Justyna A. Turkowska, Gießen
Im Namen der „großen Kolonisationsaufgaben“:
Das Hygiene-Institut in Posen (1899–1920) und
die preußische Hegemonialpolitik in der Ostmark*
Am 12. April 1913 versammelten sich in Posen, der Hauptstadt der gleichnamigen preußischen Provinz, über einhundert geladene Gäste – politische Amtsträger, Vertreter der Ärzteschaft, der lokalen Presse, lokaler Vereine und die Repräsentanten lokaler (vor allem deutschsprachiger) Eliten – zu einem Eröffnungsfrühstück und zur symbolischen Übergabe eines goldenen Schlüssels zum neuen Gebäude des bereits 1899 eingerichteten Posener Hygiene-Instituts.1 Mit festlichen Ansprachen wurde an die Entstehungsgeschichte des Instituts erinnert, und es wurde seine Rolle, unter anderen auf den Gebieten der Seuchenbekämpfung, der Wasserkanalisation, des Desinfektionswesens, aber auch der kulturellen Entfaltung der Region hervorgehoben. Ministerialdirektor Dr. Kirchner lobte das Institut als eine neue „Pflegestätte der Wissenschaft“ in der Stadt und der Provinz; es würde das Bild von beiden verändern, zu ihrer Entwicklung beitragen und sei dabei, „weiterhin zu wirken und Gutes zu leisten zum Wohle der Wissenschaft, der Stadt und des Volkes!“ 2. Gemeint war hier vor allem die wissenschafts- und wissenspopularisierende Funktion des Instituts, seine Forschungstätigkeit, seine beratende Rolle bei städtischen Modernisierungsprojekten und bei der Implementierung von gesundheitspolitischen Maßnahmen sowie seine die Gesellschaft nachhaltig verändernde und normierende hygienisch-kulturelle „Hebungsmission“, die bei der Ersteröffnung vierzehn Jahre zuvor, sowohl in der medialen Berichterstattung als auch seitens der Gründer und Unterstützer des Instituts, stark angepriesen worden war.3 Diese besonders kraftvoll von Institutsdirektor Erich Wernicke4 vorgenommene Betonung „des Gedankens der kulturellen Hebung“5 mag im ersten Moment verwundern. Schließlich wurde hier keine Bibliothek und kein Museum eingeweiht,
* Der Text wurde zuletzt am 20. Oktober 2013 aktualisiert.1 Das Institut wurde zwar bereits im Jahre 1899 eingerichtet, war aber zunächst in einem ihm nur
vorübergehend zur Verfügung gestellten und seinen Ansprüchen wenig entsprechenden Gebäude untergebracht. Das neue Institutsgebäude wurde Am Königsberg 25, gleich neben der Königlichen Akademie gebaut. Es wurde am 12.04.1913 eingeweiht, aber aufgrund diverser Kleinarbeiten im Institutsinneren fand die endgültige Bauabnahme erst am 11.11.1913 statt. Vgl. PNN (13.04.1913), Nr. 4222, erstes Beiblatt; Wielkopolska Biblioteka Cyfrowa (WBC), http://www.wbc.poznan.pl/dlibra/docmetadata?id=74057& from=&dirids=1&ver_id=&lp=2&QI=: Bericht über den Geschäftsbetrieb am Königlichen Hygienischen Institute zu Posen während des Etatjahres 1913, S. 3–4 (ges. 10.11.2012).
2 Dr. Kirchner, Ansprache zit. nach: Bericht aus der Einweihung des Neubaues des Hygiene-Instituts In: PNN (13.04.1913), Nr. 4222, erstes Beiblatt.
3 Vgl. GStA PK, I. HA, Rep. 76., Nr. 3004, Bl. 22–45: Zeitungsausschnitte aus unter anderem folgenden Zeitungen: Das Volk (16.06.1898); Nationalzeitung (19.07.1898); Posener Zeitung (13.08.1889); Vossische Zeitung (12.08.1889); Bei den deutschsprachigen Zeitungen ist die Ähnlichkeit der Berichte sehr auffallend, oft wurden dieselben Passagen zitiert.
4 Zum Leiter des Instituts wurde der Hygieniker Erich Wernicke berufen, der bis 1920, dem Jahr der Übergabe des Instituts an den polnischen Staat, im Amt blieb. Neben seiner Funktion als Institutsdirektor leitete er die gesamte Zeit über auch die hygienisch-bakteriologische Abteilung. Vgl.: GStA PK, I. HA Rep. 76 VIII B, Nr. 3016.
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Im Namen der „großen Kolonisationsaufgaben“: Das Hygiene-Institut in Posen
sondern ein Institut, dessen Hauptaufgaben hygienisch-bakteriologisch-pathologischer Natur waren und im alltäglichen Provinzleben weniger sichtbar, geschweige denn kulturell auszulegen waren. Seine kulturelle Wirkung entfaltete das Institut im Spannungsverhältnis zwischen seiner bildenden, hygienisch-kulturelle Diskurse anregenden und sie weitertradierenden Funktion und der Aufgabe, die Region hygienisch-bakteriologisch zu kartieren und die Bevölkerung demnach hygienisch zu disziplinieren. Die Verbesserung der Lebensverhältnisse und der Lebenserwartung der Provinzeinwohner wurden zwar zu Hauptaufgaben des Instituts erklärt, aber nicht in erster Linie als Prozesse von eigener Bedeutung angesehen. Es ging eher um „hygienische Hebung“ im Allgemeinen, die sinnverwandt als „kulturelle Hebung“ ausgelegt wurde. Demnach wurde die hygienische Aufklärung nicht nur als eine Anleitung zur hygienischen Selbstdisziplinierung betrachtet, sondern auch als Vermittlung kultureller Werte, und die hygienische, alle Provinzeinwohner erreichende Kontrolle und bakteriologische Erfassung als Mittel zum Zweck einer kulturell deutbaren Profilierung der als rückständig und unzivilisiert geltenden Provinz.
In Anbetracht der hohen politischen Erwartungen, die die Gründung und das Bestehen des Instituts begleiteten und die darauf setzten, dass so „ein geistiger und intellektueller Stützpunkt […] für die großen Kolonisationsaufgaben“6 in der geografisch wie kulturell als Grenzregion betrachteten Provinz Posen entstünde, liegt es nahe, das Institut als ein
Element der preußischen Bio- und Hegemonialpolitik in der Region zu betrachten. Der vorliegende Aufsatz widmet sich deshalb der Frage, wie das Institut diese politisch-kulturelle Aufgabe erfüllte. Inwiefern gelang es ihm, im Spagat zwischen wissenschaftlichen Ansprüchen und national-politischen Erwartungen seine eigene Identität zu finden, einen wissenschaftlichen Ruf aufzubauen und die preußische interne Hegemonialpolitik umzusetzen? Der Blick wird dabei auf die finanziellen, humanen und praxeologischen Kapazitäten des Instituts zu richten sein, die für sein machtgenerierendes politisch-kulturelles Durchsetzungs- und Wirkungspotenzial als entscheidend zu betrachten sind. Ferner wird das Institut auf seine didaktischen Wissensvermittlungsstrategien und auf seine (a)nationale Ausrichtung hin befragt, die den zeitgenössischen politischen Entwurf eines (a)nationalen Gesellschaftskörpers bzw. Volkskörpers reflektiert7 und einen weiteren Blick auf die „Kolonisationsaufgaben“ und die damit einhergehenden „Kolonisierungs-“ bzw. „Hebungsentwürfe“ für die östlichen preußischen Provinzen werfen lässt.
Dass Hygiene und hygienische Einrichtungen als Ausdrucksformen kulturell kodierter Zuschreibungen und Ordnungsgedanken, als biopolitische Instrumente8 der Machtaus
5 Wernicke, Ansprache zit. nach: Bericht aus der Einweihung des Neubaus des Hygiene-Instituts, in: PNN (13.04.1913), Nr. 4222, erstes Beiblatt.
6 GStA PK, I. HA Rep. 76 Vc, Sekt. 13, Tit. 23, Nr. 2, Bl. 27: Witting, Protokoll einer Besprechung zum Thema „kulturelle Hebung“ vom 11.01.1902.
7 Der Beitrag basiert hauptsächlich auf Archivstudien im Geheimen Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz in Berlin-Dahlem und im Staatsarchiv Posen. Vgl. SCHUTTE Die Königliche Akademie in Posen, S. 84–93, 327–333. Die Beschreibung des Instituts bei Schutte basiert zum Teil, insbesondere bei der Darstellung des Gebäudezustandes und die ministeriumsinternen Verhandlungen, auf denselben Quellen. Sie wurden hier allerdings aus einer anderen Perspektive beleuchtet, durch weitere Quellenbestände ergänzt und im Kontext der preußischen Biopolitik gelesen.
8 Biopolitik wird verstanden als eine Machtform und Machttechnik im Sinne des Foucault’schen Disziplinierungs- und Sicherheitsdispositivs. Ihre Erforschung legt dar, wie sich gesellschaftli
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übung und als Formen von Disziplinierungs- und Kontrolltechniken zu betrachten sind, gilt spätestens seit Foucault als anerkannte Tatsache. Eine nähere Betrachtung des Posener Hygiene-Instituts9 enthüllt jedoch nicht nur, wie hygienische Einrichtungen politisch konzipiert und einsetzbar waren, sondern verdeutlicht exemplarisch, wie Hegemonialpolitik(en) in einer durch ethnische, sprachliche und konfessionelle Divergenzen geprägten Grenzregion eingeleitet wurden, welchen Visionen sie entsprangen und mit welchen Herausforderungen diese hegemonialen Entwürfe umzugehen hatten. Das Institut illustriert Spannungen und Aushandlungsprozesse, zu denen es kommt, wenn Hegemonialismus auf Heterogenität trifft und diese gleichzeitig einzubinden und zu unterwerfen sucht.
Wie sich zeigen wird, war die durch das Institut zu realisierende Bio- und Hegemonialpolitik voller Widersprüche. So fehlte es den Modernisierungsvorstellungen an konkreten Inhalten, und eine Anwendung restriktiver Normalisierungspolitik gegenüber den polnischsprachigen Bevölkerungsteilen gelang nur selten. Eine prägnant formulierte biopolitische „Hebungsmission“ braucht zu ihrer Realisierung ein ebenfalls prägnantes und vor allem ein handfestes, über konkrete Umsetzungsinstrumente aufgebautes Entfaltungsvermögen, das nur durch eine Rückbindung an lokale soziale, sprachliche oder aber technische Bedingungen und Ressourcen zu erreichen ist. Ansonsten drohen die politisch-kulturellen Konzepte in politischer Scheinheiligkeit und Rhetorik gefangen zu bleiben.
Wie die Institutsgründung eine „epochemachende“10 Setzung markierte:
über die konzeptuelle Ausrichtung des Posener Hygiene-Instituts
Das im Jahr 1899 eröffnete und in kaum veränderter Form bis zum Jahr 1920 bestehende Posener Hygiene-Institut11 wurde zur ersten hygienischen Einrichtung und Wissens- bzw. Wissenschaftspopularisierungsanstalt der Provinz Posen, in der es bis dahin weder eine
che und politische Kontrolle auf den Körper jedes einzelnen Menschen auswirkt und wie Menschen über ihren Körper und dessen biologische Funktionen kontrolliert und reguliert werden. Die Legitimierung der Biopolitik geht auf ihre Macht zurück, Leben zu produzieren, leben oder sterben zu lassen und das Leben normativ zu gestalten. Angewandt als ein neutraler Begriff, verdeutlicht biopolitische Forschung vor allem die sozialen und politischen Implikationen biotechnischer, biopolitischer Interventionen und, wie im Fall des Hygiene-Instituts, hygienischer Maßnahmen. Mehr dazu siehe u.a. LEMKE Biopolitics.
