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DEUTSCHE VIERTELJAHRS SCHRIFT
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Sonderdruck aus: E20461F
DEUTSCHE VIERTELJAHRS
SCHRIFT FÜR
LITERATURWISSENSCHAFT UND
GEISTESGESCHICHTE
77. JAHRGANG 2003 HEFT 4IDEZEMBER
VERLAG J.B. METZLER STUTTGART . WEIMAR
Die Phantasie des Neuen als Abduktion
Von UWE WIRTH (Frankfurt a.M.)
ABSTRACT
Der Aufsatz beanrwortet die Frage, ob es eine den Künsten und Wissenschaften gemeinsame Phantasie des Neuen gibt, im Rückgriff auf das Peircesche Konzept der Abduktion. Die Abduktion wird dabei zum einen als epistemologische "Strategie der Innovation", zum anderen als "ästhetische Operation" ausgezeichnet, die im Spannungsfeld von Assoziation, Einbildungskraft, Urteilskraft und Witz steht.
The essay aims at answering the question whether arts and sciences are backed by an unique Phantasy o( Invention by referring to the peircean concept of abductive inference. Abductive inference is going to be highlightend as an epistemologie "strategy of innovation" as weil as an "esthetic operation" defined by the interaction of association, imagination, power of judgement and wir.
Glaubt man Freud, so ist die Phantasie ein Surrogat des Spiels. Der Dichter
tut "dasselbe wie das spielende Kind; er erschafft eine Phantasiewelt" .1 Dabei
vollzieht sich das Phantasieren, mit Boris Groys zu sprechen, als "innovativer
Tausch",2 der eine "Umwertung der Werte" 3 vornimmt und bestimmten "Stra
tegien der Innovation" folgt. 4 Diese Strategien der Innovation möchte ich mit
Blick auf die Frage, ob es eine den Künsten und Wissenschaften gemeinsame
Phantasie des Neuen gibt, als Strategie der Abduktion fassen. In seinen Lectu
res on Pragmatism behauptet der Wissenschaftstheoretiker und Begründer der
pragmatischen Semiotik, CharIes Sanders Peirce, im Gegensatz zu Deduktion
und Induktion sei die Abduktion die "einzige logische Operation, die irgendei
ne neue Idee einführt".5 Im folgenden möchte ich die Abduktion als eine den
Künsten und Wissenschaften gemeinsame Phantasie des Neuen beschreiben,
die gleichermaßen als logische Operation, als phantastisches Gedankenspiel
und als Gedankenblitz dargestellt werden kann. Zunächst wird es darum ge
hen, den Begriff des Neuen im Kontext der Epistemologie und unter Berück
sichtigung abduktiven Folgerns zu bestimmen. In einem zweiten Schritt sollen
die Anschlußmöglichkeiten der Abduktion an die ästhetischen und poetologischen Konzepte der Urteilskraft und des Witzes erörtert werden.
1 Sigmund Freud, Der Dichter und das Phantasieren, in: Studienausgabe, Frankfurt 1.' a.M. 1969 (1908), X, 172.
2 Boris Groys, Ober das Neue, Frankfurt a.M. 1999 (1992), 146. 3 Groys (Anm.2), 66f. 4 Groys (Anm.2), 73. 5 Charles Sanders Peirce, Collected Papers, hrsg. Ch. Hartshorne, P. Weiß, Band I-VI
(1931-1935), Band VII und VIII (1958), hrsg. A. W. Burks, Harvard Universiry Press. Zitiert wird nach Band und Abschnitt. Hier: 5.171.
593 592 Uwe Wirrh
I.
Das Neue hat in der Geschichte der Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie
seine eigenen Schlüsselworte. Begriffe wie "Entdeckung", "Erfindung", "Einfall" prägen den auf Invention und Innovation zielenden Duktus einer Episte
mologie, der es um die Frage geht, auf welchem Wege wir zu neuem Wissen
über die Welt gelangen können. Dabei steht die seit Descartes, Hume und Kant
systematisch vorangetriebene Reflexion auf die Methoden und Prozeduren des
Wissenserwerbs immer wieder vor dem Problem, dem Neuen in Form des "re
volutionären Erkenntnissprungs" oder der "kühnen Antizipation" zwar eine
zentrale epistemologische Rolle zuzuweisen, aber die Untersuchung der beim
Entstehen neuer Erkenntnis involvierten Prozesse dezidiert auszuklammern.
Es ist ein epistemologischer Gemeinplatz, daß das Neue, also die "Entdek
kung", die "Erfindung", der "Einfall", nicht plan bar ist. Schon in Lichtenbergs
Aphorismen heißt es: "Alle Erfindungen gehören dem Zufall an, die eine näher,
die andere weiter vom Ende, sonst könnten sich vernünftige Leute hinsetzen
und Erfindungen machen, so wie man Briefe schreibt".6 Die gleiche Auffassung
vertritt die Wissenschaftstheorie des 20. Jahrhunderts. So schreibt Popper in
seiner Logik der Forschung, daß es "eine logische, rational nachkonstruierbare
Methode, etwas Neues zu entdecken, nicht gibt".7 Deshalb fordert er, daß wir
"scharf zwischen dem Zustandekommen des Einfalls und den Methoden und Ergebnissen seiner logischen Diskussion unterscheiden". 8 Auch Einstein ist wie
Popper der Meinung, daß es zum Entdecken des Neuen keinen logischen Weg
gebe, "sondern nur die auf Einfühlung in die Erfahrung sich stützende Intui
tion".9 Da dieses "irrationale Moment" der "schöpferischen Intuition" metho
disch nicht planbar ist, kann es nicht Gegenstand der "Logik der Forschung"
sein. Dabei bezieht sich Popper auf Bergsons Intuitionsbegriff, der in seinen
Vorlesungen La Pensee et le Mouvant zwei Arten von "intuitiver Klarheit"
("clarte intuitive") des "unmittelbaren Bewußtseins" unterscheidet. Die erste
Form der Klarheit gründet nach Bergson darin, daß unser Verstand im Neuen
nur Altgewohntes findet und sich daher in bekannten Gefilden bewegt: "Une
idee neuve peut etre claire parce qu'elle nous presente, simplement arrangees
dans un nouvel ordre, des idees elementaires que nous possedions dejii".lo Die
zweite Form von Klarheit dagegen ist die einer Idee "radicalement neuve et ab
solument simple, qui capte plus ou moins une intuition".ll Durch radikal neue
Ideen werden Probleme, die wir für unlösbar erachten, gelöst, um entweder zu
6 Georg Christoph Lichtenberg, Aphorismen, Briefe, Schriften, Stuttgart 1953,167. 7 Kar! R. Popper, Logik der Forschung, Tübingen 1994 (1934), 7. 8 Popper (Anm. 7), 6. 9 Zit. nach Popper (Anm. 7), 7. 10 Henri Bergson, La Pensee et le Mouvant. Essais et Con(erences, Paris 1955,31. 11 Bergson (Anm.10), 31.
Die Phantasie des Neuen als Abduktion
verschwinden oder um sich uns in anderer Weise zu stellen - "elles ont alors le double pouvoir d'eclairer le reste et de s'eclairer elles-memes".12 Beide Formen
"intuitiver Klarheit" werfen die seibe Frage auf, nämlich wie wir zu neuen
Ideen kommen und wie wir neue Erkenntnis gewinnen können.
"Neue Erkenntnis" kann dabei entweder bedeuten, etwas Neues zu beob
achten, also mit einem "überraschenden Phänomen" konfrontiert zu werden,
oder aber für eine Reihe bekannter Tatsachen und Phänomene eine neue Theo
rie aufzustellen. Peirce schreibt mit Blick auf die Unterscheidung von "Entdek
ken" und "Erfinden", ein Erkenntniszuwachs ("increase of information") wer
de Entdeckung ("Discovery") genannt, auch wenn der alte Ausdruck "Inven
tion" dafür sehr viel angemessener sei. Dadurch könne man nämlich den Be
griff "Discovery" für das "finding of a new thing - as the discovery of America" reservieren, während sich das Herausfinden einer neuen Eigenschaft an be
reits bekannten Dingen als "Detection" bezeichnen ließe.!3 Die "Invention"
pendelt für Peirce zwischen den Polen des "Findens neuer Dinge" und dem
"Herausfinden neuer Eigenschaften", wobei es eine beiden Aspekten gemein
same "Logic of Discovery" bzw. "Logic of Detection" gibt: die Abduktion. Die Abduktion ist der "process of forming an explanatory hypothesis" .14 Ein Pro
zeß, im Rahmen dessen eine provisorische Synthetisierung von Prädikaten vor
genommen wird. Dabei bringt die abduktiv aufgestellte Hypothese "Mannig
faltiges zur Einheit"lS und bildet so die Grundlage plausibler und erklärungs
kräftiger Theorien: "the need of synthesizing a multitude of predicates [...) is the need of theory" .16 Da die Abduktion die einzige Art von Argument ist,
"which starts a new idea",17 ist sie die einzige "echt synthetische" Schlußform.
II.
Das philosophische Problem des Peirceschen Konzepts der Abduktion, ver
standen als "Logic of Discovery", besteht darin, daß sie erkenntniserweitern
de, also neue, aber potentiell fallible Resultate hervorbringt, die logisch nicht
zu rechtfertigen sind: Die einzige Rechtfertigung der Abduktion besteht darin,
daß "from its suggestion deduction can draw a prediction which can be tested
12 Bergson (Anm.10), 32. 13 Peirce (Anm. 5),2.430. Vgl. hierzu Kant, der in seiner Anthropologie in pragmati
scher Hinsicht schreibt, eine Sache, die man entdeckt, werde "als vorher schon existierend angenommen, nur daß sie noch nicht bekannt war, z. B. Amerika vor Kolumbus". (lmmanuel Kam, Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, in: Werkausgabe, hrsg. W. Weischedel, Frankfurt a.M. 1977, XII, 543).
14 Peirce (Anm.5), 5.171. 15 Peirce (Anm. 5), 5.276. 16 Peirce (Anm.5), 3.516. 17 Peirce (Anm. 5), 2.96.
595 594 Uwe Wirth
by induction" und daß, "if we are ever to learn anything or to understand phe
nomena at all, it must be by abduction" .18 Ausgerechnet der für alles Verstehen
grundlegende Schlußmodus der Abduktion entzieht sich somit der Kontrolle
der deduktiven Logik. 19 Die Abduktion ist lediglich eine Antizipation künftiger
Begründbarkeit.
Anders als in Poppers Logik der Forschung wird beim Peirceschen Abduk
tionskonzept keine scharfe Grenze zwischen der psychologischen und der logi
schen Domäne des"Context of Discovery" gezogen. Die Erkenntnistheorie ala Popper untersucht als Erkenntnislogik lediglich die Methoden der Überprü
fung, der jeder Einfall, der ernst genommen werden soll, zu unterwerfen ist. Die
Vorgänge des Aufstellens von Hypothesen, also die Prozesse, wie Neues ent
steht, können dagegen nur empirisch-psychologisch untersucht werden und
haben "mit Logik wenig zu tun".20 Ganz anders argumentiert Peirce: Er be
hauptet, daß die Abduktion, obwohl sie nur sehr wenig durch logische Regeln
behindert werde, eine Form logischer Inferenz sei, "asserting its conclusion on
Iy problematically or conjecturally, it is true, but nevertheless having a perfect
Iy definite logical form" .21 Diese scheinbar paradoxe Doppelbestimmung der
Peirceschen "Logic of Discovery" als nur wenig von logischen Regeln behin
derter, innovativer Schluß, der dennoch "eine vollkommen bestimmte logische
Form besitzt", ist der Auslöser einer bis heute andauernden philosophischen
Diskussion.22 Dabei muß zwischen zwei Fragen unterschieden werden. Zum ei
nen die Frage, inwiefern die Abduktion tatsächlich eine gültige Form logischen
18 Peirce (Anm.5), 5.171. 19 Peirce (Anm. 5), 6.485. 20 Vgl. Popper (Anm. 7), 7. 21 Peirce (Anm.5), 5.188. 22 Vgl. hierzu Hansons Aufsatz "The Logic of Discovery", wo dieser im Rekurs auf
Popper und Reichenbach die Analogie zwischen "hypothetisch-deduktiver Methode" und "retroduktiver Inferenz" bildet. Wie Popper kommt auch Hanson zu dem Schluß, daß es lerzrlich keine Möglichkeit einer philosophisch begründeten "Entdeckungslogik" gibt (vgl. Norwood Russel Hanson, "The Logic of Discovery", The Journal of Philosophy 55 [1958], 1073-1089, hier: 1074ff.). Zugleich zeigt Hanson jedoch, daß sich der Peircesche Ansatz der Abduktion zur Formulierung forschungsstrategischer "Leitprinzipien" eignet. Die Abduktion wird zu einer Strategie, auf "die beste Erklärung" zu schließen. Auch Fann folgt in Peirce's Theory ofAbduction Poppers Ausgrenzung des abduktiyen Einfalls aus der Forschungslogik und wendet sich statt dessen der Frage zu, in welcher Form abduktives Folgern die Hypothesenbildung ("hypothesis formation") und die HypothesenauswahJ ("hypothesis seJection") betreibt (vgl. Kuang T. Fann, Peirce's Theory of Abduction, The Hague 1970,7). Neuere Untersuchungen zum Thema finden sich in Tomis Kapitan, "In Whar Way is Abductive Inference Crearive?", Transactions of the Charles Sanders Peirce Society 26 (1990), 499-512 sowie in Ansgar Richter, Der Begriff der Abduktion bei Charles Sanders Peirce, Frankfurt a.M., Berlin, Bern, New York, Paris, Wien 1995.
