"Zwei Perspektiven der Gesellschaftskritik: Uberlegungen im Anschluss an Michael Walzer", Deutsche...

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.. DEUTSCHE ZEITSCHRIFT FUR PHILOSOPHIE Zweimonatsschrift der internationalen philosophischen Forschung I Sonderdruck I 4/2002 Rolf Zimmermann Historischer Universalismus Norbert Winkler Die zweite Geburt der europaischen Ethik - Petrus Abaelardus und die Stoa Gunter Abel Zeichen der Wirklichkeit Jonathan Allen Perspektiven der Gesellschaftskritik David Owen/Thomas Johansson Interpretation, Verstandlichkeit und die Gren- zen einer Phanomenologie der Moral Mattias Iser Der Spiegel der Kritik - Michael Walzer und die Kritische Theorie Gunther Jacoby Der Pragmatismus Christian lber Herrschaft der Zeit und ihre Transzendenz Akademie Verlag ISSN 0012-1045 Dtsch. Z. Philos., Berlin 50 (2002) 4, 503-670

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.. DEUTSCHE ZEITSCHRIFT FUR

PHILOSOPHIE Zweimonatsschrift der internationalen philosophischen Forschung

I Sonderdruck I

4/2002

Rolf Zimmermann Historischer Universalismus Norbert Winkler Die zweite Geburt der europaischen Ethik - Petrus Abaelardus und die Stoa Gunter Abel Zeichen der Wirklichkeit Jonathan Allen Perspektiven der Gesellschaftskritik David Owen/Thomas Johansson Interpretation, Verstandlichkeit und die Gren­zen einer Phanomenologie der Moral Mattias Iser Der Spiegel der Kritik -Michael Walzer und die Kritische Theorie Gunther Jacoby Der Pragmatismus Christian lber Herrschaft der Zeit und ihre Transzendenz

Akademie Verlag ISSN 0012-1045 Dtsch. Z. Philos., Berlin 50 (2002) 4, 503-670

DZPhil, Berlin 50 (2002) 4, 551-565

Zwei Perspektiven der Gesellschaftskritik

Oberlegungen im Anschluss an Michael Walzer*

Von JONATHAN ALLEN (Urbana-Champaign)

Im Laufe der Jetzten beiden Jahrzehnte haben Michael Walzers Arbeiten zur Gesell­schaftskritik die Kategorien der Auseinandersetzung in zwei Hinsichten verandert. Erstens hat er das Model) einer ,,verbundenen Kritik" verteidigt. Mit diesem Modell verwirft Wal­zer die vorherrschende Sicht, der zufolge jede echte Gesellschaftskritik distanziert oder von der Gesellschaft oder Kultur des Kritikers entfremdet zu sein hat und der zufolge der Kritiker am besten als eine Figur des ,,Exils" oder als eine Randfigur aufzufassen ist. An­stelle dieser herrschenden Sicht behauptet Walzer, dass die Kritiker ,,verbunden" oder in einem gewissen Sinne ,, loyal" gegentiber ihren Gesellschaften und Kulturen zu sein haben. Zweitens ist Walzer - zum groBten Tei! implizit, obgleich zuletzt sogar explizit - daftir ein­getreten, eine ,,Theorie Uber Gesellschaftskritik" auszuarbeiten, die die ethischen Seiten der Praxis der Kritik hervorhebt. Er behauptet, Theorien dieser Art seien ,,ntitzlich ftir ak­tuelle Kritik. Nicht weil sie eine vollstandige historische oder analytische Darstellung der sozialen Welt geben, sondern weil sie den Charakter des kritischen Engagements themati­sieren und die lokale Umwelt beschreiben, in der Gesellschaftskritiker arbeiten und le­ben. "1

Diese beiden Projekte haben meines Erachtens zu einer intellektuell befreienden Dar­stellung der Gesellschaftskritik geftihrt. Walzers pragmatistische Betonung, es sei not­wendig, sich auf die Praxis der Gesellschaftskritik zu besinnen, vermag uns nicht nur von der philosophischen Obsession einer Suche nach den rationalen Fundamenten der Ge­sellschaftskritik zu entlasten, sondern kann uns auch dabei helfen,jener Mittel gewahr zu werden, die den Gesellschaftskritikern bereits direkt zuganglich sind.

