse bewahrt wurden.

Neue Initiativen kamen hinzu, wie beispielsweise Friedens- und Verstän-digungsprozesse inmitten von „heißen“ Kriegen wie in Ex-Jugoslawien („Ferien vom Krieg“) oder in akuten Konflikten durch die Organisation von Begegnun-gen zwischen palästinensischen und jü-dischen jungen Menschen.

Andreas hat ein großes politisches Freundschafts- und Engagement-Netz-werk hinterlassen. Lasst uns daran arbeiten, so viel wie möglich davon zu erhalten, zeitgemäß weiter zu entwi-ckeln und junge Leute zu gewinnen. Seine Grundidee, auf soziale und politi-sche Lernprozesse zu setzen, ist ebenso wenig obsolet, wie sein zentrales Ziel, eine Gesellschaft zu schaffen, in der Frieden, Menschenrechte und Demo-kratie zur ihrer DNA geworden sind. Er hinterlässt uns die Aufgabe, nach ak-tuellen emanzipatorischen Lernchan-cen und politischen Projekten auf der Grundlage sorgfältiger Analysen zu su-chen – auch wenn Frieden, Menschen-rechte, Demokratie und Sozialismus ak-tuell keine oder nur wenig Konjunktur haben, aber das macht diese Aufgabe umso dringlicher.

Roland Roth

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DEBATTE

In der letzten Ausgabe plädierte »Blätter«-Redakteur Albrecht von Lucke in seinem Beitrag »Staat ohne Macht, Integration ohne Chance« für einen starken Staat, um den »Gegnern des Rechtsstaats« nicht das Feld zu überlassen. Thomas Feltes, Rechtsprofessor an der Universität Bochum, widerspricht dem aus kriminologischer Perspektive.

Aufgrund der Silvesterereignisse von Köln und an anderen Orten der Re-publik sieht Albrecht von Lucke den „Rechtsstaat auf der Kippe“. Die fatale Botschaft von Köln laute: „Der liberale, tolerante Staat ist schwach und gegen-über seinen Gegnern nicht in der Lage, höchste Rechtsgüter, nämlich die Wür-de und körperliche wie sexuelle Un-versehrtheit von Frauen, zu schützen.“ Die Aussagen von Luckes implizieren zweierlei: Zum einen sollen es Gegner des Rechtsstaates gewesen sein, die für die Übergriffe in der Silvesternacht verantwortlich waren; zum anderen sei ein Rechtsstaat, der es nicht schafft (alle) seine Mitglieder zu schützen, ein schwacher oder gar kein Rechtsstaat mehr. Beides ist zu überprüfen.

Bislang weiß man relativ wenig über die Täter von Köln. Erst, wenn zumin-dest einige der ermittelten Tatver-dächtigen (bislang sind es rund 30, bei über 1000 angezeigten Taten) rechts-kräftig verurteilt worden sind, wird man hier Aussagen treffen können. Zu befürchten ist, dass aus verschie-denen Gründen (Unübersichtlichkeit der Situationen, Schwierigkeiten bei der Identifizierung), die Mehrzahl der Taten nicht aufgeklärt werden kann und auch viele derjenigen, die als tat-verdächtig von der Polizei registriert werden, nicht verurteilt werden.

Aber: Wieso sollen diese Täter (oder besser: Tatverdächtigen zum jetzigen Zeitpunkt) „Gegner des Rechtsstaa-tes“ sein? Sie wären es dann, wenn man Straftäter generell als „Gegner des Rechtsstaates“ ansehen würde. Dann allerdings müsste die Mehrheit der deutschen Männer entsprechend eingestuft werden. Kriminologische Studien zeigen, dass mehr als ein Drit-tel aller deutschen Männer bis zum Alter von 35 Jahren mindestens ein- mal strafrechtlich sanktioniert wur-den. Rechnet man Verfahrenseinstel-lungen oder nicht erkannte Straftaten hinzu (beispielsweise Drogendelikte, sexuelle Gewalt in der Familie), dann kommen wir auf weit über zwei Drittel. Tatsächlich, so zeigen Dunkelfeldstu-dien, begeht praktisch jeder Mann im Laufe seines Lebens mindestens ein-mal eine Straftat, wenn auch zumeist keine schwere.1

Daher sollte man mit dem Begriff „Gegner des Rechtsstaates“ vor-sichtig umgehen und ihn auf dieje-nigen beschränken, die tatsächlich den Rechtsstaat bekämpfen oder ihn abschaffen wollen, wie Terroristen oder auch Anhänger rechtsextremistischer Gruppierungen. Ansonsten würde

1 Bei den Frauen liegt die Quote deutlich dar-unter, was meist mit der „Männlichkeitskul-tur“ (bei Deutschen!) erklärt wird.

Brauchen wir den »starken Staat«?

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34 Thomas Feltes

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durch die inflationäre Verwendung des Begriffes dem Vorschub geleistet, was wir eigentlich – und gerade auch von Lucke – verhindern sollten und wollten: Die Rechtstreue der Mehrheit der Bürger würde leiden. Wenn alle Gegner des Rechtsstaates sind, dann brauchen wir diesen Rechtsstaat nicht mehr, und niemand müsste sich an Gesetze halten.

» Es gibt bislang keine Belege dafür, dass Flüchtlinge vermehrt straffällig werden.«

Hinzu kommt: Es gibt bislang keine Be-lege dafür, dass Flüchtlinge vermehrt straffällig werden oder es zu einer Zu-nahme sexueller Belästigungen durch Migranten oder Flüchtlinge gekom-men ist. Das Bundeskriminalamt gab im Oktober 2015 bekannt, dass Flücht-linge nicht häufiger straffällig werden als der Durchschnittsbürger und der Anstieg der durch Flüchtlinge began-genen Straftaten weitaus geringer ist als der Anstieg der Flüchtlinge insge-samt. Der Anteil der Sexualdelikte an den von ihnen begangenen Straftaten liege bei „unter einem Prozent“.

Der Rechtsstaat sei immer nur so stark, „wie das staatliche Gewalt-monopol anerkannt und durchset-zungsfähig ist“, meint von Lucke. Ein starker Staat aber sei unabdingbar, um Recht und Gesetz für alle, und gerade auch für die Schwächsten, durchzuset-zen. Worauf es ankomme sei die kon-sequente Durchsetzung der bestehen-den Polizei- und Strafgesetze. Sonst sei unser Rechtsstaat in Gefahr.

Wirklich? Wenn das zuträfe, dann müsste unser Rechtsstaat schon längst untergegangen sein, denn weder die Polizeigesetze noch die Strafgesetze werden „konsequent“ durchgesetzt. Und das ist gut so, nur so kann unser Rechtsstaat überleben.

Denn zum einen ignoriert der Ruf nach dem „starken Staat“ die krimi-

nal- und rechtstatsächlichen Fakten. Wir wissen anhand von Dunkelfeld-studien und Hochrechnungen, dass in Deutschland jährlich mindestens 20 bis 25 Mio. Straftaten begangen wer-den. Angezeigt bei der Polizei werden rund sechs Mio. Taten, als tatverdäch-tig von der Polizei ermittelt werden weniger als zwei Mio. Personen, und rechtskräftig verurteilt durch die Gerichte werden weniger als 800 000. Konkret bedeutet dies, dass nur bei jeder 30. Straftat eine Verurteilung erfolgt. Ist deshalb unser Rechtsstaat in Gefahr? Nein.

Denn zum anderen hat schon Hein-rich Popitz die „Präventivwirkung des Nichtwissens“ hervorgehoben.2 Diese Hypothese über die Stabilität des Nor-mensystems schreibt der Dunkelzif-fer eine normstabilisierende Kraft zu. Würde das tatsächliche Ausmaß von Normabweichungen bekannt, müsste dies das Normensystem schwächen, und bei Ahndung aller Normenbrüche würde das Normensystem kollabie-ren.3 Dann wäre der Rechtsstaat wirk-lich in Gefahr.

» Würde das tatsächliche Ausmaß von Normabweichungen bekannt, wäre der Rechtsstaat wirklich in Gefahr.«

Tatsächlich haben wir auch schon län-ger „rechtsfreie Räume“ in Deutsch-land, allerdings ohne dass dies die Normtreue der Bürger wesentlich be-einträchtigt hat. Die Polizei (beispiels-weise in Duisburg-Marxloh) spricht eher von „rechtsarmen“ Räumen – was verschiedenes meinen kann. Dies sollte

2 Heinrich Popitz, Über die Präventivwirkung des Nichtwissens. Dunkelziffer, Norm und Strafe, Tübingen 1968.

3 In einem Experiment wurde nachgewiesen, dass die Aufdeckung der Dunkelziffer tat-sächlich zu einer Erhöhung normverletzenden Verhaltens führt, siehe Andreas Diekmann, Wojtek Przepiorka, Heiko Rauhut, Die Prä-ventivwirkung des Nichtwissens im Experi-ment, in: „Zeitschrift für Soziologie“, 1/2011, S. 74-84.

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Brauchen wir den »starken Staat«? 35

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die sich vom Rest der Welt abschotten kann, tragen dazu bei, dass wir unse-ren überkommenen Sicherheiten nicht mehr gewiss sein können. Diese allge-meine Verunsicherung macht sich nun an denjenigen fest, die man konkret und persönlich für diese Lage verant-wortlich machen kann.

Psychoanalytisch kennen wir die-sen Mechanismus nur zu gut. Das Angebot von Sündenböcken, die uns derzeit geliefert werden, nehmen wir gerne an. Wir zeigen uns empört und mit dem Finger auf die (angeb-lich) Schuldigen. Je „unnormaler“ der Sündenbock, je mehr er sich von uns unterscheidet, desto besser funktio-niert der Mechanismus. Es ist immer das Andere, Fremde, Ausschließbare, auf das wir uns fokussieren. Indem wir Furcht und kollektive Frustration auf die Opfer übertragen, entlasten wir uns selber und können diejenigen ver-urteilen, die wir als verantwortlich für das Problem ansehen.

Auf diese Weise entlädt sich die kol-lektive Furcht und der Sündenbock stellt die kollektive Ordnung wieder her. Das ist der Kern des vom Kultur-anthropologen René Girard beschrie-benen Mechanismus, der auch gut im übertragenen Sinn funktioniert: Statt den Sündenbock zu lynchen, nutzen wir das Mittel der Propaganda, um diese Personen (Flüchtlinge) oder auch ein Volk (Nordafrikaner) zum Übel- täter zu stempeln.

» Es ist geboten, Integration zu for-dern und zu fördern, anstatt nach einem starken Staat zu rufen.«

Und da wäre schließlich noch das Argument, dass wir einen „starken Staat“ benötigen, um Recht und Ge-setz für alle, und gerade auch für die Schwächsten durchzusetzen. Schützt der Staat gegenwärtig tatsächlich die Ärmsten und Schwächsten nicht? Kri-minologisch kann man das durchaus

nicht geduldet werden, aber man muss sich fragen, warum diese Diskussion gerade jetzt und so intensiv geführt wird, zumal nachweislich weit größe-rer gesellschaftlicher Schaden durch Wirtschaftskriminalität, Regierungs-kriminalität und (auch staatliche) Kor-ruption verursacht wird. Allein die Wirt-schaftskriminalität verursacht jähr- liche Schäden von 4,6 Mrd. Euro und ist damit für über 50 Prozent des Gesamt-schadensvolumens aller in der Poli-zeilichen Kriminalstatistik erfassten Straftaten verantwortlich.4 Die Ver- folgung dieser Taten aber lässt tat-sächlich den Eindruck zu, hier einen „rechtsfreien Raum“ zu haben.

» Das Angebot von Sündenböcken, die uns derzeit geliefert werden, nehmen wir gerne an. «

Was also schreckt uns bzw. regt uns so auf an diesen „rechtsfreien Räumen“, und warum interessieren wir uns so wenig für Wirtschaftskriminelle, Ge-walt in der Familie, korrupte Politi-ker oder Sportfunktionäre? Vielleicht deshalb, weil die Kölner Täter gesell-schaftliche Tabus brechen? Wollen wir nur das wahrnehmen, was unseren Er-wartungen entspricht (Ausländer sei-en krimineller als Deutsche) und was unser Weltbild nicht in Frage stellt?

Sozialpsychologisch lässt sich das durchaus erklären. Sowohl die „Erwartbarkeit von Erwartungen“ (Luhmann), als auch die „selektive Wahrnehmung“ bzw. die „kognitive Dissonanz“ liefern uns Stichworte dazu. Vielleicht haben wir bisher weg- oder nicht richtig hingesehen, um nicht verunsichert zu werden.

Die enorme Kumulation der Krisen und die daraus resultierende Einsicht, dass wir in Deutschland nicht mehr auf einer Insel der Glückseligen leben,

4 BKA, Bundeslagebild Wirtschaftskriminalität 2014, S. 10.

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bestätigen, aber anders als gedacht: Die Beschwerdemacht und das Geld, um sich einen guten Anwalt zu leisten, sind bei den Armen und Schwachen eher nicht vorhanden, und deshalb fällt es ihnen schwer, ihr Recht durch-zusetzen oder sich gegen Anzeigen zu wehren. Ganz zu schweigen von den unbestrittenen sozialen Ursachen der Kriminalität: Denn nicht umsonst sind die Insassen unseres Strafvollzugs ein Spiegelbild der gesellschaftlich Abge-hängten und Abgeschriebenen. Und dabei spielt es keine Rolle, ob die Taten selbst oder die Verurteilung Ergebnis dieser Marginalisierung sind.

Es wäre daher geboten, Integration zu fordern und zu fördern, anstatt nach einem starken Staat zu rufen. Inso-fern ist von Lucke zuzustimmen, dass

die Integration in das deutsche Recht nicht ausreicht. Nur die Versorgung mit angemessenem Wohnraum, Aus-bildung und Arbeit sowie eine Fami-lienzusammenführung könnten die Probleme lösen.5 „Nur wenn die bei uns lebenden – und bei uns bleiben-den – Migranten eine echte Perspek-tive erhalten“, so von Lucke, „nur dann werden Ereignisse wie jene der Silves-ternacht in Zukunft mit Sicherheit der Vergangenheit angehören“. In der Tat. Doch die Täter in Köln hatten, nach allem was wir bislang wissen, diese Sicherheit gerade nicht. Auch das sollte uns zu denken geben.

5 Vgl. dazu auch Heinz Cornel u.a., Die Integra-tion von Flüchtlingen als kriminalpräventive Aufgabe, in: „Neue Kriminalpolitik“, 4/2015, S. 325 ff.

Ariadnes Politkrimis handeln von den dunklen Seiten der Wirk-lichkeit. Von blinden Flecken, Verdrängtem und Verschwiege-nem. Gute Krimis sind Fenster zur Welt. Zum Beispiel Südafrika:Aufarbeitung von Kolonialismus und Apartheid, Aufbruch zu demokratischer Gleichberechtigung – das ist Krimi pur.

Malla Nunn erhellt die Anfänge der Apartheid in den 1950ern. Die aufregende Erzählung schickt Detective Emmanuel Cooper und seinen Zulu-Partner Shabalala in die Abgründe der repres-siven, zutiefst patriarchalen Kolonialgesellschaft: Woran starb Amahle, und wer hat ihre Leiche mit Blumen geschmückt?

Charlotte Otter zeigt in ihrem rasanten Roman Südafrika heute: gezeichnet von der blutigen Geschichte seiner Verbrechen, zerrissen zwischen Profi tinteressen und sozialer Verantwortung. Journalistin Maggie Cloete geht einer Greenwashing-Affäre nach und stößt auf lang verscharrte Leichen und gegenwärtige Gewalt.

Südafrika

Malla Nunn: »Tal des Schweigens«Deutsch von Laudan & SzelinskiAriadne Kriminalroman 1207320 Seiten, 13 € (D)

Charlotte Otter: »Karkloof Blue«Deutsch von K. Kremmler u. E. LaudanAriadne Kriminalroman 1209288 Seiten, 13 € (D)

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KOLUMNE

Die Zahl derer, die für die extreme Rechte stimmen, hat sich in Frankreich binnen weniger Jahre von 15 auf 30 Pro-zent verdoppelt. In einer Reihe von Re-gionen genießt sie jetzt Zustimmungs-raten von bis zu 40 Prozent. Dass es so weit gekommen ist, liegt am Zusam-menspiel diverser Faktoren: am Anstieg der Arbeitslosigkeit und der Fremden-feindlichkeit, tiefer Enttäuschung über die Bilanz der regierenden Linken und schließlich am Aufkommen eines Ge-fühls, man habe so gut wie alles auspro-biert – jetzt sei es an der Zeit, es mit et-was ganz Neuem zu versuchen. Das ist der Preis für den desaströsen Umgang mit der Finanzkrise, die 2008 von den Vereinigten Staaten ausging, und die wir durch eigene Schuld in eine europäi-sche Dauerkrise verwandelt haben. Die Verantwortung dafür liegt bei Institu-tionen und politischen Entscheidungen, die sich als gänzlich unangemessen er-wiesen. Ganz besonders gilt das für die Eurozone mit ihren 19 Mitgliedsstaaten. Wir haben eine Einheitswährung, aber 19 unterschiedliche Staatshaushalte und Verschuldungsgrade, 19 verschiedene Zinssätze für Staatsanleihen, mit denen die Finanzmärkte nach Belieben speku-lieren, und schließlich 19 unterschiedli-che Unternehmenssteuersätze in unge-zügelter Konkurrenz miteinander – dies alles ohne einen gemeinsamen sozial- und bildungspolitischen Unterbau. So etwas kann unmöglich funktionieren, weder jetzt noch irgendwann.

Nur eine wirkliche, demokratische und soziale Neugründung der Eurozo-ne, dazu bestimmt, Wachstum und Be-schäftigung zu fördern, und gruppiert um einen kleinen harten Kern von Län-

dern, die gewillt sind, mit gutem Beispiel voranzugehen und sich ihre eigenen In-stitutionen zu schaffen – nur eine solche Neugründung wird den hasserfüllten nationalistischen Impulsen entgegen-wirken können, die jetzt ganz Europa bedrohen. Im vergangenen Sommer hat der französische Präsident François Hollande nach dem griechischen Fiasko begonnen, den Gedanken eines neu zu schaffenden Parlaments der Eurozone wiederzubeleben. Frankreich sollte jetzt seinen Hauptpartnern einen konkreten Vorschlag hierzu unterbreiten und auf eine Kompromisslösung hinarbeiten. Geschieht dies nicht, so werden allein jene Länder die Agenda bestimmen, die sich für nationale Abschottung entschie-den haben – das Vereinigte Königreich, Polen und andere mehr.

Wichtig wäre, dass die führenden Politiker Europas – insbesondere die französischen und die deutschen – zu-nächst einmal ihre Irrtümer zugeben. Man kann ohne Ende über Reformen al-ler Art, debattieren, die in diversen Län-dern der Eurozone durchgeführt werden sollten: geänderte Ladenschlusszeiten, effektivere Arbeitsmärkte, Liberalisie-rung des Fernbusverkehrs, Ruhestands- und Rentenstandards und so weiter. Einige dieser Reformvorstöße sind sinn-voll, andere weniger. Wie auch immer – Versäumnisse auf diesem Gebiet er-klären keineswegs, warum das BIP der Eurozone zwischen 2011 und 2013 plötz-lich regelrecht abstürzte, während doch die US-Wirtschaft sich im gleichen Zeit-raum bereits erholte. Inzwischen dürfte außer Frage stehen, dass die wirtschaft-liche Erholung in Europa dadurch abge-würgt wurde, dass man zwischen 2011

Ein New Deal für EuropaVon Thomas Piketty

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und 2013 zu hastig versuchte, Haus-haltsdefizite zu beschneiden – und nicht zuletzt auch dadurch, dass in Frankreich die Steuern viel zu stark erhöht wurden. Die Anwendung realitätsblinder Haus-haltsregeln hat dafür gesorgt, dass das BIP der Eurozone noch immer nicht das Niveau von 2007 erreicht hat. Erst die verspäteten EZB-Interventionen und der neue Haushaltsvertrag von 2012 (der den Europäischen Stabilitätsmechanis- mus ESM mit einem Budget von 700 Mrd. Euro schuf und den Übergang zur Schuldenvergemeinschaftung ermög-licht), konnten schließlich das Feuer löschen – ohne aber die zugrunde lie-genden Probleme zu beheben. Die wirt-schaftliche Erholung bleibt zaghaft und die Vertrauenskrise innerhalb der Euro-zone hält an.

Was muss jetzt geschehen? Wir sollten eine Schuldenkonferenz der Eurozonen-mitglieder organisieren – ganz nach dem Muster der nach dem Zweiten Weltkrieg abgehaltenen, die damals besonders Deutschland entlastete. Ziel wäre es, die öffentliche Verschuldung insgesamt zu verringern, ausgehend von einem Verteilungsschlüssel, der auf den seit Krisenbeginn aufgelaufenen Schulden-zuwächsen basiert. In einer ersten Phase könnte man alle Staatsschulden, die 60 Prozent des BIP überschreiten, in einen Gemeinschaftsfonds überführen. Für die Rückzahlung sollte ein Moratorium bis zu dem Zeitpunkt gelten, an dem jedes Land sich wieder auf – verglichen mit 2007 – robustem Wachstumskurs be-findet. Alle historische Erfahrung weist in diese Richtung: Von einer bestimmten Schwelle an wird es sinnlos, jahrzehnte-lang Schulden zurückzuzahlen. Ratsa-mer ist es da – selbst aus dem Blickwin-kel der Gläubiger –, die Schuldenlast zu erleichtern, damit in Wachstum inves-tiert werden kann. Ein solches Vorgehen erfordert eine neuartige, demokratische Governance, eine Regierungsführung, die zugleich sicherstellt, dass derartige Katastrophen sich nicht wiederholen. Konkret gesagt erfordert die Einbezie-hung der Steuerzahler wie der nationa-

len Staatshaushalte die Schaffung eines eigenen Parlaments der Eurozone, das sich – proportional zur Bevölkerungs-zahl eines jeden Landes – aus Abge-ordneten der nationalen Parlamente zusammensetzt. Dieser Parlamentskam-mer sollte auch das Recht übertragen werden, eine gemeinschaftliche Unter-nehmenssteuer für die Eurozone zu be-schließen, weil andernfalls das Steuer-dumping und Skandale wie „LuxLeaks“ nie aufhören werden. Diese Gemein-schaftssteuer würde es ermöglichen, ein Investitionsprogramm zu finanzieren, das Infrastrukturen und Hochschulen zugute kommt. Wir sollten massiv in Innovationen und in die Jugend inves-tieren. Europa hat alle Trümpfe in der Hand, das beste Sozialmodell der Welt bieten zu können: Hören wir endlich auf, unsere Chancen zu verspielen!

Künftig sollte auch über das Niveau der Staatsverschuldung in diesem neu-en Rahmen entschieden werden. In Deutschland fürchten manche, in einem solchen Parlament in die Minderheit zu geraten, weshalb sie es vorzögen, an der Logik automatischer Haushaltskriterien festzuhalten. Doch war es ja in erster Linie die Umgehung der Demokratie durch rigide Regeln, die uns an den Rand des Abgrunds geführt hat. Es ist an der Zeit, mit dieser Logik zu brechen.

Würden Frankreich, Italien und Spa-nien (mit ihrem rund 50prozentigen An-teil an der Bevölkerung und am BIP der Eurozone gegenüber Deutschland mit kaum über 25 Prozent) präzise Vorschlä-ge für ein Eurozonenparlament vorlegen, so würde man eine Kompromisslösung finden müssen. Sollte Deutschland sich, was wenig wahrscheinlich ist, stur ver-weigern, so würde es sehr schwierig, die Anti-Euro-Diskurse noch zu entkräften.

Bevor wir bei einem Plan B und dem Euroausstieg landen, für den die extre-me Rechte wirbt und der auch der ex- tremen Linken immer verlockender er-scheint, sollten wir lieber endlich einem echten Plan A eine reelle Chance geben.

© Le Monde, Übers. Karl D. Bredthauer

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KURZGEFASST

Evi Hartmann: Wir Sklavenhalter. Warum die Globalisierung keine Moral kennt, S. 41-49

Sklaverei ist ein Phänomen der Antike. Oder doch nicht? Evi Hartmann, Professorin für Betriebswirtschaftslehre, argumentiert: Jeder westliche Bürger in Zeiten der Globalisierung hält durch seinen Konsum Sklaven. Das ist eigentlich auch allen bewusst. Doch um an der gewohnten Lebens-weise nichts ändern zu müssen, werden moralische Skrupel verdrängt. Empathisches Handeln sei gefragt, um der Moral endlich zum Durchbruch zu verhelfen.

Thomas Gebauer: In falscher Sicherheit. Keine Stabilität ohne Menschenrechte, S. 51-60

Sicherheit steht mehr denn je im Fokus internationaler Politik. Dennoch scheint es, als lasse die Sicherheit weltweit immer weiter nach. Thomas Gebauer, Geschäftsführer der Hilfsorganisation medico international, sieht ein zentrales Problem im ausgrenzenden Verständnis von Sicherheit. Sie werde bloß als Schutz der westlichen Bevölkerung und ihres Lebens-stils begriffen. Statt einer Versicherheitlichung der Politik in diesem Sinne plädiert er für eine universelle Verwirklichung der Menschenrechte.

Paul Scheffer: Gesucht wird ein neues Wir. Für einen realistischen Huma-nismus in der Integrationsdebatte, S. 61-71

Die Integrationsdebatte hat sich erheblich verschärft. Wer darf nach Europa im Allgemeinen und nach Deutschland im Speziellen? Und wen können wir wie integrieren? Der Soziologe Paul Scheffer hinterfragt vor diesem Hintergrund die Politik der offenen Grenzen. Er plädiert für einen Ansatz, der sowohl gegenüber den Flüchtlingen als auch gegenüber der eigenen Gesellschaft moralisch vertretbar ist.

Sebastian Dörfler und Julia Fritzsche: Die Verachtung der Armen. Vom Bild des faulen Arbeitslosen zur Figur des »Asylschmarotzers«, S. 73-80

Flüchtlinge sollen möglichst schnell in den Arbeitsmarkt integriert wer-den. Doch zunächst werden viele von ihnen einen Zwischenhalt im Hartz-IV-System einlegen. Dort erwartet sie die große Disziplinierung, kritisie-ren die Journalisten Sebastian Dörfler und Julia Fritzsche. Dahinter steht eine ideologische Figur, die seit der Industrialisierung zyklisch wieder-kehrt: die Verachtung der Armen.

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Micha Brumlik: Das alte Denken der neuen Rechten. Mit Heidegger und Evola gegen die offene Gesellschaft, S. 81-92

Rechtes Denken ist in Europa momentan auf dem Vormarsch, wie der Erfolg von nationalistischen Bewegungen und rechtspopulistischen Par-teien zeigt. Doch die neue Rechte steht auf einem Fundament alten Den-kens, analysiert Micha Brumlik, Mitherausgeber der „Blätter“. Als zen-trales Merkmal sieht er eine Politisierung des Raumes im Rahmen einer „eurasischen“ Ideologie sowie eine Sakralisierung der Politik, also eine Ausrichtung auf das Transzendente.

Rudolf Hickel: Macht und Ohnmacht der EZB. Warum Europa eine gemeinsame Finanz- und Wirtschaftspolitik braucht, S. 93-100

Die Europäische Zentralbank steht vor allem in Deutschland seit langem in der Kritik. Ihre Politik des billigen Geldes schade den Sparern, heißt es. Für populistisch hält „Blätter“-Mitherausgeber Rudolf Hickel diese Vor-würfe. Die EZB versuche zu Recht, eine Deflation abzuwenden. Alleine aber könne sie das nicht schaffen. Vielmehr bedürfe es einer europäischen Finanzpolitik, die Investitionen fördert.

Jürgen Scheffran: Kettenreaktion außer Kontrolle. Vernetzte Technik und die Gefahren der Komplexität, S. 101-110

Unsere Welt und nicht zuletzt die Technik werden immer komplexer. Doch die erhöhte Komplexität hat Auswirkungen auf die Stabilität tech-nischer und sozialer Systeme. Jürgen Scheffran, Professor für Klimawan-del und Sicherheit, beschreibt unkontrollierte Kettenreaktionen und daran anschließende Eskalationsdynamiken: Hochtechnisierte Kriege, der Kli-mawandel und die dadurch ausgelösten Flüchtlingsbewegungen zeugen davon.

Steffen Vogel: Graphic Novels oder Der Siegeszug des Comics, S. 111-120

Comics erfahren seit einiger Zeit eine erhöhte Akzeptanz bis hinein ins Bildungsbürgertum. Entscheidend dazu beigetragen hat die Vermarktung anspruchsvoller Bände als „Graphic Novel“. Es wäre jedoch falsch, hinter diesem Etikett allein eine kommerzielle Strategie zu sehen, so „Blätter“-Redakteur Steffen Vogel. Vielmehr schafft das Label Graphic Novel einen Freiraum für erzählerische und formale Experimente.

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»Kapitalismus ist eine wunderbare Sache. [...] Aber Kapitalismus interessiert sich sicher nicht

für die Belange der Ärmsten.« – Bill Gates

Wann immer in fernen Landen eine Fabrik brennt, einstürzt oder ihre Arbeiter in Umständen hält, die dem Sklavenelend im alten Rom

bedrückend nahekommen, geistert in unseren Hinterköpfen herum: Das kann doch nicht, das darf nicht sein! Das muss man abstellen! Tote Fabrik-arbeiter sind eine schlimme Sache, und wie bei allen solchen schlimmen Dingen glauben viele, dass man das schlimme Ding einfach abstellen könne. Stehlen die Leute im ersten Warenhaus der Geschichte, kann man Diebstahl verbieten und hat gute Chancen, dass das Verbot eine deliktabwehrende Wirkung hat: triviales Problem – triviale Lösung. Leider ist die Globalisie-rung alles andere als trivial. Sie ist so ziemlich das Komplexeste, was derzeit für Geld zu haben ist. Selbst der Begriff der Komplexität ist zu einfach dafür. Die Globalisierung ist nicht komplex, sondern, wie das neueste Modewort aus dem Tempel der Ökonomen es beschreibt: dynax. Also dynamisch und komplex; mit Betonung auf der zweiten Silbe.

Als Marken-Metapher für die Globalisierung passt noch besser als der Diebstahl im Warenhaus die Büchse der Pandora. Ist der Deckel erst mal ab, gibt es kein Zurück mehr. Und nichts führt diesseits des globalisierungs- beendenden Zusammenbruchs der westlichen Produktionssysteme, des Ver-siegens der Ölreserven, von Pandemien und der globalen Verarmung zurück in den Stand der globalisierungslosen Lauterkeit. Oder wie Kleist es in sei-nem Aufsatz über das Marionettentheater sagte: Nach dem Sündenfall gibt es keine Rückkehr zur Unschuld.

Wir werden die Globalisierung so schnell nicht los. Sie klebt uns an den Sohlen wie Kaugummi. Die Frage ist nicht, wie wir Pandoras Büchse wieder schließen können. Sondern: Was fangen wir mit dem an, was ihr entkam? Wie viel in China hergestelltes Spielzeug dürfen wir guten Gewissens unse-ren Kindern schenken? Gehen Sandalen aus Bangladesch? Kann man heut-zutage überhaupt noch irgendetwas beschaffen oder konsumieren, ohne sich

Wir SklavenhalterWarum die Globalisierung keine Moral kennt

Von Evi Hartmann

* Der Beitrag basiert auf dem aktuellen Buch der Autorin, „Wie viele Sklaven halten Sie? Über Globa-lisierung und Moral“, das soeben im Campus Verlag erschienen ist.

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eines kapitalen Moralverbrechens schuldig zu machen? Das sind Fragen, die der aufgeklärte Zeitgenosse stellen könnte, Fragen, mit Hilfe deren wir etwas intelligentere Resultate aus einem dummen Spiel herausholen könnten. Wir stellen sie mehrheitlich nicht, weil wir meinen, dass sich die Umstände doch inzwischen bessern.

„Immerhin sterben heute weniger Billiglohnarbeiter als früher”, erklärte mir jüngst ein freundlicher Zeitgenosse zum Stand des Wohlergehens „sei-ner” Produktionssklaven in den Schwellenländern. Zum einen: Das muss man sich auf der Zunge zergehen lassen, da muss man „reingetreten” sein, wie Tucholsky sagte: Es sterben weniger Menschen für unseren Konsum? Als ob ein Toter doppelt so gut wäre wie zwei Tote. Was ist das für eine buchhal-terische Verirrung, so mit Menschenleben umzugehen?

Und zum anderen: Warum zeitigen die Bemühungen der Hersteller, Lie-feranten und Logistiker tatsächlich in den letzten Monaten messbare Ver-besserungen? Warum sterben „weniger” Menschen für das, was wir täglich anziehen? Weil sich nun doch wider Erwarten die Menschlichkeit in der Globalisierung durchsetzt? Weil das dumme Spiel intelligenter wird?

Mitnichten. Es liegt nicht an der Intelligenz, es liegt am Druck.

Druck schlägt Moral

Die Savar-Katastrophe illustriert das Spielprinzip „Druck statt Moral” auf traurige Weise. Bevor in der Stadt in Bangladesch mehr als 1100 Arbeite-rinnen und Arbeiter ums Leben kamen, hatten von den großen Modelabels lediglich Tommy Hilfiger, Calvin Klein und Tchibo ein qualifiziertes Abkom-men für Gebäudesicherheit und Brandschutz unterschrieben, das bei der Umsetzung dann leider teilweise von den lokalen Lieferanten unterlaufen worden war. „Die anderen spielten auf Zeit – bis ihnen die Arme der Toten aus den Trümmern der Fabriken entgegenragten”, kommentierte Karin Steinberger in der „Süddeutschen Zeitung“. „Plötzlich war es sehr schlecht fürs Geschäft, nicht zu unterschreiben.”

Also unterzeichneten auch andere westliche Textiler ähnliche Vereinba-rungen. Wir dürfen vermuten: Seither sterben weniger Menschen pro rund-gestrickter Unterhose. Warum? Weil sich endlich die Moral durchgesetzt hat? Leider ist dies höchstens dann der Fall, wenn man Druck und Angst als Ins-trumente der Moral interpretiert. Karin Steinberger: „Es war der Druck der Öffentlichkeit, die Wut der eigenen Kunden, die Angst vor Gewinnverlust, die Macht der Käufer. Nicht etwa Einsicht oder Mitgefühl.” Das ist der sprin-gende Punkt, das beherrschende Prinzip des Spiels: Es geht nicht um Moral, sondern höchstens um moralische Empörung und damit doch wieder nur um blanken Druck.

Die Globalisierung braucht keine Moral. Sie arbeitet mit dem Gegen-teil: Druck. Die Hersteller ordern unter dem Preisdruck des Marktes bei den Sweatshops statt bei einheimischen Textilfabriken. Die Arbeiter in den Sweatshops arbeiten unter dem Druck ihrer schrecklichen Armut. Die Konsu-

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menten als „Opfer” des allgegenwärtigen Konsumdrucks protestieren unter dem Druck der Bilder von zertrümmerten Fabriken. Die Hersteller reagie-ren auf diesen Druck der Öffentlichkeit, den die Medien unter dem Druck schrumpfender Auflagen sensationsbewusst schüren. Wenn die Logistik der Motor der Globalisierung ist, ist Druck der Motor der globalen Wirtschaft.

Druck regiert und reguliert die Globalisierung. Nicht Politik, Einsicht, Vernunft und nicht: Moral, Menschlichkeit, Fairness, Nachhaltigkeit oder – Gott bewahre! – der gesunde Menschenverstand.

Ich habe hunderte Berichte über die Zustände entlang moderner Liefer- und Versorgungsketten gelesen. Moral? Nicht einmal das Wort taucht auf. Medien berichten über Massenmord und Kinderschänder und empören sich moralisch. Über eine gefestigte moralische Haltung oder dezidierte morali-sche Grundsätze, die dieser Empörung eigentlich Anlass geben sollten, liest man eher selten.

Das letzte Tabu

Warum kennt die Globalisierung keine Moral? „Was weiß ich?”, entgegnete mir ein Vorstandsmitglied jüngst eher hilflos als unwirsch: „Ich bin auch kein Moralphilosoph!” Ein interessanter Hinweis. Hat die Wirtschaft quasi hin-ter dem Rücken der Wirtschaftsprofessoren klammheimlich die Moral an die zuständigen Lehrstühle für Philosophie outgesourct? Gewiss: Auch mir ist bewusst, dass es fähige Kolleginnen und Kollegen unter den Moralphiloso-phen und -theologen gibt. Diese Experten mögen mir meine Kühnheit ver-zeihen, in ihrem angestammten Revier zu wildern.

Aber dass das Thema „Ethik & Moral” bis heute nicht wirklich großflä-chig in die real praktizierte Wirtschaft vorgedrungen ist, lässt es zumindest verzeihlich erscheinen, wenn sich zur Abwechslung jemand aus der Ökono-mie mit diesem Thema beschäftigt. Viel mehr Schaden als bereits vorhanden kann ich wohl kaum anrichten. Das ist der Punkt: Der Schaden ist da, aber es werden nur Symptome diskutiert. Die Ursachen des Schadens unterliegen der Tabuisierung.

Die Fabrik ist abgebrannt, die Fassade rußschwarz, Menschen und Maschi-nen verbrannt – wie schlimm! Wie katastrophal! Wie mitleidheischend! Aber warum hat die Fabrik gebrannt? Sendepause in der Diskussion.

Natürlich: Brandschutz und Arbeitsbedingungen! Unmenschlich, entwür-digend! Aber keiner fragt danach, welcher Antrieb hinter dieser Unmensch-lichkeit steckt. Oder danach, was im Kopf eines Einkäufers vorgehen muss, der durch ein Heer von Lohnsklaven watet und dann am andern Ende des Saals im gut klimatisierten Büro des Fabrikanten die Order für 50 000 Press-teile unterschreibt. Welches Gen fehlt ihm? Warum spielt er das Spiel so, wie er es spielt?

Und auf der Seite der Konsumenten: Was muss ein Mensch denken oder besser: wie viel verdrängen, der morgens von hundert toten Näherinnen hört und nachmittags beim Klamottendiscounter den Pulli aus Bangladesch

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kauft? Macht es der BWLer als „Spielprofi” denn besser als der Konsument als Laienspieler? Auch das ist nicht der Fall.

Fragen Sie einen BWL-Absolventen einmal nach, nein, nicht nach seiner, sondern nach der Moral. Er wird Sie groß anschauen. Er weiß das nämlich auch nicht besser als Sie, der Sie in Ihrer Funktion als Konsument das Spiel sozusagen mit Amateurstatus spielen. Natürlich: Es gibt Ausnahmen – aber häufig eben leider aus persönlichen und nicht aus curricularen Gründen.

Im Namen der Grausamkeit

In der Betriebswirtschaftslehre lernt schon das Erstsemester den entschei-denden Unterschied: Es gibt ökonomische und es gibt „außerökonomische” Kriterien. Die Ökonomie beschäftigt sich, daher der Name, mit den ökonomi-schen. Raten Sie, zu welcher Kategorie Moral und Anstand gehören.

Polemisch ausgedrückt: Der voll ausgebildete Betriebswirtschaftler kommt mit seinem Bachelor oder Master in der Tasche von der Uni, angelt sich den ersten Job, arbeitet sich nach oben, managt seine Supply Chain und ist eines unschönen Tages perplex, wenn eine Fabrik in Malaysia einstürzt. Er kann diese eingestürzte Fabrik agil und flexibel durch eine Second Source ersetzen, wie das in der Fachsprache heißt: Er beherrscht das Spiel perfekt. Aber er schläft nachts schlecht – und weiß nicht, warum.

Medien, Politiker, Internet und seine 14jährige Tochter nennen ihn einen „Ausbeuter” – und er fühlt sich unschuldig verfolgt. Er weiß, dass er ohne eigenes Zutun plötzlich in der Moral-Arena gelandet ist – aber von Moral hat er keine Ahnung. Niemand hat sie ihm beigebracht! Kein Professor hat einen Ethik-Schein von ihm verlangt. Ja, klar, in Wirtschaftsgeschichte haben sie mal die „Tugenden des ehrbaren Kaufmanns” durchgenommen. Oder der legendäre Moral-Aufsatz von Horst Albach stand auf der Literaturliste vom Proseminar – aber hey! Das war Wirtschaftsgeschichte, und kein Studi liest die Literaturliste bis unten durch!

Moral? Nie gehört, nie gelesen, nie wirklich drüber nachgedacht. Und wohl auch nicht im Elternhaus diskutiert, geschweige denn gelebt. Das war bislang nicht weiter schlimm? Weil erst die Globalisierung die peinliche Morallücke unserer Wirtschaftslenker und Massenkonsumenten offenbarte? Das wäre schön.

Es mag viele angesichts der auflaufenden Globalisierungskritik erstaunen, aber: Das grausame Spiel ist viel älter. Wer die Globalisierung unserer Zeit für die Mutter der Amoral hält, hat noch nie von Mobbing gehört. Oder von Squeezing. So heißt der Fachbegriff für eine Praxis, die lange vor der Glo-balisierung direkt vor unserer Nase praktiziert wurde – und wird. Wörtlich übersetzt: Squeezing ist, den Lieferanten so lange und heftig im Preis zu drü-cken, bis er wie eine ausgepresste Zitrone nicht mehr kann, schließlich in die Insolvenz geschickt und durch einen neuen ersetzt wird. Es gibt Unterneh-men, die beherrschen das Auspressen ihrer Zulieferer perfekt. Lieferanten-Squeezing gab es schon immer, und es passiert heute noch jeden Tag, auch

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bei Ihnen und mir vor der Haustür. Auch das war schon ein grausames Spiel. Der einzige Unterschied zur Globalisierung: Sie „spielt” dieses Leitmotiv nun auf der globalen Weltbühne. Doch schon vor der Globalisierung trugen wir Socken und benutzten Haushaltsgeräte, für deren Herstellung irgendein armer einheimischer Lieferant jahrelang systematisch in den Ruin getrieben wurde. Besuchen Sie auf der Schwäbischen Alb doch gelegentlich die vielen hundert Fabrikruinen der Textilindustrie. Das weiß in den betreffenden und betroffenen Unternehmen auch jeder. Das sagt bloß keiner laut, denn das ist ein Tabu. Oder haben Sie den Ausdruck „Lieferanten-Squeezing” jemals in Ihrer Tageszeitung gelesen? Oder von Ihrem Kreis- oder Landtagsabgeord-neten gehört? Warum wohl nicht?