9 Überraschenderweise wurde jedoch bislang weder die Geschichte des Instituts noch seine medizinische, politische oder kulturelle Rolle hinreichend untersucht. Es liegen lediglich einige, meist stark deskriptive Darstellungen vor, die in einigen Monographien über die Provinz Posen oder aber über die hygienischen Einrichtungen des Kaiserreiches zu finden sind. Zu erwähnen sind u.a folgende: SCHUTTE Die Königliche Akademie in Posen, S. 84–93, 327–333 – Die Arbeit von Schutte, die das Hygiene-Institut lediglich am Rande in zwei kurzen Kapiteln erwähnt, stellt bis heute eine der besten Beschreibungen dar und wird im Weiteren mehrmals zitiert bzw. zum Vergleich herangezogen; WEINDLING Epidemics and Genocide in Eastern Europe 1890–1945, S. 49–56; WILKOSZARSKI Powstanie, rozwój i funkcje Królewskiego Instytutu Higienicznego – Bei der Studie handelt es sich um eine Dissertation, die an der Medizinischen Universität in Posen im Jahre 1984 angefertigt wurde, aber aufgrund unzureichender Quellenangaben kaum überprüfbar und sehr lückenhaft ist; ZARZYCKI Königliches Hygienisches Institut zu Posen.
10 GStA PK I. HA Rep. 76 VIII B, Nr. 3004, Bl.14: Antrag des Vereins der Ärzte des Regierungsbezirks Posen auf Gründung eines Hygiene-Instituts in Posen.
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medizinische Untersuchungs- und Ausbildungseinrichtung noch eine Universität gab und sich das kulturelle Leben meist in einzelnen Vereinen abspielte. Ein institutioneller Ausbau kultureller Einrichtungen wurde erst durch die seit den 1880/90er Jahren verstärkte preußische Hegemonialpolitik in Gang gesetzt, die in Bezug auf die östlichen Provinzen des Kaiserreiches12 stets unter dem Aspekt der „kulturellen Hebung“ bzw. der „Hebung der Kultur in den zweisprachigen Landesteilen“13 diskutiert wurde.
Die Provinz Posen im Besonderen war bis dahin wegen fehlender bzw. spät einsetzender Industrialisierung und eben durch das Fehlen eines universitären Zentrums die am wenigsten entwickelte Provinz, die trotz vielerlei politischer Bemühungen immer noch eine schwache preußische Kodierung bzw. Identität und geringe kulturelle Integrität aufwies. Ziel der neuen preußischen Hegemonialpolitik war es, durch staatlich-städtebauliche, administrative, kulturelle und ökonomische Maßnahmen die Provinz den restlichen Landesteilen anzugleichen und die Region mental und kulturell preußisch zu besetzen. Dies erwies sich für die Regierungskreise als umso dringlicher, als die Provinz wegen ihrer geografischen Lage, ihrer Multikulturalität und Geschichte in mehrfacher Hinsicht eine Grenzregion darstellte und durch diesen Grenzcharakter wiederum eine gewisse kulturelle Instabilität aufwies: Sie war eine geographische Grenzregion zwischen dem Kaiserreich und dem Russischen Reich; eine ethnisch-nationale „contact zone“14, in der Deutsche, Polen und Juden seit Jahrzehnten nebeneinander lebten,15 miteinander kooperierten, aber
11 1918/1919 wurde das Institut – nach einem Treffen polnischsprachiger Ärzte aus den „ehemali gen“ Gebieten der Provinzen Posen, Westpreußen und Schlesien, auf dem die zukünftige Reorganisation des Gesundheitssystems nach polnischem Maßstab besprochen und vorläufig festgelegt worden war – von den polnischsprachigen Ärzten beansprucht und um eine polnische Co-Leitung in Person von Tadeusz Szulc erweitert. Über die Zeit des „doppelten Direktorats“ gibt es kaum Berichte, weder in Bezug auf genaue Untersuchungszahlen noch in Bezug auf die Zusammenarbeit der deutschen Beamten mit ihren polnischen Kollegen, die bei der Personalaufstellung aus dem Jahr 1919 in höherer Zahl als in den Jahren zuvor auftraten. Einige wenige Informationen finden sich in den Erinnerungen von Tadeusz Szulc: Biblioteka Uniwersytecka w Poznaniu, Dział Zbiorów Specjalnych i Rękopisów, sign. 2803/2, hier S. 435/447–448: Szulc: W Poznaniu i wokół niego. Zur personellen Besetzung siehe u.a. APP, Hygienisches Institut, Nr. 7, Bl. 84: Wernicke, Personalaufstellung vom 05.12.1919. Im Frühjahr 1920 wurde das Institut von der neu gegründeten Universität Posen übernommen und die „deutschen“ Beamten des Instituts wurden ins Deutsche Reich zurückberufen. Vgl. GStA PK, I. HA Rep. 76 VIII B, Nr. 3020: Schreiben des Direktors der Medizinalabteilung an den preußischen Minister für Volkswohlfahrt vom 07.12.1922.
12 Die „Hebungspolitik” bezog sich vor allem auf die Provinzen Posen und Westpreußen und hatte zum Ziel, diese politisch-kulturell und wirtschaftlich sowie das Deutschtum dort auch national zu stärken. Zum Thema „Hebungspolitik“ siehe u.a.: BLANKE Prussian Poland; SCHUTTE Die Königliche Akademie in Posen, S. 39–64; TILSE Transnationalism in the Prussian East.
13 Frhr. v. Zedlitz-Neukirch bei der Diskussion zur Ansiedlungsgesetzesnovelle von 1898, am 26.10.1907 zit. nach BALZER Die preußische Polenpolitik, S. 99.
14 Vgl. PRATT Arts of Contact Zone.15 Demographisch gesehen hatte die Provinz einen durchaus polnischen Charakter. Laut amtlicher
Statistik lebten im Jahr 1882 1.085.789 Polen und 579.828 Deutsche und Juden in der Provinz Posen. Im Jahr 1910 wurden 1.279.106 Polen und 820.725 Deutsche und Juden gezählt. Die Tendenz war sowohl bei der polnisch- als auch bei der deutschsprachigen Bevölkerung steigend, bei der jüdischen Bevölkerung stark fallend, von etwa 3,9 % auf 1,3 %. Vgl. KOZŁOWSKI Wielkopolska pod pruskim zaborem, S. 25. Über die sprachliche, konfessionelle, nationale und
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auch in Abgrenzung zueinander eigene lokale und nationale Identitäten ausformulierten; und schließlich eine mentale Grenzregion, die durch die Verfestigung eines national kodierten Selbstbildes und eines kontrastierenden Fremdbildes16 vor allem auf Seiten der deutsch- und der polnischsprachigen Bevölkerungsteile geprägt war. Die mit den Imperialisierungs- und Nationalisierungstendenzen einhergehende Angst vor nationaler und kulturpolitischer Degeneration, vor einer Slawisierung bzw. „der Gefahr der Polonisierung“17, die von vielen deutschsprachigen Nationalisten geäußert wurde, stieß hier auf eine ebenfalls intensivierte polnisch-nationale Mobilisierungspolitik und trug somit zu einer weiteren Ausdifferenzierung nach national gedeuteten Kriterien und zu einer doppelten kulturellen Inanspruchnahme der Region bei.18 Damit ging auch eine Isolierung der Region vom Kaiserreich einher. Sie wurde zunehmend als rückständig, unfruchtbar und keine Reise wert19 betrachtet. Das Hygiene-Institut sollte zu einem politischen Instrument werden, das diese Isolierung aufbrach.
Vor diesem Hintergrund wurde das Hygiene-Institut bereits im Vorfeld seiner Gründung in ministerialen Kreisen als eine politisch-kulturelle Maßnahme angesehen, die wie keine andere dazu prädestiniert sei, „das Uebergewicht deutscher Wissenschaft und Kultur handgreiflich zum Ausdruck und zum Bewußtsein der Bevölkerung zu bringen“,20 in „den halbpolnischen Provinzen […] [den] Mangel an regem geistigen Leben“21 zu kompensieren und die modernisierungsbedürftige Provinz hygienisch – und Hygiene wurde als ein wesentliches Merkmal der Modernisierung betrachtet – zu sanieren und aufzuwerten. Neben der Gesundheitshebung und medizinischer Prävention ging es demzufolge um die Legitimierung, Anerkennung und Durchsetzung deutscher Überlegenheit und um eine Verdichtung des Nationalen.
Diese politisch formulierte Setzung wurde durch die deutschsprachigen regionalen und überregionalen Zeitungen unterstützt. Die Rolle des Instituts als alle, also deutsch- und polnischsprachige, Provinzbewohner einende Institution wurde zwar betont, zugleich wurde aber beteuert, dass durch die Institutsgründung „das Deutschtum […] einen nachhalti
wirtschaftliche Struktur der Provinz Posen siehe u.a.: BELZYT Sprachliche Minderheiten im preußischen Staat; MATUSIK „Nadeszła epoka przejścia …“; MOLIK Inteligencja polska w Poznańskiem.
16 Vgl. SERRIER Provinz Posen, insbesondere S. 35–76.17 GStA PK, I. HA Rep. 76, Nr. 3004, Bl. 40: „Ein hygienisches Institut für Posen“ in: Natio
nal-Zeitung (19.07.1898).18 SCHUTTE Die Königliche Akademie in Posen, S. 27. 19 „Wer zum ersten mal aus dem fernen Westen unseres lieben Vaterlandes […] nach Posen zu
lenken veranlasst wird“, erinnerte sich Erich Wernicke an seine Ankunft in Posen, „der hat […] noch das Gefühl, dass er einen Landesteil betreten wird, der anderen Teilen unseres lieben Vaterlandes gegenüber in seinem ganzen Kulturzustande noch recht rückständig ist.“ In: WERNICKE Bemerkungen über die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, S. 32. Vgl. ferner u.a. WIESE Erinnerungen – von Wiese beschreibt seine Posener Zeit als unfruchtbar und diese Unfruchtbarkeit als Resultat fehlender kultureller Anreize und regionaler Besonderheiten.
20 Gutachten zur Institutsplanung aus dem Treffen zum Thema hebungspolitischer Maßnahmen für die Provinz Posen vom 21.05.1889, zitiert nach: GStA PK, I. HA Rep. 76, VIII B, Nr. 3004, Bl. 26, zitiert nach: SCHUTTE Die Königliche Akademie in Posen, S. 85.
21 GStA PK, I. HA Rep. 76, Nr. 3004, Bl. 40: „Ein hygienisches Institut für Posen“ in: National-Zeitung (19.07.1898). Die Institutsgründung wurde durch die National-Zeitung in einem regierungstreuen Ton besprochen.