* Eine leicht abweichende Fassung dieses Essays wurde im Rahmen des Bielefelder Kolloquiums iiber Michael Walzer vorgetragen. Besonderen Dank schulde ich Axel Honneth und Michael Walzer. Aber ich mochte auch den Teilnehmern der Tagung fiir ihre groBziigigen Anmerkungen und fiir die anre­gende Diskussion danken, insbesondere Mattias Iser und David Miller. Fiir seine Anmerkungen zu einer friiheren Fassung des Vortrages danke ich auch George Kateb.

Michael Walzer, Mut, Mitleid und ein gutes Auge. Tugenden der Sozialkritik und der Nutzen von Ge­sellschaftstheorie, in: Deutsche Zeitschrift fiir Philosophie, 48 (2000) 5, 718; vgl. auch ders., Social Cri­ticism and Social Theory, unveroffentlichter Vortrag beim Princeton Political Theory Colloquium 2001, 28.

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Ich bin vollig iiberzeugt vom Wert dieser Aspekte in Walzers pragmatistischer, ethischer Theorie zur Praxis der Gesellschaftskritik. Allerdings glaube ich, dass es moglich ist, sich der Gesellschaftskritik in einer Walzerschen Art zu nahern - indem man ihre praktischen und ethischen Starken und Schwachen untersucht - und dennoch wertzuschatzen, was Walzer als distanzierte oder entfremdete Kritik bezeichnet. Eine pragmatistische und ethi­sche Theorie der Gesellschaftskritik kann uns in der Tat dabei helfen zu erkennen, dass Distanz ebenso ihren kritischen Nutzen (und natiirlich eine Menge charakteristischer Ri­siken) hat wie die Verbundenheit. Walzers allgemeiner Ansatz kann uns zu der Einsicht verhelfen, dass es keinen Sinn macht, in allgemeinen und klaren Gegensatzen oder Anti­thesen zwischen ,,verbundener" und ,,distanzierter" Kritik zu unterscheiden. Stattdessen konnen wir begreifen, dass Verbundenheit und Distanz wirklich zwei Perspektiven sind -die ich als ,,internalistische" und ,,externalistische" Perspektiven oder Stile der Kritik be­zeichnen werde -, die beide wichtige Rollen im kritischen Unternehmen spielen, obgleich beide auf je eigene Weise problematisch sind. Im Folgenden mochte ich davon ausgehen, dass eine angemessene Theorie der Gesellschaftskritik uns sowohl die Risiken als auch den Wert dieser beiden kritischen Perspektiven bewusst macht, ohne jedoch die Wahl zwischen ihnen vorwegzunehmen. In der Praxis mogen Kritiker auf Grund politischen Drucks und auf Grund der Beurteilung der Art und der Erfordernisse ihrer eigenen Lage die eine oder die andere dieser kritischen Perspektiven hervorheben. Eine gute Theorie sollte ihnen aJ­lerdings erkliiren, was sie eigentlich tun, wenn sie diese Wahl treffen, statt die Wahl an ihrer Stelle zu treffen.

Dies sind die Ansichten, die ich hier zu verteidigen beabsichtige. Ich werde meinen Stand­punkt in drei Schritten darlegen. Zunachst skizziere ich einige meiner Griinde, auf deren Basis ich iiber Perspektiven oder Stile der Gesellschaftskritik spreche, statt einfach die Begriffe ,,verbundene" oder ,,distanzierte" Kritik aus der gegenwartigen Literatur zu iiber­nehmen. Zweitens werde ich einige der Starken und Risiken zu umreiBen versuchen, die mit der internalistischen kritischen Perspektive verbunden sind. Und drittens mochte ich dasselbe fiir die externalistische Perspektive tun.