Die Phantasie des Neuen als Abduktion
Schließens ist, zum anderen die Frage, inwieweit die Abduktion eine innovative
Strategie des Denkens darstellt.
Das Konzept der Abduktion ist die Antwort des Peirceschen Pragmatismus
auf die kantische Frage nach der Möglichkeit "synthetischer Urteile apriori" .
An die Stelle des kantischen "transzendentalen Bewußtseins" als "höchster Punkt" des Erkenntnisvermögens tritt, wie Karl-Otto Apel in Transformation
der Philosophie schreibt, der "finale Interpretant" der indefiniten "Community of Investigators".23 Diese Transformation der transzendentalen Logik in ei
ne "Logic of Science" führt dazu, "daß der Verstand gewissermaßen der Natur
das Gesetz - in the long run - vorschreiben kann, ohne sie daran zu hindern, ih
rerseits den Inhalt aller nur denkbaren synthetischen Sätze auf dem Wege des
äußeren Erfahrungszwanges bestimmen zu können" .24 Peirce transformiert
mit Hilfe der synthetischen Schlußweise der Abduktion das transzendentale a priori in ein pragmatisches aposteriori, und so kommt er zu dem Schluß: "If you carefully consider the question of pragmatism you will see that it is nothing
else than the question of the logic of abduction".25 Dabei erlaubt der Pragma
tismus, "jeden Flug der Imagination, vorausgesetzt, daß diese Imagination schließlich eine mögliche praktische Wirkung erhellt".26 Die Abduktion dient
dazu, sich plausible Theorien vorzustellen und neue Theorien zu erfinden. Die
Abduktion nimmt eine "creation of hypothesis" vor, die als "grand work of poietic genius" erscheint,27 auch wenn sie nicht den Geltungsanspruch der Wis
senschaftlichkeit reklamieren kann, da sich ihr noch kein Wahrheitswert zu
schreiben läßt. Die Abduktion ist so besehen ein nützliches Vorspiel ("a useful
prelude") der eigentlichen Wissenschaft.28
Das "Spiel der Wissenschaft" besteht darin, die "Fragen an die Natur" in
Form hypothetischer Wett-Fragen zu formulieren, auf die das Experiment die Antwort geben sol1.29 In diesem Spiel geht es sowohl um das Lösen vorhande
ner Probleme als auch um das Formulieren neuer Probleme. Da für Peirce das
Ziel der Wissenschaft der Erfolg und nicht das korrekte Erfüllen methodischer
Vorschriften ist, lautet seine erste Regel des Denkens: "Do not block the way of
inquiry" .30 Die Peircesche Formel erinnert an Feyerabends "anything goes"
zumal er die wissenschaftliche Methode als "the general method of sucessful
23 Vgl. Karl-Otto Apel, Transformation der Philosophie, Band 1, Frankfurt a.M. 1973, 173.
24 Karl-Otto Apel, Der Denkweg des Charles Sanders Peirce, Frankfurt a.M. 1967, 75.
25 Peirce (Anm.5), 5.196. 26 Peirce (Anm.5), 5.196. 27 Peirce (Anm. 5),4.238. 28 Peirce (Anm.5), 1.235. 29 Peirce (Anm.5), 1.120. 30 Peirce (Anm.5), 1.135.
597 596 Uwe Wirth
scientific research" definiert.31 Eben deshalb kann die Abduktion als "Strategie der Innovation" gewertet werden, die die Phantasie des Neuen spielerisch prag
matisiert: Sie dient dem Entdecken eines relevanten, bislang noch nicht berück
sichtigten Aspekts, der sich kohärent und einfach, mithin plausibel, in einen
theoretischen Zusammenhang integrieren und ökonomisch überprüfen läßt.
Das spezifisch pragmatische Moment der "Logic of Discovery" ist der Rekurs auf ein "Principle of Economy" .32 Die "leitende Überlegung" des abdukti
ven Hypothesenaufstellens ist für Peirce - hier bezieht er sich auf Ernst Mach
die Frage der Ökonomie, "der Ökonomie des Geldes, der Zeit, des Denkens
und der Energie" .33 Das Prinzip der Ökonomie betrifft die Relation "between
utility and cost",34 es ist eine Strategie im Foucaultschen Sinne, genau genom
men sogar ein Dispositiv, das der "Optimierung" des Erwerbs von Wissen dient.35 Die Kosten betreffen den Aufwand, mit dem im Rahmen des Erkennt
nisprozesses Fehler und Irrtum beseitigt werden können, um den Wert und den
Nutzen des gewonnenen Wissens zu steigern.36 Um im Bild der Wette zu blei
ben: Der Forschungsaufwand ist der "Einsatz", der zu einem Erkenntnisge
winn führen soll. Dieser variiert je nachdem, ob die Wette im Rahmen der"nor
malen Wissenschaft" die Lösung eines Rätsels prognostiziert oder aber als Er
kenntnissprung eine revolutionäre Neuentdeckung macht, die die alten Rätsel durch neue ersetzt.
Nach Kuhn dienen die "Spielregeln" der "normalen Wissenschaft" dazu,
den Punkt zu verzögern, an dem das Paradigma geändert wird, um "ein neues
Rätsel zu definieren und das alte nicht zu lösen".37 Während die "normale Wis
senschaft" eine "höchst determinierte Tätigkeit" ist,38 geht vielen neuen "revo
lutionären" Theorien und Entdeckungen "nicht etwa ein Nichtwissen voraus,
sondern die Erkenntnis, daß mit den vorhandenen Kenntnissen etwas nicht in
Ordnung ist".39 Zu einem Paradigmenwechsel kommt es daher nur, wenn sich
31 Peirce (Anm. 5), 7.79. 32 Peirce (Anm.5), 5.600. 33 Peirce (Anm. 5),5.600. 34 Peirce (Anm.5), 7.140. 35 Vgl. Michel Foucault, Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses,
Frankfurt a.M. 1994 (1975), 280. 36 Dieses Prinzip der Ökonomie bestimmt den Diskurs der Wissenschaft - aber auch
alle anderen Formen methodischen Interpretierens. So schreibt der Wissenschaftstheoretiker Nicholas Rescher, die "Evolution des Wissens" folge der Dynamik "ökonomischer Rationalität", weshalb sich genau die Verfahren durchsetzten, "die kosteneffizient sind" (Nicholas Rescher, Warum sind wir nicht klüger? Der evolutionäre Nutzen von Dummheit und Klugheit, übersetzt von A. und H. Pape, Sturrgart 1994,40).
37 Thomas S. Kuhn, Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, Frankfurt a.M. 1976 (1962), 53.
38 Kuhn (Anm. 37),56. 39 Thomas S. Kuhn, Die Entstehung des Neuen, Frankfurt a.M. 1978,319.
Die Phantasie des Neuen als Abduktion
eine Theorie in Folge von Fachkrisen als unfähig erweist, "Regeln zur Bestim
mung lösbarer Rätselaufgaben bereitzustellen" .40 Die Folge eines Paradigmen
wechsels ist eine neue Perspektive, denn er veranlaßt die Wissenschaftler, "die
Welt ihres Forschungsbereichs anders zu sehen [...]. Unter der Führung eines
neuen Paradigmas verwenden die Wissenschaftler neue Apparate und sehen sich nach neuen Dingen um".41
Signifikanterweise ist die Peircesche Erkenntnistheorie sowohl mit Poppers
als auch mit Kuhns Auffassungen kompatibel. Einerseits sieht Peirce wie Pop
per die "Evolution des Wissens" als Seiektionsprozeß, in dem sich durch "Con
jecture and Refutation" die "fittere Hypothese" gleichsam herausmendeLt.42
Zugleich problematisiert Peirce wie Kuhn den "kritischen Punkt" jeder Er
kenntnistheorie, nämlich den Punkt, an dem alte Probleme in neue Probleme
transformiert werden. Im Rahmen der "normalen Wissenschaft" wird das
Neue nur als "überraschendes Phänomen" wahrgenommen, das im Kontrast
zum Erwartungshorizont der community of investigators steht: "Of course,
nothing can appear as definitely new without being contrasted with a back
ground of the old". Deshalb gilt: "The first new feature of this first surprise is, for example, that it is a surprise" .43 Die Aufgabe abduktiven Schließens besteht
nun darin, eine Theorie zu erfinden, die eine plausible Erklärung dafür liefert,
warum das beobachtete Phänomen als überraschendes wahrgenommen
wird.44 Daher sucht der Forscher nach einer Perspektive, von der aus sich das
überraschende, rätselhafte Phänomen nicht mehr als rätselhaft erweist.45 In sei
nem Artikel Guessing schreibt Peirce, der Erinnerung an die beobachteten, rät
selhaften Tatsachen folge das Bemühen, "co rearrange them, co view them in
such new perspective, that the unexpected experience shall no longer appear
surprising" .46 Diese veränderte Sichtweise gegenüber einer zunächst überra
schenden Erfahrung gibt der neuen Theorie ihre explanative Kraft: "At length
a conjecture arises that furnishes a possible Explanation"Y Die Herangehens
weise des Forschers besteht also darin, seine Beobachtung einerseits als Konse
quenz einer unbekannten Ursache, andererseits als Teil eines größeren Zusam
menhangs zu betrachten. Das Neuarrangement der Beobachtung wird vollzogen, indem man den überraschenden Phänomenen eine pars pro toto Rolle zu
40 Kuhn (Anm. 39), 371. 41 Kuhn (Anm. 37), 123. 42 Karl R. Popper, Objective Knowledge. An Evolutionary Approach, Oxford 1979
(1972),241. Vgl. aber auch ders., Conjeetures and Refutations. The Growth ofScientific Knowledge, London 1969 (1963).
43 Peirce (Anm.5), 7.188. 44 Peirce (Anm. 5), 2.776. 45 Vgl. Peirce (Anm.5), 6.469. 46 Chacles Sanders Peirce, Guessing, in: The Hound and Horn (1929), 267-285, hier:
267. 47 Peirce (Anm. 5),6.469.
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weist: " [T)he surprising facts that we have observed are only one part of a lar
ger system of facts, of which the other part has not come within the field of our experience".48 Die Forschung zielt mithin darauf ab, den Zusammenhang mit
einem "größeren System von Tatsachen" zu rekonstruieren, das noch außer
halb des Erfahrungshorizontes derjenigen liegt, die das überraschende Phäno
men als überraschendes Phänomen wahrgenommen haben. Was Peirce hier
formuliert ist nichts anderes als das hermeneutische Problem des "Neu- und
Andersverstehens" .
III.
Die Aufgabe der Abduktion als erster Schritt des Erkenntnisprozesses be
steht zum einen im aneignenden Verstehen von Neuem, das zunächst als "über
raschendes, erklärungsbedürftiges Phänomen" erscheint, zum anderen im pa
radigmatischen "Neu-Verstehen", also im Erfinden einer neuen Theorie. Inter
essanterweise treten diese beiden Aspekte im Rahmen des Abduktionskonzepts
nicht als konkurrierende, sondern als komplementäre Momente des For
schungs- und Interpretationsprozesses auf.