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gen Gewinn“22 erziele. Die polnischsprachige Presse reagierte zurückhaltender, von abwartend bis hin zu vereinzelten Beschuldigungen der Institutsgründer, „hakatistische“23 Positionen zu vertreten und neue Sinekuren schaffen zu wollen24, um sich später auf eine knappe Berichterstattung über die laufenden Institutsaktivitäten zu beschränken.
Offiziell war es die Hauptaufgabe des Hygiene-Instituts, „auf dem von ihm vertretenen Gebiete den Ärzten und sonstigen beteiligten Kreisen der Provinz zur Förderung und wissenschaftlichen Anregung zu dienen, sowie den staatlichen und kommunalen Behörden Gelegenheit und Unterstützung in der Durchführung gesundheitlicher Maßnahmen und zur Abwehr von Seuchenausbrüchen zu gewähren.“25 Das Institut bestand aus drei Abteilungen: einer hygienisch-bakteriologischen, einer pathologisch-anatomischen und einer chemischen.26 Seine Arbeit lässt sich unter fünf Aufgabenkomplexen zusammenfassen: Ausbildung und Wissensvermittlung; Durchführung bakteriologischer, epidemiologischer und chemischer (Kontroll-)Untersuchungen; Diagnostik; Beratung und letztendlich Forschung.27 Im Einzelnen bedeutete dies für das Institut vor allem eine zeit- und arbeitsintensive Durchführung von Fortbildungskursen sowie hausinternen und externen Vorträgen, die thematisch von der allgemeinen Gesundheitslehre, der Ernährung des Menschen
22 GStA PK, I. HA Rep. 76, Nr. 3004, Bl. 40: „Ein hygienisches Institut für Posen“ in: National-Zeitung (19.07.1898).
23 Hakatisten: Mitglieder des Deutschen Ostmarkenvereins, der unter der von den Anfangsbuchstaben der Namen seiner Begründer abgeleiteten Abkürzung „Hakata“ bekannt war – F. von Hansemann, H. Kennemann, H. von Teichmann-Seeheim. Der Deutsche Ostmarkenverein wurde 1894 in Posen gegründet, war nationalistisch ausgerichtet und verfolgte eine national geleitete Segregations- und Germanisierungspolitik. Im Jahr 1913 hatte der Verein ca. 446 Ortsgruppen. Mehr dazu siehe u.a.: GRABOVSKI Deutscher und polnischer Nationalismus; OLDENBURG Der Deutsche Ostmarkenverein.
24 Der polnischsprachige „Dziennik Poznański“ brachte hier eine unter der polnischsprachigen Teilöffentlichkeit weit verbreitete Skepsis zum Ausdruck, inwiefern das Institut eine politische Agenda hatte und inwiefern es als eine offene Institution sein sollte: „Warum sagen die Hakatisten nicht offen: es geht uns um die Gründung neuer Sinekuren! Dies wäre kurz, klar und nicht heuchlerisch!“ In: Dziennik Poznański (02.08.1898), Nr. 174. Vgl. Kurier Poznański (02.08.1898), Nr. 174.
25 APP, Landrat zu Czarnikau, Nr. 207: Geschäftsanweisung für das Hygiene-Institut in Posen, Paragraf 1. Zur Zeit seiner Gründung bediente das Institut die komplette Provinz Posen. 1906 wurde es durch die Einrichtung der Medizinaluntersuchungsstelle in Bromberg entlastet. Während des Krieges erweiterte es allerdings seine regionale Reichweite bis auf die besetzten russisch-polnischen Gebiete. Ab 1915 wurden auf Ersuchen der Medizinalräte und -referenten der Zivilverwaltung des Generalgouvernements Warschau sowie der dort tätigen Kreis- und Zivilärzte vermehrt bakteriologische Untersuchungen vor allem im Bereich der Infektionskrankheiten durchgeführt. Vgl. GStA PK, I. HA Rep. 76 VIII B, Nr. 3007: Wernicke, Schreiben an das Kultusministerium vom 11.02.1918.
26 Die innere Struktur des Instituts wurde im Laufe der Jahre, vor allem im Zuge des geplanten Umzugs in das neue Gebäude, verändert und aufgeteilt: die chemische Abteilung verblieb in der Königlichen Akademie, in die sie bereits 1910 wegen besserer räumlicher Bedingungen verlegt worden war; die pathologisch-anatomische Abteilung wurde im Stadtkrankenhaus untergebracht und die hygienisch-bakteriologische Abteilung als Kernteil des Hygiene-Instituts siedelte 1913 in das neue Institutsgebäude um.
27 APP, Landrat zu Czarnikau, Nr. 207: Geschäftsanweisung für das Hygiene-Institut in Posen.
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und der Säuglingspflege, über Gefahren des Alkoholismus, der Geschlechts- und Blutkrankheiten bis zu Typhusbekämpfung, Wasserversorgung und Kanalisation reichten. Ferner beinhaltete die Institutsarbeit die Ausbildung von Desinfektoren,28 von Hebammen,29 die Erstellung bakteriologischer Expertisen, die Unterstützung von Kreisärzten und, auf Ersuchen von Behörden, unter anderem die Prüfung und Begutachtung von Nahrungs- und Genussmitteln, die Überwachung gewerblicher Betriebe und Wasserversorgungsanlagen, die Begutachtung von Wohnungen bis hin zur Sektion von Leichen.30 Somit wachte das Institut über alle für die Lenkung und Anleitung der Bevölkerung im Gesundheitsbereich relevanten Felder – von der Geburt, über die hygienische Normierung des Alltags bis hin zur Krankheitsverhinderung und zur damit verbundenen Stärkung des Gesellschaftskörpers –, was der preußischen Hegemonialpolitik langfristig eine bessere, auch wenn nicht gleich bemerkbare soziale Kontrolle über die Körper der Provinzbewohner und somit über den gerade zu festigenden Volkskörper verschaffen sollte. Mit seiner Einrichtung setzte deshalb eine neue Phase preußischer Hegemonialpolitik in Posen ein: Es ging nicht länger nur um die Schaffung symbolischer preußischer kultureller Dominanz gegenüber der polnischsprachigen Bevölkerung, sondern um eine rationale Bevölkerungspolitik, die über die rein biologischen Lebensprozesse hinaus die Bevölkerung wunschgemäß normieren und lenken sollte.
Wie das Institut „zum Mittelpunkt wissenschaftlicher [und politischer] Bestrebungen“31
wurde: über das machtgenerierende Potential des Instituts
Um sowohl den hygienischen als auch den (bio-)politischen Aufgaben gerecht werden zu können, wurde eine breite institutionelle und personelle Vernetzung des Instituts mit allen wichtigen politischen und kulturellen Trägern aufgebaut und politisch gefördert. Sie sollte die Durchsetzungsfähigkeit des Instituts erhöhen sowie seine Autorität, Einflusssphäre und diskursive Reichweite stärken. So wurde beispielsweise der Institutsdirektor Erich Wernicke, der hier stellvertretend für die interpersonellen Vernetzungen der Institutsmitarbeiter und des Instituts betrachtet werden kann, an alle signifikanten Einrichtungen angebunden, war an deren Entscheidungsgremien beteiligt und dadurch in verschiedenen gesellschaftlichen (Teil-)Öffentlichkeiten fest verankert: seine Mitgliedschaft (oft mit Vorstandsstatus) erstreckte sich vom Posener Provinzverein zur Bekämpfung der Tuberkulose über die Gesundheitskommission der Stadt Posen bis hin zur städtischen Krankenhausdeputation. Seine Machtposition wurde ferner durch seinen Status als Geheimer Medizinalrat, als Prorektor bzw. Rektor der Königlichen Akademie und als Vertreter der Stadtgemeinde Posen auf vielen hygienischen Versammlungen und Kongressen demonstriert.
Darüber hinaus wurde die Stellung des Instituts vor allem durch seine Dienstleistungsfunktion für die Provinzial-Behörden sowie durch seine engen personellen und institutio
28 Dazu siehe u.a.: KIRCHNER Die Desinfektorenschulen; APP, Kreisarzt Schmiegel, Nr. 3466; APP, Landrat Birnbaum, Nr. 476.
29 Zur Hebammenausbildung siehe u.a.: GStA PK, I. HA Rep. 76 VIII B, Nr. 1480: „Die Hebammen-Lehranstalt in Posen während der Jahre 1811 bis 1911 von Prof. Dr. med. Lange“ aus dem Jahr 1911.
30 APP, Landrat zu Czarnikau, Nr. 207: Geschäftsanweisung für das Hygiene-Institut in Posen.31 GStA PK, I. HA Rep. 76, VIII B, Nr. 3005, o. Bl.: Schreiben des Oberpräsidenten an das Kul
tusministerium bezüglich der Institutsentwicklung, 02.12.1901.
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nellen Kooperationen, hauptsächlich mit dem Militär, schnell gefestigt. Viele Gemeinden suchten, ebenso wie Kreis-, Tier- und Privatärzte, das Institut zur gesundheitspolitischen, sanitären oder sozialhygienischen Beratung auf. Viele der Institutsmitarbeiter waren als Militärärzte zum Institut abkommandiert oder Ärzte der Reserve. In den Kriegsjahren fanden im Institut militärärztliche Abende statt und die Anbindung an die Heeresverwaltung wurde enger. Auch trugen die externen Vorträge zu einer Erweiterung der gesellschaftlichen Resonanz des Instituts sowie zur Profilierung seines Bildungsauftrags bei. Mit diesen externen Vorträgen erreichte das Institut alle wichtigen gesellschaftlich-politischen Schnittstellen, die bei der Durch- und Umsetzung politischer Entscheidungen bedeutsam waren und nicht fehlen durften: von der Deutschen Gesellschaft für Kunst und Wissenschaft, den Ärztevereinen einzelner Städte und dem Verein Deutscher Kaufleute über die Arbeiter des Artillerie-Depots Posen, diverse Sanitäts- und Offizierskorps und Provinzialschulkollegien bis hin zu den Vaterländischen Frauenvereinen. Die Rezeption der Vorträge lässt sich zwar mangels Quellenmaterials nicht einschätzen; die wiederkehrende Nachfrage sowie die Tatsache, dass in den einzelnen Vereinen hygienische Vorträge mehrmals im Jahr und über alle Jahre des Institutsbestehens hindurch abgehalten wurden, zeugt jedoch von seiner ständigen Präsenz, einer bewährten Position in den Netzwerken und einem hohen, mindestens institutionellen Interesse an hygienischen Themen bzw. von einem politisch motivierten Bedarf an hygienischer „Anleitung“, der die Rolle des Instituts als deren einzigen Anbieter nur verstärkte.
Das Institut wurde zu einer in der politischen Arena fest verankerten und operierenden biopolitischen Wirkungsstätte, die teils direkt, teils indirekt durch personelle Anregungen und Ratschläge agierte und gleichzeitig, aufgrund politischen Drucks, zum Instrument inoffiziell formulierter politischer Empfehlungen zu werden drohte. Es wurde zu einer Wirkungsstätte, die ihre Reichweite durch ihre Position in den politischen Netzwerken entfaltete und definierte. Zugleich erwiesen sich dieselben politischen Netzwerke aufgrund regionaler politischer Spannungen als einschränkend, denn sie waren, wie noch gezeigt wird, zu stark vorprägend und für eine über diese Vorprägung hinausgehende Betätigung hemmend.