Was ich hier also vorschlage, ist eine Modifikation von Michael WaJzers Theorie der Ge­sellschaftskritik - seiner Verteidigung der ,,verbundenen Kritik". Aber ich mochte auch gleich hinzufiigen, dass diese Modifikation stark von seiner Arbeit beeinflusst ist, und ich hoffe, dass sie dem Geist seiner Auffassung von Gesellschaftskritik entspricht.

I. Gesellschaftliche Positionierung und Kritische Perspektiven

An anderer Stelle babe ich den Versuch unternommen, einen kritischen Blick auf die Ar­gumente zu werfen, die Michael Walzer und Richard Rorty zu Gunsten der verbundenen Kritik oder der ,,patriotischen Kritik", wie Rorty sagt2

, vorbringen. lch habe die Auffassung vertreten, dass Walzer und Rorty einen wichtigen Beitrag leisten, wenn sie uns daran erin­nern, dass Kritiker sich immer innerhalb einer Gesellschaft und Kultur befinden. Gesell­schaftskritiker tun gut daran, diesen Einfluss auf ihre Urteile anzuerkennen. lch akzeptiere

2 V gl. meinen Aufsatz The Situated Critic or the Loyal Critic? Rorty and Walzer on Social Criticism, in: Philosophy & Social Criticism, 24 (1998) 6, 25-46.

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diese Forderung und werde sie auch im folgenden Abschnitt verteidigen. Gleichwohl habe ich in meiner fri.iheren Erorterung von Walzers und Rortys Position zusatzlich noch ein eher negatives Argument gegen ihre Behauptung vorgebracht, dass ein distanzierter oder entfremdeter Stil oder eine solche Stimmung kein angemessenes kritisches Modell dar­stelle. Ihrer Ansicht nach ist der beste Kritiker einer, der bewusst seine Verbundenheit mit einer Gesellschaft oder Kultur in der Kritik bejaht. An einer Stelle geht Michael Walzer so weit zu behaupten, dass ,,Kritik [ ... ] als gesellschaftliche Praxis unmoglich [ist], wenn Loya­litat" oder ein bejahendes Gefi.ihl vertrauter Verbundenheit zu einem Volk ,,fehlt".3 Die­ses Gefi.ihl der Loyalitat regt den Kritiker an, selbst wenn er ins Exit gezwungen wird, und es bestarkt seinen Zorn i.iber eine Gesellschaft, die ihrem eigenen Selbstverstandnis untreu wird. Diese Behauptung scheint mir nicht aus dem Vorhergehenden zu folgen , dem zufolge der Kritiker unvermeidlich durch seine Umgebung beeinflusst ist und gut daran tut, dies anzuerkennen. Gewiss kann die Anerkennung der Beeinflussung Kritiker auch dazu be­wegen, gegen diese Einfli.isse aufzubegehren, kann zu Gesten der versuchten Ablehnung oder Distanzierung fi.ihren statt zu einer Kritik, die sich vom Gefi.ihl der Loyalitat gegen­i.iber den ortlichen Gegebenheiten leiten !asst.

Die interessantesten Behauptungen Michael Walzers gegen die entfremdete oder dis­tanzierte Kritik scheinen mir ethischer oder politischer und nicht so sehr epistemologi­scher oder ontologischer Natur zu sein.4 Politisch und moralisch problematisch ist weni­ger, dass Kritiker sich nicht von ihrer Umgebung Ibsen konnen (obgleich ich annehme, dass Walzer glaubt, dass ihnen das nie ganzlich gelingen kann) , sondern problematisch ist bereits der entsprechende Versuch. Im Wesentlichen gilt Walzers Misstrauen derTatsache, dass entfremdete Kritiker mit groBerer Wahrscheinlichkeit anfallig sind fi.ir weitreichende Formen von moralischem Absolutismus und einer Respektlosigkeit gegenilber dem Selbst­verstandnis der Menschen, sich wahrscheinlich weniger auf dieses Selbstverstandnis ein­lassen. Entfremdete oder distanzierte Kritik ist unerwi.inscht, weil sie Kritiker zu roman­tischer Wirkungslosigkeit verfi.ihren kann. Und sie ist unerwilnscht, weil sie eine Art moralischen Absolutismus und eine doktrinare Haltung auf Seiten der Kritiker ermutigt, was unter gewissen Umstanden todliche Konsequenzen haben kann.