Gehen Sie ins nächste Industriegebiet, werfen Sie einen Ziegelstein, und Sie treffen drei Lieferanten, deren Arbeitsplätze am seidenen Faden des durch Squeezing ultimativ optimierten Preisdrucks hängen. Wenn diese ausgepressten Firmen dann bei der nächsten Konjunkturdelle „plötzlich” insolvent werden, munkelt man üblicherweise von „Missmanagement” oder „Marktbereinigung”. Keiner erkennt oder sagt die Wahrheit: Das war ein ast-reiner, jahrelanger, preisbedingter Wind-down, eine inoffizielle, aber höchst wirksame Stilllegung des Unternehmens samt seiner Arbeitsplätze. Und nie-mand redet darüber, ob und wie das mit dem Terminus „Soziale Marktwirt-schaft” vereinbar ist.

Oft wissen nicht einmal die Mitarbeiter der eliminierten Firmen, warum der Chef ihr Gehalt nicht mehr bezahlen kann. Platzt dem ruinierten Unter-nehmer irgendwann der Kragen und er klagt jene an, die ihn ruiniert haben, dann hört er regelmäßig was? Richtig: „Aber wir stehen doch selbst unter immensem Preisdruck!” In Spielbegriffen formuliert: „Wir spielen doch alle dieses Spiel! Also beschwer dich nicht, wenn du verlierst!” Das stimmt. Dass wir alle unter Preis-, Kosten- oder Budgetdruck „spielen”, ist absolut richtig – aber seit wann befreit Preisdruck von Moral? Bloß weil das Spiel das so gebie-tet? Man kann sich doch nicht bloß dann moralisch verhalten, wenn die Kasse gut gefüllt ist. Es ist eher umgekehrt: Erst wenn die Kasse leer ist, zeigt sich die Moral. Aber sie zeigt sich im wirklichen Leben eben nicht. Es zeigt sich etwas ganz anderes.

Der Vater der Globalisierung...

Wer beim Einkauf vor gefüllten Supermarktregalen oder E-Commerce- Warenkörben steht/sitzt, bekommt unterschwellig den Eindruck: Die Globa-lisierung ist das Eldorado des Konsumenten! Das ist ohne Frage ein Zusam-menhang, aber kein ursächlicher. Nicht Konsumwut war der Vater der Glo-balisierung. Nicht sie hat das Spiel ins Rollen gebracht. Schon Adam Smith hat das erkannt, als er gesagt haben soll, dass der Bäcker uns nicht die lecke-ren Brötchen backt, weil er uns so lieb hat, sondern weil seine Frau ein neues Auto braucht (in heutigen Konsumäquivalenten ausgedrückt). Es gibt eben keinen gütigen Vater, der irgendwann sagte: „Lasset uns die Schätze der

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Welt dem braven Konsumenten erschließen! Lasset das große Globalisie-rungsspiel beginnen und möge der Bessere gewinnen!” Die Globalisierung ist kein Kind des Konsums. Sie ist der Sprössling eines Sklavenhalters.

Ich weiß: Die Entstehung der Globalisierung hat nicht nur eine Ursache. Jedes Elend hat viele Väter. Konzentrieren wir uns daher ceteris paribus, unter gleichen Umständen, auf einen: Squeezing.

Zugespitzt formuliert: Nicht die Mehrung der Konsumfülle war der Auslö-ser für die Globalisierung, sondern das Elend der Lieferanten und der Squee-zing-Koller der Preisdrücker. Die immer schlimmer ausgepressten westeuro-päischen Lieferanten sagten sich in ihrer Not irgendwann: „Bevor wir uns an der heißen Preiskartoffel die Finger vollends verbrennen, geben wir sie weiter – nach Asien!” Während die Squeezer auf der anderen Seite des Mark-tes dasselbe aus anderen Beweggründen sagten: „Europäische Lieferanten? Ausgepresst! Wie Flasche leer! Wegwerfen und auf zu neuen Ufern!” Es ist so einfach: Die Squeezer-Karawane zieht weiter!

Das ist so augenfällig, aber keiner will es sehen: Globalisierung ist die Fortsetzung des einheimischen Lieferanten-Squeezing, in fremden Ländern. Globalisierung ist exportiertes Squeezing. Imperialismus via Preismecha-nismus. Früher musste man noch mit Panzern ein Land erobern, heute muss man lediglich das Spiel exportieren. In der Betriebswirtschaftslehre oft ver-schämt verschwiegen, ist der fatale Zusammenhang in der Volkswirtschafts-lehre bekannt. Dort heißt diese Strategie der Globalisierung jedweder exter-ner Effekte im weitesten Sinne schlicht: Beggar thy neighbour.

...und ihr Schutzpatron

Passenderweise lässt sich deshalb der heilige St. Florian als Schutzpatron der Globalisierung benennen. Das ist zwar polemisch, entspricht aber dem geläufigen Sprichwort: Heiliger St. Florian, verschon’ mein Haus, zünd’ andere an! Denn das derzeit herrschende Prinzip globalen Wirtschafts-handelns ist ja: Wem die Preislast im Westen zu schwer wird, der hängt sie einfach seinem nichts ahnenden Nachbarn in Asien in Form von Orders, Outsourcing oder Offshoring an den Hals – und bringt ihn damit an den Bettelstab. Eine moderne, andere Form der Beggar-thy-Neighbour-Politik: angestrebtes Wirtschaftswachstum auf Kosten anderer. Wer hierzulande und auch in ganz Westeuropa keinen mehr findet, der sich squeezen lässt, zieht weitere Kreise, bis er endlich auch den Schwellenländern die Segnungen des irrsten Spiels des Jahrhunderts bringen kann. Das ganze schöne Schneeball-system der Druckweitergabe lässt sich dann euphemistisch unter „Globali-sierung” zusammenfassen.

Ich möchte den kennenlernen, der diese beschönigende Beschreibung erfunden hat – ein wahres Marketing-Genie. Das verhält sich in ungefähr so, als würde man die neueste Grippe-Epidemie als „modernen neuen Freizeit-spaß” bezeichnen. Kein Mensch würde hinter einem Begriff wie „Globali-sierung” doch das exportierte Elend vermuten: Es geht uns wenigen hierzu-

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lande nur deshalb so gut, weil es ganz vielen woanders so schlecht geht. Das ist unmoralisch? Nein, das ist direktes Resultat des obersten Spielprinzips: Druck. Über den Daumen gerechnet eineinhalb Milliarden privilegierter Menschen im Westen konsumieren rund 80 Prozent aller Güter dieser Welt. 80 Prozent der Menschheit kriegen nur den kümmerlichen Rest auf den Tel-ler. Das ist ungerecht? Im Grunde bestätigt das nur das Pareto-Prinzip.

Und Pareto regiert unser Leben. Zählen Sie selber nach. Mit 20 Prozent Ihrer Bekannt- und Verwandtschaft verbringen Sie 80 Prozent Ihrer Zeit. Die mehrheitlichen 80 Prozent Ihrer Verwandtschaft sehen Sie nur beim Geburtstag vom Erbonkel, bei Taufen und Beerdigungen. Das wissen wir. Wenn es um Verwandtschaft geht. Wenn es um die Globalisierung geht, ver-gessen wir den guten Pareto recht schnell und dass im Prinzip 20 Prozent der Menschheit – wir – 80 Prozent des Wohlstands annektiert haben, sodass 80 Prozent der Menschheit – die anderen – mit nur 20 Prozent der Güter der Welt in die Röhre schauen. Leidet der Konsument darunter oder der westliche Manager?

Selbst profitgierige Manager leiden

Ich rede gern mit Managern über Moral. Gewiss: Es gibt die harten Hunde, die nicht nur keinerlei Gewissensbisse verspüren, wenn sie irgendeinen armen asiatischen Schlucker bis auf die Knochen auspressen, sondern die außerdem noch ein Fass aufmachen: „Das spart uns wieder 20 000 auf den kompletten Auftrag! Der Bonus ist sicher!”

Es mag sich uns „Normalen” der Magen dabei umdrehen – aber solange Bewerbergespräche ohne Ethik-Screening geführt werden und solange der CPO, der oberste Einkäufer einer Firma, meist mit Vorstandsrang, dem Preis-drücker seinen Bonus mit Handschlag aushändigt, gleicht die Wirtschaft dem Halter eines scharf gemachten Dobermanns, der die Aufregung der Leute nicht versteht, wenn sein Hundchen Joggern an die Wade geht. Wo gehobelt wird, da fallen Späne. Wer den Sumpf trockenlegen will, darf nicht die Frösche fragen.

Es gibt einen ganzen Duden dieser Floskeln, mit denen die Scharf-macher im Management ihre Unmoral bemänteln. Auch wenn die Öffent-lichkeit von der veröffentlichten Meinung gerne eines anderen indok- triniert wird: Das sind die Ausnahmen, die schwarzen Schafe – auch wenn die schwarzen Schafe auffällig oft prominent sind. Die Mehrheit der Mana-ger ist sich im Gegensatz zur Mehrheit der Konsumenten durchaus täg-lich bewusst, welche Gräuel im Namen der Globalisierung begangen wer-den. Was nutzt ihnen dieses aufgeklärte Bewusstsein? Was fangen sie damit an? Sie denken sich den Schiller (Wallenstein): „Leicht beieinan-der wohnen die Gedanken / Doch hart im Raume stoßen sich die Sachen.” Ein Manager kann in Gedanken an der Unmoral der Globalisierung leiden, doch in seinem Verhalten weiter an der geübten Unmoral festhalten. Eben weil er in dem Dilemma feststeckt, das Schiller beschreibt.

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Denn obwohl Manager sich gerne als Macher und Solisten darstellen lassen, ist die in die Hierarchie eingebettete Führungskraft in vielen Belangen eher Lemming als Löwe: weitgehend ein Konsenstier. Wobei es auch hier gran-diose Ausnahmen gibt. Abseits der Ausnahmen werden jedoch nur ganz oben einsame Entscheidungen getroffen. In der Mitte traut sich kaum eine(r), auch nur für einen Packen Kopierpapier ohne sechs Unterschriften das Büro-materiallager zu betreten. Wie gesagt: abzüglich Ausnahmen. Das funktio-niert noch beim Kopierpapier. Bei der Moral bricht die Aufsplitterung der Entscheidungsgewalt zusammen: Fürs Kopierpapier kriegt jeder Manager seine sechs Unterschriften. Für die Moral kriegt er nicht mal zwei.

Das moralische Versagen – des Systems

Denn hat sich tatsächlich mal eine(r) die heroische Entscheidung abgerun-gen, den eigenen Vorgesetzten mit moralischen Bedenken zu behelligen, erwidert dieser ihm/ihr mit hoher Wahrscheinlichkeit: „Glauben Sie mir: Auch mir tun die Lieferanten leid! Aber ich bin dem Aufsichtsrat verpflichtet! Und den Shareholdern! Ich würde ja gerne! Aber mir sind die Hände gebun-den!” Und schwupps, ist die Moral verschwunden! Eben noch war sie da, jetzt ist sie weg. Im Ernst: Jeden Tag werden weitaus rentablere, innovativere, populärere und kreativere Ideen vom fehlenden Konsens gekippt, als es eine unbequeme Sache wie die Moral jemals sein könnte. Ein Manager schlägt ein „todsicheres Projekt” mit einer gigantischen Rendite vor – aber der Vorge-setzte verzieht dabei das Gesicht? Die Idee ist gekillt – schneller schlägt kein Auftragskiller zu. Daraus jedoch zu schlussfolgern, dass Führungskräfte sich nur mal rasch höheren Orts der Moral entledigen müssen, um dann fröhlich trällernd schlimmer als die Heuschreckenplage über Schwellenländer her-zufallen, ist eine Unterstellung. Der Manager, der mit blutiger Moralnase von seinem Vorgesetzten oder jedem übergeordneten Gremium zurückkehrt, schlägt statt in verschreckten Schwellenländern mit auffallender Häufigkeit eher bei Seminaren und Tagungen spätabends an der Hotelbar auf.

In Ermangelung eines vorgesetzten Ohres teilen sich die vom Gewissen geplagten Führungskräfte dann eben notgedrungen der zufällig anwesen-den Professorin mit. Die Dialoge, die sich dabei ergeben, sind so absurd wie tieftraurig; exemplarisch:

„Mir tun die armen Kerle in Südafrika leid. Aber was will man machen?”„Die Arbeiter in Ihrem südafrikanischen Werk streiken?”„Ja, leider. Wir wollten dieses Jahr 20000 Einheiten durchjagen – jetzt

werden es bloß 14 000. Dabei kann ich es den Leuten da unten nicht verden-ken – aber sagen Sie das mal meinem Chef. Ich habe es heute versucht ...”

„Sie haben gegenüber Ihrem Vorgesetzten moralische Bedenken wegen der Arbeitsbedingungen dort geäußert?”

„Ja, natürlich! Wenn Sie mal dort gewesen wären ...”„Aber wie kann das sein? Wie kann das Ihr Vorgesetzter dulden? Sie haben

doch auch Ihre Richtlinien zur Corporate Social Responsibility!”

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Wir Sklavenhalter 49

Blätter für deutsche und internationale Politik 3/2016

„Was hat CSR mit Moral zu tun?” – Gute Pointe. Ich weiß nicht, wie viele Millionen Euro bis heute in CSR-Kampagnen gesteckt wurden – und dann werden diese millionenschweren Investitionen durch den Manager an der Hotelbar mit einer simplen, resignativen Geste vom Tisch gewischt: Was hat Corporate Social Responsibility mit Moral zu tun? Gesellschaftliche Ver-antwortung des Unternehmens? Ja, natürlich, gewiss, immerhin, immerzu! Es sei denn, die Kerle fangen an zu streiken. Dann ist schnell Schluss mit CSR. Dann hat plötzlich nie einer was von CSR gehört. Was kein ausschließ-lich akustisches Phänomen sein muss. Möglicherweise ist die Corporate Social Responsibility tatsächlich ein Widerspruch in sich, eine konstruktive Unmöglichkeit.

Ich versuche keinesfalls, unmoralische Manager in Schutz zu nehmen. Es fällt jedoch auf, dass die grassierende Amoral der modernen Wirtschaft weniger eine Charakterfrage des Einzelnen als eine Pathologie des Systems zu sein scheint. Nicht nur der einzelne Manager spinnt, sondern auch sein Koordinationsapparat. Das Spiel ist so krank wie der Spieler. Die Wirtschaft krankt wie auch der Wirtschaftende. Das Verblüffende daran: Dieses Koordi-nationsversagen hat wesentlich nichts mit Moral zu tun.

Das System versagt moralisch. Und das Individuum versucht, wenigstens mit halbwegs intaktem Gewissen aus dem Schlamassel rauszukommen. Die Gewinne der Globalisierung werden thesauriert, ihre Kosten individuali-siert. Neulich meinte ausgerechnet eine durchgestylte Boutique-Verkäufe-rin: „Eigentlich müssten wir auf einige Teile aus Asien 5 Euro Wiedergut-machungszuschlag erheben.“ Eine gute Idee. Doch realisiert wurde sie bis heute nicht.

Ende des ersten Teils. Der zweite Teil folgt in der Aprilausgabe der „Blätter“.

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Blätter für deutsche und internationale Politik 3/2016

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Blätter für deutsche und internationale Politik 3/2016

F lüchtlingen beizustehen, ist ohne Frage ein Gebot der Stunde – nicht zuletzt angesichts des dramatischen politischen Rechtsrutsches in vie-

len europäischen Ländern. Dennoch gilt es – über die Hilfsbereitschaft hin-aus – sich auch darüber Klarheit zu verschaffen, wie die globalen Verhält-nisse politisch zu gestalten sind, damit Menschen gar nicht erst verzweifelt umherziehen müssen und der Hass keine Chance hat.

In den letzten Monaten sind immer wieder Aufrufe erschienen, die uns an Werte wie Mitmenschlichkeit und Solidarität gemahnen. Die meisten dieser Appelle münden in der Forderung, endlich auch die Fluchtursachen anzu-gehen. Eine Forderung, auf die sich, so scheint es, alle einigen können: Sie schmückt Bundestagsreden ebenso wie die Spendenaufrufe von Hilfsorga-nisationen und die Flugschriften von Flüchtlingsinitiativen. Fragen wir aber danach, was denn mit „Fluchtursachen“ gemeint ist, wird die Sache meist vage, mitunter konfus. Allerdings verstehen die eilig einberufenen Krisen-stäbe unter Bekämpfung von Fluchtursachen vor allem ein effektives Flucht- und Migrationsmanagement, das nicht die Ursachen der Flucht im Blick hat, sondern allein die Flucht selbst. Dabei scheint selbst die Zusammenarbeit mit autoritären Regimen opportun. Solche fatalen Strategien bedürfen drin-gend der Korrektur.

Die Herausforderung, die damit verbunden ist, dürfen wir nicht unter-schätzen. Es geht nicht um ein paar ideologische Scharmützel, sondern um die Auseinandersetzung mit hegemonialen Verhältnissen und – darin ein-gewoben – mit tiefgreifenden sozialen Verunsicherungen. Einen ersten Hin-weis auf das Ringen, das vor uns liegt, liefert eine Äußerung des Bundes-innenministers über die Lage in Afghanistan – eines der Herkunftsländer, aus dem zahlreiche Menschen nach Deutschland geflohen sind: „Wir sind uns mit der afghanischen Regierung einig, dass die Jugend Afghanistans und die Mittelschichtsfamilien in ihrem Land verbleiben sollen und dieses aufbauen“, erklärte Thomas de Maizière Ende Oktober vergangenen Jahres. Deutsche Soldaten hätten das Land sicherer gemacht; zudem sei viel Ent-wicklungshilfe geleistet worden. „Da kann man erwarten“, so de Maizière weiter, „dass die Afghanen in ihrem Land bleiben.“

Migration, Frieden, Sicherheit: Die drei großen Themen der gegenwär-tigen Krisenlagen sind hier auf bemerkenswerte Weise miteinander in

In falscher SicherheitKeine Stabilität ohne Menschenrechte

Von Thomas Gebauer

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Beziehung gesetzt – bemerkenswert nicht nur, weil hier auf infame Weise die argumentative Grundlage dafür geschaffen wird, Afghanistan zu einem sichereren Herkunftsland erklären zu können, sondern vor allem, weil hier ein eigentümlicher Begriff von Sicherheit auftaucht.

Der Afghanistankrieg: Ein eigentümlicher Begriff von Sicherheit

Denn auch dem Minister dürfte nicht entgangen sein, dass in Afghanistan Krieg herrscht. Dieser Krieg ist auch deshalb noch nicht beendet, weil die intervenierende Nato bereits vor langer Zeit die Chance auf Frieden verpasst hat. Gewiss, anfangs haben die Afghaninnen und Afghanen die fremden Truppen durchaus mit hohen Erwartungen empfangen. Nach Jahrzehnten eines verheerenden Bürgerkrieges erhofften sie sich Unterstützung beim Wiederaufbau ihres Landes; sie wollten ihrer entrechteten Lage entkommen und verlangten nach sozialer und wirtschaftlicher Entwicklung.

Aber genau darum drehte es sich bei der Entsendung der Soldaten nie. In den Debatten, die im Bundestag im Herbst 2001 geführt wurden, ging es nicht um die Solidarität mit Afghanistan, sondern um die Solidarität mit den Ver-einigten Staaten von Amerika. Der damalige Bundesverteidigungsminister Peter Struck bekannte einmal, dass am Hindukusch die Sicherheit Deutsch-lands verteidigt werde – und ließ so keinen Zweifel daran, dass es zualler-erst um eigennützige Interessen ging und nicht um die Bedürfnisse und Rechte der afghanischen Bevölkerung. Die Vorgaben für den Militäreinsatz in Afghanistan kamen aus den USA. Erklärtes Ziel war nicht die Entwicklung des Landes, sondern dass von Afghanistan künftig keine Gefahr mehr für die Sicherheit der Vereinigten Staaten und die globale Ordnung ausgehen dürfe. Es ging, wie dies neokonservative Vordenker schon frühzeitig betont haben, um die Schaffung eines von feindlichen Kräften befreiten Raumes.1

Dieses Ziel erhofften sich die Interventionstruppen über einen Pakt mit den alten Mudschaheddin-Führern und Warlords zu erreichen. Diese sollten fortan für Stabilität sorgen und erhielten mit der Rückkehr an die Macht die Chance, sich nach Kräften selbst zu bereichern. Es ist bis heute ein Rätsel, wie deutsche Politikerinnen und Politiker glauben konnten, ausgerechnet mit staatsfeindlichen Kräften einen Staat aufbauen zu können und wie aus-gerechnet mit einer korrupten Machtelite eine inklusive Wirtschaft entste-hen sollte.

Ja, in Afghanistan wurde auch Entwicklungshilfe geleistet – eine Hilfe, die aber mehr dazu diente, in der deutschen Öffentlichkeit Akzeptanz für den Militäreinsatz zu schaffen und in Afghanistan selbst den Schutz der Soldaten zu erhöhen. Auch viele zivile Helfer hatten in den zurückliegenden Jahren den Eindruck, dass nicht die Soldaten für ein sicheres Umfeld sorgen soll-

1 Vgl. Robert Kagan, Macht und Schwäche. Was die Vereinigten Staaten und Europa auseinander treibt, in: „Blätter“, 10/2002, S. 1194-1206; ders., Macht und Mission. Der Mythos vom amerikani-schen Isolationismus, in: „Blätter“, 4/2007, S. 431-441 sowie Thomas P. M. Barnett, Die neue Welt-karte des Pentagon. Mit einer Liste künftiger Konfliktherde und Interventionspunkte, in: „Blätter“, 5/2003, S. 554-564.

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ten, sondern umgekehrt die zivile Hilfe zur Absicherung der Präsenz der Sol-daten beizutragen hatte.

Eine solche Sicht legen auch die Zahlen nahe: Nach bald 15 Jahren inter-nationalen „Engagements“ liegt Afghanistan im Human Development Index auf Platz 169 in einer Liste von insgesamt 187 Ländern; im Korruptionsin-dex auf Platz 172 von 175 Ländern. Mit Blick auf die 1 bis 2 Billionen Dollar, die der Einsatz inzwischen verschlungen hat – Deutschland soll bis heute 36 Mrd. beigesteuert haben –, ein mehr als dürftiges Ergebnis.2

Angesichts dessen kann es nicht verwundern, dass viele Afghaninnen und Afghanen die Hoffnung auf den Aufbau ihres Landes längst verloren und nur noch eines im Sinn haben: möglichst schnell das Weite zu suchen. Seit letzten Oktober haben jeden Monat 100 000 Menschen das Land verlassen, und es heißt, dass rund zwei Millionen Einwohner lieber heute als morgen gehen würden – und eben das irritiert die deutsche Politik.3

Die traurige Pointe: Just als der Innenminister mit dem Gedanken lieb- äugelte, Afghanistan zu einem sicheren Land zu erklären, warnte das Außen-ministerium vor Reisen nach Afghanistan und verlegten deutsche Entwick-lungshelfer ihren Dienstsitz vorsorglich von Afghanistan nach Bonn.

Das normative Konzept der Menschenrechte

Das alles verweist auf den hochproblematischen Kern des derzeit herrschen-den Sicherheitsdiskurses: Wenn heute von Sicherheit die Rede ist, werden die Gefahren grundsätzlich im Außenverhältnis verortet; Sicherheit, so die Konsequenz, entsteht in Abgrenzung zu anderen.

Es ist bezeichnend, dass sich in den Risikoanalysen einflussreicher Think-tanks in Washington oder in Berlin kaum eine Zeile findet, in der die Ursa-chen für die gegenwärtig in der Welt herrschenden Bedrohungen mit der politischen, ökonomischen und kulturellen Vorherrschaft des Nordens in Verbindung gebracht werden. Nicht der marktradikale Kapitalismus mit all seinen negativen Auswirkungen auf die Lebensumstände der Menschen im Süden gilt als Problem, sondern das, was aus ihm resultiert: der wachsende Bevölkerungsdruck, die Verslumung der Städte, die Gewalt, die Migration. Nicht die Schleppnetzfischerei europäischer und asiatischer Riesentraw-ler ist das Problem, sondern die Piraterie, mit der Kleinfischer zu überleben versuchen. Nicht die milliardenschweren EU-Agrarsubventionen stehen im Fokus, sondern die Flüchtlinge aus Afrika, die sich auf den Weg nach Europa machen, weil die Erträge ihrer Landwirtschaft mit den subventionierten Pro-dukten aus Europa nicht konkurrieren können.

Es ist das ausgrenzende Moment, das den Begriff der Sicherheit so proble-matisch macht. Wer um Sicherheit bemüht ist, versteht Sicherheit meist nur

2 Vgl. DIW Berlin, Eine erste Schätzung der wirtschaftlichen Kosten der deutschen Beteiligung am Krieg in Afghanistan, Wochenbericht, 21/2010, S. 9.

3 Vgl. Vormarsch der Taliban: Regierung rechnet mit steigenden Flüchtlingszahlen aus Afghanistan, www.spiegel.de, 12.10.2015.

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selektiv: als die eigene Sicherheit bzw. als eine Sicherheit, die an bestimmte Territorien bzw. Privilegien gebunden ist. Tatsächlich drehen sich die sicher-heitspolitischen Überlegungen der die Welt dominierenden Mächte nur um die Absicherung eines begrenzten Teils von Menschen, genauer: um die Absicherung jener imperialen Lebensweise, die einige auf Kosten vieler füh-ren. In dieser Form folgen die herrschenden Sicherheitsstrategien vorrangig der Logik der ökonomischen Globalisierung: Sie sichern die rentablen Regio-nen der Welt vor den Zonen der Ausgegrenzten und Überflüssigen. Und dies sowohl im gesellschaftlichen Binnenverhältnis als auch im globalen Kontext. Auf diese Weise werden ausgerechnet diejenigen in ihren Lebensumständen verunsichert, die am meisten sozialer Sicherung bedürften: die sozial Aus-gegrenzten, die Chancen- und Mittellosen.

Der problematische Charakter des Sicherheitsbegriffes ist auch der Grund, warum das Konzept der Human Security, das 1994 das „Weltentwicklungs-programm der Vereinten Nationen“ (UNDP) vorgestellt hat, kritisch zu sehen ist. Gedacht als Gegensatz zu staatlichen Sicherheitskonzepten ist dieses Konzept doch vage geblieben und konnte so mitunter zur Legitimierung von „humanitären Interventionen“ missbraucht werden.

Statt in die Fallen des Sicherheitsdiskurses zu laufen, ist das stärkere Kon-zept der Menschenrechte zu bevorzugen. Zentrales Prinzip der Menschen-rechte ist das Prinzip der Universalität. In den Menschenrechten lebt der Anspruch auf Gleichheit, selbst dann noch, wenn Rechte durch Macht und Interessen gebeugt werden. Die Anrufung von Menschenrechten drängt auf eine Politik des Ausgleichs, die Logik von Sicherheit hingegen kann sich mit Abschottung begnügen.

Wie der Neoliberalismus nach Afghanistan kam

Aber noch einmal zurück zu Afghanistan. Denn zur Begründung der Entsen-dung von Soldaten hat die Politik immer wieder auch auf den Schutz der Men-schenrechte verwiesen. Fast schon schien es, als sei die Bundeswehr zu einem bewaffneten Arm von Amnesty International geworden. Dabei wurde über-sehen, dass Menschenrechte kein bloßes Attribut einer wie auch immer gear-teten menschlichen Natur sind, sondern das Ergebnis von gesellschaftlichen Aneignungsprozessen. Die Verwirklichung der Menschenrechte gelingt nur dort, wo sie gesellschaftlich gesichert und materiell unterfüttert werden. Nur wo es eine funktionierende öffentliche Daseinsvorsorge gibt, sind auch die sozialen Rechte verwirklicht. Genau diese materielle Absicherung der Men-schenrechte aber wurde in Afghanistan systematisch untergraben.

Mit Blick auf die wirtschaftliche Entwicklung Afghanistans wären bei-spielsweise protektionistische Maßnahmen notwendig gewesen: die Sub-ventionierung des kleinbäuerlichen Weizenanbaus etwa oder der Schutz der wenigen damals noch existierenden afghanischen Kleinunternehmen und Handwerksbetriebe durch Importzölle. In den Augen der Interventions-mächte, allen voran den USA, aber waren solche Vorschläge des Teufels. Die

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Wiederankurbelung der Wirtschaft könne man getrost den Marktkräften überlassen, hieß es stattdessen. Mitunter schien es, als ob schon das Erwägen von Alternativen zum herrschenden neoliberalen Paradigma verboten war.

Diese Unterlassung ist nicht nur den politisch Verantwortlichen, sondern auch zahlreichen Experten anzulasten. Auch im Kreise von Hilfsorganisa-tionen konnte man sich engagiert über sicherheitspolitische Fragen, über Governance-Modelle, Frauenrechte oder Projekte zur Förderung der Zivil-gesellschaft austauschen – ohne dass die Frage aufkam, wie all diese Ideen materiell und damit nachhaltig gesichert werden sollen.

In Afghanistan hat die von den Interventionsmächten erzwungene Libera-lisierung der Wirtschaft dazu geführt, dass heute die einzig nachhaltig gesi-cherte Sphäre der Wirtschaft die Drogenökonomie ist. Ansonsten dominieren die Spekulation mit Immobilien sowie das Geschäft mit den Interventions-truppen, die sich früher oder später aus dem Land zurückziehen werden.

Unter solchen Bedingungen hat Frieden keine Chance. Das ist übrigens keine allzu neue Erkenntnis. Schon die Propheten im Alten Testament wuss-ten, dass Frieden nicht das Ergebnis von Sicherheit ist, sondern von Gerech-tigkeit. Der Gerechtigkeit Frucht wird der Friede sein, heißt es bei Jesaja. Offenbar ist es notwendig, diesen profan anmutenden Zusammenhang heute immer und immer wieder gegen eine fast schon mythische Überhöhung von Sicherheit klarzustellen.

Failed States als Folge der Globalisierung

Afghanistan aber ist kein Einzelfall. Vergleichbare Entwicklungen sind – mit jeweils spezifischen Prägungen – auch in vielen anderen Teilen der Welt zu beobachten. Bei aller Verschiedenheit, die zwischen Afghanistan, Mali oder Guatemala auszumachen ist, kommen in den Veränderungsprozessen, die diese Länder in den letzten Jahrzehnten erfahren haben, gemeinsame Tendenzen zum Ausdruck. Sie alle zeigen Merkmale von sogenannten Fai-led States, die sich bei näherer Betrachtung als Folgen der Globalisierung, genauer: als Folgen der globalen Entfesselung des Kapitalismus erweisen.

Denn lässt man das euphemistische Gerede vom „globalen Dorf“ beiseite, entpuppt sich die Globalisierung – so wie sie bislang stattgefunden hat – zuallererst als eine ökonomische Strategie. Ziel war nicht die Schaffung von weltbürgerlichen Verhältnissen, sondern die Wiederankurbelung der in den 1970er Jahren ins Stocken geratenen Kapitalverwertung.

Neue Profite versprach damals allein noch eine Internationalisierung der Produktionsabläufe, weshalb der weltweite Waren- und Kapitalverkehr liberalisiert werden musste. Das Versprechen, dass dabei auch etwas für die Armen abfallen würde, hat sich als Trugschluss erwiesen. Statt zu einem „Trickle-down-Effekt“, wie es sich manche Entwicklungspolitiker erhofft hatten, kam es zu dessen Gegenteil: zur Umverteilung von unten nach oben – die Reichen wurden reicher, die Armen ärmer. Gerade einmal ein Prozent der Weltbevölkerung besitzt heute die Hälfte des weltweiten Vermögens.

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Selbst das Davoser Weltwirtschaftsform hat inzwischen eingestehen müssen, dass sich im Zuge der Globalisierung das Risiko für soziale Verunsicherung vergrößert hat. Folgt man dem US-amerikanischen Fund for Peace, dann waren 2015 in 16 Staaten hohe bzw. sehr hohe Alarmzeichen von Fragilität auszumachen, so zum Beispiel in Somalia, in Haiti oder der DR Kongo. (Zum Vergleich: 2005 waren es 7 Staaten.) Aber auch der Zustand in Mali, Bangla-desch, Kenia und acht weiteren Ländern gilt heute als alarmierend.4

Im Zuge der globalen Entfesselung des Kapitalismus, oft begleitet von Kriegsökonomien, sind die Staatswesen vieler Länder mitunter bis zur Unkenntlichkeit ausgehöhlt bzw. auf repressive Machtapparate reduziert worden. Unter solchen Umständen sorgen nicht mehr demokratisch legiti-mierte Institutionen für die Sicherheit der Menschen, sondern traditionelle Clan- und Familienstrukturen, Warlords, Privatarmeen oder kriminelle Netzwerke. Ein besonders dramatisches Beispiel ist Mexiko, dessen Staats-wesen heute auf höchst prekäre Weise mit der organisierten Kriminalität ver-flochten zu sein scheint.

Pragmatischer Realismus statt Utopie

Zu Recht beklagen zahlreiche Politiker diese Entwicklungen. Aber statt den Ursachen nachzuspüren, beschränkt sich die Politik zumeist auf bloßes Kri-senmanagement. Mit allen Mitteln soll der herrschende Status quo – und mit ihm die Ungleichheit – gesichert werden: Statt über die Ländergrenzen hin-weg auf sozialen Ausgleich und Integration zu drängen, bleibt es bei punktu-eller Gefahrenabwehr. Man handelt, wenn wieder einmal ein Krise lärmend von sich reden macht.

In dieser „ganz, ganz unruhigen Welt“, so Angela Merkel, gebe es nur eine Chance: „Auf Sicht fahren.“ Der utopische Überschuss, der einst zur Grün-dung der Vereinten Nationen geführt hat und auch noch die Politik eines Willy Brandt prägte, ist einem pragmatischen Realismus gewichen. Dieser will nichts mehr verändern, sondern ist nur noch darum bemüht, bestehende Privilegien und die sie begründenden Machtverhältnisse abzusichern. Infolgedessen ist die Idee, den Frieden in der Welt über eine allgemeine auf Integration drängende wirtschaftliche und soziale Entwicklung zu för-dern, einer „Versicherheitlichung von Politik“ gewichen. Diese zielt letztlich auf Abschottung – und damit auf Exklusion – und richtet selbst ihre Entwi-cklungs- und Menschenrechtspolitik nur noch auf Gefahrenabwehr aus.

So nimmt es nicht wunder, dass der „UN-Wirtschafts- und Sozialrat“ (ECOSOC), der 1946 bei der Gründung der UNO gleichbedeutend mit dem „UN-Sicherheitsrat“ konzipiert wurde, heute kaum noch eine Rolle spielt.

Auf Dauer aber können Ansätze, die allein auf Gefahrenabwehr setzen und dabei selektiven Sicherheitsstrategien folgen, nicht erfolgreich sein.

4 Vgl. die Übersichten des The Found for Peace, Fragile States Index, Rankings verfügbar seit 2005, Analysen für die Jahre ab 2011: http://fsi.fundforpeace.org/rankings-2015, http://fsi.fundforpeace.org/tables/fsiindex2005.php.

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Heute prägen wachsende Bedeutungs- und Perspektivlosigkeit, fehlende Arbeitsplätze, die Folgen des Klimawandels, Hunger, Gewalt und Kriege den bitteren Alltag der meisten Menschen im globalen Süden. Dass solche Lebensumstände in Gewalt münden können, sollte ebenso wenig verwun-dern wie die Tatsache, dass sich immer mehr Menschen auf den Weg machen und ein besseres Leben suchen.

Nur die wenigsten von ihnen kommen dabei nach Europa. Die meisten Flüchtlinge landen in den Slums der Städte ihres Landes, manche in den Nachbarländern. Und die, die zu uns kommen, sind nicht die Ärmsten der Armen. Die schaffen es in der Regel nämlich nicht einmal, ihre Dörfer zu verlassen – und sind ihrem Schicksal damit hoffnungslos ausgeliefert: Über 300 Millionen Menschen verloren seit dem Ende des Ost-West-Gegensatzes aufgrund von Armut ihr Leben. Das sind mehr Opfer als in all den Kriegen des 20. Jahrhunderts zusammen. Man muss kein allzu großer Pessimist sein, um vorauszusagen, dass dieses stille, hierzulande kaum wahrgenommene elende Verrecken der Menschen anhalten wird, wenn die herrschende Zer-störungsdynamik nicht gestoppt wird.

Krisen und Katastrophen – made in Germany

Auch der Strom der Klimaflüchtlinge, deren Zahl schon jetzt auf 20 Millionen geschätzt wird, wird weiter ansteigen. Das Gleiche gilt für die Kleinbauern, die aufgrund von Landgrabbing aus ihren Subsistenzwirtschaften vertrieben werden, ohne dass ihnen Alternativen zur Verfügung stehen.

An den Ursachen dieser Fluchtgründe hat die deutsche Politik großen Anteil. Deklariert als Entwicklungshilfe beteiligt sich das Bundesministe-rium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) bereits seit langem an der Umstrukturierung der afrikanischen Landwirtschaft nach europäischem Vorbild – vorgeblich, um den Hunger zu bekämpfen, tatsäch-lich aber, um die Interessen des internationalen Agrobusiness zu bedienen. Die Folge: Mehr als 100 Millionen Kleinbauern könnten in den kommenden Jahren ihrer Existenz beraubt werden.5

Auch die Freihandelsabkommen, die heute den Ländern im Süden aufge-nötigt werden, tragen zur Zementierung der bestehenden ungerechten welt-wirtschaftlichen Strukturen bei. Und die Berliner Bürokratie ist sich übrigens sehr bewusst, was sie tut: Auf das destruktive Potential der „Economic Part-nership Agreements“ angesprochen, entgegneten hochrangige Regierungs-beamte lakonisch, man achte darauf, dass die negativen Auswirkungen für die Länder des Südens nicht allzu groß ausfielen.

Das alles zeigt, dass die prekären Lebensumstände, denen Menschen zu entkommen versuchen, nicht einfach vom Himmel fallen. Sie sind das Resul-tat einer Politik, die die Interessen der Ökonomie bewusst über die Rechte und Bedürfnisse der Menschen stellt.

5 Vgl. Institut für Welternährung: Unter falscher Flagge? Entwicklungspolitik der New Alliance for Food Security and Nutrition, Berlin 2015.

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»Globalisierung von unten« und die Politik der Angst

Aber Migranten und Flüchtlinge sind nicht einfach nur Opfer: Indem sie sich auf den Weg machen, setzen sie der wirtschaftlichen „Globalisierung von oben“ etwas entgegen, das ich eine „Globalisierung von unten“ nenne – eine Globalisierung, die ich nicht idealisieren will, die aber vom Beharren auf Teilhabe, von einem Festhalten an dem „pursuit of happiness“, dem Streben nach Glück, beseelt ist.6 Globalisierung und Migration entpuppen sich so als die zwei Seiten einer Medaille. Dies zu akzeptieren – und damit anzuerken-nen, dass Globalisierung ohne Migration nicht zu haben ist –, stellt wohl die größte Herausforderung dar, der sich die Nationalstaaten des Nordens der-zeit stellen müssen.

Die Flüchtlinge, die heute zu uns kommen, erzählen nicht nur vom Elend, das in der Welt herrscht, sondern auch davon, wie nahe Zivilisation und Bar-barei zusammenliegen. Sie erzählen davon, wie groß das Risiko geworden ist, plötzlich alles verlieren zu können und auf ein „nacktes Leben“ in völli-ger Rechts- und Schutzlosigkeit zurückgeworfen zu werden. In der Begeg-nung mit den Flüchtlingen wird das erfahrbar, was informierte Menschen vielleicht irgendwie gewusst hatten, aber nicht mit ihrem eigenen Leben in Zusammenhang bringen konnten: dass die Welt zu einem höchst unsi-cheren Ort geworden ist. Und dazu gehört auch, selbst Opfer von sozialem Ausschluss zu werden; auch in unseren Gesellschaften nimmt die soziale Ungleichheit dramatisch zu.

Die Befürchtung, womöglich selbst schon bald zu den Verlierern zu zählen, erzeugt bei der hiesigen Bevölkerung Angst. Angst, die sich derzeit rechts-populistische Bewegungen zunutze machen: Überall in Europa sind Parteien auf dem Vormarsch, die auf infame Weise das Unbehagen, das mit der neo- liberalen Umgestaltung der Welt auch die eigenen Gesellschaften erfasst hat, missbrauchen. Mit dumpfer Hetze gegen Flüchtlinge, Medien und Europa bedienen sie die Sehnsucht nach einer Vergangenheit, in der angeblich noch Ordnung und Stabilität herrschte und Politik noch national bestimmt wurde.

Wie brisant die Auseinandersetzung um die Zukunft ist, zeigt die Zerris-senheit der hiesigen Öffentlichkeit: Dem Drängen auf Weltoffenheit steht nahezu unversöhnlich die Forderung nach Abschottung gegenüber. Vor diesem Hintergrund gewinnt das kaum für möglich gehaltene Ausmaß an öffentlicher Unterstützung für Flüchtlinge eine eminent politische Bedeu-tung. Getragen von solidarischem Mitgefühl ist es gelungen, ein unüberseh-bares Zeichen gegen Rassismus und Ausländerfeindlichkeit zu setzen.