Wie das Hygiene-Institut ein „Sammelpunkt und eine Quelle dauerndster, wertvoller For
schung“32 wurde: über das Institut als Wissens- und Kulturvermittler
Dank seiner erfolgreichen Vernetzung war es dem Institut möglich, eine seiner wichtigsten Aufgaben, nämlich Wissen und Kultur zu popularisieren, in kürzester Zeit zu etablieren. Bereits zum Wintersemester 1899/1900 wurden die ersten Kurse und Vorträge angeboten, über die, ergänzt durch bibliothekarische Dienstleistungen und wissenschaftliche Forschungsarbeit einzelner Institutsmitarbeiter, der Wissenstransfer und die „Förderung deutschen Wesens und deutscher Gesinnung“33 vollzogen werden sollte. Beides sollte ein möglichst breites Publikum erreichen: vorwiegend über ein, wie bereits skizziert, dichtes Netz von externen Vorträgen, von denen allein Wernicke jährlich zwischen 20 und 30 hielt,34
32 GStA PK, I. HA Rep. 76 VIII B, Nr. 3004, Bl. 15: Petition der Ärzte des Regierungsbezirks Posen bezüglich der Institutsgründung.
33 GStA PK, I. HA Rep. 76 VIII B, Nr. 3004, Bl. 85: Schreiben des Kultusministers an den Finanzminister vom August 1898.
34 Vgl. GStA PK, I. HA Rep. 76 VIII B, Nr. 3005–3006: Jahresberichte.
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wie auch über das hausinterne35 Angebot, das sich sowohl an bestimmte Berufsgruppen (Ärzte oder Lehrer) und bestimmte Kreise (beispielsweise Gymnasialschüler) als auch in Form von populären Vorlesungen an eine breitere Öffentlichkeit jeglicher sozialer und nationaler Herkunft richtete.
Während die externen Vorträge eher die deutschsprachige Teilöffentlichkeit zu erreichen suchten, war das hausinterne Programm offener aufgestellt. Es wurde meist sowohl in der deutsch-, als auch in der polnischsprachigen Presse, über den Veranstaltungsplan der viele der interne Institutskurse beheimatenden Königlichen Akademie und/oder über gezielte Institutsverlautbarungen angekündigt. Alle Veranstaltungen wurden zwar in deutscher Sprache gehalten, was für viele polnischsprachige Bevölkerungsgruppen eine Hürde darstellte, aber sie waren, nach Entrichtung einer Kurspauschale, für alle zugänglich und wurden in aller Regel durch das am Thema interessierte und die Vorträge als eine Art Weiterbildung und Distinktion betrachtende Posener Laienpublikum besucht. Sie erfreuten sich einer relativ hohen Frequentierung und wurden nicht selten von 60 bis 120 Zuhörern verfolgt. Informationen über Geschlecht oder nationale Zugehörigkeit der Zuhörer gibt es jedoch nicht.36
Die hohen Besucherzahlen der externen Vorträge wurden dagegen oft über eine gewisse Zwangsrekrutierung erreicht: Die Vorträge wurden meist auf Anfrage bestimmter deutschsprachiger Behörden oder Vereine angeboten, in deren Vorstandsgremien Wernicke saß, und waren für die Mitglieder der jeweiligen Organisationen oder Vereine verpflichtend oder zumindest stark empfohlen. Inwiefern diese Anfragen auf Wünsche einzelner Mitglieder zurückgehen, lässt sich nicht nachprüfen. Die starke politische Vernetzung der jeweiligen Teilöffentlichkeiten sowie ihre medialen, an die eigenen Mitglieder gerichteten Aufrufe zur Teilnahme an den Vorträgen lassen aber vermuten, dass viele solcher Anfragen als Ergebnis enger personeller und institutioneller Verbindungen deutschsprachiger kultureller und politischer Akteure zu sehen sind. Versuche, die polnischsprachige, aber auch allgemein die ländliche, weniger in den städtischen Vereinsstrukturen vertretene Bevölkerung zu erreichen, ob nun zum Zweck der hygienischen Disziplinierung oder der stärkeren partizipatorischen Einbindung, gab es, zumindest auf der Ebene des wissenspopularisierenden Zugangs, kaum. In Bezug auf die polnischsprachige Teilöffentlichkeit wurde diese Nische durch die einige Jahre später gegründeten polnischsprachigen hygienischen Vereine besetzt.37 Die Ausrichtung der externen Vorträge auf das deutschsprachige Publikum und die fehlende Nachfrage bei der polnischsprachigen Teilöffentlichkeit kann daher als Effekt der bereits bestehenden und durch politische Spannungen sich, zumindest auf der öffentlich darstellbaren Ebene, nur noch weiter verschärfenden nationalen Grenzziehungen38 interpretiert werden. Die dadurch entstehende gesellschaftliche Segmentierung beeinflusste sowohl die institutionelle Offerte als auch die gesellschaftliche Nachfrage, die sich meist auch nur innerhalb der eigenen Netzwerke entfaltete.
35 Die hausinternen Vorträge und Kurse fanden teilweise direkt im Institut, teilweise in der 1902 eröffneten Königlichen Akademie statt. In beiden Fällen werden sie hier als hausintern bezeichnet, denn sie gehörten zu einem festen Lehrpensum des Instituts.
36 Vgl. u.a.: APP, Hygienisches Institut, 787, Nr. 30–31: Verzeichnisse und Vorlesungen der Königlichen Akademie in Posen; GStA PK, I. HA Rep. 76 VIII B, Nr. 3005–3006: Jahresberichte.
37 Gemeint ist hier vor allem das über die polnische Gesellschaft zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten (poln.: Towarzystwo zu zwalczania zakażnych chorób płciowych) und den antialkoholischen Verein „Befreiung“ (poln. Wyzwolenie) aufgespannte Vortragswesen.
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Anders verhielt es sich mit den Fachveranstaltungen. Diese wurden, neben ihrer konsequenten Vermarktung sowohl in der deutsch- als auch polnischsprachigen Presse, zudem auch in der einzigen polnischsprachigen, an die polnischsprachigen Ärzte39 gerichteten und durch polnischsprachige Mediziner redigierten medizinischen Zeitschrift der Region, den „Nowiny Lekarskie“ (dt.: Ärztliche Neuigkeiten) publik gemacht. Dort fanden sich zudem Vortragsberichte, die meist mit einem Aufruf an die polnischsprachigen Ärzte endeten, sich bitte für die Fachvorträge anzumelden und sie in Anspruch zu nehmen.40 Diese Appelle zeugen von einem zumindest bei der polnischsprachigen Ärzteschaft vorhandenen Interesse an Austausch und Kooperation sowie von einer dort ebenfalls vorhandenen, fachlich fundierten Wahrnehmung des Instituts als hygienisch-bakteriologisches Weiterbildungszentrum. Wenn man den Erinnerungen von Otto Lubarsch41, dem Leiter der pathologischen Abteilung, Glauben schenkt, war dieser Kooperationswille oft beidseitig, und viele der deutschsprachigen Ärzte „sahen […] den scharfen, gegen die Polen gerichteten und oft überlaut verkündeten Kurs nicht gern und wünschten mit ihren polnischen Kollegen, wie einst, möglichst friedlich zu leben.“42
Der Weiterbildungswunsch war dennoch, wie Wernicke klagte, allgemein schwach ausgeprägt, und die Mehrheit der Ärzteschaft, sowohl der polnisch- wie auch der deutschsprachigen, blieb dem Institut fern, so dass nicht selten Fachkurse lediglich zwei bis fünfzehn Zuhörer zählten.43 Wie der Posener Oberbürgermeister Richard Witting errechnete, wurden die Institutsveranstaltungen zwischen Juli 1899 und Juni 1900 von insgesamt 42 Ärzten besucht, darunter von 34 deutsch- und 8 polnischsprachigen; unter den Praktikanten befand sich nur ein polnischsprachiger Arzt.44 Die auch in späteren Jahren geringen Zuhörerzahlen resultierten im Allgemeinen laut Lubarsch daraus, dass die deutschsprachigen Ärzte oft den Hausarzttyp vertraten und kaum daran interessiert waren, „dem raschen Fortschritt der ärztlichen Wissenschaft und Technik zu folgen“, und die polnischsprachi
38 Mit nationalen Grenzziehungen sind bereits bestehende, im Laufe der deutsch-polnischen nationalen Rivalität verfestigte Positionierungen gemeint, die dazu beitrugen, dass öffentliche Kontakte als unpassend und gesellschaftlich inakzeptabel erschienen bzw. jedes Mal ernsthaft abgewogen werden mussten.
39 Alle Ärzte, die in diesem Beitrag als polnischsprachig bezeichnet werden, waren beidsprachig, ebenfalls wie die Mitglieder der polnischsprachigen Eliten. Die Bezeichnungen „polnischsprachig“ bzw. „polnisch zugehörig“ rekurrieren zum einen auf die Selbstidentifikation der hier zu betrachtenden Teilöffentlichkeit, zum anderen auch auf deren Fremdwahrnehmung durch die deutschsprachige Teilöffentlichkeit.
40 Vgl. Information über kostenlose Weiterbildungskurse für Ärzte zum Thema Tuberkulose in: Nowiny Lekarskie (NL) (1901), Nr. 2, S. 139; NL (1904), Nr. 1–2, S. 111.
41 Otto Lubarsch stand in den Jahren 1899–1904 an der Spitze der pathologisch-anatomischen Abteilung. Vgl. GStA PK, I. HA Rep. 76 VIII B, Nr. 3016.
42 LUBARSCH Ein Gelehrtenleben, S. 158.43 Vgl. u.a.: APP, Hygienisches Institut, 787, Nr. 30–31: Verzeichnisse und Vorlesungen der Kö
niglichen Akademie in Posen; GStA PK, I. HA Rep. 76 VIII B, Nr. 3005–3006: Jahresberichte.44 GStA PK, I. HA Rep. 76 VIII B, Nr. 3004: Schreiben von Witting an den Staatsminister im Kul
tusministerium Herrn Studt vom 30.06.1900. Vgl. SCHUTTE Die Königliche Akademie in Posen, S. 91–92. Die von Witting errechneten Zahlen sollten dem Kultusministerium als ein beruhigender Beweis dienen, dass „der Nutzen des Instituts im Wesentlichen [nicht] dem Polenthum zu Gute komme“ und dessen Dienste doch vorwiegend von den deutschsprachigen Ärzten in Anspruch genommen werden.