Dies scheinen mir gewichtige Einwande gegen die Distanzierung zu sein. Allerdings glaube ich nicht, dass sie entscheidend sind. Wenn die Tatsache des menschlichen Verbun­denseins mit einer Kultur oder einer GeseUschaft nicht unvereinbar ist mit dem Bestreben, Distanz zu gewinnen, und wenn die moralischen Einwande gegen die Distanzierung das ent­scheidende Problem darstellen, dann ist es zweifellos moglich, das Bild zu komplizieren. Ge­nau dies habe ich im Folgenden vor. Es scheint mir, dass man unparteiischer als Walzer sein und doch sehen kann, dass beide Perspektiven von Gesellschaftskritik, die er identifiziert (In­ternalismus und Externalismus), ebenso riskant wie wertvoll fi.ir die Gesellschaftskritik sind.

Alie Arbeiten von Walzer heben mit der Einsicht an, dass menschliche Wesen immer in einem sozialen und kulturellen Umfeld existieren - das heiBt in einem bedeutungsvollen Kontext, den sie nicht einfach de novo gewahlt oder konstruiert haben. Gewiss nun be-

3 Michael Walzer, Zweifel und Einmischung. Gesellscbaftskritik im 20.Jahrhundert, FrankfurtfM. 1991, 322.

4 In dieser Hinsicht unterscheidet sich Walzer meines Eracbtens von Rorty, der die entfremdete Kritik aus epistemologischen Griinden verwirft. Daher erscheint mir Walzers Ansatz viel versprechender.

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deutet die Tatsache, dass das Selbst in einen gesellschaftlichen Kontext eingebunden ist, dass Gesellschaftskritik immer einseitig sein wird, offen fiir Erneuerung, aber auch fiir Wiederaneignungen und Verzerrungen. Es bedeutet auch, dass Kritik, die einen besonde­ren Standpunkt zu transzendieren versucht, immer einem gewissen Verdacht ausgesetzt sein wird. Aber das heiBt nicht, dass das Bestreben, einen AuBenseiterblick auf die eigene Gesellschaft zu gewinnen, falsch ist. Im Gegenteil: Gerade weil Gesellschaftskritik einem kulturellen Kon text entspringt, ist sie anfallig dafiir, von herrschenden Gruppen wiederan­geeignet und verzerrt zu werden. Feste, die einst Siege Ober ungerechte Herrscher feierten, konnen einen groBen Tei! ihrer Bedeutung und Wirkung verlieren und mit der Zeit zu einem rein historischen Uberbleibsel werden. Zuweilen kann es notwendig sein, einen ra­dikaleren Bruch rnit den etablierten kulturellen Formen zu suchen. Mag sich dies auch schwierig und manchmal kostspielig gestalten, so kann es doch moglich oder auch erstre­benswert sein. Tatsachlich mag es unmoglich sein, eine ,,totale Kritik" zu Stande zu brin­gen - eine Einsicht also, die unbeeintrachtigt von jedem sozialen oder kulturellen Einfluss ware -, und das BemOhen um einen ganzlich unparteiischen Standpunkt verbleibt wahr­scheinlich eher auf der Ebene des Anspruchs, als dass es sich realisieren lieBe. Trotzdem konnen die Versuche, eine fremde, distanzierte, umfassende oder externalistische Perspek­tive einzunehmen, manchmal wertvoll sein. Um zu bestimmen, wie vie! Verbundenheit und wie vie! Distanz notig ist, und in welcher Hinsicht Verbundenheit und Distanz wertvoll oder riskant sind, mOssen wir die ethischen und strategischen Sachverhalte verstehen, de­nen sich die Gesellschaftskritiker wahrscheinlich gegenObersehen.