Das verdächtige oder plötzliche Einbrechen einer erklärungsbedürftigen Tat
sache in den Erwartungs- und Erfahrungshorizont des Interpreten bestimmt
die innere Form des abduktiven Folgerns, die Peirce folgendermaßen charakte
risiert:
"Die überraschende Tatsache C wird beobachtet; aber wenn A wahr wäre,
würde C eine Selbstverständlichkeit sein; folglich besteht Grund zu vermuten, daß A wahr ist".49
Im Original heißt es: "hence there is reason to suspect that A is true". Die Annahme, daß das Antezedens A möglicherweise zur Conclusio C führen könnte,
beruht auf einem Verdacht seitens des Schlußfolgernden. Für Peirce ist der Ver
dacht ("suspicion") ein "irrationales Gefühl" ("irrational feeling"), welches ei
ne Reaktion auf die Überraschung darstellt, daß sich eine Erwartung als irrig
herausgestellt hat. Der Verdacht entspricht dem Gefühl des Zweifels ("doubt")
an einer Gewohnheit. Umgekehrt entspricht das plötzliche Gefühl des "Eure
ka", die Lösung eines Problems gefunden zu haben, dem Wechsel zu einer neu
en Gewohnheit.5o Die Abduktion schließt von einem überraschenden Phäno
men auf dessen Ursache zurück, wobei sie zugleich die argumentative Begründ
barkeit des angenommenen Ursache-Wirkungs-Verhältnisses miteinbezieht,
um eine plausible Theorie zu formulieren. Dies geschieht in Form spielerischen
GrübeIns, in dessen Verlauf ein abduktives Argument zusammengepuzze/t
48 Peirce (Anm. 46),267. 49 Peirce (Anm.5), 5.189. 50 Vgl. Peirce (Anm. 5), 8.270.
Die Phancasi.e des Neuen als Abduktion
wird. Die Form abduktiven Schließens ist die eines "umgedrehten" bzw. "verkehrten" modus ponens. Beim quasi-deduktiven modus ponens wird die Regel
" Wenn A, dann C" vorausgesetzt und vom eingetretenen Fall " daß A" auf die
Konklusion "daher C" geschlossen. Der modus ponens stellt sich mithin als Schluß von einer vorausgesetzten konditionalen Regel und einer Tatsache dar,
die als Nachsatz in der Regel vorkommt. Die Abduktion dagegen ist vom logi
schen Standpunkt aus gesehen "reasoning from consequent to antecedent",51
also ein Rückschluß, eine "Retroduction", von der Konklusion auf die Prämis
sen. Die überraschende Tatsache wird als Konsequenz C eines noch unbekann
ten Antezedens A betrachtet, wobei A rückschlüssig ermittelt, d.h. entweder re
konstruiert oder neu-konstruiert werden muß. Diese abduktiv aufgestellte Hy
pothese muß anschließend deduktiv auf ihre logische und induktiv auf ihre em
pirische Richtigkeit geprüft werden.
Angenommen, wir kämen in einen Raum, in dem ein gefüllter Sack liegt, da
neben ein Haufen weißer Bohnen. Wir könnten auf die Idee kommen, eine as
soziative Verbindung zwischen den Bohnen und dem gefüllten Sack herzustel
len, ja, wir könnten sogar so weit gehen zu mutmaßen, daß alle Bohnen in die
sem Sack weiß sind. Ihre logische Gültigkeit muß diese Hypothese beweisen,
sobald sie im Rahmen einer Deduktion dargestellt wird. Ihre empirische Rich
tigkeit kann dagegen nur im Rahmen eines Experiments belegt werden, näm
lich indem man in den Sack hineingreift, also induktiv tätig wird. Die Abduk
tion besteht in der Idee, eine assoziative Verbindung zwischen Bohnen und
Sack herzustellen und diese Idee so zu formulieren, daß sie sich als Hypothese
im Rahmen einer rationalen Argumentation überprüfen läßt. Das heißt, die
Abduktion leistet die Transformation einer Assoziation in eine Argumentation,
wobei sie die assoziierten Propositionen und Textteile wie Prämissen organi
siert, also die Zwischenräume nicht nur als Kontiguitätsbeziehung interpre
tiert, sondern als inferentielle Verknüpfungen. Durch diesen "innovativen
Tausch"52 zwischen assoziativen und argumentativen Rollen wird eine "Um
wertung der Werte"53 vollzogen. Die Assoziationen werden nicht nur neu ar
rangiert, sondern in einen argumentativen Rahmen integriert. Die Abduktion
nimmt einen Rahmenwechsel, eine Modulation im Sinne Goffmans vor.54
Genau genommen handelt es sich sogar um einen doppelten Rahmenwech
sel, da die Abduktion von einer erlebten zeitlichen Relation simultan auf eine
logische Relation innerhalb der Denkwelt und auf eine hypothetische kausale Relation innerhalb der äußeren Erfahrungswelt schließt. Der abduktive Prozeß ist ein Vorgriff auf einen logischen Begründungszusammenhang, der sich im
51 Peirce (Anm. 5), 6.469. 52 Groys (Anm.2), 146. 53 Groys (Anm.2), 66f. 54 Vgl. Erving Goffman, Rahmen-Analyse. Ein Versuch über die Organisation von
Alltagserfahrungen, Frankfurt a.M. 1996 (1974), 55f.
599 598 Uwe Wirch
weist: " [T]he surprising facts that we have observed are only one part of a lar
ger system of facts, of which the other part has not come within the field of our experience".48 Die Forschung zielt mithin darauf ab, den Zusammenhang mit
einem "größeren System von Tatsachen" zu rekonstruieren, das noch außer
halb des Erfahrungshorizontes derjenigen liegt, die das überraschende Phäno
men als überraschendes Phänomen wahrgenommen haben. Was Peirce hier
formuliert ist nichts anderes als das hermeneutische Problem des "Neu- und
Andersverstehens".
III.
Die Aufgabe der Abduktion als erster Schritt des Erkenntnisprozesses be
steht zum einen im aneignenden Verstehen von Neuern, das zunächst als "über
raschendes, erklärungsbedürftiges Phänomen" erscheint, zum anderen im pa
radigmatischen "Neu-Verstehen", also im Erfinden einer neuen Theorie. Inter
essanterweise treten diese beiden Aspekte im Rahmen des Abduktionskonzepts
nicht als konkurrierende, sondern als komplementäre Momente des For
schungs- und Interpretationsprozesses auf.
Das verdächtige oder plötzliche Einbrechen einer erklärungsbedürftigen Tat
sache in den Erwartungs- und Erfahrungshorizont des Interpreten bestimmt
die innere Form des abduktiven Folgerns, die Peirce folgendermaßen charakte
risiert:
"Die überraschende Tatsache C wird beobachtet; aber wenn A wahr wäre,
würde C eine Selbstverständlichkeit sein; folglich besteht Grund zu vermuten, daß A wahr ist".49
Im Original heißt es: "hence there is reason to suspect that A is true". Die An
nahme, daß das Antezedens A möglicherweise zur Conclusio C führen könnte,
beruht auf einem Verdacht seitens des Schlußfolgernden. Für Peirce ist der Ver
dacht ("suspicion") ein "irrationales Gefühl" ("irrational feeling"), welches ei
ne Reaktion auf die Überraschung darstellt, daß sich eine Erwartung als irrig
herausgestellt hat. Der Verdacht entspricht dem Gefühl des Zweifels ("doubt")
an einer Gewohnheit. Umgekehrt entspricht das plötzliche Gefühl des "Eure
ka", die Lösung eines Problems gefunden zu haben, dem Wechsel zu einer neu
en Gewohnheit.5o Die Abduktion schließt von einem überraschenden Phäno
men auf dessen Ursache zurück, wobei sie zugleich die argumentative Begründ
barkeit des angenommenen Ursache-Wirkungs-Verhältnisses miteinbezieht,
um eine plausible Theorie zu formulieren. Dies geschieht in Form spielerischen
Grübeins, in dessen Verlauf ein abduktives Argument zusammengepuzzelt
48 Peirce (Anm. 46),267. 49 Peirce (Anm.5), 5.189. 50 Vgl. Peirce (Anm. 5), 8.270.
Die Phantasie des Neuen als Abduktion
wird. Die Form abduktiven Schließens ist die eines " umgedrehten " bzw. "verkehrten" modus ponens. Beim quasi-deduktiven modus ponens wird die Regel
" Wenn A, dann C" vorausgesetzt und vom eingetretenen Fall " daß A " auf die
Konklusion "daher C" geschlossen. Der modus ponens stellt sich mithin als Schluß von einer vorausgesetzten konditionalen Regel und einer Tatsache dar,
die als Nachsatz in der Regel vorkommt. Die Abduktion dagegen ist vom logi
schen Standpunkt aus gesehen "reasoning from consequent to antecedent",51
also ein Rückschluß, eine " Retroduction " , von der Konklusion auf die Prämis
sen. Die überraschende Tatsache wird als Konsequenz C eines noch unbekann
ten Antezedens A betrachtet, wobei A rückschlüssig ermittelt, d.h. entweder re
konstruiert oder neu-konstruiert werden muß. Diese abduktiv aufgestellte Hy
pothese muß anschließend deduktiv auf ihre logische und induktiv auf ihre em
pirische Richtigkeit geprüft werden.
Angenommen, wir kämen in einen Raum, in dem ein gefüllter Sack liegt, da
neben ein Haufen weißer Bohnen. Wir könnten auf die Idee kommen, eine as
soziative Verbindung zwischen den Bohnen und dem gefüllten Sack herzustel
len, ja, wir könnten sogar so weit gehen zu mutmaßen, daß alle Bohnen in die
sem Sack weiß sind. Ihre logische Gültigkeit muß diese Hypothese beweisen,
sobald sie im Rahmen einer Deduktion dargestellt wird. Ihre empirische Rich
tigkeit kann dagegen nur im Rahmen eines Experiments belegt werden, näm
lich indem man in den Sack hineingreift, also induktiv tätig wird. Die Abduk
tion besteht in der Idee, eine assoziative Verbindung zwischen Bohnen und
Sack herzustellen und diese Idee so zu formulieren, daß sie sich als Hypothese
im Rahmen einer rationalen Argumentation überprüfen läßt. Das heißt, die
Abduktion leistet die Transformation einer Assoziation in eine Argumentation,
wobei sie die assoziierten Propositionen und Textteile wie Prämissen organi
siert, also die Zwischenräume nicht nur als Kontiguitätsbeziehung interpre
tiert, sondern als inferentielle Verknüpfungen. Durch diesen "innovativen
Tausch"52 zwischen assoziativen und argumentativen Rollen wird eine "Um
wertung der Werte"53 vollzogen. Die Assoziationen werden nicht nur neu ar
rangiert, sondern in einen argumentativen Rahmen integriert. Die Abduktion
nimmt einen Rahmenwechsel, eine Modulation im Sinne Goffmans vor.54
Genau genommen handelt es sich sogar um einen doppelten Rahmenwech
sel, da die Abduktion von einer erlebten zeitlichen Relation simultan auf eine
logische Relation innerhalb der Denkwelt und auf eine hypothetische kausale Relation innerhalb der äußeren Erfahrungswelt schließt. Der abduktive Prozeß ist ein Vorgriff auf einen logischen Begründungszusammenhang, der sich im
51 Peirce (Anm. 5), 6.469. 52 Grays (Anm.2), 146. 53 Grays (Anm.2), 66f. 54 Vgl. Erving Goffman, Rahmen-Analyse. Ein Versuch über die Organisation von
Alltagserfahrungen, Frankfurt a.M. 1996 (1974), 55f.
601 600 Uwe Wirrh
Verlauf des infiniten Interpretationsprozesses als gültiger erst noch erweisen muß. Die zunächst nur zeitlich bestimmten Momente der Erfahrung werden in logische Elemente eines Arguments übersetzt, um so eine unbekannte Ursache rekonstruktiv zu erschließen. Der Ausdruck "Retroduktion" bezieht sich mithin sowohl auf den kausalen Rückschluß von der Wirkung auf die Ursache als auch auf den logischen Rückschluß von der Konklusion auf die Prämissen und auf das Zurückgehen im zeitlichen Sinne. Der Schlußfolgernde projiziert eine
logische Form simultan auf die zeitlich aufeinanderfolgenden Elemente seiner inneren Erfahrungswelt und auf die kausal bestimmten Momente der äußeren Erfahrungswelt. Dergestalt wird die Abduktion zu einer innovativen Strategie, die darauf abzielt, Prämissen für gültige Schlußfolgerungen zu finden.