Aber so wichtig die spontane Hilfsbereitschaft ist, so wenig wird das pri-vate Engagement ausreichen. Gerade mit Blick auf die Fluchtursachen wird deutlich, wie dringend notwendig andere weltgesellschaftliche Verhältnisse sind – Verhältnisse, wie sie in Artikel 28 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte als ein Recht beschrieben sind, auf das alle einen Anspruch haben. Dort heißt es: Alle Menschen haben das Recht auf „eine soziale und

6 Vgl. dazu Arjun Appadurai, Streben nach Hoffnung. Das Narrativ der Flucht und die Ideologie des Nationalstaats, in: „Blätter“, 1/2016, S. 95-103.

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internationale Ordnung, in der die Rechte und die Freiheit, die mit der Erklä-rung in Kraft treten, auch voll verwirklicht sind“.

Hier wird die Herausforderung, vor der wir stehen, mehr als deutlich: Um der herrschenden Krisendynamik zu begegnen, bedarf es einer Vision, die das andere, die neue „soziale und internationale Ordnung“ wenigstens in ihren grundlegenden Prinzipien aufscheinen lässt. Dabei geht es um Alter-nativen zur herrschenden profit- und wachstumsorientierten Ökonomie, um die Weiterentwicklung genossenschaftlicher Ideen – um Überlegungen, wie öffentliche Daseinsvorsorge über alle Grenzen hinweg ausgeweitet und bei-spielsweise über einen internationalen Fonds für Gesundheit sichergestellt werden kann, welche Verrechtlichungen dazu notwendig sind und, nicht zuletzt, wie ein neues internationales Migrationsrecht aussehen sollte, das auf der Höhe der Zeit ist.

»Moral mit Anschlusszwang«

Um all das anzugehen, bedarf es einer Politik, die bewusst auf das Recht setzt, es verteidigt und ausbaut, statt es durch sicherheitspolitisch motivierte Maßnahmen auszuhöhlen. Im Unterschied zum kodifizierten Recht ist das, was Menschen als Bedrohung ihrer Sicherheit empfinden, immer subjektiv gefärbt. Die Angst vor Fremden kann einem Rassismus geschuldet sein, der nichts mit konkreten Erfahrungen zu tun haben muss. Es ist diese emotio-nal aufgeladene Unbestimmtheit der Sicherheitslogik, die der gegenwärti-gen Politik bei der Überwindung ihrer Legitimationsdefizite hilft. Politiker, die ihre Gestaltungskompetenz weitgehend an die Vorgaben der Ökono-mie abgetreten haben, können sich dann wenigstens noch als „zupackend“ definieren, wenn sie die negativen Folgen ihrer eigenen Politik abwehren. Sie brauchen die von ihnen mitverantwortete Krise, um sich gegenüber der Öffentlichkeit zu rechtfertigen und zu profilieren.

Die Botschaft, die dabei mitschwingt, ist ebenso populär wie perfide: Weil die wachsende soziale Ungleichheit alternativlos sein soll, weil Wohlstands-verlust und Chaos drohen, gibt es zur wehrhaften Absicherung eigener Privi-legien keine Alternative – weder innerhalb der Nationalstaaten noch auf glo-baler Ebene. Es ist dieses Gefühl permanenter Bedrohung, das neoliberale Herrschaftsstrategien jenseits von Recht und Justiz legitimiert. Selbst noch der Abbau grundlegender Bürger- und Freiheitsrechte lässt sich so begrün-den, wie dies derzeit in Frankreich zu beobachten ist.

Und so wächst mit der Überhöhung von Sicherheitspolitik auch die Gefahr der Aushöhlung von Demokratie. Denn Ängste sind keine guten Ratgeber. Solange sich Politikerinnen und Politiker mit der Aura von Hardlinern umge-ben, schüren sie ausgerechnet jenen hochproblematischen Populismus, der auf Abgrenzung und Identität setzt und von einer „Moral mit Anschluss-zwang“ getragen wird. Eine solche Moral stützt sich nicht mehr auf das demokratisch gebildete Urteil von Bürgerinnen und Bürgern, sondern auf eine manipulierende Vermengung von Ängsten, Meinung und Information.

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Dann ist es nicht mehr die Ungleichheit von Gesellschaft, die Kriminalität, Gewaltextremismus und Verunsicherung Vorschub leistet, sondern es sind vermeintlich zu lasche Gesetze und fehlende Zäune. Aber auch sozialpoli-tisch zeigt sich solche Verblendung.

Wie sonst wäre der Umstand zu erklären, dass die Mehrheit im Lande davon überzeugt ist, dass wir uns mehr sozialstaatliche Leistungen und öffentliche Güter nicht mehr leisten können, obwohl der gesellschaftliche Reichtum nie größer war als heute. Stattdessen wird die „Schwarze Null“, die Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble anstrebt, gefeiert, auch wenn diese vor allem der Wirtschaft und nicht den Menschen dient. Auch die Aus-teritätspolitik, die nicht nur Griechenland, sondern längst auch viele deut-sche Kommunen an den Rand des Ruins getrieben hat, sorgt für verhältnis-mäßig wenig Empörung. Stattdessen ereifert man sich, dass es hier und da Menschen gibt, die sich in der „sozialen Hängematte“ ausruhen. Das so ent-stehende Ressentiment kümmert es wenig, dass auf jeden Euro Sozialmiss-brauch 1388 Euro an Steuerhinterziehung kommen.

Zu den vordringlichen Aufgaben einer kritischen Öffentlichkeit gehört es daher, die herrschenden Sicherheitsstrategien und -diskurse zurückzuwei-sen. Gleichzeitig benötigen wir eine globale Perspektive, in der Sicherheit nicht mehr als selektive Sicherheit auf Kosten anderer gedacht wird, sondern als universelle Verwirklichung der politischen und sozialen Rechte aller Menschen. Dafür bedarf es eines emphatischen Versprechens, dass eine andere, eine solidarische Welt möglich ist.

Gelingt dies nicht, wird es künftig noch weniger um die Frage gehen, wie den Schrecken der Welt ursächlich begegnet werden kann, sondern nur noch darum, ob uns die zugemuteten, nur scheinbar hilfreichen Sicherheitsmaß-nahmen passen – oder nicht. Die politischen Fragen, zu denen wir uns dann noch äußern dürfen, sind von nur noch geringer Relevanz und lenken von den eigentlichen Problemen ab. Auf diese Weise verkümmert nicht nur die Demokratie, sondern auch das Menschenrecht auf ein würdiges Leben. So weit aber dürfen wir es nicht kommen lassen.

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L ange Zeit wurde mit großer Selbstverständlichkeit behauptet, Immigra-tion sei eine Bereicherung für die Gesellschaft. Das kann sie sicher wer-

den, doch die Veränderungen, die durch die Migration verursacht werden, rufen auch ein Gefühl des Verlustes hervor. Sowohl die Neuankömmlinge als auch die Alteingesessenen sehen eine vertraute Welt verschwinden. Das ist der Anfang einer Veränderung, und daraus erwächst die Frage, wie daraus eine wirkliche Erneuerung der Gesellschaft entstehen kann, eine Erneue-rung, die die Betroffenen selbst mit der Zeit als eine Bereicherung empfinden.

Studien zur amerikanischen Immigrationsgeschichte bieten dafür einen Anhaltspunkt. Der Soziologe Robert Ezra Park sprach bereits zu Beginn des vorigen Jahrhunderts von einem „Zyklus“ der ethnischen Beziehungen, in dem es drei Stadien gibt: Vermeidung, Konflikt, Akzeptanz. Diesen Zyklus können wir als eine Methode betrachten, mit dem Verlust der Sicherheiten umzugehen. Vermeidung meint hier, dass man einer neuen Wirklichkeit aus dem Weg geht, man ignoriert, dass sich etwas Wesentliches verändert. Solange die Menschen einander nicht begegnen, hat es den Anschein, als berühre die Ankunft von Migranten die Gesellschaft nicht wirklich. Die Konflikte entstehen, wenn die Unumkehrbarkeit der Veränderungen nicht mehr verdrängt und daher nicht länger ignoriert werden kann, was verloren geht. Solche Zusammenstöße gehören zur Immigrationsgeschichte und hel-fen offenbar oft dabei, die neue gesellschaftliche Umgebung zu akzeptieren.

Migration als Verteilungskonflikt

Hinter einem Großteil des Widerstands gegen neue Immigranten steckt ein Verteilungskonflikt. Es ist schließlich unübersehbar, dass gerade am unteren Rand des Arbeitsmarktes Konkurrenz herrscht. Es gibt nicht nur Verdrän-gungsmechanismen; durch die Ankunft von schlecht bezahlten und schlecht

Gesucht wird ein neues WirFür einen realistischen Humanismus in der Integrationsdebatte

Von Paul Scheffer

* Der Beitrag basiert auf dem neuen Buch von Paul Scheffer, „Die Eingewanderten. Toleranz in einer grenzenlosen Welt“, das am 1. Februar 2016 im Carl Hanser Verlag erschienen ist. Die Übersetzung aus dem Niederländischen stammt von Gregor Seferens, Andreas Ecke, Heike Baryga und Gerd Busse. © Carl Hanser Verlag München.

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organisierten Immigranten gerät auch das Lohnniveau unter Druck. Gerade diejenigen, die eine prekäre Position in der unteren Mittelschicht errungen haben, haben etwas zu verlieren.

Die amerikanischen Wirtschaftswissenschaftler Timothy Hatton und Jeff-rey Williamson kommen zu dem nüchternen Schluss, dass der Widerstand – in der Vergangenheit, aber auch heute – in einem Zusammenhang mit dem Umfang der niedrigqualifizierten Immigration steht, die eine wachsende Zahl von „autochthonen unqualifizierten Arbeitskräften“ verdrängt und auf diese Weise zu einer „wachsenden Ungleichheit“ führt. Das bleibt nicht ohne Folgen, aufgrund der „größeren auf dem Wahlrecht beruhenden Macht in den Händen derjenigen, die am stärksten betroffen sind – die arbeitenden Armen.“

Das autochthone Unbehagen hat sowohl soziale als auch kulturelle Ursa-chen. Manchmal ist es nicht einfach, die beiden auseinanderzuhalten. Natür-lich muss die Wohnsituation der Menschen verbessert werden, und auch der Zugang zu Bildung und zum Arbeitsmarkt kann erleichtert werden, doch ein wesentlicher Teil des „autochthonen“ und des „allochthonen“ Unbehagens liegt gerade auf dieser symbolischen Ebene: „Wir verlieren unsere Kultur.“

Dabei dürfen wir nicht vergessen, dass wir es mit einem Integrationsmus-ter zu tun haben, das nicht bei der Vermeidung stehenbleibt. Es gibt immer einen Moment, in dem die Segregation nicht mehr aufrechterhalten werden kann. In Städten wie Marseilles, Birmingham, Stuttgart oder Malmö, wo 40 oder mehr Prozent der Bevölkerung aus Migranten und ihren Nachkom-men bestehen, können Alteingesessene und Neuankömmlinge einander nicht mehr aus dem Weg gehen. Eine Frage kann dann nicht länger unbeant-wortet bleiben: Was brauchen wir an Gemeinsamkeiten, um mit all unseren Unterschieden zusammenzuleben?

Dies ist eine konfliktreiche Suche, aber diese Konflikte dürfen nicht als eine misslungene Integration betrachtet werden, im Gegenteil: Gerade im Konflikt nimmt die Integration Gestalt an. Wenn die Unumkehrbarkeit der Veränderungen, die durch die Immigration ausgelöst wurden, nicht mehr ignoriert werden kann, wird der Verlust auf beiden Seiten spürbar, und es kommt zu Spannungen. Wir lernen daher nicht viel aus der Geschichte der Immigration, wenn wir die „Bereicherung“, die Einwanderung für eine Gesellschaft darstellt, in den Mittelpunkt rücken und den „Verlust“ der vertrauten Welt nicht in Betracht ziehen. Erst wenn wir diesen Verlust zur Kenntnis nehmen, öffnet sich eine Möglichkeit, viele Erfahrungen rational zu deuten. Die sich daran anschließende Debatte ist oft ein wichtiger Schritt auf dem Weg zur Akzeptanz der neuen gesellschaftlichen Wirklichkeit.

Die Meinungsfreiheit fördert in dieser Debatte letztendlich den gesellschaft-lichen Frieden. Das gilt für beide Seiten des Konflikts, für Muslime und auch für diejenigen, die jetzt unter dem Nenner „Nichtmuslime“ zusammengefasst werden. Die Möglichkeiten, die Menschen haben, ihrer Wut in Wort und Bild Ausdruck zu verleihen, sorgen dafür, dass Groll nicht zur Aggression wird. Auch darum ist es ein Irrtum zu glauben, die Beschränkung der Meinungs-freiheit könnte zu einer Befriedung der Muslimgemeinschaften beitragen.

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Das liberale Paradoxon

Die prinzipielle Frage bleibt: Gilt die Meinungsfreiheit auch für Menschen, die dieses Grundrecht dazu benutzen wollen, die Freiheit anderer zu beschrän-ken? Konkreter gefragt: Müssen wir die Freiheit eines Parlamentariers ver-teidigen, der die Religionsfreiheit der Muslime einschränken will? Und dür-fen wir erwarten, dass auch Muslime sich verpflichtet fühlen, seine Freiheit zu verteidigen? Die Antwort muss „ja“ lauten, doch nur unter der Bedingung, dass wir auch die Freiheit von Muslimen, die radikale Ansichten vertreten und zum Beispiel die vollständige oder teilweise Einführung der Scharia for-dern, weiterhin garantieren. Solange es sich jedenfalls um Meinungen han-delt und nicht um Aufrufe zur Gewalt. Das ist das liberale Paradoxon: Die offene Gesellschaft ist auch für diejenigen da, die einem geschlossenen Welt-bild anhängen und die Wechselseitigkeit ablehnen, auf die ich all meine Hoff-nung setze. Religiöse oder weltliche Orthodoxie gehört dazu, doch eine offene Gesellschaft lebt natürlich von einer Mehrheit, die solche Vorstellungen letzt-endlich verwirft. Eine solche Mehrheit kommt nicht von alleine zustande, im Gegenteil, und gerade deshalb ist die offene Gesellschaft so verletzlich.

Ich betrachte diesen Konflikt, der auf die Vermeidung folgt, als ein Zeichen der Integration, mehr noch: als ein Zeichen der Integration auf beiden Seiten. In Ländern wie Deutschland, Dänemark und den Niederlanden hat die Kon-fliktvermeidung eine lange politische Tradition, doch oft ist sie für Einwan-derungsgesellschaften nicht die beste Lösung. Wir müssen lernen, dass sich Gesellschaften im Konflikt erneuern, wobei hier ausdrücklich gesagt sein soll, dass es dabei um gewaltlose Konflikte geht. Daher haben wir es jetzt, da wir mit Formen von Terror im Namen einer Religion konfrontiert werden, die (auch) durch die Migration zu einem Teil unserer Gesellschaft geworden ist, mit einem neuen Phänomen zu tun.

Umso mehr ist die Kontrolle und Lenkung der Immigration eine entschei-dende Voraussetzung für die Integration der Neuankömmlinge. Wenn die Ankunft so vieler Menschen nicht als eine Entscheidung erlebt wird, die eine Gesellschaft trifft, sondern als etwas, das uns widerfährt, gelangen wir viel schwerer zu einer gesellschaftlichen Akzeptanz dieser Veränderung. Und genau die steht jetzt, da die vielen Flüchtlinge das Bild einer Welt evo- zieren, die außer Kontrolle geraten ist, auf dem Spiel. Dieser Flüchtlingsstrom ist neben der Radikalisierung junger Muslime ein großes Problem für unsere Einwanderungsgesellschaften.

Humanität versus Angst: Zwei Seelen in einer Brust

Seit Beginn dieser Krise werden die meisten Menschen von zwei Empfin-dungen umgetrieben, die schlecht zueinander passen. Auf der einen Seite ist da das Gefühl einer humanitären Verpflichtung, die auch akzeptiert wird, während auf der anderen Seite viele erwarten, dass die Ankunft so vieler Asylsuchender zu Spannungen führen wird.

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Bleiben wir bei dem Gefühl der Verpflichtung, denn es widerspricht allen Klischees über die fremdenfeindlichen Gesellschaften Westeuropas, die man oft genug zu hören bekommt. Und auch die Erwartung, dass die wach-sende Zahl von Flüchtlingen nicht einfach in die Gesellschaft zu integrieren sein wird, zeugt nicht per se von einem Vorurteil, denn diese Ansicht basiert doch in erster Linie auf Erfahrungen, die man in den letzten vierzig Jahren mit Immigration gemacht hat. Diese widerstrebenden Gefühle durchziehen die Meinungsbildung über die Flüchtlingskrise, wobei eine Reihe von Argu-menten einander kreuzen: Mal geht es um Moral, dann wieder um Eigeninte-resse, dann um Ohnmacht und schließlich auch noch um die Rechtsordnung.

Bei den Befürwortern einer Aufnahme ohne Grenzen deuten all diese widersprüchlichen Erwägungen auffälligerweise in dieselbe Richtung: Die Aufnahme ist eine moralische Verpflichtung, die Einwanderung vieler jun-ger Menschen ist in unserem eigenen Interesse, wir können die Grenzen sowieso nicht mehr kontrollieren, und das internationale Recht zwingt uns zu einer unbegrenzten Aufnahme. Gegen all diese Überlegungen lässt sich etliches einwenden, und auch die Kombination all dieser Motive ist nicht selbstverständlich. Doch bevor wir die Vorstellung von einer unbegrenzten Aufnahme kritisch betrachten, bedarf es einer Antwort auf die Frage, ob die Zunahme der Flüchtlings- und Migrantenzahl inzidentelle oder strukturelle Ursachen hat. Es gibt ausreichend Hinweise darauf, dass Letzteres zutrifft, wenn wir die Zerrüttung in unseren Nachbarregionen betrachten. Europa ist umgeben von einer Reihe scheiternder Staaten: von den Rändern der ehema-ligen Sowjetunion über den Mittleren Osten bis hin zum Maghreb.

Ich möchte mich hier auf die arabische Welt beschränken. Prognosen sagen voraus, dass die Bevölkerung in dieser Region noch sehr stark anwach-sen wird. 1950 lebten in den Ländern dort 76 Millionen Menschen. 2010 war die Zahl auf 360 Millionen angewachsen, und sie wird nach Prognosen, die natürlich immer unsicher sind, bis zum Jahr 2050 630 Millionen erreichen. Diese demographische Entwicklung sorgt dafür, dass der Druck auf diese Gesellschaften zunehmen wird. Man betrachte nur einmal ein Land wie Ägypten, wo die Hälfte der Bevölkerung jünger als 24 Jahre ist. Eine große Gruppe junger Menschen in der arabischen Welt ist in einer aussichtslosen Situation. Das Bildungsniveau ist zwar enorm gestiegen, aber die Chancen, Arbeit zu finden, sind klein, und deshalb wollen die meisten nur eins: weg. Dieser Niedergang der arabischen Welt ist allerdings kein fatales Schicksal, Tunesien zeigt, dass es auch andere Optionen gibt.

Exodus als Menschheitsthema

Dies führt uns zur moralischen Dimension des Flüchtlingsproblems. Wir haben Fotos von verzweifelten Menschen gesehen, die alles wagen, um woanders eine sichere Existenz zu finden. Bilder aus Vergangenheit und Gegenwart fließen ineinander über: Hinter den Flüchtlingsströmen in einem Niemandsland sehen wir die Bilder aus Bosnien in den 1990er Jahren oder

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Bilder von flüchtenden Deutschen nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs oder von Griechen, die in den frühen 1920er Jahren aus der Türkei fliehen. Und am Ende führen all diese Bilder zurück zu einem archaischen Aus-gangspunkt: Den Exodus hat es zu allen Zeiten gegeben.

Wir können also unmöglich behaupten, wir hätten es nicht gewusst, und darum ist unser Gewissen nun auch belastet. Wir sagen, wir könnten die Bil-der von einem ertrunkenen Kind nicht ertragen, doch was rufen sie in uns hervor? Bestimmt keine eindeutige Reaktion. Hilfsbereitschaft und Gelas-senheit wechseln einander ab, und ich glaube, die Gelassenheit kann am Ende siegen, weil eine dauerhafte Betroffenheit nicht auf dem Schock grün-den kann, der von Bildern verursacht wurde, sondern nur auf Erfahrungen, die Menschen machen und teilen, und auf Erfahrungen, die weitergegeben werden.

Gleichzeitig polarisiert sich die Diskussion zwischen aufgebrachten und wohlwollenden Bürgern. Wir erleben in Deutschland vor allem moralische Extreme: Das helle Land wird gegen das dunkle Land ausgespielt, das Land der Willkommenskultur wendet sich ab vom Fremdenhass, der einen Teil der Bevölkerung in seinem Griff hat. Das waren die Worte des Bundespräsiden-ten Joachim Gauck, die er später korrigierte, denn natürlich, so sagte er, gebe es in der Mitte der Gesellschaft viele, die sich aufrichtig Sorgen machten über die unbegrenzte Aufnahme von Flüchtlingen.

Und tatsächlich geht es um eine Abwägung zwischen zwei Verpflichtun-gen: die Sorge für das Wohlergehen der eigenen Bevölkerung innerhalb der Grenzen und die Sorge für die Opfer von Gewalt außerhalb der eigenen Grenzen.

Wir müssen zurück zu Max Webers berühmter Unterscheidung zwischen Gesinnungsethik und Verantwortungsethik. Bei der einen geht es um ein Handeln, das sich nicht um die Folgen kümmert, während eine Verantwor-tungsethik gerade die vorhersehbaren Folgen einer Entscheidung, die man trifft, bedenken will. Letztere kommt zu dem Ergebnis, dass die vorherseh-baren Folgen einer unbegrenzten Aufnahme zunehmende Spannungen und Aggression in der Gesellschaft sein werden. Dem Unmöglichen ist nie-mand verpflichtet. Wenn Menschen mit einer liberalen Haltung nicht über Grenzen nachdenken wollen, dann ziehen am Ende Menschen mit autori-tären Einstellungen die Grenzen. Darin liegt die Gefahr, und deshalb ist eine Moral, die die eigene Gewissensnot als Ausgangspunkt wählt, keine dauer-hafte Moral.

Wie weit trägt das Argument des Eigeninteresses?

Das bringt uns zu einem zweiten Begriff, der in der Flüchtlingsdebatte mit-schwingt: Eigeninteresse. Weil man der eigenen Gesinnungsmoral nicht ganz vertraut, wird in einem Atemzug auf das Eigeninteresse verwiesen: Wir brauchen diese, oft jungen, männlichen Flüchtlinge sehr dringend für unseren vergreisenden Arbeitsmarkt. Dieses angebliche Eigeninteresse ist

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ebenso falsch verstanden wie der Charakter der moralischen Verpflichtung. Weil so beiläufig von einer Win-win-Situation und von „menschlichem Kapi-tal“ gesprochen wird, ist es gut, auch die materiellen und immateriellen Kos-ten genau zu prüfen, damit wir besser informiert dennoch großherzig „ja“ sagen können.

Die immateriellen Kosten werden sehr deutlich in einem Interview mit dem deutschen Menschenrechtsexperten Max Klingberg, der schon seit fünfzehn Jahren in Asylzentren arbeitet: „Wir, die wir professionell oder ehrenamtlich in Asylzentren helfen, und auch die Politiker müssen sich von dem Gedan-ken losmachen, dass alle Flüchtlinge Menschenrechtsaktivisten sind.“ Er sagt weiter, dass Minderheiten und Frauen es in den Aufnahmelagern sehr schwerhaben: „Wir müssen uns klarmachen, dass sich die Vorstellungen von Flüchtlingen nicht ändern, sobald sie die Grenze nach Europa überschrei-ten.“ So bekommt die Flüchtlingsfrage noch einen weiteren problematischen Aspekt: Bieten wir auch den Menschen Zuflucht, die unsere Gesellschaften zutiefst in Zweifel ziehen oder sogar verachten?

Solche Ausprägungen von radikaler Frömmigkeit und Tradition gelten gewiss nicht für alle Flüchtlinge, doch sie sind auch keine marginalen Phä-nomene. Aber auch dann kann man noch sagen: Wir sind offen für Menschen in Not, auch wenn wir wissen, dass Unterdrückung jemanden nicht automa-tisch zu einem Freund der Freiheit macht. Doch nun wissen wir, wofür wir uns entscheiden, denn durch das Aufeinandertreffen von sehr unterschied-lichen Weltbildern kommt es zu Spannungen in einer Gesellschaft.1

Dazu kommen die materiellen Kosten. Die Arbeitspartizipation von Flüchtlingen ist in den Niederlanden – und damit stehen sie nicht allein – nicht gut: Somalier 26 Prozent Beschäftigte, Iraker 34 Prozent, Afghanen 42 Prozent und Iraner 60 Prozent. Die Schlussfolgerung einer Studie: „Die nicht berufstätige Bevölkerung ist bei den Flüchtlingsgruppen am größten, mit Ausnahme der iranischen Niederländer.“ Woher nehmen wir eigentlich das Selbstvertrauen, dass es mit den neuen Flüchtlingen in den kommenden Jah-ren besser verlaufen wird? Eine realistische Einschätzung ist, dass die Mehr-heit der neuen Flüchtlinge in den kommenden fünf bis zehn Jahren keine Arbeit finden wird.

Schließlich das demographische Argument: Wir brauchen die überwie-gend jungen Flüchtlinge, weil unsere Gesellschaften vergreisen. Aber die Überalterung der Bevölkerung kann nicht durch Migration kompensiert werden. Ein Institut der Vereinten Nationen hat 2002 berechnet: Will man den Druck, der durch Überalterung auf den Gesellschaften lastet, bis 2050 auf demselben Niveau halten, dann müsste die europäische Nettomigration pro Jahr etwa 24 Millionen Menschen betragen. Über einen Zeitraum von fünfzig Jahren bräuchte man 1,3 Milliarden Migranten, mehr als doppelt so

1 Der amerikanische Wissenschaftler Robert Putnam hat in einer Studie gezeigt, dass in multiethni-schen Vierteln das Vertrauen zwischen den Bürgern bedeutend niedriger ist. Diese Feststellung ist unumstritten, über seine Erklärung ist eine interessante Diskussion entstanden. Dieses Misstrauen ist kein unabänderliches Schicksal. Es kann sich in diesen Vierteln durchaus ein neuer Zusammen-halt entwickeln – irgendwann werden die Neuankömmlinge von heute zu den Alteingesessenen von morgen –, aber das dauert entsprechend lange.

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viele Menschen, wie heute in Europa leben. Kurzum: Überalterung an sich kann nie ein Argument für umfangreiche Immigration sein. Insgesamt ist die Berufung auf das Eigeninteresse also nicht besonders überzeugend, wenn wir den Flüchtlingsstrom betrachten, und daher wird hier noch ein Argu-ment angeführt.

Sind die Grenzen nicht zu schützen?

Vielleicht ist es nicht in unserem eigenen Interesse, aber wir können die Menschen nicht aufhalten, die Grenzen können de facto nicht mehr kont-rolliert werden. Es war ein Gefühl der Ohnmacht, das Angela Merkel zu der Bemerkung hinriss, Deutschland könne seine 3000 Kilometer lange Grenze nicht mehr kontrollieren. Seltsamerweise spielt diese Ohnmacht plötzlich keine Rolle mehr, wenn es um ein gigantisches soziales Projekt geht. Die Frage, ob möglicherweise mehr als eine Million Flüchtlinge innerhalb eines Jahres integriert werden können, wird nämlich mit einem schlichten „Wir schaffen das!“ beantwortet.

Warum kann ein hochentwickeltes Land, das seine Bürger Tag und Nacht abhört, seine Grenzen nicht mehr bewachen? Man kann sich für offene Gren-zen entscheiden, aber man sollte den politischen Unwillen, die Grenzen zu sichern, dann nicht als polizeiliche Ohnmacht ausgeben. Wir sehen sofort, dass es nicht um tatsächlichen Kontrollverlust geht, wenn wir die Versuche betrachten, mit der Türkei eine Übereinkunft zu treffen, in der Zusagen gemacht werden, die – im Tausch gegen eine effektivere Grenzkontrolle der Türkei – Erdogans Position stärken. Warum aber sollte dieses Land schaffen, was das übrige Europa auf einmal nicht mehr kann? Tatsächlich delegieren wir die Grenzkontrolle an Erdogans autoritäres Regime, so wie wir es früher Gaddafis Libyen und Marokko überlassen haben, die illegalen Migranten aus Afrika rigide zurückzuweisen. Das kann man machen, aber man sollte dann nicht von Ohnmacht und schon gar nicht von einer moralischen Ver-pflichtung sprechen.

Weil der Verweis auf die eigene Ohnmacht am Ende nicht überzeugt, wird schließlich das internationale Recht angeführt, der vierte Begriff, der unsere Haltung bestimmt.

Nach Ansicht von Befürwortern offener Grenzen gibt es einen Widerspruch im Völkerrecht. In der universellen Menschenrechtserklärung ist festgelegt, dass jeder Mensch das Recht hat, sein Land zu verlassen und wieder zurück-zukehren. Nirgendwo ist aber festgehalten, dass es auch eine Verpflichtung gibt, Menschen, die ihr Land verlassen, aufzunehmen, mit Ausnahme der Menschen, die als Flüchtlinge anerkannt werden. Kurzum: Emigration ist ein universelles Menschenrecht, das aber mit der beschränkten Immigra-tionspolitik kollidiert, die noch immer Teil der nationalen Souveränität ist.

Befürworter von offenen Grenzen weisen auf diesen Widerspruch hin und sagen, Alteingesessene hätten keine besonderen Vorrechte im Vergleich zu Neuankömmlingen. Wer seien wir, dass wir glauben, ein „Erstgeburts-

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recht“ zu haben? Doch jede Gemeinschaft existiert aufgrund von Grenzen, ohne eine Trennung zwischen Dazugehörigen und Außenstehenden geht es nicht. Bürgerrechte und Menschenrechte muss man unterscheiden. Kurz gesagt: Menschenrechte sind universell, Bürgerrechte territorial. Nicht jeder hat Anspruch auf die Rechte, die es innerhalb unserer Grenzen gibt. Vor allem der Versorgungsstaat beschränkt die Zahl der Menschen, die in unsere Gesellschaft aufgenommen werden können. Eine unbegrenzte Will-kommenskultur bedeutet, dass die Bürgerrechte ohne jede Einschränkung für alle gelten müssen, die Anspruch darauf erheben.

Die bisherige Argumentation lässt folgende Schlussfolgerung zu: Wir brauchen eine Verantwortungsethik, die die vorhersehbaren Folgen einer unbegrenzten Aufnahme von Flüchtlingen bedenkt, eine realistische Ein-schätzung der gesellschaftlichen Kosten und Konflikte, welche die Auf-nahme von so vielen Neuankömmlingen mit sich bringt, den Abschied von der selbst geschaffenen Ohnmacht in Bezug auf die Kontrolle unserer Gren-zen und schließlich einen Umgang mit dem internationalen Recht, der die humanitären Verpflichtungen mit der Möglichkeit verbindet, die Aufnahme von Flüchtlingen zu begrenzen.

Es sind sehr wohl Antworten denkbar, die humanitäre Verpflichtungen und politischen Realismus miteinander versöhnen können. Notwendig ist ein dauerhaftes Engagement in der Flüchtlingsfrage, das noch viele Jahre unsere Aufmerksamkeit erfordern wird, und nicht der bevormundende Ton, in dem die Sorgen vieler beiseitegewischt werden. Woher kommt nur die-ses Unvermögen in wohlmeinenden Kreisen, über die moralische Bedeutung von Grenzen nachzudenken? Welche Verlegenheit wird hier sichtbar? Ich würde sagen: Gerade um großzügig zu bleiben, brauchen wir Grenzen.

Hans Magnus Enzensberger argumentiert in „Aussichten auf den Bür-gerkrieg“ auf der Linie einer solchen Verantwortungsethik und stellt fest, dass wir uns von moralischen Allmachtsphantasien verabschieden müssen: „Moralische Forderungen, die in keinem Verhältnis zu den Handlungsmög-lichkeiten stehen, führen am Ende dazu, dass die Geforderten gänzlich strei-ken und jede Verantwortung leugnen. Darin liegt der Keim einer Barbari-sierung, die sich bis zur wütenden Aggression steigern kann.“ Diese Gefahr droht, und darum ist eine Moral, die in erster Linie die eigene Gewissensnot als Ausgangspunkt wählt, keine haltbare Moral.

Integration als Wechselseitigkeit

Wir kommen nicht um die Frage herum, wie wir einer offenen Gesellschaft in Zeiten der Globalisierung Form geben wollen. Der Kernpunkt ist in dem Gedanken der „Wechselseitigkeit“ zusammengefasst: Integration betrifft niemals nur die Neuankömmlinge, sondern sie ist eine Aufgabe der Gesell-schaft als Ganzes. Wer andere dazu ermuntert, sich „einzubürgern“, muss selbst zumindest eine Vorstellung davon haben, was es bedeutet, Bürger zu sein, und er muss diese Vorstellung auch, soweit das eben geht, in die Praxis

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umsetzen. Das erklärt die für die Integrationsdebatte typische Verlegenheit: Die Fragesteller, also die Alteingesessenen, werden früher oder später selbst Teil der Frage, die sie stellen. Die Suche ist in vollem Gange, und so erneuert die Gesellschaft sich und gewinnt hinzu. Das ist, nach den Worten, die ich für den Verlust zu finden versucht habe, der wirkliche Gewinn, den die Migra-tion mit sich bringt: Sie zwingt eine Gesellschaft zur Selbstbefragung.

Ich will ein Beispiel nennen: Offensichtlich ist die Beherrschung einer Sprache für Menschen von entscheidender Bedeutung, um in einer Gesell-schaft erfolgreich zu sein. Daher haben wir in den vergangenen Jahren auch sehr viel über Sprachdefizite in Migrantenfamilien gesprochen oder über das, was heutzutage „unzureichend alphabetisiert“ genannt wird. Es war nur eine Frage der Zeit, bis die Gegenfrage gestellt wurde: Wie gut können eigentlich die autochthonen Niederländer lesen und schreiben? Und es zeigte sich sehr bald, dass es auch unter ihnen Hunderttausende gibt, die damit Pro-bleme haben. Diese „Entdeckung“ war der Anlass für die Gründung einer Initiative zur Bekämpfung des Analphabetismus.

So macht die Debatte über Integration ein neues soziales Problem sichtbar, das viel weiter geht als lediglich die Emanzipation von Migranten. Die wach-sende Kluft zwischen hoch- und niedrigqualifizierten Menschen in unserer Gesellschaft verlangt unsere Aufmerksamkeit. Der flämische Schriftsteller David Van Reybrouck sieht darin eine der wichtigsten Ursachen für das Unbe-hagen in der Demokratie, weil sich viele Menschen mit niedrigem Bildungs-grad nicht mehr vertreten fühlen: „Ebenso wie in den Niederlanden ist auch in Belgien eine Parallelgesellschaft entstanden. Geringqualifizierte sind in der Mehrheit, fühlen sich aber aufrichtig als diskriminierte Minderheit.“

Integration als kulturelles und soziales Problem

Inzwischen ist sicher deutlich geworden, dass ich die Integrationsfrage nicht nur als eine Kollision von Kulturen betrachte, sondern auch als ein soziales Problem. Zusammenfassend: Die soziale und kulturelle Dimension des Inte-grationsprozesses dürfen nicht wechselseitig aufeinander zurückgeführt werden, und zugleich muss die Einbettung der Migrationsproblematik in die allgemeinen gesellschaftlichen Probleme immer wieder betont werden.

Damit ist auch gesagt, dass die Aufgabe der gesellschaftlichen Integration nicht vollständig der Politik überantwortet werden kann. Neben nationalen und lokalen Behörden müssen dabei auch andere eine wichtige Rolle spielen: die Gewerkschaften, die Unternehmerverbände und die Kirchen. In Gesprä-chen ist mir allerdings deutlich geworden, dass die Neigung, auf staatliche Institutionen zu verweisen, sehr groß ist. Dies ist auch ein Unterschied zu den Vereinigten Staaten, wo zum Beispiel Kirchen bei der Integration von Mig-ranten eine wichtige Rolle spielen. Die Kirchen in den meisten europäischen Ländern geben hochtrabende Erklärungen zu den moralischen Aspekten der Asylproblematik ab und veranstalten endlose interreligiöse Konferen-zen, sind aber ziemlich abwesend, wenn es um praktische Fragen geht.

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Auch die Gewerkschaften bleiben eher am Rand – unter anderem aus Furcht, die Basis zu spalten – und überlassen die Debatte über Immigration ganz den Arbeitgebern. Ich kenne kein anderes gesellschaftliches Problem von solcher Wichtigkeit, das komplett den Unternehmern überlassen wird. Die haben ihrerseits durchaus Interesse daran, Menschen ins Land zu holen, die kurz-fristig gebraucht werden, überlassen es aber anderen, sich um die Integration zu kümmern. Kurzum, was wir die gesellschaftliche Mitte nennen, gibt es in unserer heutigen Gesellschaft nicht mehr, und das erklärt vielleicht auch, warum die staatlichen Instanzen überfordert sind von dem, was im Kern ein gesellschaftliches Problem ist.

Wie umschreiben wir das Neue?

Durch die Ankunft so vieler Migranten wird die Gesellschaft als Ganze gefordert. Offenheit ist wichtig, unsere Institutionen und Unternehmen müs-sen sich viel mehr bewusst machen, wie viel neues Talent es jetzt gibt. Doch wie umschreiben wir das Neue? Sagen wir, Salman Rushdie ist eine indische Stimme in der britischen Literatur, oder Abdelkader Benali ist eine marokka-nische Stimme in der niederländischen Literatur, oder Emine Sevgi Özdamar ist eine türkische Stimme in der deutschen Literatur? Oder sagen wir: Hier entsteht etwas Neues, und wir lehnen es ab, dieses Neue auf die Faktoren Herkunft und Ankunft zu reduzieren?

Wir beobachten eine andere Perspektive: Statt einer gemeinsamen Zukunft wird immer stärker die unterschiedliche Herkunft betont. Diversität ist das neue Modewort: Wer ein wenig googelt, wird Tausende von Diversi-tätskongressen, Diversitätsmanagern und Diversitätsprojekten finden. Dies ist ein florierender Geschäftszweig geworden.

An sich ist wenig gegen die Feststellung einzuwenden, dass der Arbeits-markt sich verändert: mehr Frauen, mehr Senioren und auch mehr Immig-ranten. Unternehmen und Behörden tun gut daran, dies in ihrer Personal-politik zu berücksichtigen. Außerdem könnte man sich vorstellen, dass diese zunehmende Diversität dazu benutzt werden könnte, Menschen beizu- bringen, Probleme aus verschiedenen Perspektiven zu betrachten. Dies könnte zu einer Gesellschaft beitragen, in der der Dialog gepflegt wird.

Das aber erfordert Menschen, die den Konformismus durchbrechen. Und aus genau diesem Grund hat die Art und Weise, wie heute Diversität ange-strebt wird, eine problematische Seite und trägt letztlich nicht zur Akzeptanz der Veränderungen bei, die unsere Gesellschaft durchmacht. Diversitäts-politik hat nämlich den Nachteil, dass sie oft Stereotype verstärkt. Sie läuft Gefahr, Menschen als Mitglied einer Gruppe anzusprechen, von der man annimmt, dass sie ihr angehören. So werden nicht nur Migranten, sondern auch ihre Enkel und Kinder zu Trägern der Kultur dieser Gruppe gemacht.

Doch die Wirklichkeit sieht anders aus. Ein Junge aus einer türkischen Familie sagte zu mir: „Ich streite mich mehr mit meinen Eltern als mit der deutschen Gesellschaft.“ Von Generation zu Generation findet eine Verän-

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derung statt: Nicht nur nimmt die Beherrschung der Sprache des Herkunfts-landes ab, die zweite und dritte Generation überweist auch weniger Geld an Verwandte, die zurückgeblieben sind. Die Bindung an das Land der Eltern und Großeltern wird insgesamt schwächer, und immer öfter wird auch ein anderes Urlaubsziel gewählt. Außerdem schrumpft die Familiengröße rasch, und wir beobachten eine Zunahme von gemischten Ehen. Lauter Hinweise darauf, dass sich in der intimen Atmosphäre des Familienlebens vieles ändert.

Zukunft vor Herkunft: Die Chancen jeder neuen Generation

Dies ist eine Entwicklung mit manchen Rückschlägen, aber wir müssen uns weiterhin das Bild von einer Gesellschaft vor Augen halten, in der Menschen nicht nach ihrer Herkunft beurteilt, sondern nach ihrer Zukunft gefragt werden. Diversitätsmanagement, das auf dem Unterschied zwischen „auto-chthon“ und „allochthon“ basiert, muss daher etwas Befristetes sein. Eine Immigrationsgesellschaft steht und fällt schließlich mit der Fähigkeit ihrer Bürger, über ethnische Trennlinien hinwegzusehen. Diese Befristung war der ursprüngliche Gedanke der positiven Diskriminierung in Amerika, und der Anthropologe Peter Wood hat recht, wenn er kritisch bemerkt: „Das Den-ken in Begriffen der Diversität kann historisch verstanden werden als die Umwandlung von befristeter Bevorzugung durch positive Diskriminierung in dauerhafte Rechte.“ Letztendlich kann Konservatismus nie die ganze Ant-wort sein. Es kommt darauf an, nach Lösungen jenseits der Selbstversiche-rung von „das eigene Volk zuerst“ zu suchen. Aber auch die Selbstverleug-nung hilft nicht wirklich, die Vorstellung einer „Welt ohne Grenzen“, in der Nationalität eigentlich keine Rolle mehr spielt.