Aus diesem Grund mochte ich eher von einer Gleichgewichtung ,,internalistischer" und ,,externalistischer" Stile oder Perspektiven der Gesellschaftskritik sprechen, als die Terrni­nologie zu Obernehmen, die gegenwartig in Arbeiten Ober Gesellschaftskritik bevorzugt wird. Richard Rorty und Michael Walzer beispielsweise beschreiben die gesellschaftliche Positionierung des Individuums in sozialen und kulturellen Kontexten und verbinden diese Beschreibung dann mit einer Idee ,,loyaler" oder ,,verbundener" Kritik, die sie einer ,,zu­schauenden" oder ,,entfremdeten" Kritik gegenOberstellen.5 Andererseits vertritt Edward Said eine konkurrierende Auffassung des Gesellschaftskritikers als untreuem Exilierten, der niemals irgendwo zuhause ist. Ftir ihn sind ,,Verbundenheit" und ,,Loyalitat" die groB­ten Feinde kritischer Sensibilitat. Andere Beschreibungen von Gesellschaftskritik als ,,randstandig" oder ,,Oberschreitend", wie sie von gegenwartigen Anhangern Foucaults vorgeschlagen werden, teilen Saids Ablehnung von Verbundensein und Loyalitat.6

Diese AusdrOcke sind doppelt irreftihrend. Erstens bestarken sie den Gedanken, dass es zwischen einer Gesellschaftskritik, die bestehende soziale Bedeutungen interpretiert, und

5 Richard Rorty, The Unpatriotic Academy, in: New York Times, 13. Februar 1994; ders., Achieving Our Country, 3-14. Ygl. auch Michael Walzer, Zweifel und Einmischung, a. a. 0., 35f.

6 Edward Said, Representations of the Intellectual, New York 1994, xvi, 32 f., 41, 102; sowie Saids Re­flections on Exile in: Reflections on Exile and other Essays, Cambridge 2000, 173--186; hier findet sich eine nachdenklichere Erorterung der Erfahrung des Exils. Skeptische Anmerkungen zu Representati­

ons of the Intellectual bringt Walzer vor in seinem Aufsatz The Solipsist as Hero, in: New Republic, 7. November 1994, 38-40. Zur Gesellschaftskritik als ,,iiberschreitend" oder ,,randstiindig" vgl. Maria Lugones, Structure/Anti-Structure and Agency Under Oppression, in: Journal of Philosophy, Jg.61, Heft2, 500-507.

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einer Kritik, die versucht, mit diesem Verstandnis zu brechen, einen eindeutigen Gegensatz gibt. Aber wenn es plausibel ist anzunehmen, dass soziale Ordnungen und individuelle Be­ziehungen zu einer Kultur durch Symbole vermittelt sind, die sich gegeniiber einer Vielzahl von Aneignungsmi:iglichkeiten offen zeigen und die eine reflexive Aneignung ermutigen, dann ist die Differenz zwischen diesen Formen von Kritik eine des Grades oder des Nach­drucks und kein einfacher Gegensatz.7 Wahrend die genaue Kombination von gesell­schaftlicher Position und Distanz von Fall zu Fall sehr stark variieren kann, sind Unzufrie­denheit und Kritik immer partiell positioniert und partiell distanziert.