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gen „wissenschaftlich meist wenig angeregt [waren], […] mehr Gewicht auf praktische Ausbildung [legten] und […] schon deswegen die Hilfe der neuen wissenschaftlichen Einrichtungen weniger in Anspruch“ nahmen. „Immerhin ließen doch auch die Leiter der polnischen Krankenhäuser“, wie Lubarsch betonte, „Leichenöffnungen von mir machen und schickten Untersuchungsmaterial; ein Teil von ihnen kam auch zu den Vorträgen und Demonstrationen, einige arbeiteten sogar auch gelegentlich in meinem Laboratorium.“45 Eine praxisnahe Orientierung und fehlende wissenschaftliche Affinität schien der Mehrheit der Posener Ärzteschaft, ob deutsch- oder polnischzugehörig, gemeinsam zu sein. Medizinische oder chemische Fachkurse – meist bestehend aus praktischen bakteriologischen Übungen, Besprechungen der hygienischen Literatur oder Einführungen in bestimmte medizinische Fachbereiche und Lehren – versammelten daher nur ein kleines Fachpublikum, das voneinander lernte und sich nicht gegeneinander positionierte. Im Fokus stand daher eine fachliche Diskussion und keine einseitige, im Namen der regierungsintern erwünschten „deutschen Überlegenheit“ gehaltene Wissensvermittlung. Eine fachliche Zusammenkunft war hier vielmehr als Fortführung bzw. räumliche und thematische Erweiterung einer professionellen Interessengemeinschaft zu deuten, die mit neuer institutioneller Rahmung neue Entfaltungsmöglichkeiten erhielt und diese pragmatisch zu nutzen wusste. Wie umfangreich der Austausch zwischen deutsch- und polnischsprachigen Ärzten war, lässt sich allerdings für die einzelnen Jahre schwer abschätzen. Festzuhalten ist, dass er sich meist auf die in direkter Institutsnähe in Posen lebenden Ärzte beschränkte. Diese standen ohnehin durch das gemeinsame Agieren in hygienischen Vereinen, bei hygienischen Ausstellungen oder aber durch die gemeinsame Arbeit in Krankenhäusern stets in Kontakt.46 Das Institut bot deshalb nur eine von vielen Austauschmöglichkeiten.
Für die von außerhalb kommenden Ärzte wurden zum einen Bahnvergünstigungen angeboten, um ihnen eine Kursteilnahme zu ermöglichen, zum anderen wurde das breite externe Vortragswesen aufgebaut. Beide Maßnahmen waren nur bedingt erfolgreich, denn dem Institut fehlte eine Vernetzung in die kleineren und mittleren Ortschaften außerhalb der Provinzhauptstadt. Wernicke setzte sich dafür ein, indem er beim Kultusministerium dafür warb, „[z]ur Hebung des deutschen ärztlichen Vereinswesens und der Verbreitung deutscher medizinischer Wissenschaft […] ausser den Angestellten des Instituts […] andere […] geeignete deutsche Ärzte gelegentlich zum Zwecke des Haltens von Vorträgen ausserhalb Posens […]“47 einzubinden. Eine starke lokale Verankerung war für die Wissens- und Kulturvermittlerrolle des Instituts unabdingbar, da gerade die populären Vorträge als vornehmliche Möglichkeit galten, hygienische und kulturelle Werte zu popularisieren. Besprechungen über die Hygiene der Ernährung, die Verbreitung und Bekämpfung ansteckender Volkskrankheiten oder die Gefahren geschlechtlicher „Unsittlichkeit“, vermittelten stets bestimmte Verhaltensmaßregeln und die damit einhergehenden kulturellen wie auch moralischen Vorstellungen: von der Krankheit; von den je nach Kontext unterschiedlich zu kodierenden Krankheitsträgern und hygienischen Gefahren; von der Sittlichkeit; von nationalen, sich in hygienischen Regeln widerspiegelnden Charakterzügen bis hin zur
45 LUBARSCH Ein Gelehrtenleben, S. 156.46 Vgl. NL (1906), Nr. 2, S. 105; NL (1907), Nr. 4, S. 226–227; APP, Kreisarzt Lissa, Nr. 3: Auf
stellung über die Fortbildungskurse für Ärzte für die Monate.47 GStA PK, I. HA Rep. 76 VIII B, Nr. 3008: Schreiben von Wernicke an das Kultusministerium
vom 08.07.1901, im Bericht für das Rechnungsjahr 1902.
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Vorstellung von einem hygienisch deutbaren Volkskörper. Sie sollten zugleich aufklären und erziehen und waren daher am ehesten dafür geeignet, die politisch formulierte „hebungspolitische“ bzw. „hebungskulturelle“ Institutsbestimmung zu erfüllen.
Vor diesem Hintergrund wurde das Hygiene-Institut zwar gewiss zu einem Ort wissenschaftlicher Debatte und Wissensweitergabe, aber mit starken Einschränkungen, nicht nur geographischer Natur. Das Institut blieb stark in eigenen Netzwerken verfangen. Aufgrund politischer Auslegungsrichtlinien, aber auch fehlender Kapazitäten, wie auch wegen des internen Willens, nicht nur in reine Wissenspopularisierung, sondern auch in eigene Forschungsaktivitäten Zeit zu investieren, war es kaum um eine Erweiterung des einst etablierten Wirkungsradius bemüht.
Hygiene-Institut im Kontext der Polenpolitik:
über die (a)nationale Ausrichtung des Instituts
Die oben zitierte Äußerung Wernickes über das Anwerben externer Referenten, die nur das deutsche ärztliche Vereinswesen ansprach, führt zur Frage nach der implizierten (a)nationalen Institutsprofilierung, die zwar im Kursangebot nicht direkt sichtbar ist, aber deren Vorhandensein durch zahlreiche Aussagen doch suggeriert wird. Zu fragen wäre also, inwiefern die ministerialen Handreichungen durch das Institut umgesetzt wurden bzw. überhaupt umsetzbar waren und inwiefern es eine sich an nationalen oder konfessionellen Kriterien ausgerichtete Differenzierungspraxis gab.
Die Worte Wernickes erscheinen sehr einseitig, da sie ausschließlich die deutschsprachigen Vereine und Kreise im Blick haben. Sie lassen zudem eine stark national ausgerichtete Institutsprofilierung vermuten. Wenn man sich allerdings die gerade skizzierten Ausführungen über das Institut als Wissensvermittelter vor Augen hält, relativiert sie sich. Sie lässt sich nicht mehr als ein eindeutiges Zeichen einer national definierten Institutspolitik, sondern vielmehr als eine für die ministeriale Korrespondenz Wernickes typische argumentative Rhetorik lesen, die zur Erreichung diverser Institutsziele eingesetzt und politisch geboten war; als eine argumentative Figur, die stärker die Erwartungen der Berliner Machtträger bedienen und die vorhandenen Wirkungsmöglichkeiten reflektieren als eine Institutsausrichtung ausdrücken sollte.
Die politisch motivierte und in der politischen Debatte immer wieder zur Sprache kommende Angst, das Institut könne „im wesentlichen dem Polenthum zu Gute komme[n]“48, was aus politischer Sicht zu verhindern wäre, spiegelte sich auch kaum in der Institutspraxis wider. Sie war eher in seiner öffentlichen, konzeptuellen Darstellung sichtbar. Als beispielsweise Otto Lubarsch 1904 im Streit mit Wernicke aus dem Institut ausschied, unterschrieben etwa achtzig Ärzte beider Nationalitäten einen an ihn adressierten Abschiedsbrief, in dem sie ihren Dank und das Bedauern über sein Ausscheiden äußerten.49 Oder als 1918 polnischsprachige Ärzte medizinische Ausbildungskurse für die angehenden Kreisärzte des zukünftigen polnischen Staates organisierten, beteiligten sich an diesen sowohl
48 GStA PK, I. HA Rep. 76 VIII B, Nr. 3004: Schreiben von Witting an den Staatsminister im Kultusministerium Herrn Studt vom 30.06.1900.
49 GStA PK, I. HA Rep. 76 VIII B, Nr. 3012: Adresse an Lubarsch, unterzeichnet u.a. von Chłapowski, Pomorski, Święcicki, Jaffe, Pauly, Kunau, Toporski.
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Wernicke als auch Winkler50, der damalige Institutspathologe. Die Atmosphäre war dabei „sehr kollegial.“51
Ferner fanden alle Entscheidungen – Personalentscheidungen, Zulassung zu den Kursen, Kostenkürzungen, geplante Zusammenarbeit oder aber die Annahme beziehungsweise Ablehnung von mikroskopischen Aufträgen und Anfragen – stets eine nüchterne und analytisch-sachlich formulierte Begründung. Sie wiesen keinerlei national oder konfessionell52 motivierte Diskriminierung auf. Bei den Personalaufstellungen dominierten zwar deutschsprachige Mitarbeiter evangelischen Glaubens, es lassen sich aber gleichzeitig beispielsweise keine Stellengesuche polnischsprachiger Ärzte finden.53
Unter den internen Veranlassungen für eine Ablehnung einer bakteriologischen Untersuchung lässt sich allerdings folgende Erklärung von Wernicke finden: „Die Annahme dieser dem Institut von einem nur polnisch sprechenden Kinde überbrachten Untersuchungsobjekte habe ich für die Untersuchung zurückgewiesen.“54 Eine solche Äußerung, die an einen Kreisarzt adressiert war, ist insofern überraschend, als sich ansonsten weder im internen institutionellen Schriftverkehr noch in den Untersuchungsunterlagen viele Hinweise auf eine national geleitete Ausdifferenzierung der Institutspraktiken finden lassen. Sie ist umso überraschender, als gerade in jenem Jahr 1906 viele solcher Nachfragen aus Kapazitätsgründen abgelehnt wurden und daher eine Polen diskriminierende Verlautbarung von Wernicke überflüssig erschien. Ärztliche Zusammenarbeit und hygienisch-bakteriologische Versorgung aller Bevölkerungsteile sind nicht zwangsläufig gleichzusetzen und konnten, wie am Beispiel des externen Vortragswesens gezeigt wurde, sehr unterschiedlich ausgerichtet sein. Es wäre aber zu voreilig, diese Passage als stellvertretend für eine national motivierte institutionelle Benachteiligung polnischer Ärzte und damit auch der polnischen Bevölkerung zu interpretieren. Sie ist zwar auffallend, aber durch ihre Singularität wenig re präsentativ. Sie deutet eher auf eine latente, in Krisenmomenten zum Vorschein kommende nationale Vorprägung, als auf eine offen verfolgte Institutspraxis hin.
Ebenso voreilig wäre es, die von Witting für den Zeitraum von Juli 1899 bis Juni 1900 recherchierten Zahlen über die Herkunft der Anfragen für mikrobiologische Untersuchungen, nach denen lediglich 8,8 % von diesen auf Anforderung polnischsprachiger Ärzte gemacht wurden, als ein Zeichen fehlender Wahrnehmung des Instituts durch polnische Ärzte bzw. einer die deutschsprachigen Ärzte begünstigenden Institutspolitik zu interpretieren. Es ist eher anzunehmen, dass die Mehrheit der mikroskopischen Anfragen von den fast ausschließlich deutschen Kreisärzten55 gestellt wurden und Privatärzte erst zu einem
50 Karl Winkler übernahm 1911 die Position des Leiters der pathologisch-anatomischen Abteilung und bekleidete sie bis zur Institutsübergabe an den polnischen Staat 1920. Vgl. GStA PK, I. HA Rep. 76 VIII B, Nr. 3016.
51 Biblioteka Uniwersytecka w Poznaniu, Dział Zbiorów Specjalnych i Rękopisów, sign. 2803/2, S. 446: (333) Kurs dla lekarzy powiatowych.
52 Wilkoszarski (WILKOSZARSKI Powstanie, rozwój i funkcje Królewskiego Instytutu Higienicznego) behauptet, die Zugehörigkeit zum katholischen Glauben habe jegliche Karrierechancen zunichte gemacht und sei für eine Anstellung am Institut inakzeptabel gewesen. Diese These lässt sich weder nachweisen noch statistisch belegen.