Meine Schlussfolgerung lautet: Gesucht wird ein neues „Wir“. Weder die alten noch die neuen Stadtbewohner scheinen sich dies ausreichend vor Augen zu führen. Jedenfalls verhalten sie sich nicht entsprechend. Das Bewusstsein der gegenseitigen Abhängigkeit muss wachsen. Und: Ohne eine vorgestellte Gemeinschaft gibt es keine gemeinsame Verantwortung für das Wohl und Wehe der Gesellschaft. Aber dieses „Wir“ wird weiter gefasst sein müssen und auch die Neuankömmlinge von heute mit einbeziehen.

Eine neue Vision bedeutet auch, dass von den Bürgern – ob alteingesessen oder neu angekommen – nicht verlangt wird, in der Gesellschaft aufzuge-hen, wie sie ist, sondern sich vor allem mit einer Gesellschaft zu identifizie-ren, wie sie sein könnte. Gibt es Bestrebungen, denen man sich anschließen möchte, gibt es Ansätze, um die Gesellschaft ihrer Norm der Gleichbehand-lung näherzubringen? Wechselseitigkeit als Grundprinzip von Bürger-schaft bedeutet: Wer die Diskriminierung von Migranten und ihren Kindern bekämpfen will, muss auch bereit sein, andere Formen von Diskriminierung – etwa von Ungläubigen oder von Homosexuellen – in den Migrantenge-meinschaften zu bekämpfen. Gleichbehandlung kann nicht nach Belieben eingefordert werden. Früher oder später müssen wir uns alle trauen, durch die Drehtür unserer Vorurteile zu gehen.

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AUFGESPIESST

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Nachdem sich der Rauch um den Ber-linale-Rummel verzogen hat, gilt es, Bilanz zu ziehen. Das aber fällt dieses Mal besonders leicht. Denn der größte Dank gebührt heute einer Organisa-tion, die eigentlich gar nicht dazuge-hört, wie Berlinale-Chef Dieter Koss-lick nicht müde wird zu erklären, näm-lich „Cinema for peace“.

Gegründet nach den Anschlägen vom Elften September 2001, veranstaltet dieser „Zusammenschluss von Phil-anthropen“ große Charity-Events, darunter die alljährliche „Cinema for Peace Gala Berlin“, deren Erlös stets einem guten Zweck zukommt.

Gewiss, mag man sich nun denken, eigentlich kein besonderes Ereignis. Und in der Tat, jedes Großevent kennt heute diese Form des modernen Ab-lasshandels. Die ganze Party-Meute der A-, B- und C-Promis versammelt sich zu einem guten Zweck, damit man danach so richtig mit gutem Gewissen weiterfeiern kann. Eigentlich eine bes-sere Motto-Party – aber immer mit dem Anspruch, ungemein politisch und auf der Höhe der Zeit zu sein. Dementspre-chend musste das Motto der diesjähri-gen Sause natürlich die Fluchtkatas- trophe sein. Und hier galt offensicht-lich die Devise: So groß wie der Schre-cken, so groß auch die Schamlosigkeit.

Für die richtige Einstimmung sorgte bereits der unvermeidliche Ai Weiwei. Wir erinnern uns: Eben noch hatte er am Strand von Lesbos den ertrunke-nen kleinen Aylan nachgestellt. „Ich bin sicher, es war nicht sehr bequem, sich so auf die Kieselsteine zu legen“, hatte damals sein Fotograf Rohit Chawla um den chinesischen Groß-künstler gebangt. Doch immerhin fanden sich, soviel Belohnung muss sein, bei der India Art Fair in Neu-

Delhi eine Menge solventer Kunstlieb-haber und Galeristen, die sich für das Bild interessierten. Offensichtlich ist Weiwei dabei auf den Geschmack ge-kommen. Denn nun drapierte er für die „Cinema for Peace Gala Berlin“ die gesamte Säulenfront zum Konzerthaus am Gendarmenmarkt mit hunderten ganz realer Schutzwesten von Les-bos-Flüchtlingen. Das nennt man wohl kreative Zweitverwertung.

Doch damit sich all die gepamper-ten Stars nicht zu sehr gruselten, hat-te man vorsichtshalber den Schriftzug „Safe Passage“, „Sichere Überfahrt“, über ihren Köpfen angebracht. Man soll es mit der Authentizität schließlich auch nicht übertreiben.

Der zynische Höhepunkt war aller-dings erst erreicht, als sich die anwe-senden Promis auf Geheiß in die be-reitgelegten Originalrettungsdecken hüllten. Da konnte man sie nun alle in ihren goldigen Folien munter kuscheln und kreischen sehen: Wolfgang Joop und Sarah Wiener, Charlize Theron und Nadja Tolokonnikowa, einstmals aufmüpfiges Pussy-Riot-Girl, nun aber längst im westlichen Jetset angekom-men, Arm in Arm posierend mit dem Hollywood-Star beim „Soli-Selfie“.

Da passt es, dass soeben ihr neues Buch erschienen ist: „Anleitung für eine Revolution“. Wie heißt es treffend auf der ersten Seite: „Verkaufe Deine Seele nicht zu billig.“ Wohl wahr.

Nein, dieser Höhepunkt war kein Höhepunkt. Und dennoch ist er „Gold“ wert, treibt er doch den obszönen Irr-sinn der realexistierenden Charity-In-dustrie sichtbarerweise auf die Spitze. Vorläufig jedenfalls. Denn wer wollte behaupten, dass es nicht noch obszö-ner ginge? Es gibt kein richtiges Leben im falschen, wusste Adorno, doch ein immer schamloseres gibt es allemal. Die Charity-Karawane ist jedenfalls längst weiter gezogen – und die nächs-te ausschlachtbare Katastrophe kommt ganz bestimmt.

Scham und Charity

Jan Kursko

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Nach den zahlreichen Übergriffen in der Kölner Silvesternacht1 stellte Vizekanzler Sigmar Gabriel klar: Regierung und Behörden werden

mit den Flüchtlingen, sofern sie überhaupt Asyl in Deutschland bekommen, nicht zimperlich umgehen. Gefordert seien jetzt ein starker Staat und „ver-bindliche Integrationsvereinbarungen“: „Wo derjenige, der kommt, sagt, was er braucht – und wir sagen, was wir fordern. Das funktioniert auf dem Arbeitsmarkt gut, und so etwas brauchen wir auch bei der Integration von Flüchtlingen.“2

Bis dahin hatte vor allem die Union von Integrationsvereinbarungen gesprochen und Leistungskürzungen angedroht, sollte ein Sprachkurs nicht wahrgenommen werden. Nun macht auch die SPD immer deutlicher, nach welchem Muster sie sich das Zusammenleben in Deutschland vorstellt. So betont auch Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles, die Flüchtlinge müss-ten Leistungskürzungen hinnehmen, wenn sie sich nicht integrierten.3 Damit variiert sie ein bekanntes Motto: „Fördern und Fordern“. Hinter die-sen drei Worten stand vor zehn Jahren schon einmal ein großer Plan zur Inte-gration von Menschen – seinerzeit in den Arbeitsmarkt.

Auch heute, da die ersten Gesetze zur schnelleren Abschiebung straffäl-lig gewordener Ausländer bereits beschlossen sind, geht es neben den Fra-gen der Wohnung und der Bildung vor allem um eines: wie aus Flüchtlingen Steuerzahler werden. Nicht zuletzt deshalb hat mit Frank-Jürgen Weise jener Mann, der schon die Jobcenter aufgebaut hatte, neben der Bundesagentur für Arbeit auch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge übernommen.

Doch bevor die Geflüchteten in der deutschen Berufswelt ankommen kön-nen, werden Hunderttausende von ihnen zumindest einen Zwischenhalt im Hartz-IV-System einlegen. Vielen, die sich hier ein Leben aufbauen wollen, droht nicht nur eine Existenz in Massenunterkünften und die Gefahr von Anschlägen – sondern auch die große Disziplinierung. Das jedenfalls lassen die bisherigen Erfahrungen mit Hartz IV erwarten. Deutlich wird dies, ers-

1 Vgl. Albrecht von Lucke, Staat ohne Macht, Integration ohne Chance, in: „Blätter“, 2/2016, S. 5-8; Annett Mängel, Sexualisierte Gewalt: Nein heißt Nein!, in: „Blätter“, 2/2016, S. 9-12.

2 Vgl. „Bericht aus Berlin“, ARD, 10.1.2016.3 Vgl. dazu Anke Schwarzer, Integration im Sanktionsmodus, in dieser Ausgabe.

Die Verachtung der ArmenVom Bild des faulen Arbeitslosen zur Figur des »Asylschmarotzers«

Von Sebastian Dörfler und Julia Fritzsche

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tens mit einem Blick auf den Alltag der Jobcentermitarbeiter, zweitens auf die Folgen für Betroffene und drittens auf den ideologischen Kitt, der das Hartz-IV-System erst ermöglicht – die kollektive Verachtung der Armen.

Kampf um jeden Euro

Bis zur Jahresmitte könnten 200 000 Geflüchtete zu Hartz-IV-Empfängern werden, erwartet Weise. Doch allen geforderten Investitionsprogrammen für mehr Beschäftigung, allen angekündeten Entbürokratisierungen und speziellen Angeboten für Flüchtlinge zum Trotz: An der Struktur der 400 Jobcenter wird sich so schnell nichts ändern. Dabei kommen die Mitarbei-terinnen und Mitarbeiter schon jetzt nicht hinterher: hier ein Antrag für die Wohnungsrenovierung, dort für Umstandskleidung – die durchschnittliche Akte eines Hartz-IV-Empfängers umfasst derzeit etwa 650 Seiten.4 Außer-dem ändern sich die Vorschriften ständig.

Die totale Bürokratisierung resultiert aus einer Form der Grundsicherung, die Betroffene zum Kampf um jeden Euro zwingt. Auch die Erhöhung des Hartz-IV-Regelsatzes um fünf auf nunmehr 404 Euro zu Beginn dieses Jah-res kann das nicht verschleiern. Faktisch steht Erwerbslosen heute weniger Geld zur Verfügung als bei der Einführung von Hartz IV im Jahr 2005: Wäh-rend der Regelsatz in den vergangenen 10 Jahren um 16 Prozent gestiegen ist, gingen die Preise für Nahrungsmittel um 24 Prozent nach oben. Vor die-sem Hintergrund fordert der DGB eine Grundsicherung von 491 Euro.

Doch selbst diese Summe wäre noch zu niedrig. Das haben die Betroffenen selbst immer wieder deutlich gemacht, zuletzt bei einem Austausch mit dem Bundesministerium für Arbeit und Soziales, der den Fünften Armuts- und Reichtumsbericht vorbereiten sollte. Sie seien sozial ausgegrenzt, erklärten die Armen den Ministeriumsmitarbeitern. Daher forderten sie eine Grundsi-cherung von 1200 Euro netto und einen Mindestlohn von 14 Euro pro Stunde. Das Ministerium dankte für den „Dialog“ und hielt fest, „dass an manchen Stellen die Gesetzgebung in der Theorie zwar gut ist, es aber in der prak-tischen Umsetzung zu Problemen kommt, z. B. bei unzureichender Hilfe zu Aktivierung und zu unspezifischer Unterstützung.“5 Die Antwort suggeriert: Im Prinzip wäre es möglich, jedem einen passenden Job zu vermitteln, wie es der Anspruch des Arbeitsamts in den 1980er Jahren war.

Vom Makler zum Disziplinierungsapparat

Denn bis in die 80er Jahre waren die Arbeitsämter eine Art Makler: Die Mit-arbeiterinnen und Mitarbeiter pflegten einen vergleichsweise guten Kontakt zu den Erwerbslosen und sollten deren Chancen auf Lohnarbeit steigern,

4 Vgl. „Süddeutsche Zeitung“ (SZ), 26.1.2016.5 Vgl. Dokumentation des Workshops mit von Armut Betroffenen im Rahmen des Fünften Armuts-

und Reichtumsberichts der Bundesregierung (5. ARB), www.bmas.de.

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indem sie ihnen immer wieder Angebote machten. Den Erwerbslosen blieb es überlassen, welchen Job sie annahmen. Damals suchte die Wirtschaft allerdings überall nach Arbeitskräften.

Das ist heute anders: Zwar ist die offizielle Arbeitslosenzahl mit 2,8 Millio-nen die niedrigste seit 20 Jahren, doch zum einen bereinigen die Jobcenter ihre Bilanz mit statistischen Tricks. Und zum anderen müssen viele Men-schen Hartz IV beantragen, obwohl sie einen Job haben. Denn inzwischen arbeitet jeder vierte Beschäftigte im Niedriglohnsektor – eine halbe Million Menschen arbeitet sogar Vollzeit und kann dennoch Miete, Strom, Heizung und Krankenversicherung nicht zahlen.6 Insgesamt leben somit sechs Millio-nen Bundesbürger von Hartz IV, unter ihnen immer mehr Alte, Alleinerzie-hende und Kinder. Längst klagen Suppenküchen und Tafeln über Überforde-rung, Verbände befürchten einen Anstieg der Obdachlosigkeit.

Die Jobcenter befinden sich heute also in einer paradoxen Situation: Beschäftigung für alle gibt es nicht mehr – nur noch 14 Prozent der Erwerbs-losen können sie überhaupt in Arbeit vermitteln. Dennoch bleibt ihr obers-tes Ziel, „die Hilfebedürftigkeit zu reduzieren“. Entscheidend dabei ist aber: Dies bemisst sich nicht an konkreter Hilfe für Betroffene, sondern an der Reduzierung der Ausgaben pro Person. Das zeigt auch eine Untersu-chung des Hamburger Instituts für Sozialforschung zur Arbeit im Jobcenter. Für die Jobvermittlung besteht demnach so gut wie kein Raum mehr.7 Weil der Arbeitsmarkt kaum noch Chancen bietet, sehen die meisten Jobcenter-mitarbeiter ihre Hauptaufgabe darin, die Erwerbslosen zur Eigeninitia-tive aufzufordern. Über kurzzeitige Maßnahmen wie Weiterbildungen und 1-Euro-Jobs wollen sie diese „in Bewegung“ – und damit aus der offiziellen Arbeitslosenstatistik heraushalten.

Um die Menschen gefügig zu machen und gleichzeitig Geld einzusparen, greifen die Mitarbeiter häufig zu Sanktionen. Diese sind der Inbegriff dafür, wie sich die Jobcenter vom einstigen Makler zum aktivierenden Disziplinar-apparat gewandelt haben. Wenn jemand zu einem Termin nicht erscheint oder eine Maßnahme des Jobcenters nicht mitmacht, können die Mitarbeite-rinnen und Mitarbeiter stufenweise die Bezüge kürzen. Eine Million solcher Sanktionen verhängen sie im Jahr.

Die Folgen für die Hartz-IV-Bezieher

Die langzeiterwerbslose Christel T. aus Berlin hat das erlebt. Vor zwei Jahren erteilte ihr das zuständige Jobcenter stufenweise Sanktionen. Erst wurden 30 Prozent ihres Hartz-IV-Satzes einbehalten, dann 60, schließlich 100 Pro-zent. Von den ursprünglich 399 Euro blieben der zu diesem Zeitpunkt bereits

6 10,85 Mrd. Euro hat der Staat im Jahr 2014 für die Subventionierung dieser Niedrigeinkommen bezahlt – der höchste Wert seit der Finanzkrise. Für das Jahr 2015 gibt es noch keine abschließen-den Zahlen, der Mindestlohn hat jedoch eine geringe Verbesserung gebracht, vgl. Steffen Sell, Die Aufstocker im Hartz-IV-System, www.aktuelle-sozialpolitik.blogspot.de, 15.1.2016.

7 Vgl. Zwischen Vermessen und Ermessen. Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Hamburger Job-centers als wohlfahrtsstaatliche Akteure, www.diakonie-hamburg.de.

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obdachlosen Christel T. also null Euro. Die Folgen schilderte sie in einem Schreiben an das Jobcenter: „Ich bin wohnungslos und weiß nicht, wo ich nächste Woche schlafen soll, und Sie wollen, dass ich ohne Geld für die Bahn zu Fuß zur Berliner Stadtreinigung laufe, acht Stunden Winterdienst mache, ohne dass ich Geld habe, mir etwas zu essen oder zu trinken zu kaufen. Dann soll ich beim Jobcenter belegen, dass ich gearbeitet habe – also wieder durch die Kälte und mir dann noch einen Schlafplatz suchen.“8 Statt einer Antwort kam die nächste Sanktion: eine Kürzung um 110 Prozent. Im März 2014 lief Christel T. deshalb mit einem Schild zum Jobcenter in Berlin-Friedrichshain: „Minus 110 Prozent Menschenwürde“ stand darauf. Unter dem Motto „Das Jobcenter frisst uns die Haare vom Kopf“ zog sie weiter zur Berliner Senats-verwaltung, rasierte sich dort die Haare ab und schob sie in einem Umschlag in den Briefkasten.9

Im Juli 2015 trat der erwerbslose und ebenso „vollsanktionierte“ Ralph Boes vor dem Brandenburger Tor aus Protest gegen die Sanktionen in den Hungerstreik.10 Alles, was ihm vom verfassungsrechtlich zugesicherten Existenzminimum blieb, waren Lebensmittelgutscheine des Jobcenters, das auf Nachfrage erklärte, nach geltendem Recht zu handeln. 133 Tage später brach er sein Fasten ab.

Doch selbst durch Aktionen wie diese dringen das Sanktionssystem und seine Folgen kaum zu einer breiteren Öffentlichkeit vor.11 Jetzt soll das Bun-desverfassungsgericht prüfen, ob es zulässig ist, mit Sanktionen das gesetz-liche Existenzminimum zu umgehen. Denn der Gesetzgeber sieht keinen Handlungsbedarf und hat im Oktober 2015 sogar eine noch härtere Sank-tionsregelung für unter 25jährige bestätigt.12 Bis zur Entscheidung der Karls-ruher Richter bleibt Erwerbslosen nur der Gang zum Sozialgericht. Sie kla-gen damit vor dem gleichen Gericht gegen ihre Sanktionen, vor dem immer mehr Geflüchtete Leistungen wie Überbrückungsgelder einfordern.

Das Bild des »faulen Arbeitslosen«

Wenn Behörden und Politik heute Erwerbslose und demnächst auch immer mehr Geflüchtete ohne großes Aufsehen disziplinieren können, so ist das nur möglich, weil unsere Gesellschaft es tief verinnerlicht hat, Arme zu ver-achten und sie für ihr Schicksal selbst verantwortlich zu machen. Am besten zur Geltung kommt diese Ideologie im Bild des „faulen Arbeitslosen“, das vor

8 Das berichtet Christel T. in der Radiosendung „Zündfunk“: „‚Prolls, Assis und Schmarotzer‘ – Warum unsere Gesellschaft die Armen verachtet“, Bayern 2, 19.7.2015.

9 Vgl. „Erwerbslose schneidet sich aus Protest die Haare ab“, www.youtube.com.10 Vgl. www.wir-sind-boes.de.11 Die ehemalige Arbeitsvermittlerin eines Hamburger Jobcenters, Inge Hannemann, kritisierte die

Sanktionspraxis schon während ihrer dortigen Tätigkeit. Anfang Februar stellte sie mit Mitstreitern das Projekt „Sanktionsfrei“ vor, dass Hartz-IV-Empfänger über ihre Widerspruchsrechte informie-ren und unterstützen will: www.sanktionsfrei.de.

12 Ihnen werden in einem ersten Schritt die Bezüge für drei Monate gestrichen und in einem zweiten die Zuschüsse für Miete und Heizung. Das Argument hierfür spielt perfide die Nöte der einen gegen die der anderen aus: „Durch die Vereinfachungen im Leistungsrecht werden in den Jobcentern mehr Kapazitäten frei, sich um Flüchtlinge zu kümmern.“ Vgl. SZ, 28.10.2015.

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allem in ökonomischen Krisen immer wieder auftaucht. Dies begann bereits Ende des 19. Jahrhunderts während der Industrialisierung. Durch konjunk-turelle Schwankungen verloren immer wieder Menschen ihre Arbeit in den Fabriken, und Erwerbslosigkeit wurde erstmals überhaupt in größerem Maße statistisch erhoben. Dieses neue Phänomen erklärten sich viele Menschen damit, dass die Arbeitslosen sich eben nicht genügend angestrengt hätten. Sie trügen daher selbst an ihrem Schicksal Schuld. Seitdem kehrt das Bild einer „nutzlosen Menschenklasse“ regelmäßig wieder. Im Extremfall führen solche Vorstellungen gar zu Verfolgung und Vernichtung. Die Nationalsozialisten etwa sprachen von „parasitärem Leben“ und von Menschen, die dem angeb-lich hart arbeitenden Volkskörper schadeten und daher zu beseitigen seien.

Während der kurzen Phase des westdeutschen „Wirtschaftswunders“, als die meisten Bürger Arbeit hatten und sozial abgesichert waren, verschwand die Vorstellung vom „faulen Arbeitslosen“ weitgehend. Doch als in den 1970er Jahren das Wachstum einbrach und in vielen westlichen Industrie- nationen der Neoliberalismus triumphierte, erreichte auch die Erzählung vom selbstverschuldet Erwerbslosen ihren nächsten Höhepunkt. „So etwas wie eine Gesellschaft gibt es nicht. Es gibt einzelne Männer und Frauen, und es gibt Familien. Und die Regierung kann nur durch die Menschen etwas erreichen, und die Menschen müssen zuerst auf sich selbst schauen“, erklärte die britische Premierministerin Margret Thatcher 1987 in einem Interview mit dem Frauenmagazin „Women’s Own“. Zeitgleich schrumpfte sie den Sozialstaat, senkte Steuern für Unternehmen und Wohlhabende und priva-tisierte öffentliche Güter und Einrichtungen. Der britische Historiker und Autor Owen Jones beschreibt den Nutzen dieser Denkweise so: „Weil es gar nicht so leicht ist, den Sozialstaat zu zertrümmern, verurteilt die Regierung diejenigen, die auf ihn angewiesen sind.“13 Die Dämonisierung der Armen bildet für Jones das ideologische Fundament einer ungleichen Gesellschaft: „Wer denkt, dass Armut und Arbeitslosigkeit ein Zeichen von persönlichem Versagen sind, fragt sich, wozu ein Sozialstaat überhaupt nötig ist. […] Unten ist, wer dumm, faul und unmoralisch ist.“14 Ohne diese Dämonisierung der Armen wäre ihre Disziplinierung kaum möglich.

Unterschichtsdebatte und Agenda 2010

In Deutschland kam die neoliberale Wende zwar erst zwei Jahrzehnte später als in Großbritannien und den USA, dafür aber so stark wie in kaum einem anderen europäischen Land. Und sie wurde angemessen ideell begleitet. Bundeskanzler Helmut Kohl warnte bereits 1994 im Parlament vor einem „kollektiven Freizeitpark“ und prägte den Begriff der „sozialen Hänge-matte“. Doch erst „Medienkanzler“ Gerhard Schröder schaffte es, mit Hilfe bereitwilliger Journalisten das Bild von zu disziplinierenden Menschen zu verfestigen, die man „fördern und fordern“ müsse. Damit bereitete er seiner

13 Owen Jones, Prolls. Die Dämonisierung der Arbeiterklasse, Mainz 2012, S. 41.14 Ebd., S. 13 f.

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Agenda 2010 und dem heutigen Sanktionssystem den Weg. Als Schröder 2001 merkte, dass er die Arbeitslosigkeit nicht wie im Wahlkampf verspro-chen halbieren konnte, beschwor er in der „Bild“ eine altbekannte Vorstel-lung: „Wer arbeiten kann, aber nicht will, der kann nicht mit Solidarität rech-nen. Es gibt kein Recht auf Faulheit in unserer Gesellschaft! Das bedeutet konkret: Wer arbeitsfähig ist, aber einen zumutbaren Job ablehnt, dem kann die Unterstützung gekürzt werden.“15 In den folgenden Jahren verschärfen Politik und Medien das Bild des „dreisten Sozialschmarotzers“.

Ab Mitte der nuller Jahre war die Agenda 2010 verwirklicht, Arbeitslo-sengeld und Sozialhilfe waren zusammengelegt, und die Jobcenter wurden endgültig vom Makler zum Disziplinarapparat. Die Diskussion in Deutsch-land kreiste nunmehr weniger darum, dass mit der Agenda 2010 mehr Men-schen ökonomisch ausgegrenzt wurden, sondern schrieb der sogenannten Unterschicht ein Verhalten zu, das nicht den bürgerlichen Werten und den Erfordernissen der Leistungsgesellschaft entspräche.

TV-Entertainer Harald Schmidt erfand dafür die Figur der Chips essen-den Jugendlichen „Fetti“ und „ihrer Unterschichtenbande“ und verkün-dete – natürlich total ironisch: „White trash! Das klingt sehr kompliziert, ist aber sehr einfach. Wir haben immer mehr Subproletariat, also Leute, die sich im Grunde verabschiedet haben aus der Gesellschaft, auch nicht mehr an Wahlen teilnimmt, für niemanden mehr zu erreichen ist.“16 Selbst Wissen-schaftler wie der liberal-konservative Historiker Paul Nolte übernahmen unhinterfragt den Begriff des „Unterschichtenfernsehens“. Die „Unter-schichts-Debatte“ der nuller Jahre suggerierte also erneut: Die Armen haben sich aus freien Stücken aus der Gesellschaft zurückgezogen und sind nicht selten faul, frech und dreist. Übertroffen wurde das noch vom Wirtschafts-ministerium unter Wolfgang Clement. Es erhob seinerzeit nicht nur den Vor-wurf der „Abzocke“ und „Selbstbedienung im Sozialstaat“, sondern griff sogar auf das gefährliche Bild der „Parasiten“ zurück.17

Wenige Jahre später, zu Beginn der Eurokrise, ging Arno Dübel durch die Medien, ein Erwerbsloser, über den die „Bild“ 2010 gleich 37 Artikel wie diesen schrieb: „323 Euro bekommt Arno Dübel monatlich vom Staat zum Leben. Das geht vor allem für Zigaretten und Alkohol drauf. Dübel ist Ketten-raucher, sitzt den ganzen Tag auf seinem grünen Sofa, schaut fern.“ Auch das öffentlich-rechtliche Fernsehen holte Dübel in die Arena und lud ihn zu den Talkshows von Sandra Maischberger und Johannes B. Kerner ein. Und der Privatsender RTL zeigte Dübels vermeintlichen Alltag: „Während die arbei-tende Bevölkerung schon seit Stunden auf den Beinen ist, steht Arno ganz gemütlich gegen elf Uhr auf und macht es sich erst einmal im Wohnzimmer bequem.“18

15 Vgl. Gerhard Schröder, „Es gibt kein Recht auf Faulheit“, Interview, in: „Bild“, 6.4.2001.16 Vgl. „Harald Schmidt, Fetti und die Unterschichtenbande“, www.youtube.com.17 „Biologen verwenden für Organismen, die zur Befriedigung ihrer Nahrungsbedingungen auf Kos-

ten anderer Lebewesen – ihren Wirten – leben, übereinstimmend die Bezeichnung ‚Parasiten’.“ Vgl.: Bundeswirtschaftsministerium, Vorrang für die Anständigen. Gegen Missbrauch, Abzocke und Selbstbedienung im Sozialstaat, Berlin 2005, S. 10.

18 Vgl. „ZAPP Medienmagazin“, Reportage über den Hartz-IV-Medienliebling Arno Dübel, www.youtube.com.

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Die Figur des „faulen Arbeitslosen“ dient als Gegenbild zum Ideal unserer Leistungsgesellschaft: dem gepflegten, konsum- und ernährungsbewussten Menschen, der morgens um sechs joggen geht, im Altbauviertel statt im Plat-tenbau wohnt und 3sat oder Arte statt Privatfernsehen schaut. Diese Verach-tung der Armen ist die ideologische Rechtfertigung dafür, dass der reichere Teil der Gesellschaft weiter auf Kosten des ärmeren leben kann. Denn so gerät viel zu oft aus dem Blick, dass die Ungleichheit weiter wächst und sich in Deutschland 10 Prozent der Haushalte auf 52 Prozent des Nettovermögens ausruhen können.19

Nach oben buckeln, nach unten treten

Die Abwertung der Armen untergräbt zudem den gesellschaftlichen Zusam-menhalt: Zerrbilder von Arno Dübel, „Fetti“ und der „Unterschichtenbande“, von angeblichen „Parasiten, Schmarotzern und Abzockern“ sind Ausdruck einer Gesellschaft, die Menschen nur noch nach ihrem Nutzen für die Wirt-schaft beurteilt. Diese Vorstellungen wirken in den Jobcentern, die Erwerbs-lose faktisch dafür bestrafen, dass es für sie keine Arbeitsplätze mehr gibt. Und sie wirken in den Köpfen derer, die den Wohlstand des deutschen Steuer-zahlers von „faulen Griechen“ und „Armutsmigranten“ bedroht sehen.

Das zeigen auch die Forschungsergebnisse der Wissenschaftler um den Bielefelder Soziologen Wilhelm Heitmeyer und die Mitte-Studien der Uni-versität Leipzig. Diese versuchen regelmäßig, die Verbreitung rassistischer, sexistischer oder antisemitischer Einstellungen zu erfassen. Sie kommen zu dem Ergebnis: Gegenüber welcher Minderheit sich die Befragten besonders abwertend äußern, hängt immer davon ab, welche Normen und Vorstellun-gen in der Mehrheitsgesellschaft gerade identitätsbildend sind – und von welchen Gruppen diese sich besonders deutlich abgrenzt.

Als Heitmeyer 2008 – nachdem die Hartz-Gesetze etabliert waren und die Bilder vom „faulen Arbeitslosen“ schon einige Zeit kursierten – erstmals die Langzeitarbeitslosen in die Untersuchung aufnahm, avancierten diese sofort zur am stärksten abgewerteten Gruppe: 57 Prozent der Befragten stimmten der Aussage zu: „Ich finde es empörend, wenn sich die Langzeitarbeitslosen auf Kosten der Gesellschaft ein bequemes Leben machen.“20 Da hatte sich die Vorstellung, Erwerbslose trügen die alleinige Schuld an ihrer Lage und würden es sich zu Lasten der Mehrheit gut gehen lassen, schon fest in den Köpfen verankert.

Mittlerweile hat sich der Kreis der „unwürdigen Armen“ erweitert: Seit Beginn der Wirtschaftskrise richtet sich der Zorn weniger auf die alteingeses-sene „Unterschicht“ als vielmehr auf vermeintlich faule Europäer, nament-lich Griechen – und zunehmend auf Migrantinnen und Migranten. Nicht zufällig spricht Thilo Sarrazin in seinem Bestseller „Deutschland schafft sich ab“ von einer vererbbaren „Unterschichtskultur“ der muslimischen Bevöl-

19 Vgl. Kluft zwischen Arm und Reich wird noch größer, www.tagesschau.de, 25.1.2016.20 Wilhelm Heitmeyer, Deutsche Zustände 10, Frankfurt a. M. 2012, S. 39.

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kerung. Gleichzeitig schüren einige Politiker und Journalisten das Bild von Asylbewerbern, die das deutsche Sozialsystem ausbeuten würden. Der baye-rische Ministerpräsident Horst Seehofer hat schon 2011 gedroht, er wolle sich „bis zur letzten Patrone“ gegen „eine Zuwanderung in die deutschen Sozial-systeme“ wehren.21 Gemeint waren damit vor allem Roma aus Bulgarien und Rumänien.

Nicht nur Seehofer versucht, die einen Armen gegen die anderen auszu-spielen. Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble, der um seine schwarze Null fürchtet, hat bereits erwogen, die Sozialleistungen für Geflüchtete zu senken. Seine Begründung: Wer gerade erst nach Deutschland gekommen ist und noch die Sprache lernen muss, könne nicht ebenso viel Grundsiche-rung bekommen wie jemand, der hier 30 Jahre gearbeitet hat.22 Doch wenn Menschen nach 30 Jahren Arbeit nur wenige hundert Euro Grundsiche-rung erhalten, so hat das nichts mit Flüchtlingen zu tun. Vielmehr ist es eine direkte Folge der Hartz-Reformen.

Ermuntert von solchen Debatten können sich heute die Demonstranten gegen Flüchtlingsunterkünfte zuverlässig auf zwei Parolen einigen –„Asyl-missbrauch“ und „Schmarotzer“. „Es geht hier offenkundig darum, eigene soziale Privilegien durch die Abwertung und Desintegration von als ‚nutz-los’ etikettierten Menschen zu sichern oder auszubauen“, beobachtete Wil-helm Heitmeyer schon 2012. Er warnte seinerzeit eindringlich: „Die geballte Wucht, mit der Eliten einen rabiaten Klassenkampf von oben inszenieren, und die rohe Bürgerlichkeit, die sich selbst in der Opferrolle wähnt und des-halb schwache Gruppen abwertet, zeigt, dass eine gewaltförmige Desinte-gration auch in dieser Gesellschaft nicht unwahrscheinlich ist.“23 Bei über 1000 Angriffen auf Flüchtlingsunterkünfte allein im Jahr 2015 bleibt nur der Schluss: Diese Desintegration der Gesellschaft ist längst erreicht.

21 Vgl. „Horst Seehofer ‚bis zur letzten Patrone‘“, www.youtube.com.22 Vgl. Schäubles Gedankenspiele zu Hartz IV, www.tagesschau.de, 13.10.2015. Vgl. dazu auch:

Christel T., Wie die mediale Ignoranz Erwerbslosen gegenüber auch Geflüchtete betrifft, www.job-centeraktivistin.wordpress.com, 22.1.2016.

23 Heitmeyer, a.a.O., S. 35.

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Daran, dass sich derzeit in beinahe allen Ländern Europas eine explizit rechte, nicht mehr nur konservative Grundstimmung verfestigt, kann

kein Zweifel bestehen. Und dies dem Umstand zum Trotz, dass keineswegs alle Länder von den üblichen Ursachen derartiger Stimmungen betroffen sind. In Deutschland zum Beispiel ist die soziale und ökonomische Lage so gut wie seit mehr als zwanzig Jahren nicht mehr: Die Arbeitslosigkeit hat sich bei etwa sechs Prozent eingependelt, die Steuereinkommen sprudeln, sogar die Renten sind leicht angestiegen, das Exportgeschäft boomt noch immer ungebrochen und der Handel verbucht (auch infolge der Fluchtbewegung) eine anhaltende Nachfrage.

Einzuräumen ist, dass die Kluft zwischen den höchsten und niedrigsten Einkommensgruppen immer größer wird und die Zahl prekärer Beschäfti-gungsverhältnisse konstant hoch bleibt. Aber erklärt das bereits die erstaun-liche Konjunktur rechtspopulistischer Stimmungen und rechtsradikaler Ein-stellungen? Und kann diese Neue Rechte überhaupt auf ein theoriefähiges Programm zurückgreifen – gerade in Deutschland, da ja noch immer zu gel-ten scheint, dass alles, was in irgendeiner Weise an die Zeit des Nationalso-zialismus erinnert, in der Arena der Öffentlichkeit tabu ist?

Von den Identitären zur AfD

Der dem systemtheoretischen Denken Niklas Luhmanns verpflichtete Sozio-loge Armin Nassehi, er lehrt und forscht an der Universität München, hat 2015 ein bemerkenswertes, provokatives Buch unter dem Titel „Die letzte Stunde der Wahrheit. Warum rechts und links keine Alternativen mehr sind und Gesellschaft ganz anders beschrieben werden muss“ publiziert. In diesem Buch, das nicht zuletzt durch seinen Briefwechsel mit dem Rechts- intellektuellen Götz Kubitschek auffällt, will Nassehi nicht nur nachweisen, dass linkes, universalistisches Denken schon deshalb die Gesellschaft nicht ändern kann, weil die Vertreter dieses Denkens de facto „rechts“ leben, son-dern auch eine – freilich zu kurz greifende – Charakterisierung „rechten“ Denkens geben: „Rechts zu denken, heißt“ laut Nassehi, „dass man mensch-

Das alte Denken der neuen RechtenMit Heidegger und Evola gegen die offene Gesellschaft

Von Micha Brumlik

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liche Existenz nur als unhintergehbare Gruppenexistenz denken kann – mit allen Konsequenzen, die das dann theoretisch normativ und auch politisch hat. Menschen sind dann in erster Linie Mitglieder größerer Gemeinschaf-ten, und die Lösung gesellschaftlicher Probleme wird letztlich der Homo- genität beziehungsweise der inneren Kohäsion einer solchen Gruppe auf-erlegt. Die Vorbedingung für die rechte Idee der Volkssolidarität war die linke Idee der Volkssouveränität. Beide sind gleichursprünglich entstanden.“1

Zweifellos stellen kulturalistisch gedeutete Homogenitätsannahmen eine Grundlage des neuen, rechten Denkens dar – allerdings nur eine. Mindes-tens so bedeutsam sind Konzepte einer Politisierung des Raums sowie Über-legungen zur (Re)sakralisierung sozialer Funktionen, insbesondere von Herrschaft.

Alle drei Elemente – kulturalistisch gedeutete Homogenität, Politisierung des Raumes sowie Wiederverzauberung gesellschaftlicher Funktionen – schießen in den politischen Überzeugungen jener Gruppen zusammen, die sich in Österreich und Deutschland mit Blick auf Frankreich als „Identitäre“ bezeichnen, auf die französische „Nouvelle Droite“ des noch immer aktiven Alain de Benoist zurückgehen und dessen  ethnopluralistische  Vorstellun-gen vertreten. Demnach hat jede Ethnie ein eigenes Lebensrecht, aber nur in dem ihr zustehenden Raum. Im Internetauftritt des österreichischen Arms der Bewegung wird die identitäre Idee als „eine Botschaft der Freiheit und Selbst-verwirklichung jedes Volkes und jeder Kultur im Rahmen ihres eigenen Cha-rakters“ dargestellt, ihre Botschaft beinhalte daher „0 % Rassismus“.2

Wer sich zu seiner regionalen, nationalen und kulturellen Herkunft bekennt, ist und lebt damit „identitär”. Bei alledem geht es nicht um die dump-fen Ressentiments der Pegida-Demonstranten, sondern um ein Spektrum von Personen und Medien, die – angefangen von der rechtsreformistischen Wochenzeitung „Junge Freiheit“ über die Bücher des „Antaios Verlages“, die Publikationen des „Instituts für Staatspolitik“, die Jugendzeitschrift„Blaue Narzisse“ bis hin zur Zeitschrift „Sezession“ – darum bemüht sind, rechtes Denken zu rehabilitieren. Nicht zu vergessen Jürgen Elsässer und die von ihm herausgegebene Zeitschrift „Compact“, der – mit pazifistischen Begründun-gen – ein schon von der „Konservativen Revolution“ der Zwischenkriegszeit angestrebtes deutsch-russisches Bündnis und damit ein fremdenfeindliches, autoritäres Regierungsprojekt propagiert. Dass es hier durchaus Verbindun-gen in die AfD gibt, zeigt sich nicht zuletzt daran, dass ein ehemaliger Assis-tent Peter Sloterdijks, der Philosoph Marc Jongen, als Hausphilosoph der AfD in Baden-Württemberg um eine entsprechende Grundlegung seiner Partei bemüht ist – ein Unternehmen, das er – weitestgehend unbemerkt – bereits in der Januarausgabe der Zeitschrift „Cicero“ 2014 angekündigt hatte.3

Autoren und Autorinnen all dieser Publikationsorgane sehen sich dem ver-pflichtet, was sie mit einem Ausdruck Martin Heideggers als „Metapolitik“

1 Armin Nassehi, Die letzte Stunde der Wahrheit. Warum rechts und links keine Alternativen mehr sind und Gesellschaft ganz anders beschrieben werden muss, Hamburg 2015, S. 35.

2 Siehe https://iboesterreich.at/?page_id=505.3 Marc Jongen, Das Märchen vom Gespenst der AfD, in: „Cicero“, 1/2014.

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bezeichnen, also einer sich philosophisch gebenden Lehre von der Politik, die jedoch so kommuniziert werden soll, dass sie als „Gramscianismus von rechts“ kulturelle Kommunikationsmuster bereits im vorpolitischen Raum verändert, um so die Bereitschaft zur Hinnahme von nationaler Schließung, autoritärer Unterordnung und ethnischer Homogenität zu fördern.

Von Martin Heidegger zu Alexander Dugin

Dabei sind die Grenzen zum historischen Faschismus schnell überschritten: Zeitgeistige Kommunikationsformen wie etwa „Metapolitika“, ein Blog der identitären Bewegung, propagieren den Mussolini von rechts kritisierenden Philosophen Julius Evola sowie vor allem den zeitweise auch von Wladimir Putin protegierten Alexander Dugin. Evola, diese hierzulande bisher eher unbekannte Gestalt, wurde – wie neuerdings zu erfahren war – auch von einem der wohl wichtigsten Philosophen des 20. Jahrhunderts, von Martin Heidegger, zustimmend rezipiert.4 Hier herrschte eine Wahlverwandtschaft, weil sich Evola wie Heidegger gegen Kommunismus und „Amerikanismus“ wandte.

Immer wieder Martin Heidegger: Es ist kein Zufall, dass die Debatte um diesen Mann, der seine Mitgliedschaft in der NSDAP niemals aufgab, der – wie die seit 2013 bekannten „Schwarzen Hefte“ unwiderleglich bewei-sen – ein überzeugter Antisemit war und den Juden ihre Ermordung selbst zurechnete, bis heute nicht enden will. Wird sich doch an der Debatte um ihn, zumal nach dem Bekanntwerden seines „Seinsgeschichtlichen Antisemitis-mus“ (Peter Trawny) erweisen, ob ein der Aufklärung, den Menschenrech-ten, dem Individualismus und der liberalen Demokratie feindliches Denken überhaupt noch eine Chance hat.