In einer zweiten Hinsicht sind diese Ausdriicke deshalb irrefiihrend, weil sie unvorsich­tigerweise kritische Dispositionen mit kritischen Positionen identifizieren. Das liegt im Falle von Rorty und Walzer klar auf der Hand, die beide vie! zu einfach von Analysen der gesellschaftlichen Position des Selbst zum Lob ,,verbundener" oder ,,loyaler" Gesell­schaftskritik schreiten. Aber ganz gewiss folgt aus der Anerkennung des Umfangs, in dem Einstellungen und Uberzeugungen des Kritikers von sozialen Konventionen oder Macht­strukturen beeinflusst wurden, nicht, dass sie in eine Haltung der Loyalitat gegeniiber dieser Gesellschaft zu miinden hat. Sie kann ebenso gut eine Neigung zu Feindseligkeit, Argwohn oder Zwiespaltigkeit bestarken, ein Gefiihl der Yerunreinigung erzeugen. Ande­rerseits lauft Said Gefahr, durch enthusiastisches Preisen des Exils als einem Modell fiir den Gesellschaftskritiker die kritische Disposition insgesamt von der Anerkennung der ge­sellschaftlichen Position zu trennen. Damit lauft man Gefahr, mangelnder Selbsteinsicht und Selbstkritik auf Seiten des Kritikers Yorschub zu leisten und damit die Klarheit der Gesellschaftskritik zu beeintrachtigen.

Die Schwierigkeit liegt also nicht in den Yersuchen, die Anerkennung der gesellschaftli­chen Position oder Distanz auf Seiten des Kritikers mit irgendeiner emotionalen Disposi­tion zu verbinden. Kritiker erfahren wahrscheinlich eine Mischung widerstreitender Ge­fiihle fiir die Kulturen und sozialen Praktiken, die sie als pragend anerkennen -romantische Nostalgie, ein Gefiihl der Dankbarkeit und Verantwortung, der Belustigung, des Verdachts, der Skepsis, des Spotts, des Ekels, des Entsetzens etc. Das Problem besteht darin, dass die vorhandenen Theorien der Gesellschaftskritik die Anerkennung der gesell­schaftlichen Position zu schnell und zu umstandslos an eine bestirnmte Menge von Dispo­sitionen binden. Hiermit jedoch vereiteln sie ein Yerstandnis der Komplexitat dieser Be­ziehung und des Wertes verschiedener Stile und Perspektiven der Kritik. Im Folgenden mochte ich daher eine kurze Darstellung der Starken und Schwachen dessen geben, was ich die internalistischen und externalistischen kritischen Stile genannt habe.

II. Die kritische Perspektive des lnternalismus

Jch habe oben bemerkt, dass ein internalistischer kritischer Stil oder eine solche Perspek­tive den Gesichtspunkt eines Insiders oder Teilnehmers an einer Kultur oder Gesellschaft

7 Eine Darstellung der symbolischen Yermittlung von kulturellen Praktiken und Oberzeugungen bie­lel Paul Ricreur,Lectures on Ideology and Utopia, New York 1986; Yorlesungen 10 und 16 (i.iber Karl Mannheim) und Yorlesung 15 (i.iber Clifford Geertz) sind in dieser Frage von besonderem Interesse. Mir scheint Ricreurs Ansatz zwar hilfreich, jedoch halte ich seine Reduktion der Aneignungsformen kultureller Symbole auf die Aneignungsformen von Ideologie und Utopie fi.ir wenig liberzeugend.

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darstellt. Als eine Perspektive der Gesellschaftskritik geht die internalistische Kritik aus der Erfahrung von Individuen hervor, die diese in Bezug auf die Eingebundenheit und Teilnahme an sozialen Praktiken machen. Aus dieser Erfahrung entwickelt sich ein Gefiihl des Wertes fi.ir besondere Bindungen und Loyalitaten, und es ergeben sich aus ihnen Hin­weise auf Bedeutungen und auf das ethische Ziel dieser Praktiken. Obgleich Ahnlichkei­ten offensichtlich sind, entwickeln sich diese Gefiihle in den Individuen nicht in einer ein­heitlichen Weise. Wenn auch einige Ansichten von den meisten geteilt werden - sodass sie weitgehend fi.ir selbstverstandlich erachtet werden -, ist es mindestens ebenso bezeichnend zu entdecken, dass das von den Individuen Geteilte ein Gefi.ihl fiir die moralischen Prob­leme und Forderungen ist, denen sie in ihrer ,,Situation" gegeniiberstehen. Was sie ge­meinsam geerbt haben, ist die ,,Tradition einer Situation", um einen Begriff von Charles Taylor zu gebrauchen - ein Rahmen hervorstechender Argumente, Probleme und Wider­spriiche, wie iiberhaupt festgelegte gemeinsame Oberzeugungen.8 Innerhalb dieses Rah­mens lernen die Individuen, zu verstehen und zu formulieren, was ihnen wichtig und niitz­lich erscheint und was ihnen unertraglich ist. Zwar entsteht das Wertgefiihl typischerweise aus Erfahrungen und Verpflichtungen, die die Individuen nicht gewahlt haben. Aber den­noch ist das Wertgefiihl, das sich auf diese Weise entwickelt, hochst personlich - es liefert ein Gefiihl von ethischer Identitat, Motivation und Absicht.