Dabei lassen sich unterschiedliche "Novitätsgrade" ausmachen, abhängig vom jeweiligen Grad der Determiniertheit durch Vorwissen und konventionaler Codierung: Je nachdem, ob aufgrund von Gewohnheiten quasi-automatisch vom Ergebnis auf die Ursache zurückgeschlossen wird, oder ob situa
tionsabhängige Faktoren darüber entscheiden, welche Erklärung plausibler ist, oder ob man "ex nihilo" Regeln erfinden muß, kann man mit Bonfantini und
Proni zwischen "übercodierten", "untercodierten" und "kreativen Abduktionen" unterscheiden.55 Die übercodierte Abduktion fragt, "was der Fall war".
Das heißt, sie entwickelt innerhalb eines durch bereits vorhandene Regeln übercodierten Kontextes als "Schluß auf den Fall" eine Hypothese. Der unter
codierten Abduktion fehlt dagegen eine "passende Regel", sie ist ein "Schluß aufs Gesetz" und muß sich zwischen mehreren Alternativen die plausiblere auswählen. Im Gegensatz zu unter- und übercodierten Abduktionen geht die kreative Abduktion über die vorgängige, bereits codierte Erfahrung hinaus. Die kreative Abduktion ist Rückschluß auf Gesetz und Fall zugleich, sie ist also die innovative Konstruktion einer Relation zwischen Konklusion und zwei unbekannten Prämissen.
IV.
Nachdem das Abduktionskonzept bislang nur unter einer systematischen, primär epistemologischen Perspektive entfaltet wurde, gilt es nun in einem zweiten Durchgang, die Anschlußfähigkeit der Abduktion an die für das 18.
55 Massimo Bonfantini, Giampaolo Proni, Raten oder nicht raten?, in: U. &0 und T. Sebeok (Hrsg.), Der Zirkel oder im Zeichen der Drei, München 1985, 180-203, hier: 201. Bonfantini und Proni beziehen sich bei ihrer Klassifikation auf Thagards Unterscheidung zwischen "übercodierr" und "untercodien" (vgl. Paul Thagard, "Semiorics and Hypothetic Inference in C.S. Peirce", Versus 19/20 [1978], 163-172) und führen als dritten Typ die kreative Abduktion ein. Eco übernimmt diese Einteilung der Abduktionstypen (Vgl. Umbeno &0, "Hörner, Hufe, Sohlen. Einige Hypothesen zu drei Abduktionsrypen", in: &0, Sebeok, Der Zirkel oder im Zeichen der Drei, 288-321, 69).
Die Phantasie des Neuen als Abduktion
Jahrhundert zentralen ästhetischen und poetologischen Kategorien der Assoziation, der Einbildungskraft, der Urteilskraft und des Witzes zu erörtern. Das Zusammenspiel dieser vier Kategorien führt zu einem - freilich keineswegs homogenen - Konzept der "ästhetischen Phantasie" ,56 die zugleich auch eine poetologische ist. So bestimmt Breitinger in seiner Critischen Dichtkunst das Dich
ten als Tätigkeit, "sich in der Phantasie neue Begriffe und Vorstellungen [zu] formieren, deren Originale nicht in der gegenwärtigen Welt der würklichen Dinge, sondern in irgend einem anderen möglichen Welt-Gebäude zu suchen sind".57 Vergleichsweise enttäuschend ist der Kantische Phantasiebegriff:
"Phantasie" spielt in den drei Kritiken Kants als Begriff keine Rolle, abgesehen von einer eher beiläufigen Bemerkung in der Kritik der Urteilskraft, wo vom "Spiel unserer Phantasie" die Rede ist.58 Erst in seiner Anthropologie in prag
matischer Hinsicht erfolgt eine Definition der Phantasie als "Spiel der produktiven Einbildungskraft", das dem Dichtungsvermögen zugrunde liegt.59 Die
Einbildungskraft wiederum ist das Vermögen der Vorstellung, "einen Gegenstand auch ohne dessen Gegenwart in der Anschauung vorzustellen".60
Zu fragen bleibt jedoch, ob die Phantasie des Neuen bei Kant lediglich als
"Spiel der produktiven Einbildungskraft" gefaßt werden kann, ob sie nicht vielmehr einem Spiel aller Erkenntnisvermögen geschuldet ist, das von der Urteilskraft vermittelt wird. In der Urteilskraft werden "Verstand und Einbildungskraft im Verhältnisse gegen einander betrachtet".61 Im Gegensatz zum
Verstand als"Vermögen der Regeln", ist die Urteilskraft das Vermögen, "unter Regeln zu subsumieren, d.i. zu unterscheiden, ob etwas unter einer gegebenen Regel (casus datae legis) stehe, oder nicht" .62 Eine Möglichkeit, Verstand und
Einbildungskraft ins Verhältnis zu setzen, ist das Aufstellen von Hypothesen. Sobald man nämlich die Einbildungskraft mit einem möglichen (verstandesmä
56 Vgl. Christoph Unger, Die ästhetische Phantasie. Begriffsgeschichte, Diskurs, Funktion, Transformation. Studien zur Poetologie Jean Pauls und Johann Wolfgang Goethes, Frankfurt a.M., Berlin, Bern, New York, Paris, Wien 1996, 27ff.
57 Johann Jakob Breitinger, Critische Dichtkunst, Stuttgart 1966 (1740), 60. 58 Immanuel Kant, Kritik der Urteilskraft, in: Werkausgabe (Anm.13), X, 262. 59 Kant (Anm.13), 483. Dabei macht Kant die interessante Feststellung, daß nicht nur
wir mit der Einbildungskraft spielen, sondern "die Einbildungskraft (als Phantasie) spielt eben so oft und bisweilen sehr ungelegen auch mit uns" (476).
60 Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, in: Werkausgabe (Anm.13), IIIJIV,
148. 61 Kant (Anm.58), 36. 62 Kant (Anm. 60), 184ff. Vgl. hierzu auch Schönrich, der das Dilemma regelgeleite
ten Handelns betOnt, daß jede Anwendungsregel wiederum eine Regel braucht, "die ihrerseits die Anwendung dieser Anwendungsregel regelt und so ad infinitum", dieses Dilemma wird, wie Schönrich fesrsrellt, von Kant "durch die Einführung der Urteilskraft als einer Regelkomperenz aufgelöst, die den Hiatus zwischen Regel und Fall überbrückt". (Gerhard Schönrich, Zeichenhandeln - Untersuchungen zum Begriff einer semiotischen Vernunft im Ausgang von Ch.S.Peirce, Frankfurt a.M. 1990, 391f.)
603 602 Uwe Wirth
ßigen) Erklärungsgrund verknüpft, entsteht eine Hypothese. 63 Damit sind wir
wieder bei der Abduktion: Die unterschiedlichen Formen, die die Abduktion
annehmen kann, möchte ich als unterschiedliche Spiele der Erkenntnisvermögen interpretieren.
Die bestimmende Urteilskraft operiert analog zum übercodierten abduktiven Schluß auf einen hypothetisch angenommenen Fall, wobei die Regel vor
ausgesetzt wird: "Isr das Allgemeine (die Regel, das Prinzip, das Gesetz) gegeben, so ist die Urteilskraft [...] bestimmend".64 Dem untercodiertenabdukti
ven Schluß auf die Regel entspricht die reflektierende Urteilskraft. Dieser ist
"das Besondere gegeben, wozu sie das Allgemeine finden soll",65 wobei entwe
der zwischen mehreren möglichen Regeln eine plausible ausgewählt oder aber
eine Regel erfunden werden muß. Während die reflektierende Urteilskraft ästhetisch sein kann,66 versucht die bestimmende Urteilskraft durch ein logisches
Urteil, einen "zu Grunde liegenden Begriff durch eine gegebene empirische Vor
stellung zu bestimmen"P Die reflektierende Urteilskraft stiftet dagegen neue,
sinnfällige Zusammenhänge: "Reflektieren (Überlegen) aber ist: gegebene Vor
stellungen entweder mit andern, oder mit seinem Erkenntnisvermögen, in Be
ziehung auf einen dadurch möglichen Begriff, zu vergleichen und zusammen zu
halten".68 Die kreative Abduktion schließlich initiiert ein Spiel der Erkenntnis
vermögen, das zur "Bedingung der Möglichkeit" jeder Phantasie des Neuen wird. Die kreative Abduktion setzt "eine freie und uneingeschränkte Bewe
gung"69 im Spannungsfeld der Erkenntnisvermögen Verstand, Einbildungs
kraft und Urteilskraft in Gang, die zwischen Instinkt und Ingenium oszilliert.
In seiner Anthropologie in pragmatischer Hinsicht präzisiert Kant den Un
terschied von der reflektierenden Urteilskraft und der logisch bestimmenden
Urteilskraft, wobei er die regelfindende Urteilskraft als "Ingenium" und als
"Witz" bezeichnet: Der Begriff Ingenium umfaßt dabei sowohl Scharfsinn und
Erkenntnisfähigkeit als auch Erfindungskraft und Phantasie: 7o "So wie das
Vermögen, zum Allgemeinen (der Regel) das Besondere auszufinden, Urteils
kraft, so ist dasjenige: zum Besonderen das Allgemeine auszudenken, der Witz (ingenium)".71 Kant setzt hier Witz qua Ingenium mit reflektierender Urteils
kraft gleich, während Urteilskraft die verkürzte Bezeichnung der bestimmen
den Urteilskraft wird. Mit Blick auf ihre jeweilige spezifische Vermittlungslei
63 Vgl. Kant (Anrn. 60), 652 f. 64 Kam (Anm. 58), 87. 65 Kam (Anm. 58), 87. 66 Kam (Anrn. 58), 37. 67 Kam (Anrn. 58),24. 68 Kam (Anrn. 58), 87. 69 Kam (Anrn. 60), 611. 70 Vgl. Waltraud Wiethölter, Witzige lllumination. Studien zur Ästhetik ]ean Pauls,
Tübingen 1979,3. 71 Kam (Anrn.13), 511.
Die Phamasie des Neuen als Abduktion
stung zwischen Verstand und Vernunft schreibt Kant: "Witz hascht nach Einfällen; Urteilskraft strebt nach Einsichten".72 Die Vermittlungsinstanz zwi
schen dem Haschen nach Einfällen und dem Streben nach Einsichten ist der
Mutterwitz, "dessen Mangel keine Schule ersetzen kann", da es sich um eine
"Gabe der Natur" handelt.73
Für Peirce hat diese "Gabe der Natur" die Form des "Instinkts", der sich im
angeborenen Vermögen, richtig zu raten, äußert.74 Dieser "Guessing Instinct"
entwickelt sich aus einer "natürlichen Affinität" zwischen dem Geist des Den
kenden und seiner natürlichen und kulturellen Lebenswelt, deren "geheime Ge
setze" er verinnerlicht und adaptiert hat. Der "Guessing Instinct" rekurriert
auf ein, wie Peirce es nennt, "divinatorisches Vermögen" ("faculry of divi
ning"),75 mit dessen Hilfe es dem Menschen in the long run gelingt, die "gehei
men Prinzipien" des Universums zu entschlüsseln und zu rationalisieren. Da
der Mensch Teil dieses Universums ist und sich "unter dem Einfluß dieser Ge
setze" entwickelt hat, kann man davon ausgehen, "that he should have a nacu
rallight, or light of nature, or instinctive insight, or genius, tending to make hirn guess those laws aright, or nearly aright" .76 Diese kongeniale, instinktive
Einsicht in die Zusammenhänge, deren Teil wir sind, bezeichnet Peirce, genau
wie Kant, als "unconscious or semi-conscious irreflective judgements of
mother-wit".77 Dabei erweist sich der" Guessing Instinct" als eine Art "herme
neutischer Spürsinn fürs Relevante", der durch die Interferenz von Instinkt und
ökonomischer Klugheitsstrategie zum "divinatorischen Verfahren" wird.78
72 Kant (Anm.13), 539. 73 Kant (Anm.60), 184ff. 74 Vgl. Peirce (Anm. 44), 282. 75 Dorr heißt es: "man divines something of the secret principles of the universe be
cause his mi nd has developed as apart of the universe and under the influence of these same secret principles" (Peirce [Anm. 5), 7.46).