Für Alexander Dugin firmiert Heidegger jedenfalls als wesentlicher Gewährsmann seiner radikal antiuniversalistischen Theorie. Gleichzeitig richtet sich die Neue Deutsche Rechte zunehmend an Alexander Dugin aus. So publizierte Jürgen Elsässer in seiner Zeitschrift „Compact“ ein Interview mit dem Philosophen, in dem dieser auf die Frage, warum er die eurasische Idee propagiere, Folgendes zu Protokoll gab: „Weil es sich dabei um ein Kon-zept handelt, welches den Herausforderungen Russlands und der russischen Gesellschaft begegnet. Was sind die Alternativen? Es gibt den westlich-libe-ralen Kosmopolitismus, doch die russische Gesellschaft wird diese Idee nie-mals akzeptieren. Dann gibt es den Nationalismus, der sich für das multieth-nische Russland ebenfalls nicht eignet. Auch der Sozialismus eignet sich nicht als tragendes Ideal für Russland, im Prinzip hat er auch in der Vergangenheit dort nie wirklich funktioniert. Die eurasische Idee ist daher ein realistisches und idealistisches Konzept. Es ist nicht nur irgendeine romantische Idee, es ist ein technisches, geopolitisches und strategisches Konzept, welches von all jenen Russen unterstützt wird, die verantwortungsbewusst denken.“5

4 Siehe „Frankfurter Allgemeine Zeitung“, 30.12.2015.5 Siehe „Compact“, 10/2013.

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Entweder – oder: Selbstmord der Gattung oder die Kehre

Alexander Dugin, geboren 1962, war in den 1990er Jahren stellvertretender Vorsitzender der inzwischen verbotenen nationalbolschewistischen Partei Russlands und von 2010 bis 2014 Professor an der Moskauer Lomonossow-Universität. Als Theoretiker eines „eurasischen“ Kulturraums (im Gegensatz zum „atlantischen“) propagiert er eine „Vierte politische Theorie“, die nach Liberalismus, Faschismus und Kommunismus am ehesten geeignet sei, das Überleben der Menschheit im Zeitalter der Globalisierung zu sichern.

In dem von Dugin verfassten „Manifesto of the Global Revolutionary Alli- ance“ stellt er fest, dass die Phase des Kapitalismus an ihre natürlichen Gren-zen gestoßen, die Ressourcen erschöpft seien, der westlich liberale, kosmo-politische Lebensstil sowie die Kälte des Internets zum Zerbrechen aller gesellschaftlichen Bindungen geführt haben und damit auch das herkömm-liche Bild von Individualität und Individuen zerstört worden sei: „Niemals zuvor wurde der Individualismus so vergöttlicht, während gleichzeitig nie-mals zuvor die Menschen auf der ganzen Welt so ähnlich waren – in ihrem Benehmen, Gewohnheiten, Erscheinungen, Techniken und Geschmäckern. In dem Versprechen der individuellen Menschenrechte hat die Menschheit sich selbst verloren. Bald wird sie durch das Posthumane ersetzt werden: einen geklonten Androiden.“6

In diesem Denken führen Globalisierung und „Global Governance“ zum Ende von Völkern und Nationen, zum Ende eines gehaltvollen Wissens zugunsten einer von den Medien verbreiteten „Realität“ sowie zum Ende eines jeden Fortschritts. Bei Weiterentwicklung der gegebenen Zustände sei nichts anderes als eine apokalyptische Katastrophe zu erwarten. All diese Phänomene zeigen das Ende eines langen historischen Zyklus an, der durch Aufstieg und Niedergang der westlichen Welt seit der Antike, spätestens seit der Renaissance, gekennzeichnet ist – am Ende, so Dugin, steht der Selbst-mord der Gattung. Eine Rettung sei nur durch eine radikale Umkehr, eine grundlegende Neubesinnung auf andere Kategorien des Denkens möglich, eine Besinnung, die schließlich zur Bildung politischer Formationen führen werde, die den Niedergang des Westens und der USA so beschleunigen, dass sie ihn überleben: raumgebundene Völker ohne jeden wechselseitigen Über-legenheitsanspruch.

Die Kehre ins Rechte, Völkische

Es ist dieser Gedanke einer radikalen Umkehr, einer „Kehre“, weswegen Dugin neben dem geopolitischen Denken der Eurasier besonders auf Martin Heidegger verweist.7 An Dugins Überlegungen zu Heidegger wird übrigens auch deutlich, dass es keineswegs erst der Heidegger der „Schwarzen Hefte“

6 Alexander Dugin, The Manifesto of the Global Revolutionary Alliance, in ders., Eurasian Mission. An Introduction to Neo-Eurasianism, London 2014, S. 129-133.

7 2011 publizierte er auf Russisch das Buch „Heidegger: Die Möglichkeit der russischen Philosophie“

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war, der sich ideell dem Nationalsozialismus angenähert hatte, sondern bereits der Autor des wichtigen, allemal Philosophiegeschichte machenden Buches „Sein und Zeit“. An der Rezeption dieses Buches durch Dugin ist unter anderem klärungsbedürftig, warum der völkische, rechte Gehalt die-ses Buches Heideggers Schülern und Freunden wie Herbert Marcuse, Karl Löwith und – last but not least – Hannah Arendt nicht aufgefallen ist. Dugin jedenfalls bezieht sich ausdrücklich auf „Sein und Zeit“ und die Kategorie des „Daseins“.

„Das Volk bedeutet Dasein. Heidegger sagte: Dasein existiert völkisch. [...] Ein konkretes menschliches Wesen zu sein, meint zuallererst Deutscher, Franzose, Russe, Amerikaner, Afrikaner u.s.w. zu sein. [...] Das Völkische ist die Realität, die der Essenz des Menschen am nähesten kommt.“8

Tatsächlich zitiert Dugin ungenau, bezieht sich aber grundsätzlich auf die richtigen Passagen in Heideggers „Sein und Zeit“, nämlich auf den Paragra-phen 74, in dem es heißt: „Wenn aber das schicksalhafte Dasein als In-der-Welt-sein wesenhaft im Mitsein mit anderen existiert, ist sein Geschehen ein Mitgeschehen und bestimmt als Geschick. Damit bezeichnen wir das Geschehen der Gemeinschaft, des Volkes. Das Geschick setzt sich nicht aus einzelnen Schicksalen zusammen, sowenig als das Miteinandersein als ein Zusammenkommen mehrerer Subjekte begriffen werden kann. Im Mitein-andersein in derselben Welt und in der Entschlossenheit für bestimmte Mög-lichkeiten sind die Schicksale im vorhinein schon geleitet. In der Mitteilung und im Kampf wird die Macht des Geschickes erst frei. Das schicksalhafte Geschick des Daseins in und mit seiner ‚Generation’ macht das volle, eigent-liche Geschehen des Daseins aus.“9

Diese Sätze sind – etwa bei Emmanuel Faye bereits 200510 sowie später bei Johannes Fritsche11 – als tragende Motive einer letztlich völkischen Philo-sophie erkannt worden. Tatsächlich werden diese Motive auch nicht erst im späteren Paragraphen 74, sondern bereits in der Exposition von „Sein und Zeit“, im Paragraphen 6, eingeführt. In diesem Paragraphen geht es Hei-degger darum, eine objektivierende Betrachtung der Geschichte zurückzu-weisen und klarzumachen, dass die je richtig ergriffene Vergangenheit dem „Dasein“ vorausgeht, das heißt sein Schicksal in seiner Generation bestimmt – sofern dieses Schicksal kämpferisch ergriffen wird.

Vom Sein zum Raum: Ein eurasischer Denker

Für Alexander Dugin gewinnt diese seinsgeschichtliche Bestimmung aller-dings nur in einer kulturalistischen Theorie des Raumes Bedeutung, einer Theorie, deren Motive er frühen „eurasischen“ Denkern sowie – wiede-

8 Alexander Dugin, Heidegger: Die Möglichkeit der russischen Philosophie, Moskau 2011, S. 115.9 Martin Heidegger, Sein und Zeit, Tübingen 1967, S. 384 f.10 Emmanuel Faye, Heidegger. Die Einführung des Nationalsozialismus in die Philosophie, Berlin

2005.11 Johannes Fritsche, Geschichtlichkeit und Nationalsozialismus in Heideggers „Sein und Zeit“,

Baden-Baden 2014.

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rum – jetzt aber dem späteren Heidegger entnimmt. Indem sich Dugin auf den Ethnographen, Dichter und Philosophen Lew Nikolajewitsch Gumiljow (1912-1992), einen Sohn der Dichterin Anna Achmatowa, bezieht, kann er als „eurasischen“ Idealismus eine Weltsicht bestimmen, gemäß deren jedes „Ethnos“ ein natürliches Gebilde ist, das unter dem Einfluss kosmischer Energien steht, die sein Schicksal verändern können.

Unter „Ethnos“ versteht diese Theorie jede Form menschlicher Gruppen, sofern sie eine gemeinsame Geschichte haben. Die politische Form jedoch, die derlei Gruppen im eurasischen Bereich annehmen, ist – anders als im westlichen Denken – nicht die der „Demokratie“, sondern die der „Demotie“: „Eine solche Partizipation“, so wiederum Dugin, „negiert keine Hierarchien und muss nicht durch parlamentarische Parteistrukturen formalisiert wer-den. Demotia unterwirft sich einem System von Landgerichten, von regio-nalen oder nationalen Regierungen. Es entwickelt sich auf Basis sozialer Selbstherrschaft und der bäuerlichen Welt. Ein Beispiel für Demotia war die kirchliche Hierarchie, die durch die Gemeindemitglieder der frühen Mos-kauer Rus gewählt wurde.“12

Diese „neo-eurasiatische“ Theorie des Politischen beerbt bewusst das Denken der deutschen „Konservativen Revolution“ und setzt dem modernen Denken einen nicht mehr linearen, sondern zyklischen Zeitbegriff ebenso entgegen wie eine Lehre radikal verschiedener Seinsweisen und einer „hei-ligen Geographie“. Daraus aber folgt eine Lehre von der Nicht-Übersetzbar-keit verschiedener in sich geschlossener Kulturen und die Forderung nach wechselseitiger Anerkennung und wechselseitigem Respekt: „Wir sind tief davon überzeugt, dass unser gemeinsames Ziel darin besteht, die spezifische Natur von Nationen, Kulturen, Konfessionen, Sprachen, Werten und philo-sophischen Systemen zu schützen, denn gerade dies als ein Ganzes bedeu-tet den ‚blühenden Reichtum’ unseres Kontinents.“13 Der höchste Wert die-ses Weltverständnisses besteht dann darin, die eigene Identität – also jenes Geschick, jene Geschichte, aus der man hervorgegangen ist – zu bewahren, weshalb auch niemandem das Recht zusteht, einem anderen seine eigene „Wahrheit“, sein eigenes „Wertsystem“, aufzunötigen: „Westen und Osten, jede Konfession, ethnische Zugehörigkeit und Kultur“, so Dugin, „haben ihre eigene Wahrheit. Wir haben jeden Grund, unsere Wahrheit mit anderen zu teilen, aber wir dürfen sie niemals durch Gewalt aufzwingen.“

Mit Volk und Raum gegen den Globalismus

Indem der „Neo-Eurasianismus“ die gegenwärtige Globalisierung als das politische Projekt des atlantischen Westens ansieht, kann er dieser Form der Globalisierung eine andere Form der politischen Gestaltung der Welt ent-gegensetzen, nämlich das Projekt einer strategischen, geopolitischen und ökonomischen Integration des eurasischen Kontinents als der Wiege der

12 Hier und im Folgenden: Alexander Dugin, Eurasian Mission, a.a.O., S. 21.13 A.a.O., S. 39.

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europäischen Geschichte und ihrer Völker.14 Doch spielt auch beim „Neo-Eurasianismus“, wie ihn Dugin propagiert, Heidegger eine nicht geringe Rolle. Wie erst jetzt – nach Erscheinen der „Schwarzen Hefte“ – bekannt wurde, hegte Heidegger – und auch das verbindet ihn mit den Ideologen der „Konservativen Revolution“ – große Hoffnungen mit Blick auf Russland, auf das russische Volk, auf die russische Seele. 1938/1939 jedenfalls notierte Hei-degger, offensichtlich in Kenntnis der Nürnberger Gesetze: „Warum sollte nicht die Reinigung und Sicherung der Rasse dazu bestimmt sein, einmal eine große Mischung zur Folge zu haben: die mit dem Slawentum (dem Rus-sischen – dem ja der Bolschewismus nur aufgedrängt und nichts Wurzel-haftes ist)? Müsste da nicht der deutsche Geist in seiner höchsten Kühle und Strenge ein echtes Dunkel meistern und zugleich als seinen Wurzelgrund anerkennen?“15

In anderen Notaten beschwört Heidegger Dostojewski (der doch in seinen Dämonen habe sagen lassen: „Wer aber kein Volk hat, der hat auch keinen Gott“), um dann programmatisch – in etwa zur Zeit von Hitlers Überfall auf die Sowjetunion – zu behaupten: „Im Wesen des Russentums liegen Schätze der Erwartung des Gottes verborgen, die alle Rohstofflager wesentlich über-treffen.“16 Heidegger schien zu ahnen, dass die Hebung dieser Schätze nicht ohne Krieg gegen die Sowjetunion möglich sein werde, indes: „Grausiger aber noch ist, wenn ohne Blutopfer und äußere Zerstörung ein gegen seine Entwurzelung blindes Volk der Geschichtslosigkeit mit dem größten histori-schen Lärm aller seiner Redner und Zeitungsschreiber entgegentaumelt.“17

Vor diesem Hintergrund wird deutlich, warum – nach dem Ende des büro-kratischen, staatskapitalistischen „Kommunismus“ der Sowjetunion – sich die radikale europäische Rechte dem Russland Putins verbunden fühlt und warum Putin die europäische Rechte von Marine Le Pen bis zu Viktor Orbán finanziell und ideell fördert. Die guten Beziehungen zwischen dem Front National und Putin erscheinen zunächst widersprüchlich, da Le Pen sich doch gar nicht genug mit den Errungenschaften der Französischen Revo-lution und der Republik brüsten kann, indes: Indem Le Pen Revolution und Republik als ausschließlich nationale Errungenschaften Frankreichs ebenso feiert wie etwa Jeanne d’Arc, zieht sie dem Revolutionsgedanken seinen uni-versalistischen, grenzüberschreitenden Stachel und macht das französische Erbe damit – ganz im Geiste de Gaulles – zu einer Ausformung des „Europas der Vaterländer.“ Dabei folgen ihr nicht wenige ehemals antitotalitäre linke, jetzt aber immigrationsfeindlich und nationalistisch gesinnte Intellektuelle, wie zuletzt Alain Finkelkraut, der erst kürzlich in die Académie française berufen wurde, jenen Weihetempel französischer Sprache und Kultur. Damit reicht der politische Raum für das „eurasische Projekt“ inzwischen von Sibi-rien bis zu den Pyrenäen.

14 Bei diesem Programm sind die Schnittflächen mit manchen Formen postkolonialer Theorie nicht zu verkennen – etwa mit dem „postkolonialen“ Theorieangebot des Argentiniers Walter Mignolo, der eine epistemische Entkolonialisierung fordert, das heißt eine Befreiung von westlichen Denkformen.

15 Martin Heidegger, Überlegungen VII-XI, Gesamtausgabe Bd. 95, Frankfurt a. M. 2014, S. 68.16 Martin Heidegger, Überlegungen XII-XV, Gesamtausgabe Bd. 96, Frankfurt a. M. 2014, S. 128.17 Ebd., S. 131.

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Eine politische Theorie des Raumes

Allerdings ist an dieser Stelle auf eine, jedenfalls relative, Richtigkeit der eurasischen Idee hinzuweisen, insofern sie darauf beharrt, dass „Raum“ eine wesentliche politische Kategorie ist, ein Umstand, den westlich-liberale Gesellschaften in den letzten Jahrzehnten zu vergessen sich leisten konn-ten. Pointiert ließe sich sogar von einer „Raumvergessenheit“ des größten Teils des aktuellen politischen Denkens sprechen. Wenn überhaupt über räumliche Aspekte des Politischen gesprochen und gestritten wurde, dann mit Bezug auf den Raum als „Umwelt“ in der ökologischen Debatte oder mit Bezug auf Planung im kommunalen Bereich.

Dass aber „Raum“ nicht nur – wie Kant in der „Kritik der reinen Vernunft“ meinte – eine Form der Anschauung ist, sondern auch ein wesentlicher Modus menschlicher Existenz, darauf hat nicht zuletzt Heidegger in „Sein und Zeit“ hingewiesen; Menschen befinden sich demnach zunächst und vor allem in (!) bereits wie auch immer gestalteten Räumen.

Es bedurfte offenbar der nur durch die Globalisierung möglich geworde-nen Flüchtlingskrise, in der sich Menschen auf langen, gefährlichen Wegen auf die Suche nach einer besseren Heimat machen, um westlichen Gesell-schaften diesen Umstand wieder unmissverständlich zur Kenntnis zu brin-gen. Diese Raumgebundenheit des Menschen war übrigens auch dem nicht nur erkenntnistheoretisch, sondern eben auch politisch-ethisch denkenden Immanuel Kant stets bewusst. Im Paragraphen 62 der „Metaphysik der Sit-ten“ lesen wir: „Die Natur hat sie [nämlich die Völker der Erde, M.B.] alle zusammen (vermöge der Kugelsgestalt ihres Aufenthalts, als globus terra-queus) in bestimmte Grenzen eingeschlossen, und, da der Besitz des Bodens, worauf der Erdbewohner leben kann, immer nur als Besitz von einem Teil eines bestimmten Ganzen, folglich als ein solcher, auf den jeder ein ursprüng-liches Recht hat, gedacht werden kann: so stehen alle Völker ursprünglich in einer Gemeinschaft des Bodens, nicht aber der rechtlichen Gemeinschaft des Besitzes.“ Mit anderen Worten: Nur wenn der Lebensraum der Mensch-heit eine unbegrenzte, unendliche Fläche wäre, entfiele die Notwendigkeit einer rechtlich – und das heißt dann in letzter Instanz politisch – gestalteten Form des von Menschen bewohnten Raums.

Freilich sind auch innergesellschaftliche, politische Instanzen und Insti-tutionen nicht ohne Raumbezug zu verstehen – insbesondere nicht die zumal im breiten linksliberalen Milieu seit Jürgen Habermas sowie Alexander Kluge und Oskar Negt immer wieder beschworene Kategorie der „Öffent-lichkeit“. Es war Hannah Arendt, die in ihrem Buch „Vita Activa“ darauf hin-wies, dass das „Politische“ nicht ohne die konkrete Räumlichkeit eines allen (freien) Bürgern zugänglichen Raumes, der „Agora“ der griechischen Polis (im Unterschied zur Geschlossenheit des privaten Haushalts), zu denken ist. Kein Zufall ist es auch, dass im aktuellen zivilgesellschaftlichen Begriff der „Öffentlichkeit“ die Raumkategorie des „Offenen“ – im Unterschied zum „Ge-“ oder „Verschlossenen“ – mitschwingt, eines Raumes also, in dem sich die Mitglieder des politischen Gemeinwesens mit dem Zeigen ihres Antlitzes

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und also ihrer Individualität wechselseitig anerkennen, zugleich verschonen und sich aufeinander beziehen.

Wer flüchtet, bewegt sich von einem Ort zum anderen, wer flüchtet, pas-siert „natürliche“ Grenzen, also Landschaftsbarrieren sowie „politische“ Grenzen – Demarkationslinien. Die ausgrenzende „eurasische“ Ideologie stellt daher gerade vor dem Hintergrund der Flüchtlingskrise und zumal für Vertreter und Vertreterinnen einer universalistischen, globalen politischen Ethik eine gewaltige Herausforderung dar, die von nun ab anzunehmen ist, will man nicht rechtem Denken den politischen Raum überlassen.

„Raum“ ist insofern als fundamentale politische Kategorie unbedingt wie-derzuentdecken – auch und sogar dann, wenn dazu als Bezugsautoren vor-erst nur „rechte“ Denker wie Carl Schmitt oder eben Heidegger zur Verfü-gung stehen.18

Ungarn als Beispiel, Evola als Theoretiker

Wenn aber „Raum“ politisch zu gestalten ist, dann bietet das aktuelle rechte Denken dazu zunächst Abwehrforderungen an: gegen Immigration, gegen eine multikulturelle Gesellschaft, gegen den Islam bzw. die Islamisierung. Als politische Form wird der geschlossene, klassische Nationalstaat propa-giert, in dem freilich – wie gegenwärtig in Ungarn und Polen – Bürger- und Menschenrechte, vor allem Oppositionsrechte, schrittweise zunehmend eingeschränkt werden. Als Ergebnis werden dann Verfassungen in Kraft gesetzt, in denen Demokratie und Menschenwürde zwar noch vorkommen, jedoch eine deutlich nachgeordnete Rolle spielen. Das wird etwa an der im April 2011 mit großer Mehrheit angenommenen neuen ungarischen Verfas-sung deutlich, die das politische Programm des Ethnopluralismus in Rein-form darstellt.

Die Präambel dieser Verfassung lautet in ihrer offiziellen deutschen Über-setzung wie folgt: „WIR, DIE MITGLIEDER DER UNGARISCHEN NATION, erklären zu Beginn des neuen Jahrtausends, in der Verantwortung für alle Ungarn Folgendes: Wir sind stolz darauf, dass unser König, der Heilige Ste-phan I., den ungarischen Staat vor tausend Jahren auf festen Fundamenten errichtete und unsere Heimat zu einem Bestandteil des christlichen Euro-pas machte. Wir sind stolz auf unsere Vorfahren, die für das Bestehen, die Freiheit und Unabhängigkeit unseres Landes gekämpft haben. Wir sind stolz auf die großartigen geistigen Schöpfungen ungarischer Menschen. Wir sind stolz darauf, dass unser Volk Jahrhunderte hindurch Europa in Kämpfen verteidigt und mit seinen Begabungen und seinem Fleiß die gemeinsamen Werte Europas vermehrt hat. Wir erkennen die Rolle des Christentums bei der Erhaltung der Nation an. Wir achten die unterschiedlichen religiösen

18 Dass die Thematik von „Raum und Grenzen“ derzeit wieder verstärkt Aufmerksamkeit findet – etwa in den Arbeiten der Historikerin Susanne Rau (vgl. deren Interview in „die tageszeitung“, 6./7.2.2016) oder den Forschungen zur Raumsoziologie von Martina Löw –, ist wohl weit mehr als ein Zufall.

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Traditionen unseres Landes. Wir leisten das Versprechen, dass wir die geis-tige und seelische Einheit unserer in den Stürmen des vergangenen Jahr-hunderts in Stücke gerissenen Nation bewahren. Die mit uns zusammen- lebenden Nationalitäten sind staatsbildender Teil der ungarischen politi-schen Gemeinschaft. Wir verpflichten uns, unser Erbe, unsere einzigartige Sprache, die ungarische Kultur, die Sprache und Kultur der in Ungarn leben-den Nationalitäten, die durch den Menschen geschaffenen und von der Natur gegebenen Werte des Karpatenbeckens zu pflegen und zu bewahren. Wir tragen die Verantwortung für unsere Nachfahren, deshalb beschützen wir die Lebensgrundlagen der folgenden Generationen durch den sorgfältigen Umgang mit unseren materiellen, geistigen und natürlichen Ressourcen. Wir glauben, dass unsere Nationalkultur einen reichhaltigen Beitrag zur Viel-falt der europäischen Einheit darstellt. Wir achten die Freiheit und die Kul-tur anderer Völker und streben eine Zusammenarbeit mit allen Nationen der Welt an. Wir bekennen uns dazu, dass die Würde des Menschen die Grund-lage des menschlichen Seins ist.“

An dieser Stelle muss offen bleiben, ob und in welchem Ausmaß sich die Verfasser basaler Texte der Neuen Rechten bedient haben – nicht zu über-sehen ist jedenfalls, dass diese Verfassung in einer überaus erstaunlichen Weise nicht nur dem eurasischen Programm Dugins entspricht, sondern auch dem Werk eines bisher der Allgemeinheit weitgehend unbekannt geblie-benen Theoretikers, nämlich des italienischen Philosophen und Geistes-geschichtlers Julius Evola (1898-1974).19 In der Nachfolge vor allem Oswald Spenglers legte Evola, der zur Zeit Mussolinis den Faschismus – wenn man so will – von „rechts“ kritisierte, eine seit mehr als zweitausend Jahre währende Verfallsgeschichte vor, eine Geschichte, die durch die ständige Aufhebung und Destruktion aller Transzendenzbezüge seit der griechischen Sophistik gekennzeichnet ist.

Evola, der Nationalismus und Imperialismus als Formen der modernen Massengesellschaft kritisiert und der auch die katholische Kirche nicht mehr als „Bollwerk“ gegen den modernen Zeitgeist will gelten lassen, setzt daher am Ende auf widerständige Einzelne, die sich illusionslos und geradezu stoisch dem Gedanken eines höheren geistigen Lebens verpflichten, um dadurch zu erproben, „inwieweit, dank einer inneren Unerschütterlichkeit und einer Ausrichtung nach dem Transzendenten hin, das Nicht-Mensch-liche der modernen realistischen und handlungsbesessenen Welt, statt ins Untermenschliche zu führen, wie es zum Großteil in der Letztzeit geschieht, Erfahrungen eines höheren Lebens und einer größeren Freiheit begünstigen kann.“20 Evola, der sich am hinduistischen Kastensystem orientiert und einen Hauptgegensatz im Kampf des „männlich-solaren“ gegen ein „weiblich-lu-nares“ Denken sieht, lässt seine Verfallsgeschichte mit dem Niedergang des frühhochkulturellen Gottkönigstums beginnen, also dem Niedergang sak-raler Herrschaft. Daher könnte er in der ungarischen Verfassung von 2011

19 Auf Deutsch liegen dessen umfangreiches Hauptwerk „Revolte gegen die moderne Welt“ sowie kleinere Schriften, etwa „Tradition und Herrschaft“, vor.

20 Hier und im Folgenden: Julius Evola, Revolte gegen die moderne Welt, Interlaken 1982, S. 419.

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Anfänge einer „Kehre“ sehen, wird dort doch der „Heilige König Stephan“ an herausragender Stelle beschworen und damit der Gedanke einer „heili-gen“, das heißt an eine „Transzendenz“ rückgebundenen politischen Seins-weise behauptet.

Völkischer Aktivismus und Gramscismus von rechts

Alexander Dugin, Julius Evola und noch und immer wieder Martin Heideg-ger: Das sind die Theoretiker, auf die sich die intellektuellen Vertreter der identitären Bewegung, der Neuen Rechten beziehen – etwa der Wiener Mar-tin Sellner und der Bundesbürger Walter Spatz, die in Kubitscheks Antaios- Verlag ein Gespräch über Heidegger publizierten. Nebenbei: Der Name die-ses rechtsextreme Literatur publizierenden Verlages bezieht sich auf eine Gestalt der griechischen Mythologie, eines Riesen, den Herakles immer wie-der beim Ringen zu besiegen suchte, der aber stets, sobald er wieder auf dem Boden lag, aus diesem Boden neue Kräfte empfing und mithin unbesiegbar war. Ein irdischer Gigantensohn, den selbst der Halbgott Herakles nicht besiegen konnte.

In kenntnisreichen Gesprächen, zumal über den Heidegger der „Schwar-zen Hefte“, loten die beiden Autoren einer intellektuellen Rechten die Hand-lungs- und Zukunftsmöglichkeiten einer entsprechenden Bewegung aus. Die Ziele sind klar: Neben einer ethnischen Schließung des Nationalstaats soll vor allem Immigration verhindert werden, der Islam ausgeschlossen und eine liberale und daher multikulturelle Gesellschaft bekämpft wer-den – wozu in erster Linie eine Ablehnung des Gedankens der Menschen-rechte gehört: „Der Sammelbegriff ‚Mensch’ ist“, so Walter Spatz, „in seiner identitären Bedeutsamkeit nur für die jeweiligen Völker angebracht. Einen weltweiten An- und Zuspruch gibt es nicht. Dieser ist letztlich Ausdruck der Machenschaft einer abstrahierten Idealität, die uns vom Eigenen trennt.“21 Mit Heidegger weiß sich die identitäre Bewegung daher einig in ihrem Widerstand gegen die „angloamerikanisch dominierte Lebensart“, gegen Globalisierung, „Kulturindustrie“ und „Mediokratie“, eine Bewegung, die dazu führte, „die Vielfalt der Völker zu negieren und ihre Selbstbehauptung und Selbstbesinnung zu verhindern.“22

Das Gespräch der beiden Rechtsintellektuellen offenbart eine tiefliegende strategische Differenz: zwischen einer Politik öffentlichen Aufbegehrens – wie bei Pegida und zahlreichen AfD-Politikern – und eines im Sinne von Gramsci geduldig kulturelle Hegemonie anstrebenden „gelassenen Wider-standes“, der freilich das Bündnis mit auch gewalttätigen Aktivisten nicht scheut. Indem etwa Martin Sellner an Heidegger dessen mangelnde Kritik am nationalistischen Auserwähltheitswahn, an der Personalisierung politi-schen Denkens (ein Hinweis auf Heideggers Glaube an Hitler) sowie dessen

21 Martin Sellner und Walter Spatz, Gelassen in den Widerstand. Ein Gespräch über Heidegger, Steigra 2015, S. 33.

22 Ebd., S. 51 f.

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Glaube an eine „kämpferische Erringung“ eines bedeutsamen politischen „Ereignisses“ kritisiert, bezieht er im ethnopluralistischen Sinne Stellung gegen jeden chauvinistischen Nationalismus. Das ändert freilich nichts am politischen Ziel des Widerstands gegen Immigration, Islam und multikultu-relle Gesellschaft: „Unser Ziel ist die geistige Verschärfung. Wir wollen die Herzen in Brand setzen, etwas in Bewegung bringen, die entscheidenden Fragen erneut, tiefer und mit politischen Folgen stellen. Die geistige Unruhe, der schlafende Furor teutonicus, das ewig unzivilisierbare, urdeutsche Fie-ber, das uns aus germanischen Urwäldern wie aus gotischen Kathedralen entgegenstrahlt, versammelt sich in uns. Unsere Gegner wissen das, und sie haben Angst. Sie wissen von der Möglichkeit der spontanen Eruption und Regeneration. Und sie wissen, dass wir nicht mehr in ihre Fallen laufen, dass wir ihren Schablonen und Gängelbändern entwachsen sind. Ich glaube“, so beschließt Sellner dieses politische Glaubensbekenntnis, „wir leben in einer Zeit der Entscheidung. Ich glaube, dass unsere Arbeit als Kreis, im Denken und Hören auf das Sein, organisch in den politischen Kampf einer Massen-bewegung, in die politische Arbeit einer Partei eingebunden ist.“23

Man mag all das für esoterischen Unsinn halten und der durchaus begrün-deten Überzeugung sein, dass die Dumm- und Wirrköpfe, die bei Pegida- Demonstrationen mitlaufen oder bei künftigen Landtags- und Bundestags-wahlen der AfD ihre Stimme geben, an komplizierten philosophischen Debatten nicht das geringste Interesse haben, also eine Kritik dieser Ideolo-geme verlorene Zeit oder Liebesmüh ist.

Indes: Gerade weil die Theorien der identitären Bewegung erhebliche Schnittmengen mit linken Ansichten und Haltungen zu Kapitalismus, Glo-balisierung, Hegemonie der USA, Digitalisierung und Kulturindustrie auf-weisen, dürfte es unumgänglich sein, demgegenüber – im Sinne der Auf-klärung – das linke Projekt als ein menschheitliches, universalistisches zu rekonzipieren und sich darüber klar zu werden, dass heute, morgen und übermorgen eine linke Politik sich nicht nur um Europa, sondern um die Welt als Ganzes zu kümmern hat – der Internationalismus der Linken mithin seine Bewährung in Theorie und Praxis noch vor sich hat.

23 Ebd., S. 90.

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A uf der kommenden Sitzung am 10. März wird die EZB ihre Geldpolitik der vergangenen Krisenjahre überprüfen. Und das aus gutem Grund:

Die Kritik an der EZB-Politik des billigen Geldes ist kaum noch zu steigern. Die Notenbank betreibe durch die nun schon länger anhaltende Niedrig-zinspolitik eine gezielte Enteignung der Sparerinnen und Sparer, ja sogar das Ende der Lebens- und Rentenversicherungen im Rahmen der privaten Altersvorsorge wird beschworen – wie auch die Zerstörung des erfolgreichen Einlagen- und Kreditgeschäfts als Basis von Sparkassen und Genossen-schaftsbanken.

All diese Risiken sind nicht völlig von der Hand zu weisen. Und dennoch hat EZB-Chef Mario Draghi bereits eine weitere Lockerung der Geldpolitik signalisiert. Er begründete dies mit gleich mehreren weltwirtschaftlichen Risiken: der Unsicherheit in den Schwellenländern, Schwankungen an den Finanzmärkten, geopolitischen Risiken, siehe Syrien aber auch das südchi-nesische Meer, und – so die wohl größte Sorge – dem dramatischen Verfall des Ölpreises. Deshalb drohe die Inflation in der Eurozone deutlich unter den Prognosen der Notenbanker zu bleiben, obwohl die EZB laut Draghi mittel-fristig eine Preissteigerung von „unter, aber nahe zwei Prozent“ anstrebt.

In den vergangenen drei Jahren hat sich die Inflation davon immer weiter entfernt; im Dezember 2015 lag sie bei lediglich 0,2 Prozent. Deshalb also die Fortsetzung der Niedrigzinspolitik – auch durch weiteren Ankauf von Staats-anleihen zur Liquiditätsversorgung der Banken. Dem Anleihenkauf wird allerdings nachgesagt, schon längst in die Verbotszone der direkten Kredit- finanzierung von Staaten durch die Notenbank eingedrungen zu sein. Ja, das Ende des zinsgesteuerten Marktkapitalismus wird befürchtet.

Deshalb wird der EZB empfohlen, der US-Notenbank zu folgen. Die FED hat tatsächlich nach knapp zehn Jahren Mitte Dezember 2016 mit einem ers-ten, kleinen Schritt ihre Niedrigzinspolitik beendet – durch die Erhöhung des Leitzinses (Federal Funds Rate) von 0,25 auf 0,5 Prozent. Allerdings ist jetzt schon absehbar, dass eine nachhaltige Zinswende dennoch nicht zu erwar-ten ist. Die Ursachen dafür sind die von Draghi befürchteten: die instabile gesamtwirtschaftliche Entwicklung, die geopolitischen Risiken, aber auch die Niedriginflation in der Nähe einer gefährlichen Deflation.

Macht und Ohnmacht der EZBWarum Europa eine gemeinsame Finanz- und Wirtschaftspolitik braucht

Von Rudolf Hickel

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Auch deshalb besteht Draghi mit geradezu messianischem Sendungsbe-wusstsein auf seinem „Weiter-so“. Das Programm zum Ankauf von Wert-papieren von Banken zur „quantitativen Lockerung“ wurde bereits im Herbst 2015 um sechs Monate bis März 2016 verlängert. Ab dann erwarten die Analysten sogar noch eine Ausweitung der Politik des billigen Geldes, durch eine erneute Senkung des Einlagenzinses.

Alte Geldpolitik und neue Herausforderungen

Angesichts dieser erstaunlichen Beharrlichkeit stellt sich die Frage, wie der Zentralbank-Chef seine Politik des billigen Geldes gegenüber dem Banken-system und den Kreditnehmern makroökonomisch rechtfertigt. Rückbli-ckend zeigt sich, dass die EZB bisher mit ihrer Niedrigzinspolitik nicht allein dastand. Während Japan bereits im Umfeld der New-Economy-Krise Anfang 2000 seine bis heute beibehaltene Niedrigzinspolitik startete, legten die Notenbanken in den USA und Großbritannien ihre geldpolitischen Hebel mit dem Ausbruch der Finanzmarktkrise um, genau wie die EZB: Mit expansi-ver Geldpolitik wurde das drohende weltweite Liquiditätsloch einigermaßen erfolgreich gestopft.

Nach der Crash-Vermeidung musste diese Politik des billigen Geldes jedoch fortgesetzt werden – und zwar zur Stabilisierung des Wirtschafts-wachstums und der Beschäftigung aufgrund der belastenden Nachwir-kungen der Finanzmarktkrise. Denn: Bis heute lässt eine umfassende wirt-schaftliche Erholung auf sich warten, nicht zuletzt aufgrund der schwachen unternehmerischen Investitionsbereitschaft angesichts der globalen Risiken.

Hinzu trat ein bisher in diesem Ausmaß nicht bekanntes Problem: Die am Index der Verbraucherpreise gemessene Inflation hat sich gegen Null ent-wickelt – mit der Tendenz, in eine Deflation umzuschlagen, was zu Preissen-kungen auf breiter Front und damit – wie in einer Teufelsspirale – zu immer weiter schrumpfenden Gewinnerwartungen führt. Diese hochgefährliche Kombination – schwaches Wirtschaftswachstum mit Deflationstendenz – treibt derzeit die in der Tat unkonventionelle Geldpolitik der EZB an.

Diese reale Konstellation, die in den geldpolitischen Lehrbüchern nicht vorkommt, erklärt zum Teil die hysterischen Warnungen der Gralshüter der Antiinflationspolitik. Denn tatsächlich steht Draghis Politik im Widerspruch zu den bisher bekannten Konzepten monetärer Steuerung.

Doch anstatt das eigene geldpolitische Paradigma kritisch zu überprüfen, macht sich kontrafaktische Rechthaberei breit. Dabei nimmt die Deutsche Bundesbank mit ihrem Präsidenten Jens Weidmann eine Vorreiterrolle ein. Er wirft der neuen EZB-Geldpolitik zur Bekämpfung der Deflation vor, sie schaffe damit ein gigantisches Inflationspotential.

Dabei liegen nun seit bald zehn Jahren Erkenntnisse über die gerade man-gelnde Inflationswirkung dieser expansiven Geldpolitik vor, und dennoch wird nicht nur in den Medien eine gigantische Welle der Geldentwertung suggeriert. Dafür aber gibt es keinen Grund. Im Gegenteil: Die EZB verdient

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Lob für ihren Versuch, sich trotz des Drucks der Wirtschafts- und Währungs-krise vom überholten geldpolitischen Standardwissen zu trennen und einen Prozess des „Learning by doing“ zu wagen.

Leitzins, Strafzins, Ankaufprogramme – die geldpolitische EZB-Triade

Denn: Da seit Beginn der Finanzkrise der Interbankenmarkt, auf dem sich die Banken gegenseitig Geld leihen, aufgrund geschwundenen Vertrauens der Banken untereinander nicht funktioniert, muss die EZB bis heute die Lücken-büßerfunktion übernehmen. Zumal seit den Zeiten der Deutschen Bundes-bank eine zentrale Aufgabe hinzugekommen ist: Die Euro-Notenbank muss die Finanzmärkte vor allem auch in den Krisenländern stabilisieren.

Im März 2015 wurde daher – zuerst bis September 2016 und dann bis März 2017 – mit dem „Expanded Asset Purchase Programme“ der monatliche Ankauf von bestimmten Wertpapieren im Besitz der Banken (Staatsanleihen, Pfandbriefe) im Umfang von 60 Mrd. Euro gestartet. Der gesamte Bestand des „Eurosystems an Wertpapieren für geldpolitische Zwecke“ summierte sich damit zum 15. Januar 2016 auf knapp 830 Mrd. Euro. Da jedoch die Staats-anleihen von der EZB nicht direkt von den ausgebenden Staaten erworben wurden, sondern auf den Sekundärmärkten, handelt es sich entgegen der Kritik des Deutschen Bundesbankpräsidenten nicht um eine laut EU-Vertrag verbotene direkte Finanzierung von EU-Staaten.

In Ergänzung zu ihren Leitzinsen in Nähe der Nullzone sowie zu umfang-reichen Kaufprogrammen von Wertpapieren der Banken setzt die Notenbank allerdings noch ein drittes Instrument ein. Während sie noch im November 2008 auf die Einlagen der Banken einen Zinssatz von 3,25 Prozent bezahlte, erhebt sie seit Juni 2014 einen Negativzins – zuerst von 0,10 Prozent, heute sogar von 0,30 Prozent. Mit diesem Strafzins versucht die EZB eine durch sie selbst ausgelöste Fehlentwicklung zu stoppen. Denn anstatt, wie von ihr bezweckt, das billige Geld an die Kreditnehmer der realen Wirtschaft wei-terzugeben, haben Banken die Liquidität zu recht komfortablen Zinsen bei der Notenbank geparkt. Diesem Zustand schafft die EZB nun per Strafzins Abhilfe.

Bis zur Finanzmarktkrise 2007 war dergleichen völlig undenkbar. Bis dahin war die Geldpolitik durch das Ziel einer behutsamen Inflationsbekämpfung gekennzeichnet. Das System der Finanzmärkte erwies sich als einigermaßen stabil; der Interbankenmarkt, also die Geldleihe zwischen den Geschäfts-banken, funktionierte. In Folge der Finanzmarktkrise, aber auch unter dem Druck der Eurorettung, haben sich die geldpolitischen Bedingungen jedoch radikal verändert. Die Notenbankpolitik der EZB muss daher immer wieder zu drastischen Ad-hoc-Maßnahmen greifen. An die Stelle einer mittelfristig ausgerichteten Geldmengensteuerung treten neue offensiv eingesetzte Inst-rumente, die regelmäßig auch wieder korrigiert werden müssen.

Kurzum, was früher eine Selbstverständlichkeit war, steht heute stets auf der Tagesordnung: die Stabilisierung der Finanzmärkte als Basis einer funk-

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tionsfähigen Geldwirtschaft. Deshalb sind die gigantischen Programme zum Ankauf bestimmter Wertpapiere durch die EZB derzeit unverzichtbar.