Als ein Stil von Kritik ist die internalistische Gesellschaftskritik interpretierend oder ho­listisch. Dieser Stil besteht aus der Interpretation und Neuinterpretation von Bedeutungen unserer Bindungen und Praktiken, und er besteht in vertrauten ErzahJungen und kultu­rellen Symbolen. Die internalistische Kritik kann auf dreierlei Art und Weise vorgehen. Sie kann die Diskrepanzen feststellen, die zwischen dem wirklichen Funktionieren von Prak­tiken und Institutionen und den Anspriichen bestehen, die zu ihrer Rechtfertigung erho­ben wurden. Sie kann Widerspriiche innerhalb vorherrschender Auffassungen davon auf­decken, welche Bedeutung einer gesellschaftlichen Praxis oder Verpflichtung zukommt. Oder sie kann bestrebt sein zu zeigen, dass einige unserer Praktiken, Verpflichtungen und Wiinsche rnit anderen unvereinbar sind, und daraus folgern, Konsistenz fordere von uns, einige dieser Verpflichtungen neu zu interpretieren, um den Konflikt zwischen ihnen zu re­duzieren - und hierrnit auch die U nstimrnigkeit, die wir als Wirkung dieses Konflikts in uns erfahren.9

Die internalistische Gesellschaftskritik mag oder mag nicht in einem popularen Idiom formuliert werden. 10 Dies hangt weitgehend von der Natur des angesprochenen Publikums ab, dem die kritische Botschaft gilt. Ist dieses Publikum voraussichtlich die Gesellschaft als Ganzes, dann hat das gewahlte Idiom popular und vertraut zu sein. Ist das Publikum aber ein Tei! der weiteren Gesellschaft, dann kann das gewahlte Idiom spezieller oder techni­scher sein. In beiden Fallen besteht das Ziel des internalistischen Gesellschaftskritikers je­doch darin, die Oberzeugungen und Verpflichtungen, die wir bereits haben, umzuinterpre-

8 Charles Taylor, The Tradition of a Situation, in: Reconciling the Solitudes, Montreal 1993, 136. 9 V gl. in diesem Zusammenhang Anthony Weston, Subjectivism and the Question of Social Criticism,

in: Metaphilosophy, 16, Nr. l (1985), 57-61; sowie Michael Walzer, Lokale Kritik - globale Stan­dards. Zwei Formen moralischer Auseinandersetzung, Hamburg 1996, 61-68, 111-135.

10 An dieser Stelle will ich auf einige Teilabweichungen von Walzers Die Sprachen der Kritik (in: ders., Zweifel und Einmischung, a. a. 0., 20-25) hinweisen.