53 Vgl. GStA PK, I. HA Rep. 76 VIII B, Nr. 3011–3020.54 GStA PK, I. HA Rep. 76 VIII B, Nr. 3006: Bericht von Wernicke vom 09.09.1906.55 Die Kreisärzte waren fast ausschließlich deutscher Herkunft. Der letzte Kreisarzt polnischer
Herkunft war Dr. Walenty Panieński, der den Posten zwischen 1894 und 1904 bekleidete und
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späteren Zeitpunkt begannen, die Dienste des Instituts in Anspruch zu nehmen.56 Grundsätzlich gab es in der gesamten Provinz proportional weniger polnischsprachige als deutschsprachige Mediziner.57 Erstere wurden zwar nicht explizit gefördert, aber auch nicht benachteiligt. Dass die Bemühungen des Instituts vorwiegend deutschsprachigen Kreisen galten, führte weder zu einer anderen Kreisen gegenüber exkludierenden Politik noch zu einer explizit nationalen Orientierung. Die polnischsprachigen Interessenten – Posener Ärzte wie auch Laien – wurden, auch wenn nicht sehr aktiv, einbezogen, indem ihre Teilnahme nicht reglementiert war. Das Institut schien, wie stets in den wenigen ihm gewidmeten Abhandlungen betont wird, eine im Vergleich zu anderen kulturellen Einrichtungen der Provinz weit überdurchschnittlich kooperative und jegliche Grenzen überschreitende Organisation zu sein.58 Dies lag jedoch weniger an seinem politisch-kulturellen Profil als an seiner professionellen thematischen Ausrichtung wie auch daran, dass es primär in einem Milieu – dem ärztlichen Milieu – agierte, das ohnehin eine starke fachliche Kooperation und einen Austausch zuließ und suchte.
Wie hygienisch und wirkungsvoll das Hygiene-Institut war:
über seine Handlungs- und Durchsetzungsfähigkeit
Für die Erfüllung der dem Institut politisch zugedachten Aufgaben brauchte es, neben ei ner guten politisch-kulturellen Vernetzung, auch eine starke Infrastruktur, finanzielle, humane und räumliche Ressourcen. Von grundlegender Bedeutung war ferner, das Vertrauen der lokalen Fachwelt und Laien zu gewinnen. Von diesen Faktoren hing es weitestgehend ab, wie viele Untersuchungen annehmbar und durchführbar waren, wie professionell diese ausgeführt wurden, wie aussagekräftig die Diagnostik und Expertise war, und im Resultat, inwiefern das Institut seine institutionelle Deutungsmacht ausdehnen, durchsetzen und die gesamte Provinz hygienisch-bakteriologisch kartieren und mit einem Untersuchungs- und Kontrollraster versehen konnte. Die Frage der finanziellen Kapazitäten erwies sich dabei sowohl für die Dauerpräsenz und Vertrauenswürdigkeit als auch für die Einsatzfelder oftmals als am bedeutsamsten, war mit der Personalfrage untrennbar verknüpft und wurde
1903 den Medizinalratstitel verliehen bekam. Vgl.: Biblioteka PTPT, Rkps. 1860: Życiorys dr. Walentego Panieńskiego.
56 Im Vergleich zu den Vorjahren stieg die Anfrage nach bakteriologischen Untersuchungen: Im Jahr 1903 wurden beispielsweise insgesamt 922 bakteriologische Untersuchungen ausgeführt, 1904/5: 1696, 1905/06: 3048, 1906/7: 2270 und im Jahr 1909: 6755, 1910: 7462, davon u.a. 1519 für Kreisärzte, 2389 für Krankenhäuser, 3279 für praktische Ärzte. Siehe: GStA PK, I. HA Rep. 76 VIII B, Nr. 3006: Separatdruck aus der Hygienischen Rundschau (1911), Nr. 13: Bericht über die Untersuchungstätigkeit der hygienisch-bakteriologischen Abteilung des Königlichen Hygienischen Instituts in Posen im Geschäftsjahr 1910 von Dr. Schuster, S. 1–3.
57 Je nach Quelle und Zählung stellten die polnischsprachigen Ärzte um 1912 etwa zwischen 36,1 % und 43,6 % aller in der Provinz tätigen Ärzte: in Posen lebten 62 und in den restlichen Provinzteilen etwa 201. Die meisten Zählungen beziehen sich auf die Stadt Posen selbst, für die beispielsweise Tadeusz Szulc für das Jahr 1906 die Zahl der polnischsprachigen Ärzte auf etwa 50 und der deutschsprachigen auf etwa 100 schätzte. Vgl. MOLIK Interigencja polska w Poznańskiem, S. 434; MOLIK Polscy lekarze; SCHUTTE Die Königliche Akademie in Posen, S. 92; SZULC Lekarzy polscy, S. 202–203.
58 Vgl. SCHUTTE Die Königliche Akademie in Posen, S. 92.
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über die gesamte Entstehungszeit des Instituts immer wieder zum Thema.59 Allein ein Blick auf das Institutsgebäude, das über eine architektonische Repräsentanz hinaus auch eine fachliche Expertise darzustellen hatte, lässt bereits erste Einsichten in die materielle Institutsausstattung und somit in die politische Institutsrückbindung zu.
Eine nähere Betrachtung der Räumlichkeiten versetzt einen in Staunen, auch wenn man bedenkt, dass das ursprüngliche Institutsgebäude zunächst nur als Übergangslösung gedacht war: Der Gebäudekomplex war, wie Wernicke im Jahr 1905 berichtete, „an sich sehr alt, baufällig und [die Bauten] erfordern fortwährend große Ausgaben für Reparaturen.“60 Wie er bereits ab 1900 immer aufs Neue anmerkte61: die Fußböden seien undicht, so dass sie nicht richtig desinfiziert werden könnten; aufgrund der Ineffizienz der Ofenheizung könnten einige Räume im Winter nicht geheizt werden; der Raum für die Pestuntersuchungen würde von Ratten heimgesucht62; das Dach sei undicht, so dass das Regenwasser regelmäßig die Kellermauer beschädige; in den Räumen der pathologisch-anatomischen Abteilung herrsche ständig schlechte Luft, die Infektionen und den Ausfall von Arbeitskräften verursache.63 „Letztes Jahr“, berichtete 1909 ein Abgeordneter aus Posen im Haus der Abgeordneten, „sind die Versuchstiere an Frost eingegangen.“64 Die sanitären Bedingungen, unter denen das Institut seine Expertisen verfasste, die als Grundlage seiner hygienisch-bakteriologischen Arbeit dienten, waren anscheinend sehr verbesserungswürdig; so sehr, dass sie der Posener Oberbürgermeister Ernst Wilms in einem Schreiben an Friedrich Althoff im Jahr 1908 mit den folgenden Worten zusammenfasste: „Ich wundere mich, daß der [für die sanitären Fragen des Bezirks der Stadt Posen zuständige] Kreisarzt das In
59 Diskutiert wurden immer wieder Fragen der materiellen Ausstattung, der angemessenen Bezahlung der Mitarbeiter und ihrer Anzahl sowie der finanziellen Lastenverteilung zwischen den einzelnen Behörden, Gemeinden und Kreisen, weil davon die Bereitschaft zur Zusendung bakteriologischen Materials zur eigenfinanzierten Expertise abhing. Vgl. APP, Hygiene-Institut Nr. 787, Nr. 18, Bl. 164: Rundschreiben des Kultusministeriums an die Regierungspräsidenten vom 26.02.1908; Bl. 170–182, hier insbesondere Bl. 182: Schreiben des Regierungspräsidenten an das Hygiene-Institut vom 15.01.1909. Ferner siehe u.a.: GStA PK, I. HA Rep. 76 VIII B, Nr. 3003, Bl.10–12: Schreiben des Regierungspräsidenten an das Kultusministerium vom 17.08.1904 und vom 03.10.1904, Schreiben des Regierungspräsidenten an das Kultusministerium vom 28.11.1901 und dessen Antwort vom 16.06.1902; GStA PK, I. HA Rep. 76 VIII B, Nr. 3003, Bl.10–12: Schreiben des Regierungspräsidenten an das Kultusministerium vom 17.08.1904; Interessanterweise wurde das Institut während des Krieges kaum von der Heeresverwaltung in Anspruch genommen, sondern vielmehr von den Kreisärzten des Generalgouvernements Warschau. Siehe: APP, Hygiene-Institut Nr. 787, Nr. 18: Ministeriale Korrespondenz des Instituts bezüglich der Gebühren.
60 APP, Hygienisches Institut Nr. 787, Nr. 2, Bl. 110: Schreiben von Wernicke an das Kultusministerium vom 18.02.1905.
61 GStA PK, I. HA Rep. 76 VIII B, Nr. 3004: Wernicke, Verwaltungsbericht vom 28.05.1900.62 APP, Hygiene-Institut Nr. 787, Nr. 2, Bl. 110: Schreiben von Wernicke an das Kultusministeri
um vom 18.02.1905.63 APP, Hygiene-Institut Nr. 787, Nr. 2, Bl. 45–51: Schreiben von Wernicke an das Kultusministe
rium vom 02.03.1905; Vgl.: GStA PK, I. HA Rep. 76 VIII B, Nr. 3017: Auszug aus den stenographischen Verhandlungen des Hauses der Abgeordneten, 48. Sitzung vom 13.03.1901, S. 3334–3339.
64 GStA PK, I. HA Rep. 76 VIII B, Nr. 3017: Rede von Kindler im Haus der Abgeordneten, 75. Sitzung am 30.04.1909, S. 5529–5530.
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stitut noch nicht geschlossen hat; ich glaube, er geht aus Höflichkeit, um der Gefahr der Schließung zu entgehen, nicht hin.“65 Der für das Institut zuständige Kreisarzt besuchte das Institut nicht, so könnte man ergänzen, um mit der Gefahr der Schließung auch die Gefahr einer Blamage zu vermeiden. Es wäre einer politischen Demütigung gleichgekommen, dass eine der wichtigsten hebungskulturellen Institutionen der Provinz nicht über die entsprechende Ausstattung verfügte, um ihre Rolle zu erfüllen. Die Tatsache, dass das Institut als die einzige preußische Institution in der Stadt Posen bis zum Jahr 1913 ohne einen Neubau blieb, lässt es ebenso wie die geringe Frequentierung seiner Veranstaltungen fraglich erscheinen, ob trotz der oben dargestellten hervorragenden institutionellen Vernetzungen die Einrichtung wirklich zu einer Durchsetzung preußischer Biopolitik in der Region in der Lage war. Wieso wurde, entgegen der rhetorischen Einrahmung, die materielle Existenz des Instituts so vernachlässigt? Glaubte man, seine Präsenz allein würde ausreichen, oder nahm man an, die Provinz sei doch eigentlich zu instabil, um die „großen Kolonisierungspläne“ tatsächlich umzusetzen?