Natürlich hat dieser Wechsel von einer behutsamen regelgebundenen Geldpolitik zu den neuen hektischen Ad-hoc-Maßnahmen das Vertrauen in die EZB nicht erhöht. Im Gegenteil: Die notwendigerweise experimentelle Erweiterung des geldpolitischen Handlungsspielraums musste Misstrauen erzeugen. Das erforderliche Vertrauen in die Notenbankpolitik kann jedoch nur durch eine am Ende auch erfolgreiche Geldpolitik zurückgewonnen wer-den. Deshalb stellt sich die entscheidende Frage: Werden mit der neuen dras-tischen Geldpolitik auch die erhofften Erfolge für Wirtschaftswachstum und Beschäftigung ausgelöst?

Mit der Zielinflationsrate gegen die Deflation

Bei seinem Versuch, die anhaltende Investitionsschwäche im Unterneh-menssektor durch günstige Angebote zur Fremdfinanzierung zu bekämp-fen, steht der Zentralbankrat vor einem bisher in diesem Ausmaß im Euro-land, aber auch in Deutschland nicht gekannten Phänomen – nämlich vor einer immens niedrigen Inflationsrate, mit der Gefahr des Umkippens in eine Deflation. Das bedeutet für die Unternehmen einen viel zu niedrigen Preis-erhöhungsspielraum. Derart schrumpfende Gewinnerwartungen drohen über sinkende Sachinvestitionen zu einem Absturz der gesamtwirtschaftli-chen Produktion zu führen, inklusive steigender Arbeitslosigkeit.

Ob sich das Euroland oder gar Deutschland bereits in einer deflationären Situation befinden, darüber wird heftig gestritten. Unstrittig ist: Der Ver-braucherpreisanstieg hat sich im Euroland im letzten Jahr nur knapp über der Null-Prozent-Marke bewegt. Die EZB weist dagegen zu Recht darauf hin, dass sich die Inflationserwartungen nach dem „Survey of Professional Fore-casters“ im ersten Quartal 2016 für das laufende Jahr immer noch auf nur 0,7 Prozent belaufen. Damit begründet Draghi – zu Recht – die weitere Locke-rung der Geldpolitik. Es sind nämlich vor allem die sinkenden Ölpreise, die insgesamt die allgemeinen Inflationserwartungen abschwächen. Denn niedrige Ölpreise lösen wegen der wirtschaftlichen Verflechtung auf breiter Front allgemein sinkende Preise aus. Ohne diese Sonderentwicklung würde die durch die Geldpolitik beeinflussbare Kerninflationsrate, also der Ver-braucherindex ohne Energie und Lebensmittel, deutlich stärker zunehmen.

Zu berücksichtigen sind auch die folgenden Lohnrunden, die auf die sin-kende Inflation in aller Regel mit niedrigen Tarifabschlüssen reagieren, was wiederum die konsumtive Nachfrage belastet. Die EZB kämpft an dieser Stelle um die Umkehr des pessimistischen Investitionsverhaltens. Mit ver-stärkten Inflationserwartungen soll das wirtschaftliche Wachstum ange-kurbelt werden: Steigende Gewinnerwartungen über die Nutzung des Preiserhöhungsspielraums, so die Leitlinie, stärken am Ende die Investitions-bereitschaft. Gravitationspunkt der EZB-Geldpolitik ist somit ein begrenzter Inflationsanstieg unter Vermeidung einer sich selbst verstärkenden Geld-

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entwertung. Um die drohende Deflation abzuwehren, setzt sie auf die Kau-salität: Geldpolitisch unterstütztes Wirtschaftswachstum ist nur durch eine (allerdings nach oben begrenzte) Geldentwertung zu erreichen.1 Helmut Schmidt lässt grüßen: „Lieber fünf Prozent Inflation als fünf Prozent Arbeits-losigkeit“.2

Doch offensichtlich versagt die EZB gegenwärtig dabei, durch eine expan-sive Geldpolitik unternehmerische Investitionsbereitschaft nennenswert zu stärken. Damit stellt sich der Notenbankpolitik auf längere Sicht die Auf-gabe, die Inflationserwartungen wieder in den angestrebten Zielkorridor von 2 Prozent zu hieven.

Die Entdeckung der Sparerklasse – als Opfer der »EZB-Ausbeutung«

Bei Sparerinnen und Sparern löst diese Expansion billigen Geldes auf den ersten Blick nur Belastungen aus. Sie gelten als Opfer der Niedrigzinspolitik. Und in der Tat bringen Nominalzinssätze in der Nähe der Nullzone seit Jah-ren nur vernachlässigbare Kapitaleinkünfte. Ja, unter Berücksichtigung der Inflationsrate (Verbraucherpreisindex) fallen die Realzinsen sogar negativ aus. Die Kaufkraftverluste durch negative Realzinsen belasten wiederum die konsumtive Nachfrage und damit die Konjunktur.

Die Schätzungen von Banken und Versicherungen zu den Verlusten durch die Niedrigzinspolitik sind allerdings mit großer Vorsicht zu benutzen. So sollen nach Angaben der DZ-Bank, des genossenschaftlichen Zentralinsti-tuts, zwischen 2010 bis Anfang 2015 insgesamt 190 Mrd. Euro an Zinsein-künften ausgefallen sein – bei Zugrundelegung eines „Normalzinsniveaus“ von 4,2 Prozent (dem Mittel für die Jahre 1998 bis Mitte 2009). Diese Ver-gleichsrechnung ist allerdings schon deshalb problematisch, weil sie einen Anspruch der Sparer auf ein „Normalzinsniveau“ suggeriert. Auf ähnliche Weise formuliert der „Sparkassen- und Giroverband“ das durch den Staat zu sichernde Recht auf eine Mindestverzinsung. Damit wird jedoch die reale Preisbildung auf den Finanzmärkten völlig unterschlagen.

Sparzinsen sind nämlich – genau wie Renditen auf Kapitalanleihen – kein außerhalb der Märkte zu definierender Anspruch. Vielmehr resultieren sie aus den sich verändernden Bedingungen auf den Geld- und Kapitalmärkten. Bei einem Überangebot an Ersparnissen, die auf den Finanzmärkten nach hohen Renditen suchen, ergeben sich logischerweise sinkende Renditen.

Diese Verluste beim Sparen (wie auch bei den Lebensversicherungen) lösen zusätzliche Kritik an der Niedrigzinspolitik der EZB aus. Ihr wird unterstellt, sie enteigne bewusst die Sparerinnen und Sparer (und schädige die von ihren Lebensversicherungen Abhängigen). Diese Kritik geht jedoch wie oben gezeigt am Kern des Problems vorbei – und sie ist zudem zutiefst

1 Seit 1998 definiert der EZB-Rat den mittelfristigen Anstieg des Verbraucherpreisindexes „unter 2 Prozent“ als Preisstabilität. 2003 wurde nach einer Überprüfung das Ziel „unter, aber nahe 2 Prozent“ bestätigt und fortgeschrieben. Da seit Februar 2013 faktisch diese Zielinflationsrate unter 2 Pro- zent liegt, sieht die EZB es als ihre Aufgabe an, die Inflation in Richtung der Zielrate zu erhöhen.

2 Das gilt den Ultramonetaristen mit ihrer Politik der Nullinflation natürlich als Gift.

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heuchlerisch. Denn obwohl die neoliberalen ordnungspolitischen Gralshü-ter ansonsten immer am Markt gebildete Preise fordern, erwecken sie bei der Zinspreisbildung für Geldvermögen den Eindruck, die Notenbank habe einen gesetzlichen Anspruch auf eine Mindestrendite zu sichern.

Diese Vorstellung ist jedoch schlichtweg Unfug innerhalb der obwalten-den kapitalistischen Dynamik. Die EZB verfügt gar nicht über die Macht, Zinssätze am Markt autoritär durchzusetzen. Die Zinssätze sind das Resultat komplexer Vorgänge auf den Finanzmärkten – in Abhängigkeit von Angebot und Nachfrage, Inflationserwartungen und Spekulationen, aber auch von realer Marktmacht. Die Notenbank muss ihre Zinspolitik daher stets an die nationalen und internationalen Rahmenbedingungen anpassen. Sie kann nur hoffen, dass durch ihren Leitzins die Kosten der Kreditvergabe an Inves-toren konjunkturstärkend beeinflusst wird.

Wenn dies jedoch nicht gelingt und das gesamtwirtschaftliche Sparen weit über die Sachinvestitionen hinausgeht, dann sinken im Trend die Anlageren-diten. Der Notenbank bleibt dann nur die weitere Anpassung der Leitzinsen, sie hat kaum Gestaltungsspielraum. Die EZB ist somit weniger Täterin als eine durch die Entwicklung auf den Finanzmärkten und der Realwirtschaft Getriebene. Sie benötigt die Finanzmärkte – und insbesondere Banken und Investoren – als Erfüllungsgehilfen ihrer geldpolitischen Absichten. Ob diese zielkonform funktionieren, ist allerdings höchst ungewiss. Beispielsweise weigern sich zahlreiche Banken, das Billiggeld auch zur Kreditvergabe an die Unternehmen zu nutzen. Kurzum: Nicht die viel zitierte Macht, sondern die realexistierende Ohnmacht der EZB, der „Bank der Banken“, kann somit zum Problem werden.

Die fatale Trias: Übersparen – Renditeverfall – Niedrigzinspolitik

Es geht der EZB also in keiner Weise um die Schädigung der Sparerinnen und Sparer. Im Gegenteil: Geldpolitik zielt niemals auf die spezielle Gruppe der Geldvermögensbildner, sondern auf die Gesamtwirtschaft. Die Noten-bank verfolgt die ihr verfassungsrechtlich zugeordnete Aufgabe, ihren geld-politischen Beitrag zur Vermeidung einer Wirtschaftskrise und damit von Jobverlusten zu leisten – was im Ergebnis natürlich auch den Sparerinnen und Sparern zugute kommt. Schließlich müssen ihre Sparzinsen erst über eine expandierende Wirtschaft verdient werden.

Die Ursache der gegenwärtigen Krise liegt dagegen im Übersparen, das heißt im Überangebot an Rendite suchendem Geldvermögen. Überschüssige Ersparnisse bei hochgradig instabilen Finanzmärkten einerseits und einer vergleichsweise viel zu geringen Investitionsbereitschaft der Unternehmen andererseits erklären den rasanten Renditeverfall. Unter diesen Rahmenbe-dingungen muss die Europäische Zentralbank den Leitzins zur monetären Steuerung niedrig halten.

Die unsicheren Bedingungen einer gelingenden Geldpolitik hängen zudem eng mit der relativen Entkoppelung der Finanzmärkte von der Real-

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ökonomie zusammen. Renditen werden heute nicht mehr vorrangig in der realen Ökonomie, sondern mit Spekulationsgeschäften an den Spieltischen des internationalen Kasinokapitalismus zu erzielen versucht. Es zeigt sich, dass durch die Expansion der Finanzmärkte mit ihren Spekulationsgeschäf-ten gegenüber der realen Ökonomie die Geldpolitik an Unabhängigkeit und damit an Gestaltbarkeit verloren hat. Längst haben auch Unternehmen der Produktionswirtschaft, anstatt zu investieren, die Finanzmärkte zur Gewinnanlage entdeckt.

Schließlich tragen auch die zunehmende Vermögenskonzentration wie der Ausbau der privaten Kapitalvorsorge zum Anstieg der Ersparnisse bei. Gleichzeitig gelingt es immer weniger, produziertes Einkommen in die Nachfrage nach Gütern und Dienstleistungen zu transformieren. Die Folgen sind wirtschaftliche Wachstumsschwäche und Deflationsgefahr.

Gegen die spekulative Gewinnverwendung und den Rückzug der Banken aus der Vergabe produktiver Kredite an die Unternehmen richtet sich das von Joseph Schumpeter entwickelte Konzept eines dynamischen Innovationska-pitalismus: Mit Krediten werden Innovationen und Investitionen der Privat- wirtschaft vorfinanziert, die aus den späteren Erträgen refinanziert werden. Aus der dadurch geschaffenen Wertschöpfung lassen sich dann auch wieder die Zinsen finanzieren. In diesem Modell des innovationsgeleiteten Wirt-schaftswachstums mit dem Kredit im Mittelpunkt gelingt die Abschöpfung der Ersparnisse durch die investive Kreditaufnahme. Die Geldpolitik erhält den für ihre monetäre Steuerung über den Leitzins erforderlichen Spielraum zurück. Heute ist der realexistierende ökonomische Rahmen der EZB weit von diesem Expansionsmodell entfernt. Sie allein kann die wirtschaftliche Expansion offensichtlich nicht bewirken.

Eine begleitende expansive Finanzpolitik tut not

Kurzum: Ohne eine begleitende expansive Finanzpolitik ist das Risiko groß, dass das geschaffene Billiggeld in der Privatwirtschaft nicht zum Einsatz kommt; es bleibt in der Liquiditätsfalle nutzlos hängen. Erforderlich ist daher eine mit der Geldpolitik systemisch abgestimmte Finanz- und Wirtschafts-politik, die über öffentliche Investitionsprogramme die gesamtwirtschaft- liche Nachfrage stärkt.

Zur Sicherung einer erfolgreichen Geldpolitik für Wirtschaftswachstum und Beschäftigung stellt sich also die doppelte Aufgabe: Das überschüssige Sparen muss reduziert und die realwirtschaftliche Investitionstätigkeit sowie konsumtive Nachfrage müssen gestärkt werden.

Drei Maßnahmen zur Stärkung der realen Wirtschaft wie zur Funktions-sicherung der Geldpolitik sind dabei besonders dringend: Zum ersten muss das durch die Vermögenskonzentration vorangetriebene Übersparen nach-haltig durch eine gerechte Vermögensumverteilung gebremst werden. Zum zweiten müssen die Finanzmärkte streng reguliert und das unkontrollierte Treiben der schwergewichtigen Investmentfonds eingeschränkt werden.

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Und schließlich muss drittens die Investitionsbereitschaft in der Realöko- nomie gestärkt und damit der Einfluss der Finanzmärkte zurückgedrängt und das ökonomische Geschehen stabilisiert werden.

Derzeit ist jedoch das krasse Gegenteil der Fall. Die Finanzpolitik ist mit dem EU-Fiskalpakt und den verschiedenen Schuldenbremsen auf einen har-ten Restriktionskurs eingestellt. Diese restriktive Finanzpolitik erstickt die geldpolitischen Impulse. Sie trägt daher eine erhebliche Mitschuld an der anhaltenden Niedrigzinspolitik.

Europäische Fiskalpolitik durch staatliche Investitionen

Mario Draghi hat lange gebraucht, bis er die restriktiv ausgerichtete Finanz-politik als zentrale Ursache für die Schranken der expansiven Geldpolitik beim Namen nannte. Doch in seiner wichtigen Rede vor den Notenbankern der Welt in Jackson Hole in Wyoming (USA) forderte er 2014 ein „umfangrei-ches öffentliches Investitionsprogramm“. Nun hat er diese Forderung auf der ersten EZB-Pressekonferenz dieses Jahres offiziell im Rahmen der Begrün-dung seiner Geldpolitik unterstrichen: „Fiskalpolitik sollte die wirtschaft- liche Erholung unterstützten. […] Gleichzeitig sollten alle Länder eine stär-ker wachstumsfreundliche Fiskalpolitik anstreben.“

Dieser Einsicht muss die EU, müssen aber auch die europäischen National-staaten unbedingt Taten folgen lassen. Konkrete Vorschläge zur öffentlichen Stärkung der Nachfrage durch massive Infrastrukturinvestitionen liegen bereits vor. Der Juncker-Plan vom November 2014 mit einem Volumen von 315 Mrd. Euro für eine öffentliche Investitionsoffensive in der EU zielt dabei trotz vieler Schwächen in die richtige Richtung.

Darüber hinaus sollten auch in den einzelnen Mitgliedsländern Initiativen ergriffen werden. Beispiel Deutschland: Hier ist schon lange ein Investitions-programm erforderlich, mit dem allein der Substanzverlust der öffentlichen Infrastruktur rückgängig gemacht werden muss. Und durch die massive Fluchtbewegung sind gewaltige weitere Investitionserfordernisse hinzu- gekommen – in Wohnungsbau, (Aus)Bildung und Arbeit. Nur dadurch wird der Boden für eine nachhaltige wirtschaftliche Entwicklung im Einwande-rungsland Deutschland bereitet werden können. All das müsste für die Große Koalition Grund genug sein, die Ideologie der „Schwarzen Null“ schleunigst hinter sich zu lassen.

In den Eurokrisenländern, vor allem in Griechenland, muss dagegen die gesamtwirtschaftlich schädliche Austeritätspolitik dringend durch eine Politik des ökonomischen Aufbaus abgelöst werden. Keine Frage, all das ist eine Herkulesaufgabe – aber nur durch eine gemeinsame, konzertierte Wirtschaftspolitik wird eine funktionierende Geld- und Finanzpolitik in der Europäischen Union letztlich erfolgreich sein.

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Vor fünf Jahren, am 11. März 2011, überflutete ein Tsunami – ausge-löst durch ein schweres Seebeben – große Teile der japanischen Küste

und kostete mehr als 18 000 Menschen das Leben. In der Folge explodier-ten im Nuklearkomplex von Fukushima aufgrund der durch Beben und Flut unterbrochenen Stromversorgung mehrere Reaktoren, sodass ein Teil des radioaktiven Inventars freigesetzt wurde und sich über die Atmosphäre und Ozeanströmungen weltweit verbreitete.1 Das Beben in Japan war ein spektakuläres Beispiel für eine Risikokaskade, in der Natur, Technik und Gesellschaft in eng verkoppelter Weise zusammenwirkten und eine Kette von Ereignissen mit globaler Wirkung in Gang setzten. Direkt oder indi-rekt davon betroffen waren das japanische Stromnetz, die Nuklearindustrie, Aktienmärkte, der Ölpreis und die Weltwirtschaft. Autohersteller und Elek- tronikfirmen drosselten weltweit die Produktion, weil wichtige Teile aus Japan fehlten. Die Schockwellen lösten hierzulande die Energiewende aus.

Fukushima führte noch einmal eindrücklich die Risiken der Kernener-gie vor Augen, fast genau 25 Jahre nach der verheerenden Katastrophe von Tschernobyl. Am 26. April 1986 explodierte nach einem fehlgeschlagenen Belastbarkeitstest Block 4 des Atomkraftwerks in der nördlichen Ukraine. Durch eine Fehleinschätzung des Kraftwerkspersonals wurde eine unkon- trollierte Kettenreaktion in Gang gesetzt. Große Mengen hoch-radioaktiven Materials wurden in die Atmosphäre geschleudert und von Windströmun-gen großflächig über Europa verteilt. Millionen von Menschen wurden einer erhöhten Strahlenbelastung ausgesetzt, darunter mehrere hunderttausend „Liquidatoren“, von denen viele ihre Leben verloren oder schwer erkrankten; hunderttausende Menschen wurden für immer evakuiert. Das radioaktive Feuer von Tschernobyl konnte zwar notdürftig in Beton gegossen werden, doch es brannte weiter, in Mensch und Natur.

Die folgenschwerste Industriekatastrophe der Geschichte hatte ebenfalls einen Einfluss auf die sich im Wandel befindliche Sowjetunion, und für man-che Beobachter läutete sie deren Ende ein. Gorbatschows Glasnost wurde

1 Vgl. Sebastian Pflugbeil, Tschernobyl in Permanenz. Ein Jahr Fukushima, in: „Blätter“, 3/2012, S. 89-97; Fukumoto Masao, Drei Jahre Fukushima – verdrängt und vergessen?, in: „Blätter“, 3/2014, S. 21-24; Wolfgang Ehmke, Atom: Und täglich grüßt das Restrisiko, in: „Blätter“, 3/2015, S. 29-32; zu den Folgen von Fukushima und Tschernobyl veranstalteten die IPPNW Ende Februar einen inter-nationalen Kongress in Berlin: www.tschernobylkongress.de.

Kettenreaktion außer KontrolleVernetzte Technik und die Gefahren der Komplexität

Von Jürgen Scheffran

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unter der staatlichen Desinformation und weltweiten Protesten verschüttet und die gesellschaftliche Umgestaltung (Perestroika) aufgrund der immen-sen Kosten und Folgeschäden behindert. Weltweit wurde die Anti-Atom- Bewegung gestärkt: Sie verwies auf die vielfältigen Risiken der Kernenergie über die gesamte nukleare Produktionskette. Tschernobyl avancierte zum Symbol der Risikogesellschaft.2

Kipppunkte und Risiko-Kaskaden in komplexen Systemen

Die Nuklearkatastrophen von Tschernobyl und Fukushima zeigen eindrück-lich, wie Ereignisse in komplexen Systemen Prozessketten in Gang setzen und miteinander verknüpfen können.3 Die zugrundeliegenden Verstärker-mechanismen lassen sich bei der Kernenergie gut nachvollziehen: Die Ent-fesselung der gewaltigen Naturkräfte durch die Spaltung des Atomkerns bedarf einer Initialzündung, die stark genug ist, um die stabilisierenden Kernkräfte über einen Kipppunkt hinweg zu überwinden. Danach läuft die Kettenreaktion von selbst ab, in der ein Spaltereignis weitere Spaltungen anderer Kerne in Gang setzt und so eine Kaskade auslöst, die exponentiellem Wachstum entspricht. Die unkontrollierte Kettenreaktion endet, wenn das, was sie nährt, aufgebraucht ist – wie im Fall der Atombombe. Dagegen gibt es im Kernreaktor einen ausgeklügelten Steuermechanismus, der eine per-manente Kritikalität aufrecht erhält, um die maximale Energieausbeute zu erreichen, ohne die ganze Vorrichtung zu zerstören. Ausgeschlossen aber ist das bekanntlich nicht: Dazu genügt eine ungeplante Störung, die den Kon- trollmechanismus zeitweise außer Kraft setzt, mit den bekannten Konse-quenzen, die selbst verschiedene Folgeketten auslösen.

Die Prinzipien und Probleme von Kettenreaktionen wurden von der Kom-plexitätsforschung aufgenommen, die seit den 1980er Jahren auch andere komplexe Systeme untersucht, die schwer zu verstehen oder zu kontrollieren sind. Vorstellungen der Komplexität sind zu Metaphern der Alltagssprache geworden, beispielsweise der aus der Chaostheorie berühmte Schmetter-lingseffekt. Damit verbunden ist die Analyse der Stabilität von Systemen, wonach Störungen so gedämpft werden, dass wesentliche Systemmerkmale innerhalb bestimmter Grenzen bleiben. Gelingt dies nicht, sind Systemum-brüche, Phasenübergänge und Transformationsprozesse die Folge.

Das Wechselspiel zwischen der Komplexität und der Stabilität dynamischer Systeme hat seit Jahrzehnten auch die Ökosystemforschung geprägt: Danach sind natürlich gewachsene Systeme meist robust, resilient und angepasst gegenüber Variationen ihrer Umgebung, während konstruierte Systeme, die nicht flexibel, lernfähig und fehlerfreundlich genug sind, dem Risiko der Instabilität ausgesetzt sind. An der kritischen Schwelle zur Instabilität kön-

2 Vgl. Ulrich Beck, Risikogesellschaft: Auf dem Weg in eine andere Moderne, Frankfurt 1986.3 Jasmin Kominek und Jürgen Scheffran, Cascading Processes and Path Dependency in Social Net-

works, in: Hans-Georg Soeffner (Hg.), Transnationale Vergesellschaftungen, Verhandlungen des 35. Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Soziologie, Wiesbaden 2012 (Tagungs-CD-Rom).

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Kettenreaktion außer Kontrolle 103

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nen geringfügige Änderungen eine Systemveränderung auslösen. Komplexe natürliche Systeme (Klimasystem, biologische Organismen, Ökosysteme) sind das Ergebnis einer längeren Evolution, bei der destruktive Instabilitäten aussortiert und konstruktive Instabilitäten zur Weiterentwicklung genutzt werden. Bei biologischen Populationen gibt es so lange ein exponentielles Wachstum, bis die zugrunde liegenden Umweltressourcen aufgebraucht sind oder die Konkurrenz durch andere Organismen eine Ressourcenverteilung im Sinne einer Koexistenz bewirkt. Unter Ausnutzung von evolutionären Lernprozessen entsteht ein diffiziles Gleichgewicht sich gegenseitig regu-lierender Kräfte, das trotz hoher Komplexität durch Redundanz und Resilienz stabil bleibt: Beispiele sind der Regenwald und das Korallenriff, die aufgrund ihrer adaptiven Komplexität robuster gegen natürliche Schwankungen sind als eine Monokultur. Aufgrund der massiven Eingriffe durch den Menschen sind sie jedoch inzwischen massiv gefährdet.

Probleme der Komplexität und Stabilität treten auch bei technischen Systemen auf, bei denen ein erheblicher Aufwand getrieben wird, um ihr Funktionieren zu garantieren. Zur Effizienzsteigerung wird die Kopplungs-dichte oftmals bis zu der gerade noch machbaren Schwelle getrieben, ohne den Absturz zu riskieren. Dass dieser aber dennoch vorkommen kann, hatte Charles Perrow als „normale Katastrophe“ bezeichnet.4

Während Systemforscher solche Zusammenhänge für natürliche und tech-nische Systeme schon seit längerem untersuchen, lassen sich entsprechende Fragen auch für globalisierte menschliche Gesellschaften stellen. Wenn im Rahmen einer globalen Vernetzung und Verdichtung alles mit allem zusam-menhängt (etwa über Transport- und Kommunikationssysteme, Medien und soziale Netzwerke, Energie- und Stromnetze, Umweltveränderungen und Ressourcenströme, Lieferketten und Märkte, Migration und Flucht, Konzen- tration von Kapital-, Macht- und Gewaltstrukturen), können dann nicht Ereignisse in einem Teilsystem Folgeketten in anderen Teilsystemen auslö-sen, die sich zu globalen Risikokaskaden aufschaukeln?

Vernetzte Technik, Gewaltspiralen und komplexe Krisen

Durch technologische Umwälzungen wird die gesellschaftliche Entwicklung rasant beschleunigt, Materie, Energie und Information können über wach-sende Entfernungen in immer kleineren Zeiträumen ausgetauscht werden. Die Verdichtung von Raum und Zeit ist ein wesentliches Element technischer Effizienz, wobei durch Kopplung der Teilsysteme eine möglichst verzöge-rungsfreie Wirkung erzielt werden soll. Alle jederzeit erreichen zu können, bedeutet auch, für alle immer erreichbar zu sein. Der Prozess permanenter Grenzüberschreitung durch Technik bestimmt so die menschliche Lebens-welt und macht immer mehr Lebensfunktionen von technischen Systemen abhängig, die an den Schnittstellen des menschlichen Körpers ansetzen und

4 Charles Perrow, Normale Katastrophen: Die unvermeidbaren Risiken der Großtechnik, Frankfurt a. M. 1987.

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die Interaktionen mit der Umwelt multiplizieren. Um den eigenen Einfluss-bereich durch die Beherrschung komplexer technischer Systeme auszuwei-ten, bedarf es eines fortwährenden Lernprozesses in technisch konstruierten Welten, die den Menschen zum Teil der Maschinerie machen und ihn deren Gesetzen und Zwängen unterwerfen.

Mit der wachsenden Abhängigkeit von technischen Infrastrukturen nimmt zugleich auch die Verwundbarkeit technisierter Gesellschaften zu.5 Das Versagen von Technik birgt erhebliche Risiken und Konfliktpotentiale, insbesondere in großtechnischen Systemen, in denen sich kleine Fehler zu Katastrophen aufschaukeln können. Zur Risikogesellschaft gehört, dass mit der Abhängigkeit von Technik auch die Verwundbarkeit gegenüber Angrif-fen oder Missbrauch zunimmt. Wenn der Mensch Teil der Maschine ist, kann er sie willentlich in den Untergang steuern, indem die eingebauten Wirkme-chanismen einem von den Konstrukteuren nicht geplanten Zweck zugeführt werden. Durch den „Missbrauch“ wird aus einer nicht intendierten Neben-folge die konkrete Gefahr, diese absichtlich auszunutzen. Flugzeuge, Fahr-zeuge, Schiffe, Reaktoren, die Chemieindustrie, das Internet oder Strom-netze können nicht nur Ziel von Gewalthandlungen sein, sondern auch selbst zur Waffe werden. Durch das Internet erhält das Individuum Zugriff auf rie-sige Informationsmengen und die Macht, gezielt Knoten des globalen Net-zes auszuschalten oder für destruktive, kriminelle und manipulative Zwecke einzusetzen, etwa in der rechten Stimmungsmache gegen Zuwanderer im Netz, um bestimmte Debatten in Politik und Massenmedien zu forcieren.

Mit vernetzter Technik wird auch der Einflussbereich des Staates auf alle gesellschaftlichen Bereiche ausgedehnt. Polizei, Justiz, Militär und Geheim-dienste nutzen die neuen Machtmittel und lassen sich nur widerwillig dabei einschränken, wie beim NSA-Skandal ersichtlich. Dabei kann Technik die bestehenden Macht- und Herrschaftsstrukturen verstärken, aber auch über-winden helfen. Im Wettlauf zwischen individueller und staatlicher Macht kommen Innovationen letztlich allen Seiten zugute. Dies gilt auch für die Mittel der Überwachung und Steuerung. Wer glaubt, die Welt durch Spio-nagesoftware, Drohnen oder Mikroroboter sicherer zu machen, wird sich am Ende durch diese selbst bedroht sehen.

Wissenschaft und Technik kommt eine Schlüsselrolle im Netz globali-sierter Gewalt zu. Offenkundig ist die technische Wirkungssteigerung von Gewaltmitteln in Kriegen und anderen Konflikten, die explizit auf Zerstö-rung ausgerichtet ist. Die Waffe ist die gebündelte Verkörperung von Natur-kräften zum Zwecke der Gewalt, die den Zugriff auf weitere Gewaltmittel und Machtressourcen ermöglicht. Die technische Entwicklung heizt so eine Gewaltspirale an und wird in eine Eskalationsdynamik hineingezogen,

5 Vgl. mit weiteren Nachweisen: Jürgen Scheffran, Technikkonflikte in der vernetzten Welt, in: „Wis-senschaft und Frieden“, 2/2015, S. 6-10; Jürgen Scheffran, Vom vernetzten Krieg zum vernetzten Frieden, in: „FIfF-Kommunikation“, 3/2015, S. 34-38; Jürgen Scheffran, Climate Change as a Risk Multiplier in a World of Complex Crises. Beitrag zur Planetary Security Conference, Den Haag (2.-3. 11.2015); Jürgen Scheffran, John Burroughs, Anna Leidreiter und Rob van Riet, A Ware, The Clima-te-Nuclear Nexus. London 2015; Jürgen Scheffran, Complexity and Stability in Human-Environ-ment Interaction, in: Emilian Kavalski (Hg.), World Politics at the Edge of Chaos, 2015, S. 229-252.

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die eine Totalität des Krieges ermöglicht, bis hin zur Zerstörung des Plane-ten. Getrieben vom Streben nach militärischer Überlegenheit macht sich das Militär die Ergebnisse wissenschaftlicher Forschung zu Nutze, von der Grundlagenforschung bis hin zur anwendungsnahen Entwicklung. Atom-waffen und Raketen, Satelliten, Anti-Satellitenwaffen, Raketenabwehr und Lasertechnologie, technische Intelligenz, Drohnen, Robotik und Cyberwar erlauben Macht- und Gewaltprojektionen über den ganzen Planeten und in den erdnahen Weltraum. In den Kriegen des 21. Jahrhunderts geht es um die Vernetzung, Automatisierung und Robotisierung der Gefechtsfelder in der Luft, auf dem Wasser und am Boden, im Weltraum und im Cyberspace, bis hin zu Heimatfront und Medienwelt. Im Cyberkrieg wird das Netz auch direkt Ziel von Gewalthandlungen, daran angebundene Systeme werden zur potentiellen Waffe.

Die Vernetzung betrifft auch die Vorbereitung, Planung und Durchfüh-rung von Gewalteinsätzen unter Ausnutzung der fließenden Übergänge zwi-schen zivilen und militärischen Strukturen, bis hin zu den wirtschaftlichen und politischen Entscheidungsebenen. Vermittelt durch Technik durchdrin-gen neue Muster von Gewalt und Krieg alle Dimensionen der Gesellschaft, von kleinsten Räumen über die irdische Lebenswelt bis zum Weltraum.

Wirtschaftswachstum, globalisierte Konkurrenz und Naturzerstörung

Der Multiplikator- und Vernetzungseffekt der Technik steht auch im Zentrum der auf Wachstum ausgerichteten kapitalistischen Ökonomie, die technische Produktionsmittel und Kapital anhäuft. Die von Francis Bacon vor rund 400 Jahren anvisierte Technikvision konnte in Teilen der Welt die Mühsal der menschlichen Existenz erleichtern und dazu beitragen, dass trotz begrenzter Ressourcen rund zehnmal so viele Menschen auf der Erde existieren kön-nen wie vor der Industrialisierung. Der von Thomas Malthus vor mehr als 200 Jahren prognostizierte baldige Zusammenbruch der menschlichen Popula-tion konnte so mit neuen Erfindungen immer wieder verschoben werden.

Es stellt sich allerdings zunehmend die Frage, wie lange sich Wohlstand noch steigern lässt, ohne dass die Folgen seine Grundlagen untergraben. In der ökonomischen Konkurrenz führen effektivere Produktionstechniken zu Wettbewerbsvorteilen durch Profitsteigerung und letztlich zur Ausschal-tung von bzw. Fusion mit Konkurrenten, um deren Kapazitäten einzubinden – ein Äquivalent zur Konzentration in der Gewaltspirale. Der Sachzwang zur maximalen Effizienz führt zu eng gekoppelten und verdichteten Ressourcen- und Warenströmen, global verbundenen Infrastrukturen und Lieferketten (supply chains), bei denen die Kettenglieder nahtlos zusammengefügt wer-den, um Güter just-in-time weltweit zu verteilen. Eine kleine Störung kann schnell den minutiös geplanten Ablauf durcheinander bringen.

Eine zentrale Rolle spielen technische Wirkungssteigerungen zudem sowohl bei der Ausbeutung natürlicher Ressourcen als auch bei den Folgen dieses Technikeinsatzes für die Zerstörung von Ökosystemen, Lebensräu-

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men und der Artenvielfalt. Ging es bei der Industrialisierung darum, Natur-ressourcen in großem Maßstab für die Erzeugung von Produktions- und Destruktionsmitteln einzusetzen, so werden die Grenzen des expansiven und verschwenderischen Umgangs mit der Natur in Umwelt- und Ressour-cenkonflikten sichtbar. Neben dem Naturverbrauch auf der Verursacher-seite wird die destruktive Seite der Technik auch auf der Folgenseite deut-lich: Dies gilt etwa für die fossile Energieversorgung, die ein breites Feld für Technikkonflikte aller Art war und ist. Neue, unkonventionelle Methoden der Gewinnung fossiler Energieträger sind nicht nur mit steigenden Kosten, sondern auch mit gravierenden Umweltfolgen verbunden, so bei der Gewin-nung von Ölsanden, Schiefergas oder Erdgas durch Fracking, was ebenso zu Problemen und Protesten führt wie Ölbohrungen zur See oder in der Arktis.6

Das Klima der Komplexität

Besonders deutlich werden die Zusammenhänge von Komplexität und Sta-bilität bei der globalen Erwärmung, die durch technische und gesellschaft-liche Entwicklungen forciert wird und auf diese zurückwirkt. Die Freisetzung fossiler Treibhausgasemissionen droht das Erdsystem zu destabilisieren und erscheint in den Brennpunkten des Klimawandels als Risikoverstärker und Bedrohungs-Multiplikator. Wetter und Klima sind Paradebeispiele für kom-plexe Systeme, die schwer vorhersagbar, ja chaotisch sind, wobei das Zusam-menspiel der Wirkungsketten und Rückkopplungen noch wenig verstanden ist. Gegenüber den langfristigen Trends erscheinen nichtlineare Extremereig-nisse als spektakulärer, wie Wirbelstürme, Überschwemmungen, Dürren, Hitzewellen und Waldbrände, die ein Klima der Komplexität erzeugen kön-nen.7 Verglichen mit früheren abrupten Klimaänderungen, etwa beim Über-gang zwischen Warm- und Eiszeiten, waren die klimatischen Bedingungen in der bisherigen Menschheitsgeschichte relativ stabil. Zu befürchten steht nun, dass das heutige Erdklima gegenüber der massiven Störung durch den Menschen „kippen“ könnte, wenn bestimmte Schwellen überschritten und Verstärkereffekte ausgelöst werden: Hierzu gehören die Abschwächung des Golfstroms, das Abrutschen des Eisschelfes in Grönland und der Westant-arktis, die Freisetzung von gefrorenen Treibhausgasen wie Methan, oder die Änderung des asiatischen Monsuns. Diese Phänomene und damit verbun-dene Ereignisketten können zu einer dauerhaften Umwandlung des Erdsys-tems führen, die auch die Fähigkeiten der stärksten Staaten und Gesellschaf-ten überfordert – ein riskantes Experiment mit ungewissem Ausgang.

Doch selbst wenn der befürchtete Kipppunkt ausbleibt oder noch in ferner Zukunft liegt, gefährdet der ungebremste Klimawandel weltweit schon jetzt die Funktionsfähigkeit natürlicher und sozialer Systeme. In jenen Weltregio-nen, die in besonderer Weise abhängig von der Landwirtschaft sind, in Küs-tenzonen, Flussgebieten oder in besonders heißen und trockenen Regionen

6 Vgl. Naomi Klein, Die Entscheidung: Kapital vs. Klima, in: „Blätter“, 5/2015, S. 43-57.7 Delf Rothe, Securitizing Global Warming: A Climate of Complexity, Routledge 2015.

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liegen, beeinflusst der Klimastress die menschliche Sicherheit in vielfacher Weise: etwa durch Verknappung und ungleiche Verteilung von natürlichen Ressourcen wie Trinkwasser und Nahrung, Wäldern und Ackerland, Arten-vielfalt und Fischbeständen.

Wetterextreme sind jedoch nicht nur eine unmittelbare Gefahr für Gesund-heit und Leben von Menschen; sie können auch kritische Infrastrukturen der Gesellschaft außer Kraft setzen, die für die Versorgung mit Wasser, Nahrung und Energie, mit Gütern und Dienstleistungen, für die Bereitstellung von Kommunikations-, Gesundheits-, Transport- und Sicherheitsdienstleistun-gen essentiell sind: So richtete der tropische Wirbelsturm Katrina 2005 an der Südküste der USA gewaltige Schäden an, kostete etwa 1800 Menschen das Leben, vertrieb hunderttausende und überforderte das Katastrophenma-nagement. Die Hitzewelle des Jahres 2003 hinterließ in Europa zehntausende von Todesopfern und mehr als zehn Mrd. Euro Schäden in der Landwirt-schaft. Die Indus-Flut 2010, die schwerste seit mehr als 80 Jahren, überflu-tete ein Fünftel der Landfläche Pakistans und hatte Folgen für 20 Millionen Menschen, mit etwa 2000 Todesopfern, 1,7 Mio. zerstörten Häusern und der Beschädigung eines großen Teils der Infrastruktur.8

Das Versagen von Teilsystemen kann über Kopplungen und Kettenreak-tionen das gesamte System gefährden und angemessene Hilfe erschweren. Bei großflächigen Blackouts des Stromnetzes sind praktisch alle anderen Versorgungssysteme betroffen. Im November 2005 ereignete sich nach hefti-gen Schneefällen in Nordrhein-Westfalen und Niedersachsen einer der größ-ten Stromausfälle in der deutschen Geschichte, bei dem rund 250 000 Men-schen mehrere Tage ohne Strom blieben und ein wirtschaftlicher Schaden von etwa 100 Mio. Euro entstand. Bei einem größeren Stromausfall in Europa im November 2006 waren Teile von Deutschland, Frankreich, Belgien, Ita-lien, Österreich und Spanien zeitweise von der Stromversorgung abgeschnit-ten. Auch der Schneesturm in Nordamerika zum Jahreswechsel 2013/2014 bewirkte Stromausfälle für hunderttausende von Menschen und traf Teile des Kommunikations- und Verkehrssystems.

Wird ein Versorgungssystem für eine Ressource getroffen, wirkt sich das oft auf andere Ressourcen aus. So beeinflusst der Klimawandel das Wir-kungsgeflecht (Nexus) aus Wasser, Energie und Nahrung9 und befördert Ressourcenkonkurrenzen. Da Kernkraftwerke auf den Zustrom von Kühl-wasser angewiesen sind, beeinträchtigen eine Erwärmung der Gewässer, lange Dürreperioden oder Überflutungen die Energiesicherheit. Durch Katrina 2005 waren in der Golfregion von Louisiana mehr als ein Viertel der Offshore-Ölproduktion, fast ein Fünftel der Erdgasproduktion und nahezu die Hälfte der Raffineriekapazität zeitweise außer Funktion, ebenso wichtige Ölpipelines, tausende von Bohrinseln, ein großer Teil des Zugverkehrs und des Schiffstransports. Der Taifun Haiyan auf den Philippinen zerstörte auch

8 François Gemenne, Pauline Brücker und Joshua Glasser (Hg.), The State of Environmental Migra-tion 2010, Institute for Sustainable Development & International Relations, International Organiza-tion for Migration, Paris 2011.

9 Marianne Beisheim (Hg.), Der „Nexus“ Wasser-Energie-Nahrung – Wie mit vernetzten Versor-gungsrisiken umgehen?, Berlin 2013.