76 Peirce (Anm. 5),5.604. 77 Peirce (Anm. 5), 6.623. 78 Der Begriff des "divinatorischen Erratens" spielt in Schleiermachers Hermeneutik
eine zentrale Rolle. Der Prozeß des Verstehens erfordert nämlich das Wissen um die geschichtliche Situation, die Anwendung der "allgemeinen Gesetze der Ordnung im Denken", wobei die Konjektur, ebenso wie das "Erraten", im Zentrum des "divinatorischen Verfahrens" steht (F.D.E. Schleiermacher, Hermeneutik und Kritik, hrsg. Manfred Frank, Frankfurt a.M. 1990,210 und 264). Roland Daube-Schackat hat in seinem Aufsatz "Schleiermachers Divinationstheorem und Peirce's Theorie der Abduktion" das Verhältnis beider Konzepte untersucht. Nach Schackat teilt Schleiermachers Begriff der Divination als konjekturale Erkenntnisfähigkeit mit der Abduktion ein wesentliches Merkmal, nämlich das ihrer Fallibilität (vgl. Roland Daube-Schackat, "Schleiermachers Divinationstheorem und Peirce's Theorie der Abduktion", in: K.Y. Seige [Hrsg.], Internationaler Schleiermacherkongreß Herlin 1984, Berlin und New York 1985,263-278, hier: 273).
605 604 Uwe Wirth
Mit Blick auf Peirce und Kant könnte man sagen: die auf Einfälle und Ein
sichten abzielende Phantasie des Neuen pendelt zwischen instinktivem Mutterwitz, der sich unter den Gesetzen der Natur entwickelt, und dem witzigen Ingenium, durch welches die Natur der Kunst die Regel gibt. Genie wird in der Kritik der Urteilskraft bekanntlich als Talent definiert, "dasjenige, wozu sich kei
ne bestimmte Regel geben läßt, hervorzubringen", woraus folgt, "daß Origina
lität seine erste Eigenschaft sein müsse".79 Das Genie, das "als Natur" die Re
gel gibt, ist dabei zwar"Urheber eines Produkts, welches er seinem Genie ver
dankt", aber es weiß selbst nicht, "wie sich in ihm die Ideen dazu herbei fin
den", zumal es nicht in seiner Gewalt steht, "dergleichen nach Belieben oder planmäßig auszudenken".80 Das Feld des Genies ist die Einbildungskraft, und
da diese" weniger als andere Vermögen unter dem Zwange der Regeln steht",
ist sie "der Originalität desto fähiger". 81
Gerade was die Freiheit vom Zwang der Regeln betrifft kann Kants Genie
konzept als transzendentale Unabhängigkeitserklärung von jenen drei Assozia
tionsprinzipien - "Resemblance, Contiguity in time or place, and Cause and Effect" - gewertet werden, die nach Hume einen "equal influence on all man
kind" haben. 82 Selbst in unseren "wildest and most wandering reveries, nay in
our very dreams", so Hume, könnten wir beobachten, daß sich unsere Vorstel
lungen (imaginations) nicht völlig abenteuerlich bewegen, sondern, daß es zwi
schen den verschiedenen Vorstellungen immer wieder ähnliche Verknüpfungen
(connections) und Übergänge (transitions) gibt. 83 Während die Verknüpfungs
formen zwischen den Ideen durch die "principles of association" festgelegt
werden, sind die Verknüpfungsmöglichkeiten im Rahmen der Einbildungskraft völlig frei:
"Nothing is more free than the imagination of man; and though it cannot ex
ceed that original stock of ideas furnished by the internal and external senses, it
has unlimited power of mixing, compounding, separating, and dividing these ideas, in all the varieties of fiction and vision". 84
Ganz ähnlich heißt es im Artikel "imagination" in der Encyclopedie, das
Herstellen neuer Zusammenhänge obliege einer imagination active, "qui ar
range ces images re'rues, & les combine en mille manieres".85 Diese Möglich
79 Kant (Anm.58), 242. 80 Kant (Anm.58), 243. 81 Kant (Anm.13), 544. 82 David Hume, Enquiries concerning the human understanding and concerning the
principles o( morals, Reprinted from the edition of 1777 by L.A. Selby-Bigge, Oxford 1957,48; § 39.
83 Hume (Anm. 82),23; § 18. 84 Hume (Anm.82), 47; §39. 85 Jean Le Rond D'Alembert, Denis Djderot (Hrsg.), Encycloptidie, Paris 1765, VIII,
Artikel "Imagination", 561.
Die Phantasie des Neuen als Abduktion
keit zum Arrangieren, Re-Arrangieren und Neu-Arrangieren stellt für die Asso
ziationstheorie die Voraussetzung für die Phantasie des Neuen in Form der
imagination d'invention86 dar. Kant hält diese Auffassung für unzureichend. Im Rahmen seiner Kritik an
Humes empiristischer Assoziationstheorie führt er zunächst die Unterschei
dung zwischen reproduktiver und produktiver Einbildungskraft ein. Während
die Synthesis der reproduktiven Einbildungskraft "lediglich empirischen Ge
setzen, nämlich denen der Assoziation, unterworfen ist", zeichnet sich die pro
duktive Einbildungskraft durch "Spontaneität"87 aus, also durch das Vermö
gen, nicht nur Vorstellungen zu empfangen, sondern mit Hilfe dieser Vorstel
lungen Gegenstände zu erkennen. 88 Die "produktive Einbildungskraft" ist je
doch nur ein Aspekt der imagination d'invention. Die Phantasie des Neuen ver
dankt sich der spielerischen Vermittlungsleistung der Urteilskraft, die Verstand
und Einbildungskraft in ein "glückliches Verhältnis" bringt. So besteht die spe
zifische Leistung der reflektierenden Urteilskraft als witziges Ingenium darin,
"heterogene Vorstellungen" zu "paaren", "die oft nach dem Gesetze der Ein- . bildungskraft (der Assoziation) weit auseinander liegen".89 Das Genie tran
szendiert jedoch auch noch diese verknüpfende Leistung des witzigen Ingeni
ums, denn es zeichnet sich durch das Vermögen aus, "das schnell vorüberge
hende Spiel der Einbildungskraft aufzufassen, und in einen Begriff (der eben
darum original ist und zugleich eine neue Regel eröffnet, die aus keinen vorher
gehenden Prinzipien oder Beispielen hat gefolgert werden können) zu vereini
gen, der sich ohne Zwang der Regeln mitteilen läßt" .90 Das wahre Genie zeigt
sich also darin, daß es das "glückliche Verhältnis" von Verstand und Einbil
dungskraft in einem neuen, nicht nur originalen, sondern originellen Token
zum Ausdruck bringt.
V.
Kants Bestimmung der reflektierenden Urteilskraft als Witz betrifft nicht nur
deren Vermögen, Regeln zu finden, sondern auch Ähnlichkeiten. Für die Er
kenntnistheorie des 18. JahrhundertS ist der Witz als "Ähnlichkeitsfinder" Sti
mulus jeder neuen, synthetischen und originalen Erkenntnis. Diese Auffassung bringt Lichtenberg auf den Punkt, wenn er feststellt, daß der Mensch ohne
Witz "gar nichts" sei, "denn Ähnlichkeit in den Umständen ist ja alles, was uns zur wissenschaftlichen Erkenntnis bringt, wir können ja bloß nach Ähnlichkei
86 D'Alembert, Diderot (Anm. 85), 56!. 87 Kant (Anm.60), 149. 88 Vgl. Kant (Anm.60), 97. 89 Kant (Anm.13), 537f. 90 Kant (Anm. 58),254.
607 606 Uwe Wirth
ten ordnen und behalten".91 Im Gegensatz zu Lichtenberg und Kant, die die
epistemologische Funktion des Witzes betonen, fokussiert die romantische
Theorie des Witzes dessen universale, poetische Funktion. Der Witz wird zum
Prinzip einer Universalphilosophie erklärt, die zugleich Universalpoesie ist. Er
wird zur "logischen Chemie" einer Philosophie, die sich als" Wissenschaft aller sich ewig mischenden und wieder trennenden Wissenschaften" versteht.92 Da
bei ist der "chemische" Witz Ausdruck des "organischen" Genies: beiden eignet Freiheit, beide bringen neue Ideen ins Spiel. 93 In die gleiche Richtung wie
Schlegel weist ]ean Paul, wenn er schreibt: "Freiheit gibt Witz und Witz gibt Freiheit" .94 Das kreative Potential des Witzes liegt in der spielerischen Bewegung gedanklicher Freiheit begründet:
"Aber, Himmel, welche Spiele könnten wir gewinnen, wenn wir mit unsern
einsiedlerischen Ideen rochieren könnten! Zu neuen Ideen gehören durchaus
freie; zu diesen wieder gleiche; und nur der Witz gibt uns Freiheit, indem er
Gleichheit vorher gibt, er ist für den Geist, was für die Scheidekunst Feuer und
Wasser ist, Chemica non agunt nisi soluta (d.h. nur die Flüssigkeit gibt die Freiheit zu neuer Gestaltung - oder: nur entbundne Körper schaffen neue)" .95
Sowohl von Schlegel als auch von ]ean Paul wird die "logische Chemie" des
Witzes als Möglichkeit gefaßt, Ideen in Bewegung zu halten, damit diese neue
Verbindungen eingehen und neue Reaktionen auslösen können: "Witz ist eine
Explosion von gebundenem Geist",96 lautet die Formel. Zugleich bleibt der
Witz "logische Geselligkeit" ,97 auch wenn diese Geselligkeit die gültigen inter
subjektiven Konventionen übertreten muß, um neue Verbindungen einzuge
hen. Man denke an ]ean Pauls berühmte Definition des Witzes als" verkleideter
Priester, der jedes Paar kopuliert" .98 Sie impliziert, daß zwei heterogene Vor
stellungen gepaart werden, wobei ]ean Paul am Assoziationsbegriff einen inno
vativen Tausch der Bedeutungsnuancen vornimmt - die assoziative Verknüp
fung der Ideen wird als soziale Vereinigung gedeutet. In der Encyclopedie heißt
es Unter dem Stichwort "Association": "Le plus stable de toutes les associa
91 Lichtenberg (Anm.6), 167.
92 Friedrich Schlegel, Athenäums-Fragmente, in: Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe, 1. Abteilung, hrsg. Ernst Behler, Hans Eichner, München, Paderborn, Wien 1967,11, 200, vgl. hierzu auch Eckhart Oehlenschläger, Närrische Phantasie. Zum metaphorischen Prozeß bei Jean Paul, Tübingen 1980, 12f.
93 Schlegel, Kritische Fragmente (Anm. 92), 148. 94 lean Paul, Vorschule der Ästhetik, in: Werke, hrsg. Norbert Miller, München 1980,
IX, 201.
9S lean Paul (Anm.94), 200. 96 Schlegel (Anm.93), 158. 97 Schlegel (Anm.93), 154.
98 lean Paul (Anm. 94),173. Vgl. hierzu auch: Bettine Menke, ,,]ean Pauls Witz. Kraft und I~ormel", DVjs 76 (2002),201-213, hier: 202.