Die Kostenfrage beschränkte sich dabei nicht allein auf die Gebäudeproblematik. Das Institut verfügte ferner über keinen eigenen Reisefonds, was seine Handlungsfähigkeit bei epidemiologischen Verdachtsfällen und Diagnosenachfragen einschränkte.66 Wernicke beantragte ständig die Erhöhung des Jahresetats. Vor allem die bakteriologischen Untersuchungen waren kostspielig, zeitraubend und benötigten zahlreiches geschultes Personal. Leider verzeichnete das Institut einen häufigen Personalwechsel, oftmals blieben Posten vakant, so dass eine personelle wie methodische Kontinuität kaum gewährleistet war. Die oberen, besser bezahlten, karrierefördernden Ränge blieben zwar kaum unbesetzt, aber es fehlte ständig an geschultem Hilfspersonal. Als 1907 die Suche nach einem geeigneten Kandidaten für die Stelle eines Hilfsassistenten der hygienisch-bakteriologischen Abteilung nach langen Bemühungen scheiterte, stieg die Bereitschaft Wernickes, jedem, der einigermaßen qualifiziert und lernfähig schien, die Stelle zu geben. Seine Resignation darüber, dass „Mediziner für solche Stellen hierher nach Posen wohl gar nicht mehr oder sehr selten zu bekommen sind“,67 war deutlich spürbar. Ohne ausreichend viele Arbeitskräfte und bei der starken Beanspruchung der vorhandenen Belegschaft, sowohl für aktuelle hygienische als auch für präventive Fragen, könne keine ausreichende hygienisch-bakteriologische Praxis gewährleistet werden und die Vortrags- und Gutachtertätigkeit komme zu kurz.68 Vor allem auf den Gebieten der Tuberkulose-Immunisierung, der Schutzimpfung gegen Typhus, bei der Erforschung der Trachomkrankheit oder aber der Syphilisbekämpfung kam es häufig zu Engpässen.69 Aufgrund des Personalmangels mussten ab und zu
65 GStA PK, I. HA Rep. 92, NL Althof, B, Nr. 197, Bd.1, Bl. 137: Wilms an Althoff im Begleit brief zu den Beschwerdebriefen von Wernicke vom 01.10.1908. Vgl.: SCHUTTE Die Königliche Akademie in Posen, S. 328.
66 Das Hygiene-Institut musste in solchen Fällen den Reisefonds der Regierung von Posen in Anspruch nehmen, was aufgrund hoher institutioneller Anfragen das Verfahren verlängerte und verlangsamte.
67 GStA PK, I. HA Rep. 76 VIII B, NR. 3013: Schreiben von Wernicke an das Kultusministerium vom 16.05.1907.
68 Vgl. APP, Hygiene-Institut, Nr. 4: Korrespondenz zwischen Wernicke und dem Innenministerium, insbesondere Bl. 114–118.
69 Vgl. GStA PK, I. HA Rep. 76 VIII B, Nr. 3015: Schreiben von Winkler an Wernicke vom 08.07.1913; Schreiben von Wernicke an das Innenministerium vom 30.06.1914.
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bakteriologische Proben, die dem Institut zur Expertise zugeschickt wurden, abgelehnt werden. Im Jahr 1906 – in dem sogar ein temporärer Rückgang aller Untersuchungen verzeichnet wurde70 – kündigte Wernicke an, keine weiteren Stuhlproben für Diagnosen von Typhusbazillenträgern annehmen zu können und empfahl den Kreisärzten, eine Desinfektion bei jedem Verdachtsfall anzuordnen, egal ob eine bakteriologische Expertise vorlag oder nicht. Das Institut war, wie Wernicke argumentierte, sowieso nicht imstande, Untersuchungen für alle 42 Kreisärzte durchzuführen – auch nicht in Jahren mit weniger Anfragen.71
Die allgemeine – räumliche, personelle wie auch finanzielle – Beengtheit führte zum einen dazu, dass das Angebot an bakteriologischen Schulungen nicht vollständig umgesetzt werden konnte, zum anderen dazu, dass nicht alle Untersuchungsanfragen bearbeitet wurden. Waren beispielsweise im Jahr 1906 Untersuchungen bei Verdacht auf Trägerschaft von Krankheitserregern zunächst für notwendig erklärt worden, so wurde bald darauf, schon einige Monate später, ein Annahmestopp für derartige Proben verkündet. „Ich würde, nachdem sich das Publikum an die Vornahmen von bakteriologischen Untersuchungen zu gewöhnen anfängt“, schrieb ein Kreisarzt an den Regierungspräsidenten, „es als einen bedauerlichen Rücktritt in der Ausübung der Sanitätspolizei ansehen, wenn das hierin mühsam gewonnene Terrain durch das Verhalten des hygienischen Instituts wieder verloren ginge. Mit dem Versagen des hygienischen Instituts habe ich umso weniger gerechnet, als früher von seiner Stelle aus Klagen geführt wurden, daß nicht genug Untersuchungsmaterial einging.“72
Das Fehlen finanzieller Mittel, geeigneten Personals oder die schlechten hygienischen Institutsbedingungen waren aber nicht allein für die mangelnde Durchsetzungskraft des Hygiene-Instituts verantwortlich. Noch deutlicher werden die Defizite des Instituts, wenn man das fehlende hygienische Bewusstsein der Institutsmitarbeiter selbst betrachtet. Wie einer an Wernicke adressierten internen Beschwerde über den unvorsichtigen Umgang mit infektiösem Material zu entnehmen ist, hielten viele der Institutsdiener beim Transportieren von Leichenorganen nicht einmal die einfachsten hygienischen Sicherheits- und Desinfektionsvorkehrungen ein. Ihr (Fehl-)Verhalten schien den anderen Institutsmitarbeitern kaum aufzufallen. Als der Diener Reykowski in Papier eingewickelte Organe zur Untersuchung aus dem recht weit entfernt liegenden Stadtkrankenhaus ins Institut brachte, „gab [er] diese dem Herrn Dr. Sehrt, wickelte dann das Papier zusammen und warf es mitten auf den Hof zu einem Schutthaufen, der sich hier z. Zt. infolge Dachdeckerarbeiten befand, darauf kam Herr Dr. Sehrt und sagte: ‚Es fehle noch ein Organteil, wo haben sie das Papier?‘, pp. Reykowski nimmt das Papier vom Schutthaufen und entwickelt daraus dann das Gesuchte.“73 Es soll auch mehrmals vorgekommen sein, dass Diener auf der Instituts
70 GStA PK, I. HA Rep. 76 VIII B, Nr. 3006: Separatdruck aus der Hygienischen Rundschau 1911, Nr. 13, Bericht über die Untersuchungstätigkeit der hygienisch-bakteriologischen Abteilung des Königlichen Hygienischen Instituts in Posen im Geschäftsjahr 1910 von Dr. Schuster, S. 3.
71 GStA PK, I. Ha Rep. 76 VIII B, Nr. 3006: Bericht von Wernicke vom 09.09.1906.72 GStA PK, I. HA Rep 76, Nr. 3006: Schreiben des Kreisarztes Dr. Clauss an Regierungspräsi
denten und Polizeipräsidenten v. 31.03.1906.73 APP, HI, Nr. 13, Bl. 172–177, hier Bl. 175: Vorweck, Beschwerde gegen das unvorsichtige Um
gehen mit infektiösen Material seitens der pathologisch-anatomischen Abteilung des Hygienischen Instituts vom 15.07.1903.
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Im Namen der „großen Kolonisationsaufgaben“: Das Hygiene-Institut in Posen
treppe stürzten, weil sie in den Blutlachen ausrutschten, die ein unsachgemäßer Leichentransport hinterlassen hatte. Es wurde auch berichtet, dass Teller in einem „vor Schmutz ekelhaft anzuschauenden Tragebrett“ transportiert wurden.74 Noch Jahre später berichtete Wernicke selbst, allerdings stets intern und nie öffentlich, von einigen weiterhin fehlenden Schutzmaßnahmen und von unerwünschtem Rauchen in den Laborräumen, das nur „auf eigene Gefahr“ hin geduldet wurde.75 Wenn noch nicht einmal die eigenen Mitarbeiter hygienisch zu disziplinieren waren, wie sollte dann das Institut seine hygienische Geltungshoheit über das eigene Haus hinaus durchsetzen? Das Institut konnte einen solchen absoluten Geltungsanspruch nicht nur nicht umsetzen, sondern noch nicht einmal formulieren. Seine Tätigkeit im Bereich der Hygiene, Bakteriologie und Chemie ließ die Posener Behörden und Ärzte mit diesen Tätigkeitsfeldern in Berührung kommen. Sie unterstützten also durchaus die Einführung „moderner“ und als kulturell wertvoll betrachteter medizinischer und hygienischer Techniken. Aber ohne eine ausreichende finanzielle und personelle Basis war sein Anspruch als Instanz der Hygienisierung der gesamten Provinz nur schwer haltbar.
In den Zwängen der Politik: ein Resümee über die Setzung des Hygiene-Instituts
Die Einrichtung des Hygiene-Instituts wurde als ein epochemachender politischer Schritt angekündigt, der sowohl neue hygienisch-kulturelle Impulse in das provinzielle Posener Leben bringen sollte, als auch dazu bestimmt war, in der Provinz die preußische Hegemonialpolitik zu intensivieren, in deren Mittelpunkt jetzt eine stärker normalisierende Bevölkerungspolitik stehen sollte. Das Institut wurde konzeptuell als ein Hebel eingesetzt, um eine preußische (Polen-)Politik zu forcieren, in deren Mittelpunkt die Förderung des Deutschtums in der Region und die Demonstration deutscher Überlegenheit stand. Allerdings wurde das Institut dafür materiell keineswegs angemessen ausgestattet. Es war zu schwach und zu wenig frequentiert, um als „ein wichtiges [Instrument und] Mittel zur Förderung des deutschen Wesens und deutscher Gesittung in der Provinz Posen“ zu agieren, und zu einseitig und unscharf profiliert, um als „ein geistiger und intellektueller Stützpunkt […] für die großen Kolonisationsaufgaben“76 zu dienen. Die ihm zugedachten „großen Kolonisationsaufgaben“ waren dabei eher abstrakt formuliert, als ob deren rhetorische Beschwörung ausreichen würde und mit der Institutsgründung selbst schon alles getan wäre. Da dem politischen Willen keine entsprechende finanzielle Unterstützung und keine langfristigen Zukunftspläne folgten, blieb die institutionelle Wirkung und die mit ihr zu realisierende (Bio-)Politik ein Postulat, das nicht systematisch verfolgt wurde.
Einerseits sollte das Institut der Bevölkerung eine strategische Anleitung liefern, mit deren Hilfe das Leben der Menschen nicht nur einfach gelenkt, sondern im Namen des zu formierenden Volkskörpers in seiner Produktivität gesteigert werden sollte; andererseits
74 APP, HI, Nr. 13, Bl. 172–177, hier Bl. 174: Vorweck, Beschwerde gegen das unvorsichtige Umgehen mit infektiösen Material seitens der pathologisch-anatomischen Abteilung des Hygienischen Instituts vom 15.07.1903.
75 APP, HI, Nr. 13, Bl. 231–234, hier Bl. 233: Erich Wernicke an das Kultusministerium, Bericht betreffend Maßnahmen zur Verhütung einer Infection des Anstaltspersonals während der dienstlichen Tätigkeit vom 06.01.1911.
76 GStA PK, I. HA Rep. 76 Vc, Sekt. 13, Tit. 23, Nr. 2, Bl. 27: Witting, Protokoll einer Besprechung zum Thema „kulturelle Hebung“ vom 11.01.1902.