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einen Teil der Versorgung des Landes mit erneuerbaren Energien. Anfällig für den Klimawandel sind auch die weltweiten Güter-, Handels- und Finanz-märkte. Beispiele sind Überschwemmungen in Australien 2010/2011 oder das Hochwasser in Thailand 2011, die in den globalen Lieferketten zu Ver-sorgungsengpässen führten.10

Klimawandel als Risikoverstärker gesellschaftlicher Destabilisierung

Über die Verknüpfung physischer, wirtschaftlicher und geopolitischer Risi-ken in einer global vernetzten Welt können Auswirkungen klimabedingter Ereignisse die soziale und politische Stabilität in betroffenen Regionen unter-graben und globale Verwerfungen auslösen. Klimawandel verstärkt beson-ders dort eine Destabilisierung, wo Gesellschaften im Umbruch sind, etwa beim Übergang von autoritären zu demokratischen Regimen. Am Rande der Instabilität können Naturkatastrophen die Legitimität und Fähigkeit von Staaten beeinträchtigen, die Bürger vor Schaden zu bewahren. Der Verlust von Menschenleben, Einkommen, Vermögen, Jobs, Gesundheit, Familie oder Freunden provoziert Widerstände und Unruhen, die den Gesellschafts-vertrag gefährden und die politische Ordnung schwächen. Einige dieser Pro-zesse tragen langsam zur Erosion der sozialen und politischen Stabilität bei, andere verlaufen rasch und überwältigen die Problemlösungs- und Anpas-sungsfähigkeit von Gesellschaften. Verschiedene Destabilisierungsprozesse können sich in Brennpunkten verstärken und in Nachbarregionen ausstrah-len. Beim Zerfall der sozialen und politischen Ordnung dringen nicht-staat-liche Akteure (private Sicherheitsfirmen, Terrorgruppen, Warlords) in das Machtvakuum vor. Besonders gefährdet sind Staaten mit niedrigem Einkom-men und geringen Anpassungsfähigkeiten, während reichere Gesellschaf-ten über bessere Anpassungsfähigkeiten verfügen.

Zu den schwerwiegendsten Folgen gehören Lebensmittelknappheit und damit verbunden ein Anstieg der Lebensmittelpreise, was für arme soziale Schichten existenzbedrohend ist. Im Laufe der Geschichte haben Brot-Pro-teste und Hungerrevolten immer wieder zu politischen und gesellschaft- lichen Veränderungen beigetragen, so in der Französischen und der Russi-schen Revolution. Hierzu gehören auch jüngste globale Versorgungskrisen wie 2008 und 2011, als sich Nahrungsmittel innerhalb kurzer Zeit um das Dreifache verteuerten und die Zahl der hungernden Menschen um 100 Mil-lionen auf eine Milliarde anstieg.11 Nach Ansicht einiger Experten hatten klimabedingte Wetterextreme und steigende Lebensmittelpreise zur Jahres-wende 2010/2011 einen relevanten Einfluss auf den Beginn des Arabischen Frühlings und des Bürgerkriegs in Syrien, die große Flüchtlingsbewegungen auslösten.12

10 Vgl. weiter Jürgen Scheffran, Climate Change as a Risk Multiplier in a World of Complex Crises. Beitrag zur Planetary Security Conference, Den Haag (2.-3.11.2015).

11 Beisheim, a.a.O., S. 44.12 Caitlin E. Werrell, Francesco Femia und Anne-Marie Slaughter (Hg.), The Arab Spring and Climate

Change, Center for American Progress, Stimson Center 28.2.2013.

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Abgrenzung und Ausgrenzung in komplexen Krisen

Die heutigen komplexen Krisen und Konflikte können jedoch nicht alleine durch Technik oder Klimawandel erklärt werden. Zusätzlich müssen die gesellschaftlichen Prozesse und Ursachen in den Blick genommen werden, die beiden Phänomenen letztlich zugrunde liegen.

Eine evolutionstheoretische Betrachtung würde Gesellschaft als aus der Natur hervorgehend betrachten und somit als den natürlichen Gesetzmäßig-keiten und Selektionen unterworfen, was als Natur-Determinismus interpre-tiert werden kann. Demgegenüber sieht eine kulturtheoretische Perspektive Gesellschaft als vom Menschen konstruiert an und damit den jeweiligen Interessen und Machtstrukturen unterworfen, die in ihrer derzeit vorherr-schenden neoliberalen Variante zu einer Diktatur der Freiheit führen, um gesellschaftliche Unterschiede zu rechtfertigen. Beide Erklärungsansätze stoßen an ihre Grenzen, wenn es darum geht, ein hinreichend komplexes und stabiles Verhältnis der Mensch-Natur-Interaktion herzustellen.

Dies wird deutlich an dem westlichen Gesellschaftsmodell, das im Prozess der expansiven Globalisierung die vergangenen Jahrzehnte und Jahrhun-derte beherrscht hat. Die westlichen Industriestaaten konnten eine ökonomi-sche und technologische Dominanz entwickeln, deren Akzeptanz auch durch Prinzipien und Werte (Freiheit, Gleichheit, Demokratie, Wohlstand, Tole-ranz, Menschenrechte und Gewaltfreiheit) hergestellt wird. Während dieses Erfolgsmodell weiter eine hohe Anziehungskraft ausübt, für einen relevanten Teil der Menschheit Wohlstand bedeutet und im Kern stabil erscheint, wirkt es im globalen Maßstab widersprüchlich und destabilisierend.

Mit dem Prinzip permanenten Wachstums gerät die kapitalistische Wirt-schaft in Widerspruch zu natürlichen Grenzen, allen Versuchen der wis-senschaftlich-technischen Naturbeherrschung zum Trotz. Zudem führt sie zur Akkumulation von Wohlstand in den Händen weniger auf Kosten vie-ler, die marginalisiert werden. Dies steht im Widerspruch zum propagierten Wertesystem, das nur für einen Teil der Weltgesellschaft realisiert wird. Das Glücks-Versprechen von Wohlstand, Freiheit und Demokratie wird zwar in alle Welt transportiert, lässt sich aber bislang nicht überall einlösen. Auf-grund seiner Widersprüchlichkeit erzeugt das globalisierte Wachstums-modell Differenzen, Grenzen und Spannungen, die Auslöser für Konflikte und Krisen sind, die sich verdichten und vernetzen. Verstärkt werden die Spannungen durch Krisenerscheinungen im kapitalistischen System, die dessen Attraktivität in Frage stellen – wie die Finanzkrise von 2008 oder die Griechenlandkrise, die tiefgehende Bruchlinien in Kernzonen des Systems offenbaren und Widerstände verstärken. Langfristig sorgen die ökologischen Grenzen des Wachstums aufgrund der begrenzten Verfügbarkeit natürlicher Ressourcen und des Klimawandels für Konfliktpotentiale, die dem Streben nach Wohlstand für alle und der wirtschaftlichen Expansion im Wege stehen.

Das komplexe Ursachengeflecht heutiger Krisen schafft immer neue Gründe für Krisen und Konflikte, die sich zu schwer lösbaren vernetzten Kriegen und Gewaltspiralen aufschaukeln können. Die Konfliktlinien ver-

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laufen dort, wo das Spannungsgefälle widersprüchlicher Tendenzen am größten ist: im Mittelmeerraum zwischen Südeuropa, Nordafrika und Nah-ost; innerhalb der Ukraine; in den Drogenanbaugebieten Afghanistans und Mittelamerikas; in den Rohstoffgebieten Afrikas; in den Regenwäldern der Welt; ebenso in den Slumgebieten der Megastädte; an den Bruchlinien der Religionen und generell zwischen Arm und Reich. Entlang solcher und ande-rer Konfliktlinien entladen sich die Widersprüche in komplexen Krisen, die sich im vergangenen Jahr so verdichteten, dass die unkontrollierte Ketten-reaktion bis ins Zentrum Europas reichte und mit der Griechenlandkrise, der Flüchtlingskrise und den Terrorangriffen an der Stabilität des Kerns kratzte. Entsprechend übertrafen sich Politik und Medien mit Vergleichen, die Europa auf der Kippe oder schon im Chaos wähnten.

Dass die bisherigen Lösungsansätze nachhaltig geeignet sind, darf bezweifelt werden. Zusammen mit Autokraten in Ungarn, Polen und der Türkei Obergrenzen für Flüchtlinge einzuführen und mit Gewalt durchzu-setzen, würde einen Großteil europäischer Prinzipien über Bord werfen und den freien Verkehr in Europa einschränken, der für den deutschen Export-weltmeister so wichtig ist. Mehr als hundert Mrd. Euro für neue Rüstungs-programme aufzulegen, dürfte die Gewaltspiralen weiter anheizen. Und mit Geoengineering die Kontrolle über den Planeten zu gewinnen, um das Klimaproblem trotz hoher Emissionen lösen zu können, entspräche dem Ver-such, an der Schwelle zur Instabilität das Maximum aus dem Planeten her-auszuholen. Wer die Welt als Reaktor organisiert, darf sich nicht wundern, wenn sie explodiert.

Krisen als Chance

Es mag sein, dass die derzeitigen Krisen Vorboten noch tiefergehender Kri-sen sind, es gibt aber auch die Hoffnung, dass sie nur vorübergehende Phä-nomene eines Übergangs in eine nachhaltigere Welt sind, in der Erhaltung, Entfaltung und Gestaltung zusammenpassen. Anzeichen für eine solche Transformation gibt es genügend, zuletzt das Klimaabkommen von Paris, das zumindest die Chance auf eine Wende eröffnet.13 Es wäre fatal, die Welt einer Allianz aus Wachstum, Macht und Gewalt zu überlassen, die sich Mensch und Natur mit Hilfe der Technik zu Diensten macht und dabei deren Belastungsgrenzen überschreitet. Vielversprechender ist es, sich an natürli-chen Systemen zu orientieren, die mit Prinzipien der Lern- und Anpassungs-fähigkeit, von Resilienz und Robustheit, Selbstorganisation und Viabilität eine Balance zwischen der Komplexität und Stabilität lebendiger Netzwerke herstellt. Vor allem geht es darum, von der hastigen und reaktiven Bewälti-gung komplexer Krisen in einer Gesellschaft der Kritikalität wegzukommen, hin zu einer kritischen Gesellschaft, die die vorbeugende Vermeidung und Lösung von Krisen als Chance begreift.

13 Vgl. Jürgen Scheffran, Der Vertrag von Paris: Klima am Wendepunkt?, in „WeltTrends“, 112/2016, 4-9.

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S tetig erobern sich Comics ein immer breiteres Publikum. Aus Jugend- und Subkulturen sind sie längst nicht mehr wegzudenken. Dafür steht

die große Palette an erfolgreichen, teils preisgekrönten Verfilmungen wie „Sin City“ oder „Blau ist eine warme Farbe“. Ein weiterer sichtbarer Aus-druck ist auch dieses Jahr wieder ihre massive Präsenz auf der Leipziger Buchmesse. Erneut füllen sie dort eine von fünf Hallen, vor allem in Form ihrer japanischen Variante, des Mangas, und dem zugehörigen Merchandi-sing. Und kein Messebesucher könnte die zahlreichen Jugendlichen in mal quietschbunten, mal bizarren Kostümen übersehen, die Cosplayer, aufwän-dig verkleidet und geschminkt wie ihre Helden aus der Welt von Manga und deren filmischer Variante, der Anime.

Neu ist jedoch die erhöhte Akzeptanz des Comics bis hinein in bildungs-bürgerliche Milieus. Wenn nun der Respekt wächst, dann verdankt sich das weniger den oft grellen japanischen Produkten als einem vergleichsweise neuen Phänomen: Unter dem Label „Graphic Novel“ erscheinen seit einigen Jahren Comics, die gewissermaßen über einen kulturellen Mehrwert ver-fügen. Sie kennzeichnet ein erhöhter künstlerischer, literarischer und nicht selten politischer Anspruch. Auf sie stößt man mittlerweile regelmäßig in den Feuilletons der großen Zeitungen und vor allem zunehmend auf den Laden-tischen der Buchhandlungen.

Anfangs zog dieses Etikett noch kulturkritischen Widerspruch auf sich: Verkauft man nicht bloß alten Wein in neuen Schläuchen, wenn man Comics zu „grafischen Romanen“ umdeutet? Diese Kritik liegt nahe, wenn man sich die Programme und Backlists von Independent-Verlagen wie der Edition Moderne, dem avant-verlag oder Reprodukt anschaut. Letzterer etwa hat seit seiner Gründung vor 25 Jahren stets anspruchsvolle, avantgardistische und eigensinnige Werke verlegt. Lange gingen diese Publikationen als Comics durch, heute werden sie anders beworben.

Und doch steht hinter dem Begriff der Graphic Novel mehr als eine gelun-gene Marketingstrategie. Denn diesem Label wohnte von Beginn an ein Ele-ment kultureller Selbstbehauptung einer lange belächelten Kunstform inne. Charakteristisch dafür ist jene Episode, die allgemein als Geburtsstunde des Begriffs gilt. Der US-amerikanische Zeichner und Autor Will Eisner reüssierte vor dem Zweiten Weltkrieg mit Superheldencomics, vor allem mit

Graphic Novels oder Der Siegeszug des ComicsVon Steffen Vogel

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seiner Serie um „The Spirit“. Später, im Jahr 1978, wollte der inzwischen 61jährige sich anderen Themen zuwenden: seinen Erfahrungen als Soldat in Europa, seiner Kindheit in der Bronx unter jüdischen Einwanderern aus Ost-europa. Für solche Geschichten bedurfte es jedoch einer veränderten Form. Die Bildsprache sollte subtiler und ruhiger sein, mehr Platz für Zwischentöne lassen. Eisner ging in „Ein Vertrag mit Gott“ – dem ersten Werk seiner neuen Schaffensperiode – sogar so weit, die klassische Seitenstruktur zu sprengen und auf Panel-Rahmen zu verzichten. Um seine Arbeit Literaturverlagen schmackhaft zu machen, legte Eisner das einschränkende Etikett Comic ab – und bewarb sie als Graphic Novel.

Eisners Experimentierfreude zahlte sich aus. Er avancierte in den USA zur Legende, nach der noch zu Lebzeiten der bis heute wichtigste amerikanische Comicpreis benannt wurde: Der jährlich verliehene „Eisner Award“ bildet gewissermaßen das Äquivalent zum Pulitzer-Preis in der Literatur. Mit dem neuen Label verschaffte Eisner sich den gewünschten künstlerischen Spiel-raum für Comics, die mehr bieten durften als gute Unterhaltung. Dafür aber musste er erst ein Marketinginstrument kreieren.

Der Comic wird erwachsen

Wenn deutsche Verlage nun das Label Graphic Novel verstärkt nutzen, um das Nischendasein des Comics zu beenden, verrät das viel über dessen Akzeptanzprobleme. Lange wurde diese spezifische Verbindung von Text, Grafik und einer dem Film ähnlichen – aber nicht gleichen – Erzählweise auf Produkte aus den Häusern Disney und Marvel reduziert. Comics galten mit-hin als lustige, wenn auch kulturell fragwürdige Bildergeschichten für Kinder oder als geistlose Zerstreuung für Heranwachsende in Form der „heroischen Pornografie“ – wie der Zeichner James Sturm die Superheldengeschichten um „Batman“, „X-Men“ oder „The Avengers“ vor einigen Jahren nannte.

Anspruchsvolle Werke hat es jedoch schon früher gegeben. Dafür stehen nicht zuletzt zahlreiche Alben aus Frankreich und Belgien. Von dort stammt nach wie vor ein Großteil der europäischen Comics, die auch hierzulande ein bedeutendes Marktsegment beherrschen. Vor allem in Frankreich sind die Verkaufszahlen schon länger hoch, und es herrschen weniger kulturelle Vor-behalte als in Deutschland. Diese Anerkennung ist aber auch dort nicht über Nacht gekommen. Vereinfacht gesagt zeigt sich beim französischsprachigen Comic eine Entwicklung über drei Generationen, an deren Ende die Graphic Novels stehen (die dort aber weiterhin Bandes Dessinées genannt werden).

Nach 1945 dominierten auch in Frankreich und Belgien zunächst unter-haltende Formate. Abenteuerreihen wie „Der rote Korsar“ erreichten hohe Auflagen und boten jene Ablenkung, mit der zeitgleich etwa auch Holly-woodfilme in den Nachkriegsgesellschaften erfolgreich waren. Dazu traten die bekannten humoristischen Serien, die teilweise schon vor dem Weltkrieg erfunden worden waren, etwa Hergés „Tim und Struppi“. In der Regel ent-hielten sich die Zeichner dieser Reihen jeglicher Gesellschaftskritik. Eine

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Ausnahme bildet André Franquin, der in den 1950ern „Spirou und Fantasio“ übernommen hatte und dessen hintersinniger Humor mehr als nur eine kri-tische Spitze setzte. Gleiches gilt für das kongeniale Duo Albert Uderzo und René Goscinny, die ihren „Asterix“ mit zahllosen, nicht selten schwarzhumo-rigen Anspielungen auf Politik, Kunst und Alltagskultur anreicherten.

Diese Generation von Zeichnern verschaffte dem Comic in Frankreich eine enorme Massenresonanz. Daran konnte eine zweite Generation anknüpfen, die vom kulturellen Aufbruch der 1960er Jahre geprägt war. So glänzten Moebius und Alejandro Jodorowsky mit komplexen Science-Fiction-Erzäh-lungen wie dem „Inkal“ oder den „Techno-Vätern“, teilweise in zeittypisch psychedelischen Bildern. Jean-Claude Mézières und Pierre Christin wiede-rum gelang das Kunststück, in ihrer leichtfüßigen SF-Serie „Valerian und Veronique“ alle philosophischen und politischen Debatten der Neuen Lin-ken auszutragen, von der ökologischen Frage bis zu Foucaults Machttheorie.

Zur gleichen Zeit begeisterten François Bourgeon sowie das Duo Patrick Cothias und André Juillard mit erwachsenen Abenteuerserien. „Reisende im Wind“ und „Die sieben Leben des Falken“ beeindrucken noch heute mit ihrem grimmigen Realismus. Sie liefern detailfreudige Epochendarstellun-gen, deren Figuren schwitzen, stinken und bluten. Gerade Bourgeon setzte, lange vor George R.R. Martin und „Game of Thrones“, auf eine gehörige Dosis Sex und Gewalt – auch um nicht in der Kinderabteilung zu landen. Nebenbei liefern beide Serien feministische Rolemodels, starke, aber verletzliche Pro-tagonistinnen, die als Vorläuferinnen heutiger Popphänomene gelten kön-nen, etwa der Lisbeth Salander aus Stieg Larssons Millenium-Trilogie oder der Katniss Everdeen aus Suzanne Collins‘ „Die Tribute von Panem“.

Den Ritterschlag für den Comic erhielten in jenen Jahren aber Szenarist Pierre Christin und Zeichner Enki Bilal, die – zeitgleich mit Jacques Tardi – den gehobenen Politcomic begründeten. Sie hatten eine anspruchsvolle, düs-tere Serie über das Scheitern kollektiver Utopien vorgelegt, unter anderem „Der Schlaf der Vernunft“. Dort beschwört das Duo die Gespenster des Spa-nischen Bürgerkriegs herauf: Eine Gruppe alter Faschisten zieht 1979 eine Blutspur durch Europa, und ihre ehemaligen Widersacher einer Internationa-len Brigade nehmen die Verfolgung auf. Das gibt den bejahrten antifaschis- tischen Genossen viel Raum, um über Ideale und Illusionen zu sinnieren – bis zum bitteren Finale, dem so gar nichts Heroisches mehr anhaften will. Chris-tin wurde daraufhin in eine bekannte TV-Literatursendung eingeladen, wo kein geringerer als Jorge Semprún diese Arbeit lobte.

Zu diesem Zeitpunkt hatte der Comic in Frankreich zwei wichtige Etap-pen erreicht: Er war massentauglich geworden und erfuhr langsam Anerken-nung in der Hochkultur. Das schuf ideale Ausgangsbedingungen für die dritte, heute prägende Generation. Sie kann sich ganz souverän der Mittel einer relativ etablierten Kunstform bedienen, ohne sich allzu große Sorgen um Reputation und Absatz machen zu müssen. Dementsprechend frei geht sie zu Werke: Ihre Arbeiten sind oft ein wüster, aber höchst vergnüglicher Genremix, und sie loten spielerisch die Grenzen des grafischen Erzählens aus. In Frankreich spricht man daher längst von der Nouvelle Bande Dessi-

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née, dem Neuen Comic. Die Anspielung auf den Nouveaux Roman und die Nouvelle Vague im Film trifft durchaus den Kern: Ebenso wie seinerzeit die jungen Schriftsteller und Regisseure nach neuen Formen gesucht haben, experimentieren heute Zeichner wie Manu Larcenet („Der tägliche Kampf“), Joann Sfar („Die Katze des Rabbiners“) oder Lewis Trondheim („Herr Hase“) mit dem Comic: Sie verabschieden sich von der realistischen Darstellung und pflegen einen verspielten, beinahe rohen und skizzenhaften Strich.

Bei ihrem Ersterscheinen wurden ihre Werke – und erst recht jene der zweiten Generation – in Deutschland selbstverständlich noch als Comics verkauft. Heute gehen sie als Graphic Novels durch. In Frankreich wird die-ser Unterschied nach wie vor nicht gemacht. Hierzulande ist er nötig. Denn weder wurde der Comic in der Bundesrepublik derart frühzeitig massen-tauglich, zumindest nicht unter Erwachsenen, noch erreichte er eine ver-gleichbare kulturelle Akzeptanz wie im Nachbarland. Dies dürfte nun der Graphic-Novel-Boom nachholen. Ironischerweise wird damit jene Trennung zwischen U und E, zwischen Kunst und Kommerz eingeführt, die anderswo schon seit längerem hinterfragt wird, beispielsweise in der Literatur. Derart dominant ist dieser Trend, dass selbst Genreverlage wie Splitter oder Cross Cult, die überwiegend Fantasy, Action und Science Fiction publizieren, mitt-lerweile Graphic Novels im Programm haben, desgleichen renommierte Lite-raturverlage wie Hanser und Suhrkamp. Damit ist die Werbestrategie aufge-gangen: Der Markt expandiert über die klassischen Zielgruppen hinaus und dringt stärker ins Bildungsbürgertum vor.

Das bereits ist im Sinne des Comics und seiner Schöpfer begrüßenswert. Doch der Effekt des Labels beschränkt sich nicht auf das Erschließen neuer Marktsegmente. Denn dem Begriff der Graphic Novel wohnte von Beginn an ein Doppelcharakter inne: Einerseits soll das Label eine bessere Vermarkt-barkeit erreichen. Dazu distanziert man sich zumindest sprachlich ein wenig vom Comic – und wählt einen Begriff, dessen Unschärfe nützlich ist. Denn was bezeichnet das Etikett „Graphic Novel“ streng genommen? Ein neues Genre begründet es nicht, da unter diesem Dach alle möglichen Genres angeboten werden. Eine eigenständige Kunstform zwischen Comic und Lite-ratur bilden diese Werke auch nicht, sie bleiben Comics. Dennoch vermittelt das Label eine Gehobenheit und Relevanz, die Comics meist nicht zugestan-den wird. Daher ist das Etikett – wie schon bei seinem Urheber Will Eisner – in erster Linie ein geschickter Kunstgriff.

Andererseits aber eröffnet diese kommerzielle Perspektive paradoxer-weise auch einen künstlerischen Freiraum. Denn um als Graphic Novel vermarktet werden zu können, muss ein Comic einen gewissen Mindestan-spruch erfüllen. Wichtig ist zunächst, dass Kulturjournalisten und Buchhänd-lerinnen – und danach das Publikum – überzeugt werden können, dass sie es mit anspruchsvollen Werken zu tun haben. Nur dann räumen sie Comics einen Platz ein, der diesen früher nicht zugestanden wurde. Das heißt auch: Diese Überzeugungsarbeit muss stets wiederholt werden, wofür es genügend niveauvolle Graphic Novels braucht. Es entsteht also eine erhöhte Nachfrage. Den Künstlern wiederum erlaubt dieses Label, den erhöhten Anspruch nun

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auch einzulösen. Es schafft den Raum für lange Erzählungen und formale Experimente. So resultiert genau aus diesem Doppelcharakter die künstleri-sche und gesellschaftliche Relevanz dieser Form von Comics.

Dies zeigt sich zunächst an Formfragen: Der klassische Albumcomic, der im frankobelgischen Segment lange dominiert hat, zählt üblicherweise 48 Seiten, das in den USA gängige Heft-Format sogar noch weniger. Selbst bei Serien bedingt diese Längenvorgabe eine gewisse Erzählökonomie, was sich unter anderem in der schnell ansteigenden Spannungskurve und dem Zwang zum Cliffhanger niederschlägt. Graphic Novels sind da deutlich freier: Man-che erstrecken sich über 500 Seiten, andere verzichten gänzlich auf drama-tische Zuspitzungen. Das erlaubt ein behutsames Erzählen und das Eintau-chen in den Alltag, es gestattet das Hinterfragen von Wahrnehmungsweisen. Eine gelungene Graphic Novel erkennt man also ganz wesentlich an der for-malen Gestaltung: an Länge, Erzählrhythmus, Zeichenstil oder Farbgebung.

Die Relevanz der Graphic Novels ergibt sich aber nicht zuletzt aus der Wahl ihrer Stoffe. Oder genauer: Sie resultiert aus dem besonderen Zugang, den sie zu einem Thema finden. Das kann die lebendige Aufbereitung scheinbar trockener ökonomischer Prozesse sein oder die dramaturgische Zuspitzung eines scheinbar altbekannten historischen Ereignisses oder die ungewohnte Perspektive auf den Alltag. Dadurch können diese Arbeiten ihren Inhalten günstigstenfalls sogar Zielgruppen erschließen, die von Sachbüchern oder Reisereportagen nicht erreicht werden – und so eine regelrecht aufkläre-rische Aufgabe übernehmen. Dabei stehen Zeichner und Autoren stets vor der Herausforderung, Grafik und Text in ein stimmiges Verhältnis zu setzen: Dominiert der Text, gleitet ihr Werk schnell in ein illustriertes Buch oder, schlimmer noch, in Agit-Prop ab. Kann hingegen der Inhalt nicht gegen-über dem Artwork bestehen, entsteht ein Band, dessen schöne Oberflächen schnell ihren Reiz verlieren. Den meisten Graphic Novels gelingt diese Kom-bination nicht nur, sie bestechen geradezu durch sie. Das lässt sich auch an einigen wichtigen Neuerscheinungen der Saison zeigen. Sie stehen für drei große Themenstränge, denen sich Graphic Novels heute zuwenden: zum einen der Auseinandersetzung mit der jüngeren Geschichte, zum anderen den Krisen der Gegenwart und schließlich dem Alltag in all seinen Facetten.

Im Widerstand

Historische Stoffe lassen sich scheinbar leicht bebildern: Sie sind reich an dramatischer Handlung und bieten eine Reihe ikonischer Figuren und Bil-der. Gerade das aber kann sich als Fallstrick erweisen. Wie etwa vermag eine Graphic Novel angemessen vom Holocaust zu erzählen? Offenkundig darf die Bildsprache nicht karikaturesk wirken. Fotorealistische Zeichnun-gen wiederum könnten das Grauen auch nicht im Ansatz einfangen. In bei-den Fällen droht eine Trivialisierung, die um jeden Preis vermieden werden muss. Art Spiegelman hat mit „Maus“ gezeigt, wie es gehen kann: Er bet-tete die Erlebnisse seines Vaters, der das KZ überlebt hatte, in eine Rahmen-

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handlung ein, die Distanz zum unmittelbaren Erleben schuf und Platz für Re- flektionen ließ. Und er griff zu einer stark stilisierenden Grafik, in der Juden als Mäuse, Deutsche als Katzen und Polen als Schweine dargestellt werden, womit symbolisch die Machtverhältnisse zwischen ihnen benannt sind.

Wie sich historisch sensible Themen gelungen umsetzen lassen, zeigen auch zwei neuere Arbeiten auf ganz unterschiedliche Weise: Die eine setzt auf einen artifiziellen Realismus, die andere greift zur Allegorie. „Ein Leben im Tode“ erzählt von einer kommunistischen Résistance-Gruppe im Paris der 1940er Jahre. Dabei lässt der Band die historisch verbürgte Geschichte weitgehend für sich selbst sprechen. Laurent Galandon montiert die Ereig-nisse verknappend und in zurückgenommenem Ton, was von Jeanne Puchols Zeichnungen im reduktionistischen Strich der ligne claire bestens unterstützt wird. Tatsächlich sind die Fakten aufwühlend genug: Der polni-sche Jude Marcel Rayman geht nach der Deportation seiner Familie in den Untergrund. Mit der Manouchian-Gruppe – die aus Spaniern, Armeniern, Ungarn, Polen und Italienern besteht – verübt er spektakuläre Anschläge, bis der französische Geheimdienst zuschlägt. Die meisten Mitglieder wer-den verhaftet und hingerichtet. Die Nazis lassen daraufhin ein Propaganda-plakat drucken, das berüchtigte Affiche rouge, auf dem die Widerständler samt Nationalität genannt und als „Armee des Verbrechens“ verunglimpft werden. Louis Aragon verarbeitete dies später in seinem bekannten Gedicht „Strophes pour se souvenir“. Heute ist das Affiche Rouge ein Symbol des Widerstands. Puchol gibt dieses und andere Plakate in der Graphic Novel wieder, genauso wie Familienfotos der Raymans. Das trägt zur eindringli-chen Atmosphäre des Bandes bei: hier die brutale Bildsprache der Nazis, dort das private Glück von Menschen, die später im KZ ermordet wurden.

Diktatur und Widerstand stehen auch im Zentrum einer spektakulären Neuerscheinung: „Eternauta“ von Héctor Germán Oesterheld und Francisco Solano López. Mit diesem Meilenstein des argentinischen Comics aus den 1950er Jahren liegt ein besonders berührender Band erstmals auf Deutsch vor. Seine Wirkung resultiert aus einer geradezu unheimlichen Verbindung zwischen Leben und Werk: Oesterheld nahm mit seiner Idee eine dunkle Phase der argentinischen Geschichte vorweg. Der Comic liest sich wie ein Vorgriff auf die 1970er Jahre – und auf das Schicksal seines Autors.

Dabei ist „Eternauta“ vordergründig ein Science-Fiction-Comic, der ganz in der Tradition eines H.G. Wells von der Invasion technisch hoch überlege-ner Außerirdischer erzählt. Verarbeitet Wells in „Der Krieg der Welten“ den Kolonialismus, rekurrieren die beiden Argentinier auf die Erfahrungen des 20. Jahrhunderts. Ihr Thema entwickeln Oesterheld und López in langsa-mem Tempo und klassischer Schwarz-Weiß-Grafik. So lassen sie ihre Leser teilhaben am allmählichen Zerfall der Gesellschaft. Die Invasion beginnt mit dem Fall weißer Flocken, die wie Schnee aussehen, aber aus einer tödlichen Substanz bestehen. Gleichzeitig blockiert ein Störsignal sämtliche Radio-frequenzen: Die wenigen Überlebenden sind fast völlig isoliert. Kurzzeitig gelingt der Ausbruch aus Misstrauen und Furcht, als einzelne Truppenteile und Zivilisten einen bewaffneten Widerstand organisieren. Doch dieser zer-

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bricht unter der enormen Brutalität der Invasoren, die auch zu psychologi-scher Kriegsführung greifen. Hier werden die Parallelen zu späteren rea-len Ereignissen überdeutlich: Als in Argentinien 1976 das Militär putschte, schloss sich Oesterheld mit seinen vier Töchtern den Montoneros an, einer linksperonistischen Untergrundgruppe. Das Regime ließ alle fünf verschwin-den, über ihr Schicksal existiert bis heute kein schriftliches Zeugnis. So wie Oesterhelds Figur Juan Salvo am Ende des Bandes zum Eternauta wird, der unablässlich durch Raum und Zeit reist, um seine Liebsten zu finden, so ver-brachte Oesterhelds Witwe – wie tausende andere Argentinier – ihr halbes Leben auf der vergeblichen Suche nach Spuren von ihren Angehörigen.

Die Krisen der Gegenwart

Historische Graphic Novels wie diese nehmen seit Jahren einen prominen-ten Platz in den Verlagsprogrammen ein. Doch die Zeichner scheuen auch die Auseinandersetzung mit den großen Fragen der Gegenwart nicht. Einige versuchen sogar, abstrakte ökonomische Zusammenhänge künstlerisch zu interpretieren. So will Daryl Cunningham in „Supercrash“ über die Welt-wirtschaftskrise von 2008 aufklären. Leider aber findet er keinen richtigen Zugriff auf sein Material, weder inhaltlich noch grafisch. Das liegt neben der oft statischen Seitengestaltung an einer allzu didaktischen Erzählweise und übergroßen Detailfreude. Wenn Cunningham etwa die ultraliberale Schrift-stellerin Ayn Rand vorstellt, kommt das nicht ohne ausführliche Hinweise auf ihre Eheprobleme aus. Rand steht bei ihm für die Verklärung des Egoismus. Nur wer nach diesem Prinzip handelt, so die Schriftstellerin, könne Fortschritt bewirken. Daher dürfe er nicht vom Staat behindert werden, der auf Armee, Polizei und Gerichte geschrumpft werden müsse. Einer von Rands engsten Schülern war Alan Greenspan, der 1987 an die Spitze der US-Zentralbank FED berufen wurde und dort 19 Jahre lang blieb. Über ihn kommt Cunning-ham zur Krise und erklärt die Probleme deregulierter Finanzmärkte. Gerade in diesen Passagen ordnet sich die eher skizzenhafte Grafik einfallslos dem Inhalt unter. Auch das bewirkt, dass der Leser schnell ermüdet.

Wie es besser geht, demonstrieren Autor Paul Jorion und Zeichner Grégory Maklès in „Das Überleben der Spezies“. Anders als Cunningham erzählt Jorion nicht die Krise nach und erklärt auch nicht, wie bestimmte Finanzpro-dukte funktionieren. Stattdessen wählt er einen erfrischenden satirischen Zugang, der bewusst überzeichnet, aber dadurch eine Schneise ins Begriffs-dickicht schlägt. Aus dem Kapitalismus, so die Grundthese, könne es keinen individuellen Ausweg geben, nicht einmal für den Kapitalisten, den Jorion als Sisyphos des Kapitals darstellt. Bei aller Polemik ist der Band doch augen-zwinkernd und keineswegs zynisch. Das wiegt die eine oder andere Plattheit auf. So beschreibt Jorion US-Demokraten und Republikaner als „zwei Zeit-arbeitsfirmen, die das Personal bereitstellen“, und nennt die westliche Staats-form schlicht „kapitalistisch“. Maklès wiederum zeichnet den idealtypischen Kapitalisten als Monopolymännchen mit Zylinder. Ansonsten versteht er es

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aber glänzend, dem scheinbar trockenen Stoff durch lebendige Zeichnungen und variablen Seitenaufbau einiges an Dynamik abzugewinnen.

Ungewohnter Alltag

Neben politischen Werken zeigt sich bei Graphic Novels eine starke Tendenz zur Alltagsbeobachtung. Marjane Satrapis „Persepolis“ über ihr Aufwach-sen im Iran gehört zu den bekanntesten Werken dieses Genres. Alltagsge-schichten sind besonders überzeugend, wo sie Gesellschaften oder Subkul-turen kenntlich machen, oder auf die Lücke zwischen dem (Selbst-)Bild eines Landes und der individuellen Erfahrung abheben. Das gelingt etwa Riad Sattouf mit seinen Kindheitserinnerungen in „Der Araber von morgen“. Sat-touf Senior hat in Paris promoviert und ging mit seiner französischen Frau und ihrem kleinen Sohn nach Libyen, das in den ersten Jahren des Gaddafi-Regimes mit absurd hohen Gehältern Akademiker ins Land lockte. Später verschlug es die Familie in die syrische Heimat des Vaters. Sattouf versteht es hervorragend, das kindliche Staunen über die Absonderlichkeiten der Welt zu bewahren. In Libyen etwa lernt die Familie, dass Häuser Volkseigen-tum seien und daher nicht abgeschlossen werden dürften – was sie schnell um ihr erstes Zuhause bringt: Nach einem Spaziergang findet sie es von einer fremden Familie besetzt. Nicht weniger verblüfft reagiert der kleine Riad, als er von syrischen Cousins als „Jude“ tituliert wird – in ihrem Sprachgebrauch offenbar ein gängiges Schimpfwort für Fremde. Sattouf entwirft mit schnel-lem, karikatureskem Strich ein klischeefreies Porträt der arabischen Welt.

Einen ähnlich bildlichen Einblick gewährt „Der Realist“: Asaf Hanuka widmet sich in lose verbundenen Episoden dem Leben in Tel Aviv. Er fängt die typischen Herausforderungen urbaner Mittdreißiger ein: Kindererzie-hung, Beziehungsstress, die Suche nach einer bezahlbaren Wohnung. Häufig rückt er die Bewegung gegen hohe Lebenshaltungskosten, die 2011 auf dem Rothschild-Boulevard kampierte, ins Bild. Ansonsten ist der Band nur beiläu-fig politisch, selbst wenn Hanuka mit Freunden diskutiert, wie real die Bedro-hung durch iranische Raketen denn nun sei. Solche Debatten erscheinen in dem Band alltäglich, über Bunker reden die Figuren fast ebenso intensiv wie über Geldsorgen. Vor allem aber prägt diese Graphic Novel ein leiser, zuwei-len melancholischer Humor, mit dem der Künstler gleichermaßen seinen Versagensängsten und Fluchtphantasien wie dem kleinen Glück begegnet. Hanuka artikuliert Stimmungen geschickt über einen variablen Farbeinsatz und popkulturelle Anspielungen, insbesondere auf Superheldenfilme.

Ein besonders gelungenes Beispiel für reflektierte Alltagsbeobachtung liefert Sascha Hommers Reisebericht aus Chengdu: „In China“. Seine völlig unaufgeregten Schilderungen des täglichen Lebens entfalten rasch Sogwir-kung. Gerade in ihrer Lakonie ermuntern sie zum Überprüfen der eigenen Erwartungen. Hommer kontrastiert anfangs etwa sein Erleben mit Auszügen aus dem Reisetagebuch Marco Polos. Traf der Italiener seinerzeit noch auf eine ihm völlig fremd scheinende Welt, so ergeben sich die Abweichungen

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für den Hamburger Künstler fast nur noch aus Nuancen. Die Enttäuschung manches europäischen Reisenden über die mangelnde Exotik der Welt teilt Hommer aber nicht. Stattdessen appelliert er dezent daran, nicht dem alten China – oder unserer Vorstellung davon – nachzutrauern, sondern das neue genau und offen zu betrachten. Auch optisch ist sein Band äußerst kunstvoll. So sind seine Bilder der 14-Millionenstadt in Schwarz-Weiß-Grau gehalten, sie wirken körnig wie alte analoge Fotografien. Das passt hervorragend zum ständigen Regen und der verschmutzten Luft, vermittelt aber auch eine zeit-lose Ruhe. Hommers Band bietet damit einen ungefilterten Einblick in das tägliche Leben einer chinesischen Metropole.

Die Welt jenseits der großen Städte hält allerdings mindestens ebenso viele gute Geschichten bereit. Eindrucksvoll untermauert das ein Kleinod von einem Band, der unter dem kitschverdächtigen Titel „Ein Ozean der Liebe“ erschienen ist. Die Arbeit von Wilfrid Lupano und Grégory Panaccione ist schon deshalb originell, weil sie völlig auf Sprache verzichtet. Wie in einem klassischen Stummfilm erschließt sich der Sinn eines Dialogs allein über die bewusst übersteigerte Mimik. Natürlich darf eine gute Prise Slapstick nicht fehlen, aber wie bei Chaplin liegen Komödie und Tragödie nah beieinander. Denn der Band erzählt von einer gänzlich unglamourösen und zunehmend bedrohten Lebenswelt: Im Mittelpunkt stehen ein älterer bretonischer Fischer und seine Frau. Bei einer morgendlichen Ausfahrt verhakt sich der kleine Kutter im Netz einer schwimmenden Fischfabrik und wird weit aufs Meer hinausgezogen. Als ihr Mann abends nicht in den Hafen einläuft, macht sich die Frau auf die Suche. Die irrwitzige Handlung führt beide auf getrennten Wegen in die Karibik, sie sogar bis zu Fidel Castro. Bei allem überdrehten Humor spricht der Band doch die drängenden Probleme des Meeres und sei-ner Bewohner an: die Überfischung, samt Verdrängung der kleinen Fischer, die routinemäßige Vermüllung oder den überhand nehmenden Kreuzfahrt-tourismus. Das alles geschieht en passant, aber mit starken Bildern. Über-haupt lebt der Band von seiner Grafik, von der teils expressiven Farbgebung und dem geschickten Einsatz von Licht und Dunkelheit. So entsteht ein bei-nahe zeitloses Märchen, das neben der Liebes- auch die Emanzipationsge-schichte einer über sich selbst hinauswachsenden Hausfrau erzählt.

Muslima im Mainstream

Bei alldem zeigt sich: Es ist diese Vielfalt an Formen und Themen, die Graphic Novels zu Recht große Aufmerksamkeit beschert. Das heißt aber im Umkehr-schluss nicht, dass sämtliche Arbeiten, die weiterhin als Comic vermarktet werden, uninteressant seien. Zwei aktuelle Bände beweisen das Gegenteil – und demonstrieren zugleich, warum sie dennoch keine Graphic Novels sind.