Die Phantasie des Neuen als Abduktion
tions est celle qui se fait par le marriage" .99 Die Heirat erscheint als feste asso
ziative Kopplung. Das Pendant dieser festen assoziativen Kopplung in der so
zialen Welt sind die Kopula in der sprachlichen Welt. Die "Trauformel", mit
der der verkleidete Priester die witzige Vereinigung stiftet, ist die "SprachGleichsetzung im Prädikat", 100 seine Verkleidung ist die Homonymie, nämlich
daß "für beide ein Zeichen des Prädikats gefunden wird" .101 Das witzige Genie
im Sinne ]ean Pauls gibt sich nicht nur "als Natur" die Regel, sondern es zeich
net sich dadurch aus, daß es die Regeln der Kultur - etwa die illokutionären Ge
lingensbedingungen des Heiratens - phantasievoll unterläuft. Der Witz folgt
dabei der gleichen Maxime wie die Phantasie: Ersterer kopuliert jedes Paar,
letztere "macht alle Teile zu Ganzen" .102
Vergleicht man die romantische Witz- und Geniekonzeption mit der Kanti
schen, so lassen sich zwei grundlegende Unterschiede ausmachen, die für die
Frage, ob es eine den Wissenschaften und den Künsten gemeinsame Phantasie
des Neuen gibt, relevant sind. Erstens: Während Kant das regelerfindende Ta
lent des Genies darauf beschränkt, "daß die Natur durch das Genie nicht der Wissenschaft, sondern der Kunst die Regel vorschreibe", 103 nivellieren ]ean
Paul und Schlegel die Differenz zwischen dem philosophischen und dem poeti
schen Genius: "Die erfindenden Philosophen waren alle dichterisch" .104 Schle
gel geht sogar noch einen Schritt weiter, wenn er in den Kritischen Fragmenten
eine Demokratisierung des Geniegedankens fordert: "Man soll von jedermann
Genie fordern, aber ohne es zu erwarten. Ein Kantianer würde dies den katego
rischen Imperativ der Genialität nennen" .105 Zweitens: Die romantische Witz
konzeption betont, daß der Witz nicht mehr nur Finder, sondern Erfinder von
Ähnlichkeiten ist. 106 So schreibt ]ean Paul: "Der Witz allein daher erfindet, und
99 Stichwort "Association", in: Encyclopedie, hrsg. ]ean Le Rond D'Alembert, Denis Diderot, Paris 1751, I, 771.
100 ]ean Paul (Anm.94), 173ff. 101 Ebd. Zugleich unterhält der Hinweis auf den "verkleideten Priester" eine unterir
dische Verbindung zu Kancs Begriff der Subreption, den er in der Kritik der reinen Vernunft ebenso wie in der Kritik der Urteilskraft für eine bestimmte Form der Verwechslung verwendet: Der Begriff der Subreption bezeichnet sowohl einen bewußt fehlerhaften Beweisschluß, der sich auf Voraussetzungen Stützt, die nicht auf Tatsachen beruhen, als auch das unrechtmäßige Erlangen eines Erfolges durch Verschleierung des wahren Sachverhalts im juristischen Kontext. Im kanonischen Recht steht der Terminus Subreption für "die betrügerische Erschleichung eines priesterlichen Amtes" (Vgl. David E. Wellbery, "Die Enden des Menschen. Anthropologie und Einbildungskraft im Bildungsroman", in: Karlheinz Stierle, Rainer Warning [Hrsg.), Das Ende. Figuren einer Denk(orm, München 1996, 607 [fn)).
102 ]ean Paul (Anm. 94),47. 103 Kant (Anm. 58), 243. 104 ]ean Paul (Anm.94), Fn.56. lOS Schlegel (Anm.93), 148. 106 ]ean Paul bemängelt an der alten Definition des Witzes als eines Vermögens, ent
609 608 Uwe Wirth
zwar unvermittelt, daher nennt ihn Schlegel mit Recht fragmentarische Genialität" .IO?
Im Gegensatz zum "scharfsinnigen Witz", der zwischen "den gefundenen Verhältnissen kommensurabler und ähnlicher Größen wieder Verhältnisse fin
det und unterscheidet", stellt der ästhetische Witz"Verhältnisse inkommensur
abler (unmeßbarer) Größen" her, "d.h. die Ähnlichkeiten zwischen Körper
und Geisteswelt", wobei diese Ähnlichkeit durch einen "Instinkt der Natur"
erzwungen wird, mithin "offen und stets auf einmal da[liegt] " .108 Diese Form
des Witzes wird zu einem Licht, das "aus der Wolke selber fährt", 109 ist also ein
Gedankenblitz: "Den Witz und den komischen Einfall erschöpft und entladet,
wie den zickzackigen Blitz, der erste Schlag" .110 Auch Schlegel spricht vom
"geistige[n] Blitz des Verständnisses, der aufsteigt, wenn in der unmittelbaren
Berührung der Sinn aufgefaßt wird". Dieser Gedankenblitz ist als "augenblick
liche Schöpfung des Geistes, sozusagen eine Schöpfung aus nichts". Dabei ist
dieses schöpferische Berühren des Geistes für Schlegel nichts anderes "als ein Dichten".111
VI.
Die Rede vom "Gedankenblitz" hat, wie die Blitzmetaphorik überhaupt, so
wohl für die romantischen als auch für die nachromantischen Theorien der
künstlerischen Produktivität zentrale Bedeutung. So vergleicht Konstantin
Pausrowski den Einfall mit einem Blitz, der sich in einer angestauten, gewittri
gen Atmosphäre entlädt: "Der Einfall kommt ebenso wie der Blitz in einem mit Gedanken, mit Gefüh
len und Gedächtnisnotizen gesättigten Bewußtsein eines Menschen zustande.
fernte Ähnlichkeiten zu finden, daß hier "weder ,entfernte' bestimmt, noch ,Ähnlichkeit' wahr" sei. Der Begriff der" fernen Ähnlichkeit" sei ein Widerspruch in sich, da er soviel wie "Unähnlichkeit" bedeute, während der zweite Teil der Definition den Witz als "Finder der Ähnlichkeit" ganz vom Scharfsinn, als "Finder der Unähnlichkeit" trennt. Jean Paul betont dagegen, daß nicht nur "die Vergleichungen des Witzes oft Unähnlichkeiten" ergeben, sondern auch "die Vergleichungen des Scharfsinnes" oft Ähnlichkeiten hervorbringen (Jean Paul [Anm.94], 169f.).
107 Jean Paul (Anm. 94), 171. 108 Jean Paul (Anm. 94), 172. Interessant ist hier Jean Pauls Bezugnahme auf den In
stinkt, der dem Auffinden von Ähnlichkeiten zugrunde liegt. An anderer Stelle schreibt er in völliger Übereinstimmung mit der Peirceschen Bestimmung des Instinktes: "Der Instinkt oder Trieb ist ein Sinn der Zukunft [...]. Er bedeutet und enthält seinen Gegenstand ebenso wie die Wirkung die Ursache" (60).
109 Jean Paul (Anm. 94), 172. 110 Jean Paul (Anm.94), 470. 111 Friedrich Schlegel, Philosophische Vorlesungen (1800-1807), in: Kritische Fried
rich-Schlegel-Ausgabe, hrsg. Jean Jacques Anstert, Ernst Behler, München, Paderbom, Wien 1964, XIII, 374f.
Die Phantasie des Neuen als Abduktion
Das sammelt sich alles nach und nach, langsam, bis es jenen Grad von Span
nung erreicht, der unbedingt eine Entladung verlangt. Dann bringt diese ge
drängte und noch etwas chaotische Welt einen Blitz - den Einfall- hervor" .112
Der Blitz stellt aber auch eine systematische Beziehung zwischen "Witz" und
"Abduktion" her: Die abduktive Vermutung verdankt sich nämlich einem
blitzartigen Akt der Einsicht: "The abductive suggestion comes to us like a flash".113 Die Abduktion ist ein Gedankenblitz, dessen Pointe in der Idee "of
putting together what we had never before dreamed of putting rogether" be
steht. 114 Zwar waren die verschiedenen Elemente der Hypothese zuvor in unse
rem Geist, aber erst die konjekturale Idee, diese Elemente "zusammenzuwer
fen", läßt blitzartig eine neue Vermutung entstehen - "Aashes the new sugge
stion before our contemplation" .115 Den abduktiven Gedankenblitz kann man
mit Lorenz als "Fulguration " begreifen,116 als Vorgang, bei dem auf einmal et
was noch nie Dagewesenes entsteht.
Die Idee, zwei Elemente, die gemeinsam assoziiert werden, auch konjektural
in eine logische Relation zueinander zu stellen, vollzieht sich im Modus ästheti
scher Plötzlichkeit. Genau wie die witzige Ideen-Rochade ]ean Pauls stellt die
Abduktion als "Kurzschluß" neue Zusammenhänge her. Witz und Abduktion
sind "rekontextualisierende Operationen" der Phantasie. Diese Rekontextuali
sierungsbewegung nimmt einen "innovativen Tausch" vor, der entweder als Rochade von Prämissen oder aber als Aufpfropfung (greffe) im Sinne Derridas
gedeutet werden kann. Das heißt, Witz und Abduktion beruhen auf der nicht
zu sättigenden Möglichkeit, Gedanken-Zeichen aus Kontexten herauszulösen
und auf neue Kontexte aufzupfropfen. lI ? Die Bedingung für die abduktive
ebenso wie für die witzige Entladung ist eine Mischung aus angespannter Er
wartung einerseits und schlagartiger Verknüpfung von ungebundenen Elemen
ten - "freien Ideen" im Sinne ]ean Pauls - andererseits. Solch ein "indetermi
nierter Zustand" ist nach Bohrer konstitutiv für den "kreativen Augenblick",
der eine plötzliche, schlagartige Veränderung des Bewußtseins bewirkt: "Eine solche Veränderung ist eine Entscheidung, nennen wir sie nun ,existentiell'
112 Konstantin Paustowski, "Der Blitz", in: M. Curtius (Hrsg.), Seminar: Theorien der künstlerischen Produktivität, Frankfurt a.M. 1976, 280f.
113 Peirce (Anm.5), 5.181. 114 Peirce (Anm.5), 5.181. 115 Peirce (Anm.5), 5.181. 116 Der Begriff der "Fulguration" wird von Konrad Lorenz eingeführt, um "das Auf
treten von total Neuern, von nie Dagewesenem" zu bezeichnen. Vgl. Kar! R. Popper und Konrad Lorenz, Die Zukunft ist offen. Das Altenberger Gespräch, hrsg. F. Kreuzer, München, Zürich, 6. Aufl. 1994, 15f.
117 Vgl. Jacques Derrida, "Signature evenement contexte", in: ders., Marges de Ja philosophie, Paris 1972,365-393, hier: 381.
611 610 Uwe Wirth
oder den Prozeß intuitiver Erleuchtung" .118 Die Blitzanigkeit des Einfalls im
pliziert, daß die Gedanken durch eine innere logische Chemie - sei es in Form
einer instinktiven, assoziativen Suggestion, sei es in Form eines freien, witzigen
Kurzschlusses - miteinander verknüpft werden. Die Rede vom abduktiven Ge
dankenblitz verweist aber auch auf den Kairos-Begriff als Moment der Offen
barung und des "großen Augenblicks" .119 Dieser wird zugleich als etonnement und als überraschende, schlagartige Umkehr aufgefaßt. 120
Für Peirce ist die Motivation für die blitzartige, abduktive Synthese ein plötz
lich entfachtes, unsystematisches und subjektives Erkenntnisinteresse in Form
eines unkontrollierten, vergnüglichen Gedankenspiels: "But when in the un
controlled play of that part of thought, an interesting combination occurs, its
subjective intensity increases for a shon time with great rapidity" .121 Bemer
kenswerterweise ist die Kantische Beschreibung der durch den Witz ausgelö
sten gedanklichen Bewegung beinahe gleichlautend. Nach Kant erregt der Witz
Interesse, "und zwar durch Ideen" .122 Diese Ideen setzen "die Einbildungskraft
in Bewegung, welche für dergleichen Begriffe einen großen Spielraum vor sich
sieht" .123 Bei Peirce wird diese Bewegung durch eine Ideenkombination ausge
löst, die die Aufmerksamkeit steigert: entweder durch Überraschung und
Schock oder durch Suggestion und Affektion. 124 Diese subjektive Intensität des
"direkten Bewußtseins" besteht in der Entdeckung eines neuen, kohärenten
Zusammenhangs aufgrund einer interessanten Ähnlichkeitsrelation. Dabei er
weist sich die Abduktion als "Logic of Discovery".
Die Abduktion repräsentiert als Originary Argument in ihren Prämissen
Fakten, "which present a similarity to the fact stated in the Conclusion" .l25
Das heißt, zwischen dem propositionalen Gehalt der Prämissen und dem pro
positionalen Gehalt der Konklusion besteht eine Ähnlichkeitsassoziation, die
einem Analogieschluß Vorschub leistet: "we are not led to assert the Conclu
sion positively but are only inclined toward admitting it as representing a fact
of which the facts of the Premiss constitute an Icon" .126 Wir betrachten mithin
die Konklusion "als ob" sie eine Tatsache repräsentiert, die zu der in der Prä
118 Karl-Heinz Bohrer, Plätzlichkeit - Zum Augenblick des ästhetischen Scheins, Frankfurt a.M. 1981, 82.
119 Vgl. Klaus Ley, "Kunst und Kairos - Zur Konstitution der wirkungsästhetischen Kategorie von Gegenwärtigkeit in der Literatur", Poetica 17 (1985), 46-82, hier: 46.
120 "Im ,etonnement', im Augenblick der höchsten Einsicht, der ganzen ,Wahrheit' kommt die radikale Betroffenheit, die in der Imagination durchlebt wird, zu voller Wirkung" (Ley [Anm.119J, 48).