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wurde kaum etwas unternommen, um dem Institut die dazu nötigen Instrumente an die Hand zu geben. Die schlechte finanzielle, räumliche, personelle und hygienische Ausstattung reflektierte nur die politische Unentschlossenheit, wie man eigene Ziele einlösen, dabei die Position der deutschsprachigen Bevölkerung stärken und die polnischsprachige einbeziehen könne, ohne die letzteren zugleich kulturell und damit auch politisch zu fördern. Die polnischsprachige Bevölkerung galt es, – allein schon wegen des praxis- und dienstleistungsbezogenen Institutscharakters – nicht auszuschließen, aber sie sollte auch nicht gleichermaßen explizit angesprochen werden. Die polnischsprachige Ärzteschaft war einerseits unter der Ägide der preußisch besetzten Hygiene anzuleiten, andererseits aber auch nicht zu stark zu unterstützen. Diese zwiespältige Haltung bezüglich der (nationalen) Reichweite offenbart die Unvollständigkeit der regionalen biopolitischen Entwürfe, die erst durch die Zusammenarbeit erprobt und konkretisiert werden konnten und die zwischen einer national gedeuteten restriktiven und einer regional gebundenen präventiven Normalisierungspolitik hin- und herschwebten. So wurden beispielsweise Vorschläge, aus dem Hygiene-Institut eine Akademie für praktische Medizin in Posen zu machen, meist mit dem Argument abgelehnt, dass „die finanziellen Aufwendungen in keinem Verhältnis zu dem der Stadt erwachsenden Nutzen stehen“77 würden, – und dies, obwohl stets beteuert wurde, dass eine solche Einrichtung zur so nötigen Verbesserung der mangelhaften medizinischen Versorgung der Provinz und zur besseren Ausbildung ortsgebundener Mediziner führen würde, die das Institut unmöglich leisten konnte.
Das Institut blieb durch politisches Taktieren gehemmt, denn ohne entsprechende Mittel war es unmöglich, eine eigene Hygienepolitik und eine dauerhafte, auch lokal sichtbare Präsenz aufrechtzuerhalten. Hinzu kam, dass es zu stark auf seine Konsolidierung nach innen (Personal, Mittel, Gebäudezustand) und auf seine Darstellung nach außen (Vernetzung, Sichtbarkeit, wissenschaftlicher Austausch, Wahrnehmbarkeit, beratender oder fördernder Charakter) fokussiert war, als dass es kontinuierlich als eine produktive, präventive Normalisierungspolitik umzusetzende Instanz hätte agieren können. Und solange es keine klare Vorstellung gab, welche Bevölkerungsteile wie gelenkt und auf welche Weise wohin integriert werden sollten, war eine aktive Bevölkerungspolitik ohnehin kaum umsetzbar.
Das Hygiene-Institut illustriert, wenn man es als einen Mikrokosmos der politisch-kulturellen Verflochtenheit der Provinz Posen betrachtet, dass es politisch oftmals eher auf eine starke Präsenz und eine plakative kulturelle Kodierung als auf eine messbare Verbesserung der Lebensverhältnisse und/oder deren kulturelle Durchdringung ankam. Seine Geschichte verdeutlicht zudem, dass ohne eine lokale Rückbindung, die eben nur durch eine Einbeziehung aller Bevölkerungsteile und nur mithilfe der notwendigen Mittel zu erreichen ist, jede zentralistische Hygienisierung scheitern muss – vor allem dann, wenn sie vieles und Widersprüchliches gleichzeitig will: eine Region stärken, mit dem Wunsch, alle zu erreichen, ohne aber alle gleichermaßen davon profitieren zu lassen. In diesem Sinne postulierte die preußische Hegemonialpolitik eine kulturelle und hygienische Hebung einer mental noch zu besetzenden Provinz, ohne eine zukunftsorientierte Vision dieser Provinz zu haben und ohne zu wissen, wie die „großen Kolonisierungsvisionen“ mit konkreten Bilder gefüllt werden sollten.
77 APP, AM Poznania, Nr. 2568, Bl. 22: Magistratbeschluß v. 08.08.1913.
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Im Namen der „großen Kolonisationsaufgaben“: Das Hygiene-Institut in Posen
AbkürzungsverzeichnisAPP Archiwum Państwowe Poznańskie (Staatsarchiv Posen)GStA PK Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz in Berlin-Dahlem NL Nowiny LekarskiePNN Posener Neueste NachrichtenPTPT Poznańskie Towarzystwo Przyjaciół Nauk (Posener Gesellschaft der Freunde der Wissen
schaften)WBC Wielkopolska Biblioteka Cyfrowa
Verzeichnis der ArchivquellenAPP, Akta Miasta Poznania, Nr. 2568: Acta betreffend die Errichtung einer Akademie für praktische
Medizin.APP, Hygienisches Institut, 787, Nr. 2: Acta betreffend den Etat des Instituts, 1904–1908.APP, Hygienisches Institut, 787, Nr. 7: Acta betreffend den Etat des Instituts, 1919–1920.APP, Hygienisches Institut, 787, Nr. 18: Gebühren-Tarif, 1899–1920.APP, Hygienisches Institut, 787, Nr. 30: Die Königliche Akademie zu Posen, 1903–1916.APP, Hygienisches Institut, 787, Nr. 31: Die Königliche Akademie zu Posen, 1917–1919.APP, Kreisarzt Lissa, Nr. 3: betr. Instruktion der Medizinalbeamten, 1898–1901.APP, Kreisarzt Schmiegel, Nr. 3466: betr. Desinfektoren und Leichenbeschauen, 1902–1912.APP, Landrat Birnbaum, Nr. 476: betreffend die Ausbildung der Heilgehülfen und Desinfektoren so
wie die Desinfektionsmittel und die Regelung des Desinfektionswesens, 1902–1913.APP, Landrat zu Czarnikau, Nr. 207: Medizinalwesen im Allgemeinen, 1866–1919.Biblioteka PTPT, Rkps. 1860: Życiorys dr. Walentego Panieńskiego.Biblioteka Uniwersytecka w Poznaniu, Dział Zbiorów Specjalnych i Rękopisów, sign. 2803/2:
Szulc, Tadeusz, W Poznaniu i wokół niego (wspomnienia) Bd. II Część Piąta, Wolna Polska, 1918–1939.
GStA PK, I. HA Rep. 76 Vc, Sekt. 13, Tit. 23, Nr. 2: Acta betreffend die Einrichtung zur Förderung des Deutschthums in Bromberg, vom März 1886.
GStA PK, I. HA Rep. 76 VIII B, Nr. 1480: Acta betreffend die Hebammenlehranstalt in der Provinz Posen.
GStA PK, I. HA Rep. 76 VIII B, Nr. 3003: Acta betreffend die Errichtung von Untersuchungsanstalten zu Zwecken des Gesundheitswesens in der Provinz Posen, 1904–1905.
GStA PK, I. HA Rep. 76 VIII B, Nr. 3004: Acta betreffend Die Einwirkung und die Verwaltung des (staatlichen) Hygienischen Instituts in Posen, 1895–1900.
GStA PK, I. HA Rep. 76 VIII B, Nr. 3005: Acta betreffend Die Einrichtung und die Verwaltung des (staatlichen) Hygienischen Instituts in Posen, 1901–1904.
GStA PK, I. HA Rep. 76 VIII B, Nr. 3006: Acta betreffend Einrichtung und die Verwaltung des (staatlichen) Hygienischen Instituts in Posen, 1904–1911.
GStA PK, I. HA Rep. 76 VIII B, Nr. 3007: Acta betreffend Einrichtung und die Verwaltung des (staatlichen) Hygienischen Instituts in Posen, 1911–1925.
GStA PK, I. HA Rep. 76 VIII B, Nr. 3008: Acta betreffend Etats des Hyg. Ins. in Posen, 1900–1904.GStA PK, I. HA Rep. 76 VIII B, Nr. 3009: Acta betreffend Etats des Hyg. Ins. in Posen, 1904–1911.GStA PK, I. HA Rep. 76 VIII B, Nr. 3011: Acta betreffend die Beamten des Hygienischen Instituts
in Posen, 1899–1902.GStA PK, I. HA Rep. 76 VIII B, Nr. 3012: Acta betreffend die Beamten des Hygienischen Instituts
in Posen, 1903–1905.GStA PK, I. HA Rep. 76 VIII B, Nr. 3013: Acta betreffend die Beamten des Hygienischen Instituts
in Posen, 1905–1908.
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GStA PK, I. HA Rep. 76 VIII B, Nr. 3015: Acta betreffend die Beamten des Hygienischen Instituts in Posen, 1912–1916.
GStA PK, I. HA Rep. 76 VIII B, Nr. 3016: Acta betreffend die Verzeichnisse der Beamten des Hygienischen Instituts in Posen, 1902–1918.
GStA PK, I. Ha Rep. 76 VIII B, Nr. 3017: Acta betreffend die Beamten des Hygienischen Instituts in Posen, vom August 1900 bis Dezember 1910.
GStA PK, I. Ha Rep. 76VIII B, Nr. 3018: Acta betreffend die Beamten des Hygienischen Instituts in Posen, 1911–1920.
GStA PK, I. Ha Rep. 76 VIII B, Nr. 3019: Acta betreffend Die staatliche Medizinaluntersuchungsstelle in Bromberg, vom März 1904 bis März 1912.
GStA PK, I. Ha Rep 76 VIII B, Nr, 3020: Acta betreffend Die staatliche Medizinaluntersuchungsstelle in Bromberg, vom April 1912 bis 1925.
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Poznaniu (1899–1918), in: Jerzy T. Marcinkowski / Andrzej Trybusz/Andrzej Zarzycki (Hg.) W trosce o zdrowie. Poznań 2009, S. 45–48.
Summary
For the Sake of “the Great Colonial Task”:
The Hygienic Institute in Posen (1899–1920) and Prussian Hegemonic Policy
in the Ostmark
By establishing a new institute of hygiene in Posen in 1899 the German political agenda for the Province of Posen – a multinational, multi-confessional, strongly Polish shaped region – should get a new profile. German hegemonic politics, German culture and the cultural proximity of the region to the German Empire should be reinforced. Furthermore, the institute was to introduce a new demographic policy. Berlin aimed at medicalizing the entire region and thus at strengthening the German-speaking population while at the same time disciplining the Polish by not allowing them to benefit too much from the Institute’s services. Taking the Institute as a microcosm of regional politics and as designed to be one of the most powerful political tools to govern the province, this essay explores the contradictions and challenges of the German hegemonic and colonial agenda for the eastern parts of the Empire. It argues in favour of both, the historical importance of political debates and rhetoric on the one hand and of local practices, material and social, human and intellectual capa cities on the other. The analysis of both of these fields reveals two trends: the repeated political claim to German cultural domination contradicted the financial commitment to the region. In the end Posen remained a province culturally too unstable to be worth serious efforts. The Institute was established in the name of the state, but should act in the name of hygiene. However, it remained constrained by the lack of political will and finally could claim only very limited success.
Justyna A. Turkowska ist Doktorandin am Historischen Institut der Justus-Liebig-Universität Gie
ßen, zur Zeit Stipendiatin des Leibniz-Instituts für Europäische Geschichte Mainz (IEG); Justus-Lie
big-Universität Gießen, Historisches Institut, Osteuropäische Geschichte, Philosophikum I 10 D,
35394 Gießen ([email protected]).
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