„Lazarus“ von Greg Rucka und Michael Lark erzählt eine Science-Fic-tion-Geschichte aus einem Amerika, in dem die extreme Ungleichheit in eine Form von Oligarchie umgeschlagen ist. Wenige Familien kontrollieren Land und Ressourcen, der Rest der Menschheit ist eingeteilt in „Knechte“,

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die Lohnarbeit verrichten, und „Abfall“, also all jene, die mit Lebensmittel-spenden alimentiert werden. Die Familien schützen ihre Macht mit Privatar-meen unter Führung eines Lazarus: ein Familienmitglied, das durch Genma-nipulation zur quasi unsterblichen Kampfmaschine geworden ist. Bei allen kritischen Bezügen firmiert der Band zu Recht nicht als Graphic Novel, weil Rucka der Dystopie deutlich weniger Raum gibt als der oft blutigen Action. Die allerdings hat Lark filmreif inszeniert, in einer szenischen Abfolge düs-ter-stylischer Bilder. So ist „Lazarus“ mit seiner ausgefeilten Dramatur-gie sehr gelungen – als Comic. Das gilt auch für ein neues Produkt aus der Superheldenschmiede: „Ms. Marvel“ bewegt sich im genretypischen Rah-men, wozu die Spannung zwischen reglementiertem Alltag und aufregender Heldenexistenz sowie die Selbstfindung in der Adoleszenz gehören. Beson-ders macht diese Serie, dass in ihr erstmals eine Muslima den Marvelkosmos betritt: Kamala Khan, die Tochter konservativer pakistanischer Einwande-rer. Das gibt Autorin G. Willow Wilson, die selbst zum Islam konvertiert ist, Raum für Hinweise über antimuslimischen Rassismus und die schwierige Emanzipation einer jungen Frau aus patriarchalem Haus.

Der entscheidende Unterschied zwischen Comic und Graphic Novel liegt also nicht allein in der Wahl des Themas, sondern darin, wie es verhandelt wird: Bewegt sich die Auseinandersetzung etwa mit Rassismus im Rahmen erzählerischer Konventionen? Oder gelingt etwas Eigenständiges – eine inhaltlich wie grafisch originelle Herangehensweise? Letzteres zeichnet die Graphic Novel aus. Erstritten wurde diese Formfreiheit aber von Künstlern, die wie Will Eisner aus dem Mainstream kamen – und Comics zeichneten.

Daryl Cunningham, Supercrash. Das Zeitalter der Selbstsucht. Übersetzt von Thomas Pfeiffer. Mün-chen, Hanser 2016, 246 S., 19,90 Euro.

Laurent Galandon und Jeanne Puchol, Ein Leben im Tode. Übersetzt von Monja Reichert, Stuttgart, Panini Comics 2016, 94 S., 19,99 Euro.

Asaf Hanuka, Der Realist. Übersetzt von Uri Reik. Ludwigsburg, Cross Cult 2015, 192 S., 29,95 Euro.Sascha Hommer, In China. Berlin, Reprodukt 2016, 176 S., 20 Euro.Paul Jorion und Grégory Maklès, Das Überleben der Spezies. Eine kritische, aber nicht ganz hoff-

nungslose Betrachtung des Kapitalismus. Übersetzt von Marcel Le Comte, Köln, Egmont 2014, 120 S., 24,99 Euro.

Wilfrid Lupano und Grégory Panaccione, Ein Ozean der Liebe. Bielefeld, Splitter Verlag 2016, 224 S., 29,80 Euro.

Héctor Germán Oesterheld und Francisco Solano López, Eternauta. Übersetzt von Claudia Wente, Berlin, avant-verlag, 391 S., 39,99 Euro.

Greg Rucka und Michael Lark, Lazarus 1: Die Macht der Familien. Übersetzt von Bernd Kronsbein, Bielefeld, Splitter-Verlag 2016, 120 S., 19,80 Euro.

Riad Sattouf, Der Araber von morgen. Eine Kindheit im Nahen Osten Bd. 1: 1978-1984 & Bd. 2: 1984-1985. Übersetzt von Andreas Platthaus. München, Knaus Verlag 2015 und 2016, je 160 S., je 19,99 Euro.

G. Willow Wilson und Adrian Alphona, Ms. Marvel: Meta-Morphose. Übersetzt von Caroline Hidalgo, Stuttgart, Panini Comics 2015, 124 S., 16,99 Euro.

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BUCH DES MONATS

Schon Montesquieu wusste: „Der Mensch des Nordens lebt, um zu arbeiten und zu pro-duzieren, der Mensch des Midi würde nur so viel arbeiten, wie es zum Lebensunterhalt notwendig ist.“ Zwischen Europas Norden und Süden besteht ein Konflikt, der in der jüngsten Krise wieder offener zutage getre-ten ist, aber eine lange Tradition hat. Dieser widmet sich Wolf Lepenies in seinem neuen Buch „Die Macht am Mittelmeer. Französi-sche Träume von einem anderen Europa“. Und wer wäre besser geeignet, eine Ideen-geschichte des Nord-Süd-Konfliktes zu schreiben als Lepenies? Der 1941 im ost-preußischen Allenstein geborene Soziologe, Ideenhistoriker und Wissenschaftspolitiker leitete jahrelang das Wissenschaftskolleg zu Berlin, einen intellektuellen Brennpunkt, wo sich Gesellschafts- und Naturwissenschaft-ler, Künstler und Publizisten treffen und man bis zum heutigen Tag Lepenies bei Veran-

staltungen und Diskussionen begegnen kann. In seinem aktuellen Werk bezieht sich Lepenies aber auch auf jüngere Dis-

kussionen über eine Mittelmeerunion, die ins Zentrum der Flüchtlingsde-batte führen. Dabei entfaltet er ein weites geistiges Panorama, das er nicht mit grobem Strich, sondern mit feinem malt. Gleichsam begrenzt er den Fokus: „Dies ist kein Mittelmeerbuch. Ich konzentriere mich auf die Versu-che ‚lateinischer‘ Koalitionsbildungen in der Auseinandersetzung zwischen Frankreich und Deutschland. Diese Auseinandersetzung ist bis heute aktu-ell.“ Es geht ihm also nicht darum, wie das Mittelmeer in griechisch-römi-scher Zeit ein Weltmeer war, dessen Kultur bis heute nachklingt. Aber dieses Nachwirken ist Gegenstand des Buches. So wusste bereits der Jahrhundert-historiker Fernand Braudel, der mit „Das Mittelmeer und die mediterrane Welt in der Epoche Philipps II.“ eines der einflussreichen Geschichtswerke schrieb: „Das Mittelmeer, das den Süden Europas schon immer stark beein-flusst hat, hat nicht wenig dazu beigetragen, eine europäische Einheit zu

Süd vs. Nord: Das andere EuropaVon Achim Engelberg

Wolf Lepenies, Die Macht am Mittel-meer. Französische Träume von einem anderen Europa, Hanser, München 2016, 352 Seiten, 24,90 Euro.

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verhindern. Es zieht Europa in seinen Bann, sprengt seinen Zusammenhalt zugunsten eigener Interessen.“

Für Lepenies wollte Napoleon schon mit seiner Ägypten-Expedition von 1798 Orient und Okzident zusammenführen; er zollte deshalb dem Islam den Respekt, den er in dieser Weltgegend bis in unsere Tage genießt. Seitdem verzichtet kein französischer Staatsmann auf die Rhetorik der „Latinität“, gehört doch das Mittelmeer nun einmal zum Einflussbereich Frankreichs. Es bildet spätestens nach dem Zweiten Weltkrieg „ein Gegengewicht zur eng-lischen Sprache, zur deutschen Industrie und zum ‚Atlantismus‘ der Skandi-navier“. Manche Denker und Politiker, von Alexandre Kojève im Jahre 1945 bis zu Giorgio Agamben im Jahre 2013, plädieren dabei für ein Lateinisches Imperium; immer mit einer Spitze gegen Deutschland. Das grundiert auch Vorschläge des Star-Ökonomen Thomas Piketty: „Wenn es ein europäisches Parlament in der Form gäbe […] in dem jedes Land proportional zu seiner Ein-wohnerzahl vertreten wäre, würden die deutschen Abgeordneten schluss-endlich gegenüber ihren Kollegen aus Italien, Frankreich und Spanien in die Minderheit geraten, und das Ausmaß des Defizits würde größer sein, als die Deutschen es wollten. Schließlich würden wir eine fortschrittlichere Politik haben, als die heutige es ist.“

Dennoch waren Deutschland und Frankreich lange Zeit die beiden Moto-ren der westeuropäischen Einigung. Das ging auf Charles de Gaulle und Konrad Adenauer zurück. Der Franzose engagierte sich für ein europäisches Europa, für das die USA kein Führer, sondern ein Partner sein sollten, in Abgrenzung zur UdSSR. In Konrad Adenauer fand er zwar einen gleichwer-tigen Weggefährten, der aber die engen Bindungen der Bundesrepublik an die USA betonte. Die Differenz zwischen beiden Ländern weitete sich aus, als lange vor der Vereinigung die Bundesrepublik zur ökonomischen Vormacht in der Europäischen Union aufstieg, die damals noch Gemeinschaft hieß. Das geteilte, besetzte Deutschland überließ dafür aber Frankreich die politische Führungsrolle in Westeuropa. Helmut Schmidt bemerkte dazu lapidar: „Ich habe immer sorgsam darauf geachtet, meinem französischen Kollegen den Vortritt auf dem roten Teppich zu lassen.“

Am Tag nach dem Mauerfall waren sich die französischen Medien einig: Jetzt würde die politische Führungsrolle in der Europäischen Gemeinschaft von Frankreich auf Deutschland übergehen. Das schien sich zu bestätigen, als der deutsche Außenminister Hans-Dietrich Genscher ohne Absprache mit Frankreich, das sich eher Serbien verbunden fühlte, in der Jugoslawien-krise Kroatien anerkannte. In den Zerfalls- und Aufteilungskriegen auf dem Balkan prallten deutsche und französische Diplomaten heftig aufeinander. Dennoch war es auch eine Zeit enger Kooperationen, es war die Zeit des Maastricht-Vertrages und des Schengen-Abkommens. Da sich Deutschland immer häufiger durchsetzte, erkannte sich Frankreich als politischer Verlie-rer im Erweiterungsprozess der Union, der sich vor allem gen Osten entwi-ckelte. (Hier ließe sich freilich fragen, inwieweit die Ost-West-Spannungen und -Annäherungen für die Stabilität wie die Fragilität Europas nicht ebenso wichtig sein können oder gar sind wie die Nord-Süd-Achse.) Weil sich Frank-

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reich in die zweite Reihe gedrängt fühlte, meinte der umtriebige Nicolas Sar-kozy am 7. Februar 2007: „Ich bin nach Toulon gekommen, der alten pro-venzalischen, dem Meer zugewandten Stadt, um den Franzosen zu sagen, dass ihre Zukunft sich hier entscheidet, am Mittelmeer.“ Ansonsten nicht als kulturversessen bekannt, hatte der damalige Präsidentschaftskandidat sich eine Hymne auf das Mittelmeer schreiben lassen, den Ursprungsort der drei großen monotheistischen Religionen, den Kreuzungspunkt der Kultu-ren, das Scharnier zwischen Nord und Süd, zwischen Orient und Okzident. Die Spitze seiner napoleonischen Rede ging gegen ein von Deutschland dominiertes Europa, das gen Osten blickt und einen Staat des Ostblocks nach dem anderen aufnimmt. Pathetisch tönte Sarkozy einen alten Text: „Indem sie dem Mittelmeer den Rücken zuwandten, glaubten Europa und Frankreich ihrer Vergangenheit den Rücken zuzukehren. In Wahrheit haben sie ihrer Zukunft den Rücken zugekehrt. Denn die Zukunft Europas liegt im Süden.“

Freilich, die Pläne einer Mittelmeerunion scheiterten in seiner Amtszeit nicht allein, weil sie gegen die Dominanz Deutschlands gerichtet waren und Angela Merkel geschickt manövrierte: Diktatoren wie den Ägypter Muba-rak, die schon den Zenit ihrer Macht überschritten hatten, bezog Sarkozy in seinen Plan ein. Die Türkei wiederum befürchtete, dass durch die Mittel-meerunion ihre Aufnahme in die EU stecken bleiben würde.

Dennoch spricht einiges auch jenseits des wohl zu Recht gescheiterten Pla-nes – nicht zuletzt der Staatszerfall in Nordafrika, die Flüchtlingsströme, ein drohender Flächenbrand im Nahen Osten – für eine Mittelmeerunion und die enge Zusammenarbeit zwischen nördlichen und südlichen Anrainern. Wem das zu idealistisch klingt, der sei an den nach 1989 auf Initiative Genschers und seines dänischen Amtskollegen gegründeten Ostseerat erinnert. Ihm gehören zwölf Mitglieder an, darunter ganz selbstverständlich Russland. Die Zeiten, die das möglich machten, sind heute offensichtlich vorbei: „Zum Kernproblem Europas wurde eine Vertrauenskrise. Auf dem europäischen Kontinent zeigten sich wieder Konfliktlinien, die das 19. und den Beginn des 20. Jahrhunderts geprägt hatten“, schreibt Lepenies.

Dennoch sollten Deutschland und Frankreich „gemeinsam zu Vorreitern einer EU-Afrikapolitik werden, der ein fairer Interessenausgleich beider Kontinente zugrunde liegt und das Mittelmeer tatsächlich zu einem ‚Meer der gerechten Mitte‘ macht. Dies wäre die Mittelmeerunion, die Europa nötig hat“, befindet Lepenies. Wahrscheinlich bedürfte es für einen solchen Politikwechsel eines neuen „Wandels durch Annäherung“ (Egon Bahr) mit einem ebenso langen Atem wie bei der alten Neuen Ostpolitik. Und vor allem brauchte man Politiker, die auf Bewegungen fußen: Ein neuer Willy Brandt ist dringend gesucht. Und ein Stimmungsumschwung von „Keine Experi-mente“ (Adenauer) zu „Mehr Demokratie wagen“. Danach sieht es nicht aus, dennoch bleibt in Zeiten, in denen ein brennender Halbmond von der Ukraine über den Nahen Osten bis nach Nordafrika reicht, eine neue Ost- wie Süd-Politik die Alternative zum jetzigen Zerfall. Anregungen, aber auch Warnungen, was man meiden sollte, bietet Lepenies’ Band in Fülle.

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Blätter für deutsche und internationale Politik 3/2016

DOKUMENTE ZUM ZEITGESCHEHEN

Auf unserer Website www.blaetter.de stellen wir fortlaufend wichtige Dokumente zum aktuellen Zeitgeschehen bereit. Sie finden dort unter anderem:

• »Gefordert: Bessere Regulierung von privaten Militär- und Sicherheitsfirmen«Studie von Transparency Deutschland, 11.2.2016 (engl. Originalfassung)

• »Die Würde des Menschen ist unantastbar«Aufruf der »Allianz für Weltoffenheit, Solidarität, Demokratie und Rechtsstaat«, 11.2.2016

• »Die EU demokratisieren, damit sie nicht zerfällt«Manifest der Bewegung DiEM25, 9.2.2016 (engl. Originalfassung)

• »Im Namen unserer Freiheiten, lehnt die Gesetzesänderung ab«Aufruf französischer Intellektueller gegen die Verfassungsänderung zum Entzug der Staatsbürgerschaft, 1.2.2016 (frz. Originalfassung)

• »Für eine ökologisch verträgliche Waldwirtschaft«BUND-Waldreport 2016, 29.1.2016

• »Verteidigen wir das Recht auf Freizügigkeit in Europa« Aufruf des Netzwerks »European Alternatives«, 28.1.2016 (engl. Originalfassung)

• »Dieses Land, das vor achtzig Jahren für die schlimmsten Verbrechen des Jahrhunderts verantwortlich war, hat heute den Beifall der Welt gewonnen«Rede von Ruth Klüger im Bundestag anlässlich des Holocaust-Gedenktages, 27.1.2016

• »Jüngere sind weniger umweltbewusst«Studie des Bundesumweltministeriums und des Umweltbundesamts, 26.1.2016

• »Deutschland bleibt ein gastfreundliches Land, in dem sexuelle Gewalt nicht toleriert wird«Appell Kölner Prominenter gegen Gewalt, 21.1.2016

• »Wir verteidigen das Recht, im Krieg den Frieden zu fordern«Internationaler Aufruf in Solidarität mit inhaftierten türkischen Akademikern, 21.1.2016

• »Setzen Sie sich für Rechtsstaatlichkeit in der Türkei ein«Offener Brief von Künstlern, Medienschaffenden und Wissenschaftlern an Bundes-kanzlerin Angela Merkel, 20.1.2016

• »Asylrechtsverschärfung stoppen – keine Einschränkung von Asylrechtsver-fahren«Aufruf von Pro Asyl, 20.1.2016

• »Menschenrechtsverletzungen beim Kobalt-Abbau«Bericht von Amnesty International zur Lage in der Demokratischen Republik Kongo, 19.1.2016 (engl. Originalfassung)

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Blätter für deutsche und internationale Politik 3/2016

1.1. – Saudi-Arabien/Iran. Die Hinrichtung des bekannten schiitischen Predigers Scheich Nimr al-Nimr und weiterer 46 Per-sonen in Saudi-Arabien verschärft die Span-nungen in der Region. Im Iran, der sich als Schutzmacht der Schiiten versteht, wird die Botschaft Saudi-Arabiens zerstört und ver-wüstet. Die Regierung in Riad bricht dar-aufhin die diplomatischen Beziehungen zu Teheran ab. Arabische Staaten, darunter das Emirat Bahrein und die Vereinigten Arabi-schen Emirate (VAE) sowie der Sudan folgen dem Beispiel Saudi-Arabiens. Teheran habe sich fortgesetzt in die Angelegenheiten der Staaten am Persischen Golf eingemischt. Saudi-Arabiens UN-Vertreter rechtfertigt am 4.1. in New York die Massenhinrichtungen. Der iranische Präsident Rohani bezeichnet am 5.1. die Exekution von al-Nimr als „Ver-brechen“, setzt sich jedoch gleichzeitig für einen Dialog ein: „Wir glauben, dass Diplo- matie und Verhandlungen der beste Weg zur Lösung von Problemen zwischen Staaten sind.“ Bei einem Besuch in Teheran am 6.1. bietet der irakische Außenminister Ibrahim al-Jaafari Vermittlung an.2.1. – Türkei. Die Streitkräfte verstärken den Einsatz gegen bewaffnete Kämpfer der ver-botenen Kurdischen Arbeiterpartei PKK. Teile der Stadt Silopi im Südwesten des Lan-des werden von Panzern umstellt und unter Beschuss genommen. Die Armee meldet 30 Todesopfer. – Am 15.1. geht die Justiz auf Anordnung von Präsident Erdogan gegen fast 30 Universitätsdozenten vor, die einen Aufruf kurdischer Akademiker, Journalisten und Schriftsteller unterstützt hatten, der die Regierung aufruft, die Militäroperationen in den Kurdengebieten zu stoppen: „Wir wer-den nicht Teil dieses Verbrechens sein!“ Der eingeleitete Friedensprozess müsse fortge-setzt werden (vgl. „Blätter“, 9/2015, S. 127).4.1. – Polen. Außenminister Waszczykowski weist Kritik an den neuen Gesetzen über das Verfassungsgericht und die öffentlich-recht-lichen Medien zurück (vgl. „Blätter“, 2/2016, S. 127). Die Regierung habe den Staat von einigen „Krankheiten“ heilen müssen. Die Medien hätten unter der Vorgängerregie-rung ein Politikkonzept nach „marxistischem

Vorbild propagiert, einen Mix aus Kulturen und Rassen, eine Welt aus Radfahrern und Vegetariern“. Polen erwarte, so der Außen-minister, „Erläuterungen zu kritischen Äuße-rungen aus dem Kreis der EU-Kommissare“.5.1. – Venezuela. In Caracas konstituiert sich die Nationalversammlung in neuer Zusam-mensetzung (vgl. „Blätter“, 2/2016, S. 126). Die neue Mehrheit im Parlament strebt ein Referendum über die Abwahl des amtieren-den Präsidenten Nicolas Maduro an.6.1. – Korea. Das Staatsfernsehen der Demo-kratischen Republik Korea (Nordkorea) mel-det den erfolgreichen Test einer Wasserstoff-bombe. Es habe sich um eine „strategische Entscheidung“ unter Leitung des Staatsfüh-rers Kim Jong-un gehandelt, damit erreiche man als Atommacht eine „höhere Stufe“. Internationale Experten bezweifeln, dass es sich bei dem registrierten Beben um die Ex-plosion einer H-Bombe gehandelt habe.7.1. – EU. Bei der Vorlage des Programms für den Ratsvorsitz der Europäischen Union im ersten Halbjahr 2016 formuliert Premier-minister Mark Rutte (Niederlande) mehrere Schwerpunkte: Ein integriertes Vorgehen in Fragen von Migration und internationaler Sicherheit, solide und zukunftsfähige euro-päische Finanzen und eine vorausschauen-de Klima- und Energiepolitik. Man wolle, so erklärt Rutte, Differenzen zwischen den Mitgliedstaaten mit „der verbindenden Kraft eines Brückenbauers“ überwinden hel-fen. – Am 13.1. eröffnet die EU-Kommission ein Verfahren zur Untersuchung der umstrit-tenen Reform des Verfassungsgerichts und der öffentlich-rechtlichen Medien in Polen (vgl. „Blätter“, 1/2016, S. 126 und 2/2016, S. 127). Die Regierung in Warschau wird zur Stellungnahme aufgefordert. Nach Angaben des Vizepräsidenten der Kommission Tim-mermans soll der Fokus auf den Änderungen beim Verfassungsgericht liegen. Vor dem Europäischen Parlament verteidigt Polens Regierungschefin Beata Szydło am 19.1. in Straßburg die getroffenen Maßnahmen. Die Mehrheit der Polen habe den „guten Wan-del“ gewählt. – Am 20.1. setzt sich Premier-minister Rutte als Ratsvorsitzender für einen deutlichen Rückgang des Flüchtlingsstroms

Chronik des Monats Januar 2016

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126 Chronik

Blätter für deutsche und internationale Politik 3/2016

innerhalb der nächsten sechs bis acht Wo-chen ein. In Brüssel heißt es, dafür solle vor allem ein Grenzschutz-Abkommen mit der Türkei sorgen. Allerdings gebe es nach wie vor Meinungsverschiedenheiten über die Fi-nanzhilfe an die Türkei. – Am 25.1. wird nach einem Treffen der EU-Innenminister in Ams-terdam mitgeteilt, die Kommission werde die rechtliche und praktische Basis einer Aus-dehnung von temporären Grenzkontrollen innerhalb des Schengen-Raums prüfen. Fünf Schengen-Staaten hatten zeitlich begrenzte Kontrollen eingeführt.10.1. – Ägypten. Erstmals seit über zwei Jah-ren tritt in Kairo wieder ein Parlament zu-sammen. Die im November/Dezember 2015 gewählte Versammlung soll innerhalb von zwei Wochen die von Präsident Sisi per De-kret erlassenen mehrere Hundert Gesetze verabschieden.12.1. – USA. Präsident Obama hält vor dem Kongress in Washington die letzte „Rede zur Lage der Nation“ seiner Amtszeit. Der Präsi-dent beklagt die zunehmende Polarisierung in der amerikanischen Politik. Zur Terrorbe-kämpfung erklärt Obama, die islamistischen Mörderbanden müssten verfolgt werden, stellten jedoch keine existenzielle Bedro-hung für die Nation dar.13.1. – Syrien-Konflikt. Diplomaten der fünf UN-Vetomächte führen in Genf vorberei-tende Gespräche für geplante Friedensver-handlungen über Syrien. Beteiligt ist auch Staffan de Mistura, Sonderbeauftragter der Vereinten Nationen. Zuvor hatte sich der russische Präsident Putin dafür ausgespro-chen, „die legitimen Machthaber in Syrien zu stützen“. Das bedeute aber nicht, dass alles beim Alten bleiben könne. Es müssten eine Verfassungsreform und vorgezogene Präsidentenwahlen folgen. Weiter umstrit-ten bleibt die Auswahl der einzuladenden Oppositionsgruppen. Der russische Außen-minister Lawrow befürwortet die Teilnahme der Kurden an den Friedensgesprächen, was von der Türkei abgelehnt wird.14.1. – OSZE. Bundesaußenminister Stein-meier kommt als neuer Amtierender Vorsit-zender der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa zu seinem An-trittsbesuch nach Wien. Deutschland hatte am 1. Januar d.J. von Serbien den Vorsitz übernommen und unter das Motto gestellt: „Dialog erneuern, Vertrauen neu aufbauen, Sicherheit wieder herstellen.“

– Dänemark/Schweden. Die Verteidi-gungsminister der beiden Länder unterzeich-nen ein Abkommen über engere militärische Zusammenarbeit. Dänische und schwedische Streitkräfte können künftig in das jeweilige Luft- oder Seegebiet des anderen Landes ein-dringen, ohne eine Erlaubnis einzuholen. Dä-nemarks Verteidigungsminister Christensen: „Das bedeutet, dass wir in der Ostsee mehr Augen und Ohren haben.“ Im Gegensatz zu Dänemark ist Schweden kein Nato-Mitglied.16.1. – IAEO. Die Internationale Atomener-gie-Organisation (International Atomic Ener-gy Agency/IAEA) legt in Wien ihren Bericht über die Umsetzung des im Juli v.J. mit dem Iran geschlossenen Abkommens über die Begrenzung seines Atomprogramms vor (vgl. „Blätter“, 9/2015, S. 126 f.). IAEO-Gene-raldirektor Amano erklärt, damit sei der „Im-plementation Day“ erreicht. Noch am glei-chen Tag wird die Aufhebung der meisten der von den USA und der EU gegen den Iran verhängten Sanktionen bekanntgegeben. Die Sanktionen könnten wieder aktiviert werden, sollte ein Verstoß gegen das Abkom-men festgestellt werden. – China. Auf der Insel Taiwan („Repu-blik China“), die von der Regierung in Pe-king als „abtrünnige Provinz“ betrachtet wird, kommt es zu einem Machtwechsel. Bei kombinierten Präsidentschafts- und Parla-mentswahlen kann die oppositionelle Demo-kratische Fortschrittspartei (DPP) die bisher regierende Kuomintang (KMT) ablösen. Das Präsidentenamt wird am 20. Mai d.J. erst-mals eine Frau übernehmen, die Juristin Tsai In-wen, die sich schon vor der Wahl gegen eine weitere Annäherung an die Volksrepu-blik China ausgesprochen hatte. In den aus Peking verbreiteten Medien heißt es, das chi-nesische Festland reiche all jenen die Hand, die an der bisherigen „Ein-China-Politik“ festhielten. Taiwan habe Tsai gewählt und „nicht die Unabhängigkeit“. 20.1. – Bundespräsident. Vor dem Weltwirt-schaftsforum im schweizerischen Davos er-klärt Bundespräsident Gauck, der Zustrom von Flüchtlingen werde die Europäische Union vor die größte Belastungsprobe ihrer Geschichte stellen. Die Regierungen „in Deutschland und anderen europäischen Staaten“ suchten nach Lösungen, die Zahl der Flüchtlinge zu reduzieren. Gauck spricht sich jedoch gegen eine Politik der „geschlos-senen Türen“ aus. Es sei nicht unethisch,

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Chronik 127

Blätter für deutsche und internationale Politik 3/2016

über die Grenzen der Aufnahmefähigkeit zu sprechen. „Begrenzungsstrategie“ könne sogar moralisch und politisch geboten sein, „um die Handlungsfähigkeit des Staates zu erhalten“. Sie könne auch geboten sein, „um die Unterstützung für eine menschenfreund-liche Aufnahme der Flüchtlinge zu sichern“. Wenn nicht Demokraten über Begrenzungen reden wollen, werde „Populisten und Frem-denfeinden das Feld überlassen“. – Österreich. Die Bundesregierung legt nach Beratungen mit den Ländern und Ge-meinden eine Obergrenze für die Aufnah-me von Asylbewerbern fest. In diesem Jahr sollen es 37 500 und bis 2019 nicht mehr als insgesamt 127 500 sein. Bundeskanzler Fay-mann (SPÖ) begründet den Beschluss mit dem Scheitern einer europäischen Lösung und spricht von einem „Richtwert“, Vizekanz-ler Mitterlehner (ÖVP) von einer „Obergren-ze“. Im vergangenen Jahr 2015 hatten 90 000 Personen einen Antrag auf Asyl gestellt. – CDU/CSU. Auf einer CSU-Klausurta-gung in Kreuth kündigt die Bundeskanzlerin und CDU-Vorsitzende Merkel für Mitte Fe- bruar d.J. eine „Zwischenbilanz“ zur Flücht-lingsproblematik an, äußert sich jedoch nicht zum Thema „Obergrenze“. Der CSU-Vorsit-zende Seehofer zeigt sich über Merkels Auf-tritt „enttäuscht“.21.1. – Polen/BRD. Bundesaußenminister Steinmeier bekräftigt bei einem Besuch in Warschau das deutsche Interesse an engen Beziehungen zu den polnischen Nachbarn. Polens Außenminister Waszczykowski be-zeichnet Deutschland als „Großmacht“.22.1. – BRD/Türkei. In Berlin finden die ers-ten deutsch-türkischen Regierungskonsul-tationen statt. Ministerpräsident Davutoglu erklärt in Anwesenheit von Bundeskanzlerin Merkel, beide Länder verbinde die humani-täre Sicht auf die Flüchtlingssituation. Die Bundeskanzlerin habe dafür das Bewusst-sein geschaffen und gegenüber Muslimen in Europa Offenheit gezeigt.23.1. – Tunesien. Nach Protesten junger Arbeitsloser und Zusammenstößen mit den Sicherheitskräften gilt im ganzen Land eine nächtliche Ausgangssperre. Premierminister Essid ruft zu Geduld auf, Präsident Essebsi macht „fremde Kräfte“ für das Chaos verant-wortlich, Einflüsse von außen gefährdeten Sicherheit und Stabilität.24.1. – Israel. Premierminister Netanjahu er- klärt vor dem Kabinett, er unterstütze zu je-

der Zeit die jüdische Besiedlung im besetz-ten Westjordanland. Terroristischen Anschlä-gen werde die Regierung mit „Mut und Be-stimmtheit“ begegnen.26.1. – Dänemark. Das Parlament verab-schiedet mit 81 gegen 27 Stimmen bei einer Enthaltung eine umstrittene Asylrechtsre-form. Den Behörden soll es künftig erlaubt sein, Bargeld und Wertsachen von Flüchtlin-gen zu beschlagnahmen, um damit Aufent-halt und Asylverfahren mit zu finanzieren. Ein Familiennachzug soll erst nach drei Jah-ren möglich sein.27.1. – Frankreich. Justizministerin Chris-tiane Taubira tritt aus Protest gegen die „Rechtswende“ unter Präsident Hollande zurück. Die aus Französisch-Guyana stam-mende Politikerin wendet sich vor allem gegen die geplanten Verfassungsänderun-gen, die Ausdehnung von Notstandsmaß-nahmen und Änderungen im Staatsbürger-schaftsrecht.28.1. – Bundestag. Das Parlament beschließt die Ausweitung des Bundeswehreinsatzes in Mali und die weitere deutsche Beteiligung an einer internationalen Ausbildungsmis-sion in der Region Kurdistan im Nordirak. Die Entscheidungen fallen in namentlicher Abstimmung mit 503 gegen 66 Stimmen bei sechs Enthaltungen (Mali) sowie mit 442 gegen 82 Stimmen bei 48 Enthaltungen (Nordirak). Die Abgeordneten diskutieren am 29.1. einen umstrittenen Gesetzentwurf, der Änderungen an der Parlamentsbetei-ligung bei Auslandseinsätzen der Bundes-wehr vorsieht. – Nato. Bei der Vorstellung des Jahres-berichts in Brüssel fordert Generalsekretär Stoltenberg höhere Militärausgaben der Mit-gliedstaaten. Die 26 europäischen Mitglie-der der Allianz hätten im vergangenen Jahr rund 253 Mrd. Dollar für die Verteidigung ausgegeben. Nur 16 Staaten hätten die Aus-gaben erhöht. Die vereinbarten mindestens zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts hät-ten nur Großbritannien, Griechenland, Polen und Estland erreicht.30.1. – Naher Osten. Außenminister Fabius kündigt an, Frankreich werde sich erneut be-mühen, die Konfliktparteien in der Region und ihre Verbündeten auf einer Konferenz zusammenzubringen, um den Nahost-Frie-densprozess wiederzubeleben. Sollte der Versuch scheitern, werde man Palästina als Staat anerkennen.

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Schon vor 50 Jahren gab es die Sorge vor einem Rechtsrutsch der Bun-

desrepublik. Intellektueller Hauptgegner der Pläne für eine »formierte

Gesellschaft« war der »Blätter«-Autor Reinhard Opitz. Exemplarisch

dafür ist dessen Aufsatz: Elf Feststellungen zur Formierten Gesellschaft,

in: »Blätter«, 3/1966, S. 190-197.

Den Text finden Sie wie gewohnt auf www.blaetter.de

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Die Blätter für deutsche und internationale Politik erscheinen als Monatszeitschrift.

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An der Ausgabe wirkten als Praktikant/in Anna Cinzia Dellagiacoma und Tilman Fietz mit.

Blätter-Gesellschaft: Die gemeinnützige Gesellschaft zur Förderung politisch-wissenschaftlicher Publizistik und demokratischer Initiativen e.V., vormals abgekürzt „Blätter-Förderverein“, gibt in Verbindung mit dem Herausgeberkreis der Zeitschrift die Blätter für deutsche und internationale Politik heraus. Ihr stehen Dr. Corinna Hauswedell, Dr. Wolfgang Zellner und Christoph Wagner vor. Die „Blätter“ erscheinen zugleich als Mitgliederzeitschrift der Gesellschaft. Beiträge – ab 12,50 Euro monatlich – und Spenden sind steuerabzugsfähig. Sitz: Bonn, Beringstr. 14, 53 115 Bonn; Büro Berlin: Postfach 54 02 46, 10042 Berlin. Bankverbindung: Santander Bank IBAN: DE26 5003 3300 1028 1717 00, BIC: SCFBDE33XXX.

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Das Register des laufenden Jahrgangs erscheint jeweils im Dezemberheft. Heft 4/2016 wird am 26.3.2015 ausgeliefert.© Blätter für deutsche und internationale Politik. ISSN 0006-4416. G 1800 E

Blätter für deutsche und internationale Politik 3/2016

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Hinweis: In dieser Ausgabe finden Sie eine Beilage der Wochenzeitung »der Freitag«. Wir bitten um freundliche Beachtung.

Micha Brumlik, geb. 1947 in Davos/Schweiz, Dr. phil., Prof. em. für allge-meine Erziehungswissenschaft an der Universität Frankfurt a. M., Mitheraus-geber der „Blätter“.

Sebastian Dörfler, geb. 1982 in Nürn-berg, Politikwissenschaftler, freier Journalist für Print und Hörfunk.

Achim Engelberg, geb. 1965 in Ber-lin, Dr. phil., Historiker, Journalist und Buchautor.

Thomas Feltes, geb. 1951 in Mainz, Dr. phil., Professor für Kriminologie, Kri-minalpolitik und Polizeiwissenschaft an der Ruhr-Universität Bochum.

Julia Fritzsche, geb. 1983 in Mün-chen, Rechtswissenschaftlerin, Auto-rin u.a. für den Bayerischen Rundfunk und arte.

Thomas Gebauer, geb. 1955 in Kons-tanz, Psychologe, Geschäftsführer der Hilfsorganisation medico internatio-nal.

Gülistan Gürbey, geb. 1963 in Bingöl/Türkei, Dr. habil., Privatdozentin am Fachbereich Politik- und Sozialwis-senschaften der FU Berlin.

Evi Hartmann, geb. 1974 in Burghau-sen, Dr.-Ing., Professorin für Supply Chain Management an der Universität Erlangen-Nürnberg.

Rudolf Hickel, geb. 1942 in Nürnberg, Dr. rer. pol., Prof. em. für Finanzwis-senschaft an der Universität Bremen, Mitherausgeber der „Blätter“.

Wieslaw Jurczenko, geb. 1959 in Beu-then, Rechtsanwalt mit Schwerpunkt Banken, Kapitalmarkt und Wert-papierrecht, ehem. Chief Risk Officer der UBS Deutschland AG.

Jan Kursko, geb. 1967 in Hildesheim, freier Journalist in Berlin.

Daniel Leisegang, geb. 1978 in Unna, Politikwissenschaftler, „Blätter“-Re-dakteur.

Albrecht von Lucke, geb. 1967 in In-gelheim am Rhein, Jurist und Politik-wissenschaftler, „Blätter“-Redakteur.

Thomas Piketty, geb. 1971 in Clichy/Frankreich, Wirtschaftswissenschaft-ler, Professor an der Paris School of Economics und der École des Hautes Études en Science Sociales (EHESS).

Roland Roth, geb. 1949 in Schöllkrip-pen, Dr. phil., Prof. für Politikwissen-schaft an der Hochschule Magdeburg-Stendal, Mitgründer des Komitees für Grundrechte und Demokratie.

Paul Scheffer, geb. 1954 in Nijmegen/Niederlande, Professor für Europa-wissenschaften an der Universität Til-burg.

Jürgen Scheffran, geb. 1957 in Weyer-busch, Dr. rer. nat., Professor für Kli-mawandel und Sicherheit an der Uni-versität Hamburg.

Anke Schwarzer, geb. 1970 in Heil-bronn, Soziologin, freie Journalistin, lebt in Hamburg.

Steffen Vogel, geb. 1978 in Siegen, So-zialwissenschaftler, „Blätter“-Redak-teur.

Rudolf Walther, geb. 1944 in Uznach/Schweiz, Historiker und Publizist, lebt in Frankfurt a.M.

Autorinnen und Autoren dieses HeftesWolfgang Abendroth

Elmar Altvater

Samir Amin

Katajun Amirpur

Günther Anders

Franziska Augstein

Uri Avnery

Susanne Baer

Patrick Bahners

Egon Bahr

Etienne Balibar

Wolf Graf Baudissin

Fritz Bauer

Yehuda Bauer

Ulrich Beck

Seyla Benhabib

Homi K. Bhabha

Norman Birnbaum

Ernst Bloch

Norberto Bobbio

E.-W. Böckenförde

Thilo Bode

Bärbel Bohley

Heinrich Böll

Pierre Bourdieu

Ulrich Brand

Karl D. Bredthauer

Micha Brumlik

Nicholas Carr

Noam Chomsky

Daniela Dahn

Ralf Dahrendorf

György Dalos

Mike Davis

Alex Demirovic

Frank Deppe

Dan Diner

Walter Dirks

Rudi Dutschke

Daniel Ellsberg

Wolfgang Engler

Hans-M. Enzensberger

Erhard Eppler

Gøsta Esping-Andersen

Iring Fetscher

Joschka Fischer

Heiner Flassbeck

Ernst Fraenkel

Nancy Fraser

Norbert Frei

Thomas L. Friedman

Erich Fromm

Georg Fülberth

James K. Galbraith

Heinz Galinski

Johan Galtung

Timothy Garton Ash

Bettina Gaus

Günter Gaus

Heiner Geißler

Susan George

Sven Giegold

Peter Glotz

Daniel J. Goldhagen

Helmut Gollwitzer

André Gorz

Glenn Greenwald

Propst Heinrich Grüber

Jürgen Habermas

Sebastian Haffner

Stuart Hall

H. Hamm-Brücher

Heinrich Hannover

David Harvey

Amira Hass

Christoph Hein

Friedhelm Hengsbach

Detlef Hensche

Hartmut von Hentig

Ulrich Herbert

Seymour M. Hersh

Hermann Hesse

Rudolf Hickel

Eric Hobsbawm

Axel Honneth

Jörg Huffschmid

Walter Jens

Hans Joas

Tony Judt

Lamya Kaddor

Robert Kagan

Petra Kelly

Robert M. W. Kempner

George F. Kennan

Paul Kennedy

Navid Kermani

Ian Kershaw

Parag Khanna

Michael T. Klare

Dieter Klein

Naomi Klein

Alexander Kluge

Jürgen Kocka

Eugen Kogon

Otto Köhler

Walter Kreck

Ekkehart Krippendorff

Paul Krugman

Adam Krzeminski

Erich Kuby

Jürgen Kuczynski

Charles A. Kupchan

Ingrid Kurz-Scherf

Oskar Lafontaine

Claus Leggewie

Gideon Levy

Hans Leyendecker

Jutta Limbach

Birgit Mahnkopf

Peter Marcuse

Mohssen Massarrat

Ingeborg Maus

Bill McKibben

Ulrike Meinhof

Manfred Messerschmidt

Bascha Mika

Pankaj Mishra

Robert Misik

Hans Mommsen

Wolfgang J. Mommsen

Albrecht Müller

Herfried Münkler

Adolf Muschg

Gunnar Myrdal

Wolf-Dieter Narr

Klaus Naumann

Antonio Negri

Oskar Negt

Kurt Nelhiebel

Oswald v. Nell-Breuning

Rupert Neudeck

Martin Niemöller

Bahman Nirumand

Claus Offe

Reinhard Opitz

Valentino Parlato

Volker Perthes

William Pfaff

Thomas Piketty

Jan M. Piskorski

Samantha Power

Heribert Prantl

Ulrich K. Preuß

Karin Priester

Avi Primor

Tariq Ramadan

Uta Ranke-Heinemann

Jan Philipp Reemtsma

Jens G. Reich

Helmut Ridder

Rainer Rilling

Romani Rose

Rossana Rossandra

Werner Rügemer

Irene Runge

Bertrand Russell

Yoshikazu Sakamoto

Saskia Sassen

Fritz W. Scharpf

Hermann Scheer

Robert Scholl

Karen Schönwälder

Friedrich Schorlemmer

Harald Schumann

Gesine Schwan

Dieter Senghaas

Richard Sennett

Vandana Shiva

Alfred Sohn-Rethel

Kurt Sontheimer

Wole Soyinka

Nicolas Stern

Joseph Stiglitz

Gerhard Stuby

Emmanuel Todd

Alain Touraine

Jürgen Trittin

Hans-Jürgen Urban

Gore Vidal

Immanuel Wallerstein

Franz Walter

Hans-Ulrich Wehler

Ernst U. von Weizsäcker

Harald Welzer

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Rosemarie Will

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Macht und Ohnmacht der EZBRudolf Hickel

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Fünf Jahre Fukushima: Kettenreaktion außer KontrolleJürgen Scheffran

Graphic Novels: Siegeszug des ComicsSteffen Vogel

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