121 Peirce (Anm. 5), 7.555. 122 Kant (Anm.13), 544. 123 Kant (Anm. 13), 544. 124 Vgl. Peirce (Anm. 5), 7.397. 125 Peirce (Anm. 5), 2.96. 126 Peirce (Anm. 5), 2.96.
Die Phantasie des Neuen als Abduktion
misse repräsentierten Tatsache in einer ikonischen Ähnlichkeitsrelation steht.
Der abduktive Einfall kommt durch eine überraschende Ähnlichkeitsassozia
tion zustande, eine Ähnlichkeitsassoziation also, die nicht einfach durch ein ex
plizit gegebenes Prädikat zustandekommt, sondern durch ein implizit präsup
poniertes.
Peirce nennt als Beispiel Keplers "revolutionäre" Theorie über die Umlauf
bahn des Mars. Nachdem Kepler lange Zeit vergeblich über die verschiedenen
Möglichkeiten nachgedacht hatte, die Daten mit der präfigurierten Vorstellung
einer runden Umlaufbahn in Einklang zu bringen, nahm er versuchsweise eine
elliptische Form an, das heißt, er ersetzte die major-Prämisse seiner Argumen
tation. 127 Tatsächlich paßten die aus Beobachtung resultierenden Daten in ein
Diagramm, das eine elliptische Form hatte. Mithin bestand eine ikonisch-dia
grammatische Relation zwischen der hypothetischen major-Prämisse und der
Konklusion, nämlich den beobachteten Daten.
Die der ikonischen Bezeichnungsweise zugrundeliegende Anziehungskraft
des Ähnlichen ruft eine "sympathetische" Reaktion hervor, die auf den Inter
preten "suggestiv" wirkt. 128 Die Suggestion verstärkt entweder ein bestehendes
Kontiguitätsverhältnis, oder sie stellt einen neuen analogischen Zusammen
hang durch eine willkürlich auferlegte Ähnlichkeitsbeziehung her. 129 Die bei
der Abduktion zwischen Konklusion und Prämisse bestehende "ikonische Sug
gestivkraft" stellt den"witzigen Stimulus" für das Erkenntnisvermögen dar.
Aus dieser suggestiven Anregung des Erkenntnisvermögens kann "neue Er
kenntnis" erwachsen, sie kann aber auch ein reines Spiel der Phantasie bleiben.
In beiden Fällen handelt es sich um Gedankenspiele. In beiden Fällen läßt sich
die abduktive "creation of hypothesis" als "grand work of poietic genius" be
zeichnen. 130
VII.
In seinem Essay Hume on Miracles beschreibt Peirce das Gedankenspiel als
"certain agreeable occupation of mind", das keinen anderen Zweck verfolgt,
127 Vgl. hierzu auch Alan G. Gross, The Rhetoric of Science, Cambridge 1990. 128 Vgl. Peirce (Anm.5), 8.370ff. 129 Vgl. Roman ]akobson, "Die Sprache in ihrem Verhältnis zu anderen Kommunika
tionssystemen" , in: Eugenio Coseriu (Hrsg.), Form und Sinn, München 1974, 162-175, hier: 171.
130 Peirce (Anm. 5),4.238. Siehe hierzu auch Michael Ca bot Haley, The Semiosis of Poetic Metaphor, Bloomington 1988, der den metaphorischen Erkenntniszuwachs mit einer wissenschaftlichen Entdeckung vergleicht: "My point is simply that the same realiry can be the object of either kind of hypothesis, scienrific or metaphorical, and that what makes the scientific hypothesis prove successful is an indispensable part (though not the whole) of what makes a metaphorical connection ,poetic' - its approximation to realiry." (52)
613 612 Uwe Wirrh
als "casting aside all serious purpose" .131 Dieser Geisteszustand kann entwe
der die Form der reverie, also des Tagtraums, oder des Musement, also der Grü
belei, annehmen. In beiden Fällen handelt es sich um Pure Play, das nur eine
Regel kennt: "this very law of liberty" .132 Dieses Spiel kann als ästhetische
Kontempla tion ("aesthetic contemplation") in Erscheinung treten oder als
imaginäres "castle building", als Spekulation über wie auch immer geartete
Verknüpfungen ("connection") zwischen den drei "Universen" Gedankenwelt, Zeichenwelt, Außenwelt bzw. als Spekulation über die möglichen Ursa
chen dieser Verknüpfungen. Eben diese "speculation concerning its cause"
zeichnet das Musement, also das grübelnde Gedankenspiel, aus. 133
Die Peircesche Formulierung, daß das "reine Spiel" keine andere Regeln
kennt als das "Gesetz der Freiheit", geht auf Kant und Schiller zurück. 134 Bei
Kant ist es das "freie Spiel der Einbildungskraft",135 die im "freien Spiel der
Ideen [...] und ohne bestimmten Zweck die ästhetische Urteilskraft [beschäf
tigt]" .136 Schiller betont, daß das Spiel als "freie Bewegung" der Einbildungs
kraft und als "ungezwungene Folge von Bildern" ohne jeden "äußeren sinnlichen Zwang" entsteht und sich "ihrer Eigenrnacht und Fessellosigkeit" freut.
Aus dem "Spiel der freien Ideenfolge" macht die Einbildungskraft "in dem Versuch einer freien Form den Sprung zum ästhetischen Spiele" .137 Die Sprunghaf
tigkeit rührt, so Schiller, daher, daß
"sich eine ganz neue Kraft hier in Handlung setzt; denn hier zum erstenmal
mischt sich der gesetzgebende Geist in die Handlungen eines blinden Instinktes,
unterwirft das willkürliche Verfahren der Einbildungskraft seiner unveränder
lichen ewigen Einheit, legt seine Selbständigkeit in das Wandelbare und seine Unendlichkeit in das Sinnliche" .138
Der Sprung kommt bei Schiller als "ganz neue Kraft" ins ästhetische Spiel,
die der Subsumption des blinden Instinkts und der Willkür der Einbildungs
kraft unter ein allgemeines Postulat dient: einer auf Einheit abzielenden Konsi
stenzbildung. Schlegel betont dagegen, daß die Sprunghaftigkeit Symptom je
131 Peirce (Anm. 5), 6.458. lJ2 Peirce (Anm.5), 6.458. 133 Peirce (Anm.5), 6.458. 134 Tatsächlich las Peirce nicht nur über mehrere Jahre hinweg täglich in der Kritik der
reinen Vernunft, sondern er beschäftigte sich in jungen Jahren mit Schillers Briefe über die ästhetische Erziehung des Menschen, wie eine Anmerkung aus dem Jahre 1857 belegt. Vgl. Charles Sanders Peirce, Writings ofCharles S. Peirce. A Chronological Edition, Volurne 1.1857-1866, M. Fisch, Ch. J. Kloesel, E.C. Moote u.a. (Hrsg.), BJoomington 1982, 10ff.
135 Kant (Anm. 60), 261, fn. 136 Kant (Anm. 60), 262. m Friedrkh Schiller, Über die Ästhetische Erziehung des Menschen, in: Sämtliche
Werke, hrsg. G. Fricke, H.G. Göpferr, München 1967, V, 663f. 138 Schiller (Anm. 137), 663f.
Die Phantasie des Neuen als Abduktion
ner Bindungsfreiheit sei, die die Voraussetzung für die "logische Chemie" des
Witzes ist. Der Strom unseres Bewußtseins folgt, wie Schlegel in Von der natür
lichen Gedankenfolge schreibt, den Assoziationsgesetzen Kontiguität und Si
milarität. Doch bleibt "der Freiheit und willkürlichen Selbstbestimmung des
Menschen ein großer Spielraum offen".139 Die Freiheit der willkürlichen
Selbstbestimmung erscheint als chaotische Regellosigkeit der Einbildungs
kraft, doch auch ihr unterliegt ein Gesetz, nämlich das "genetische Gesetz" des "Überspringens in das Gegenteil" .140 So besitzt die Einbildungskraft die
Macht, "sich mit raschem, kühnen Fluge auf die höchste Höhe der Gedanken
zu erheben, und dann plötzlich auf das Entgegengesetzte überzuspringen".141
Dieser "plötzliche Wechsel" in Form des Sprungs ins Gegenteil beschreibt eine
Form der Ambivalenz, die, indem sie einen Gedanken ins Gegenteil verkehrt,
entweder eine überraschende Kohärenz oder eine überraschende Inkohärenz
herstellt.
Auch für Peirce sind Sprung und Spiel die treibenden Kräfte des Erkenntnis
prozesses - und zwar nicht nur des ästhetischen, sondern auch des wissen
schaftlichen: Die Wissenschaft kommt hauptsächlich durch Sprünge (Ieaps)
voran, "and the impulse for each leap is either some new observational re
source, or some novel way of reasoning about the observations" .142 Die "neue
Kraft" der Erkenntnis ist entweder eine neue Erkenntnisquelle oder ein neuer
Denkweg, sie löst entweder innerhalb eines bestehenden Paradigmas oder aber
als Paradigmenwechsel Erkenntnissprünge aus. Die epistemologische Pointe
des Erkenntnissprungs besteht - ganz im Sinne Kuhns - darin, die Aufmerk
samkeit auf bislang unbemerkte Zusammenhänge zu lenken: ,,[...] it draws at
tention to relations between facts which would previously have been passed
unperceived" .143 Dabei wird der "sprunghafte" Modus der Aufmerksamkeits
verschiebung zumeist von einem "spielerischen" begleitet, nämlich dem Ge
dankenspiel.
Das Musement beginnt mit einem"vagen Eindruck", den man an irgendei
ner Stelle in einem der drei Universen gewinnt. Gesucht werden sowohl neue Transformationsmöglichkeiten zwischen den verschiedenen Bereichen als auch
neue assoziative Zusammenhänge innerhalb eines Bereichs. Die Spezifikation
und Intensivierung unserer Beobachtungen und Reflexionen können aus dem Gedankenspiel, etwa dem imaginären "castle building",144 wissenschaftliches
139 Friedrich Schlegel, Von der natürlichen Gedankenfolge, in: Kritische FriedrichSchlegel-Ausgabe, Iusg. Ernst Behler, Hans Eichner, München, Paderborn, Wien 1964, XIII, 290.
140 Schlegel (Anm. 139),293. 141 Schlegel (Anm. 139), 296. 142 Peirce (Anm.5), 1.109. 143 Peirce (Anm.5), 1.109. 144 Peirce (Anm.5), 6.458.
615 614 Uwe Wirth
Studium werden lassen. 145 Sie können aber auch bloßes ästhetisches Spiel blei
ben. Insofern ist ein"wildes Spiel der Vorstellungen" ("wild play of the imagination") das"Vorspiel der eigentlichen Wissenschaft" .146 Das Gedankenspiel
wird damit zur Grundlage einer außerhalb und innerhalb der Wissenschaften
wirksamen Phantasie des Neuen, die für Peirce im "Bauen von Luftschlössern"
besteht:
"every man who does accomplish great things is given to building elaborate
castles in the air and then painfully copying them on solid ground. Indeed, the
whole business of ratiocination, and all that makes us intellectual beings, is performed in imagination" .147
Ratiocination ist für Peirce nicht nur ein Synonym für das Produzieren von
Inferenzen,148 sondern bezeichnet auch den Transformationsprozeß, durch den
der vormethodische Instinkt in die methodische Rationalität der logischen und
ökonomischen Prinzipien erfolgreichen Schlußfolgerns moduliert wird. Dieser
Transformationsprozeß muß den Umweg über die Imagination nehmen, um in
novativ zu werden. In die gleiche Richtung zielen Ernst Machs Überlegungen
zur Psychologie der Forschung, die er in Erkenntnis und Irrtum zeitgleich mit
Peirce entfaltet:
Der Projektenmacher, der Erbauer von Luftschlössern, der Romanschreiber, [...] der Dichter sozialer oder technischer Utopien experimentiert in Gedanken. Aber auch der solide Kaufmann, der ernste Erfinder oder Forscher tut dasselbe. Alle stellen sich Umstände vor, und knüpfen an diese Vorstellung die Erwartung, Vermutung gewisser Folgen; sie machen eine Gedankenerfahrung. Während aber die ersteren in der Phantasie Umstände kombinieren, die in Wirklichkeit nicht zusammentreffen, oder diese Umstände von Folgen begleitet denken, welche nicht an dieselben gebunden sind, werden letztere, deren Vorstellungen gute Abbilder der Tatsachen sind, in ihrem Denken der Wirklichkeit sehr nahe bleiben. 149
Offensichtlich ist die Annahme, daß es eine den Wissenschaften und Künsten
gemeinsame Phantasie des Neuen gibt, nicht nur für die Romantiker "um
1800", sondern auch für die Wissenschaftstheoretiker "um 1900" eine Selbst
verständlichkeit. Eine interessante Anschlußmöglichkeit eröffnen Freuds Über
legungen zu Der Dichter und das Phantasieren. Dort heißt es: Wer phantasiert "baut sich Luftschlösser, schafft das, was man Tagträume nennt" .150 In
teressant ist diese Anschlußmöglichkeit nicht nur wegen der an Peirce und
Mach erinnernden Verknüpfung von Phantasie, Luftschloß und Tagtraum,
145 Peirce (Anm.5), 6.459. 146 Peirce (Anm.5), 1.235. 147 Peirce (Anm.5), 6.286. 148 Peirce (Anm. 5),4.39. 149 Ernst Mach, Erkenntnis und Irrtum. Skizzen zur Psychologie der Forschung, Leip
zig, 3.Aufl.1917, 186ff. 150 Freud (Anm. 1), 172.
Die Phantasie des Neuen als Abduktion
sondern weil Freud die Logik des Tagtraums durch die Logik des Traums be
stimmt.
VIII.
Für Freud vollzieht die Traumarbeit die Umwandlung des latenten Traumge
dankens in einen manifesten. Die Aufgabe der Traumdeutung besteht darin, zu
erklären, durch welche Transformationsprozesse (nämlich Verdichtung und
Verschiebung) aus dem latenten Traumgedanken der manifeste Traum ent
steht. Die Oberflächenstruktur wird als Resultat eines Transformationsprozes
ses aufgefaßt, der mittels Verdichtung und Verschiebung Wahrnehmungsein
drücke aus ihrer bisherigen assoziativen Verkettung herauslöst und aus den
freien, "ungebundenen Elementen" neue assoziative Verknüpfungen herstellt.
Diese gehorchen nicht mehr der Logik der Realitätswahrnehmung, sondern der
"phantastischen" Logik des Wunschgedankens. Indem der Traum die "natürli
ehen", assoziativen Verknüpfungen auflöst, die als "primary ideas" der Wahr
nehmung und "secondary ideas" des Denkens unter dem Druck des Realitäts
prinzips eingegangen sind, leistet er die Vorarbeit für deren witzige Neuver
knüpfung. Der Traum ist sozusagen das Lösungsmittel im Baukasten der witzi
gen Chemie: Er bewirkt die Verflüssigung starrer Verknüpfungen, die Locke
rung fester Kopplungen und gibt so "Freiheit zu neuer Gestaltung". In Anleh
nung an ]ean Pauls Witztheorie könnte man sagen: Nur vom Druck des Reali
tätsprinzips "entbundne Ideen schaffen neue" .151 Tatsächlich betont Freud die
Analogie zwischen "Traumarbeit" und "Witzarbeit". Insbesondere der Ver
dichtungsvorgang beim Traum zeigt "mit dem der Witztechnik die größte Ähn
lichkeit" .152
Während der Traumarbeit erfährt das Material der Traumgedanken "eine ganz außerordentliche Zusammendrängung oder Verdichtung. Ausgangspunk
te derselben sind die Gemeinsamkeiten, die sich zufällig oder dem Inhalt gemäß innerhalb der Traumgedanken vorfinden".153 Der zweite Umwandlungsvor
gang ist die Traumverschiebung: "Dieselbe äußert sich darin, daß im manifesten Traum zentral steht und mit großer sinnlicher Intensität auftritt, was in
den Traumgedanken peripherisch lag und nebensächlich war; und ebenso umgekehrt" .154 Der Traum leistet also sowohl einen "innovativen Tausch" von
Ähnlichkeiten als auch eine "Umwertung der Werte", was die Relevanzstrukturen betrifft: Das Realitätsprinzip wird marginalisiert, während das Wunschdenken eine zentrale Rolle beansprucht, die ihm freilich immer wieder streitig
151 Jean Paul (Anm. 94), 200. 152 Sigmund Freud, Der Witz und seine Beziehung zum Unbewussten, in: Studienaus
gabe, Psychologische Schriften, Frankfurt a.M. 1970, IV, 31. 153 Freud (Anm.152), 153. 154 Freud (Anm. 152), 153f.
617 616 Uwe Wirth
gemacht wird. So deuten die Verschiebungen, etwa die "Ablenkung vom Ge
dankengang" bei der Traumarbeit, auf die Einwirkung der Zensur des bewuß
ten, "kritischen" Denkens hin.
Der Unterschied zwischen Witz und Traum besteht darin, daß der Witz, an
ders als der Traum, keine Kompromisse eingeht: "er weicht der Hemmung
nicht aus, sondern er besteht darauf, das Spiel mit dem Wort oder dem Unsinn
unverändert zu erhalten".155 Der Traum ist ein "unkenntlich gemachter
Wunsch", der Witz "ein entwickeltes Spiel", das nicht nur der Unlustersparnis,
sondern explizit dem Lusterwerb dient. 156 Die Motivation des Witzes liegt in
der Suche nach Quellen der Lust, welche aus der Möglichkeit des freien Spiels
und des Unsinns hervorgehen. Die gemeinsame Tendenz des Witzes und des
Spiels besteht darin, sich "dem Drucke der kritischen Vernunft zu entzie
hen" ,157 um so eine "Ersparnis an Hemmungsaufwand" zu erzielen. Dabei be
dient sich der Witz genau wie die abduktive Konjektur eines Mittels der Ver
knüpfung, welches, wie Freud bemerkt, "vom ernsthaften Denken verworfen
und sorgfältig vermieden wird". 158 Gemeint ist die Auslassung der hinführen
den Gedankenwege, also das Auslassen der Mittelglieder bzw. die Enthymema
tisierung des argumentativen Zusammenhangs. Der Witz führt unter einem lo
gischen Gesichtspunkt zu einem unerlaubten und überraschenden Sprung, zu
einem inkohärenten Kurzschluß des Denkens, welcher dadurch Lust erzeugt,
daß er gedankliche Arbeit oder "Hemmungsaufwand" erspart.
"Die Witzlust aus solchem ,Kurzschluß' scheint auch um so größer zu sein, je
fremder die beiden durch das gleiche Wort in Verbindung gebrachten Vorstel
lungskreise einander sind, je weiter ab sie voneinander liegen, je größer also die
Ersparung an Gedankenweg durch technische Mittel des Witzes ausfällt".159
Eben deshalb erscheinen Witz und kreative Abduktion als überraschender
Kurzschluß des Denkens, als Gedankenblitz, der, bestimmte Mittelglieder
überspringend, den Gedankenweg abkürzt und dennoch eine unvorhersehbare
Einheit stiftet. Zugleich zeigt sich hier, daß Freuds Witztheorie eine interessante
Modulation jenes Prinzips vornimmt, das nach Peirce die leitende Überlegung
der Abduktion ist: dem Ökonomieprinzip. In seiner pragmatischen Lesart ist
das Ökonomieprinzip eine rationale Strategie der "Optimierung des Wissens".
Die epistemologische Gewitztheit besteht darin, sich unnötigen Aufwand zu er
sparen, um "kostengünstig" ans Ziel zu kommen. In seiner psychoanalytischen
Lesart wird die "Ersparnistendenz" dagegen zu einer innovativen Strategie des
Unbewußten, die die Konventionen der Logik und der Gesellschaft unterläuft,
um sich Aufwand zu ersparen, der normalerweise nötig wäre. Die Phantasie
155 Freud (Anm.152), 161. 156 Freud (Anm.152), 169. 157 Freud (Anm.152), 119. 158 Freud (Anm. 152), 75. 159 Freud (Anm.152), 114.
Die Phantasie des Neuen als Abduktion
des Neuen, die sich im Spiel, im Traum, im Witz offenbart, dient weniger dem
Erkenntnisgewinn als dem Lustgewinn. Auch das Verhältnis von Tagtraum und Abduktion erweist sich bei genaue
rer Betrachtung als ambivalentes. Wie bereits erwähnt, erlaubt der Pragmatis
mus "jeden Flug der Imagination" - worunter auch Tagträume und Gedanken
spiele zu verstehen sind - allerdings nur unter der Voraussetzung, daß diese
schließlich in einen Erkenntnisgewinn umgemünzt werden können,160 andern
falls werden Tagtraum und Gedankenspiei zur " Phantasterei ". So schreibt
Kant in seiner Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, wer den"Vergleich
mit den Gesetzen der Erfahrung habituell unterläßt (wachend träumt)", werde
zum "Grillenfänger" bzw. zum Phantasten: "Unerwartete Anwandlungen des
Phantasten heißen Überfälle der Phantasterei (raptus)" .161 Bemerkenswerter
weise bedeuten die Ausdrücke "raptus" und "abduction" beide das gleiche:
Entführung. Die abduktive Phantasie - aber eben auch die abduktive Phanta
sterei - entführen die Imagination in einen neuen Kontext: sei es als Ideen-Rochade, sei es als Aufpfropfung. Das Resultat dieser Gedankenentführung ist
nicht immer nur geniale Sinnstiftung, sondern oft auch "originaler Unsinn" .162
Als blitzhafte Konjektur eröffnet die Abduktion zwar "neue Perspektiven", er
weist sich mithin als Phantasie des Neuen, steht aber zugleich auch in der Ge
fahr, daß sich die neue Perspektive nicht als plausible, innovative Theorie er
weist, sondern als bloße Phantasterei.163 Dies belegt die folgende Geschichte,
die Peirce als Beispiel für "höchst unplausible Theorien" anführt:
Angenommen, eine Lärche wurde vom Blitz getroffen, und jemand, der ein Liebhaber eben dieser Baumart ist, fragt sich, warum es ausgerechnet die Lärche getroffen hat und nicht einen anderen Baum, und er erhält die folgende Erklärung: Vielleicht gibt es dort oben in den Bergen einen Adlerhorst, und vielleicht hat der männliche Vogel, um sein Nest zu bauen, einen Ast benutzt, in dem ein Nagel steckte. Und einer der kleinen Adler hat sich vielleicht an dem Nagel verletzt, so daß Mutter Adler Vater Adler dafür getadelt hat, daß er einen so gefährlichen Ast benutzte. Er, verärgert von ihren Vorwürfen, mag sich dazu entschlossen haben, den Ast weit weg zu bringen. Und während er unterwegs war, begann das Gewitter. Der Blitz schlug in den Nagel ein und wurde vom Eisen so abgeleitet, daß er die Lärche traf. Natürlich ist dies nur eine Annahme, aber um herauszufinden, warum der Baum getroffen wurde, sollte man sich auf die Suche nach dem Adlerhorst machen. 164
Das" überraschende Phänomen" wird hier nicht mit einer instinktgeleiteten,
plausiblen Theorie erklärt, sondern mit einem ebenso überraschenden wie in
160 Peirce (Anm.5), 5.196. 161 Kant (Anm. 13),513. 162 Kam (Anm. 58),242. 163 Dieses "Kippen" ins Unplausible kann jedoch auch die Form der "abduktiven
Dummheit" annehmen. Vgl. Uwe Wirth, Diskursive Dummheit. Abduktion und Komik als Grenzphänomene des Verstehens, Heidelberg 1999, 155f.
164 Peirce (Anm. 5), 2.662, meine Übersetzung.
618 UweWirth
gemosen Erklärungsversuch verknüpft. Dieser gründet zwar auch auf einer "kreativen Abduktion", ist aber nicht als wissenschaftliche Hypothese zu werten, da er sich nicht überprüfen läßt. Bei der oben angeführten "narrativen Hypothese" handelt es sich um einen Erklärungsversuch, der so innovativ ist, daß er als poetische Phantasterei gewertet werden muß. Entscheidend für unsere Fragestellung ist jedoch ein anderer Umstand, nämlich daß sich die "creation of hypothesis" im Rahmen der Wissenschaften und im Rahmen der Künste gleichermaßen abduktiven Operationen verdankt, die als "grand work of poietic genius" zu werten sind,165 auch wenn sie in beiden Domänen vor dem Hintergrund verschiedener Geltungsansprüche bewertet werden. Mit anderen Worten: Die Abduktion ist eine Phantasie des Neuen, die gleichsam "an der Schwelle" zwischen Wissenschaft und Kunst operiert, sozusagen als Obergangsphantasie.
165 Peirce (Anm. 5),4.238.