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here\l um aui di.e\\e We\\\e emofamale\l Halt ill uru:.ere\l w\rkliche\l WU\l\\che\l \l\ld Moh­vationen zu finden.n Internalistische Kritik hat deshalb, wie Michael Walzer bemerkt, einen explizit ,,moralischen Charakter".12 Sie beruft sich auf moralische Ubereinkiinfte und verwendet starke ethische Begriffe wie ,,Giite", ,,Gerechtigkeit", ,,das Bose", ,,Ver­derbtheit", ,,Brutalitat", ,,Demi.itigung" etc. Und wo dies fi.ir die Aufgabe der Gesell­schaftskritik relevant ist, kann die internalistische Kritik bestimmte Interpretationen die­ser Begriffe analysieren und fi.ir sie eintreten. All dies steht im Gegensatz zu esoterischeren Kritikformen, die sich nicht direkt mit wirklichen ethischen Dbereinkiinften auseinander setzen. Es ist das Kennzeichen internalistischer Gesellschaftskritik, dass sie sich explizit auf gebrauchliche moralische Ansichten und Begriffe beruft und sich mit ihnen auseinander setzt. Es ist ihre Aufgabe, uns einen moralischen Spiegel vorzuhalten; sie muss daher si­cherstellen, dass wir fahig sind, das Bild im Spiegel als unser eigenes anzuerkennen.

Aus der Vorstellung, dass internalistische Gesellschaftskritik einen eigentiimlichen Stil besitzt, sollten wir nicht folgern, dass dieser Stil vie! Uber die Stimmungen sagt, die typi­scherweise von ihm ausgedriickt werden.13 Tatsachlich variiert die Stimmung internalis­tischer Kritik stark und kann die Nachaffung von Satire oder Ironie, die Leidenschaft der Prophetie, die Ernsthaftigkeit des ,,Laienpredigers", die Nostalgie der Erinnerung etc. umfassen. In all diesen Stimmungen gibt es vielleicht einen Grad von ,,hermeneutischer Generositat", der darauf abzielt, etwas von Wert in den wirklichen Verpflichtungen und Selbstverstandnissen der Menschen zu finden.14 Manchmal kann dem Kritiker jede starke Form dieser Verpflichtung moralisch oder strategisch kostspielig erscheinen; daher die scheinbar natiirliche Meinung, dass die Gesellschaftskritik distanziert oder entfremdet zu sein hat. Die internalistische Gesellschaftskritik hat aber auch ihre vorteilhaften Seiten -motivierende, strategische und ethische.

Um iiberhaupt gehort zu werden, um im Stande zu sein, eine Reihe von Ubeln oder Miss­brauchen umfassend zu identifizieren, muss ein Kritiker einen Sinn fi.ir die gesellschaftliche Positionierung in einer Kultur, in einer Institution oder an einem Ort entwickeln, und er muss fahig sein, sich auf diesen Sinn zu stiitzen und ihn seinem Publikum zu vermitteln. Zurn Teil ist dies eine Frage des Vorstellungsvermogens und der Motivation. Jemand, der sich bewusst ist, von bestimmten gesellschaftlichen Konventionen und Praktiken beeinflusst

11 Anthony Weston, a. a. 0., 59. Weston stiitzt sich hier auf die Arbeit von Richard Brandt. 12 Michael Walzer, Zweifel und Einmischung, a. a. 0., 20 f. 13 Auch hier grenze ich mich von der eher gehobenen Darstellung der Stimmung der intemalistischen

Gesellschaftskritik ab, wie sie Walzer und Rorty bieten. Rorty beschreibt diese Form von Kritik als eine Angelegenheit von ,,anregenden Geschichten", die erzahlt werden, und stellt dieser den Ton der ,,Selbstbelustigung" oder auch des ,,Selbstekels" gegeniiber, die er als unangemessen fiir die Gesellschaftskritik erachtet. Meiner Ansicht nach muss ein Kritiker, der eine internalistische Per­spektive einnimmt, noch lange keine ,,anregenden Geschichten" erzahlen, obgleich die eine oder andere Situation eben diese Stimmungstonung erfordern mag.

14 Der Ausdruck stammt von Ronald Beiner; vgl. sein Hermeneutical Generosity and Social Criticism, in: Philosophy in a Time of Lost Spirit: Essays on Contemporary Theory, Toronto 1997, 151-166. Bei­ner benutzt diesen Ausdruck in seiner Erorterung von Taylors Konzeption der kritischen Rolle der Philosophie, um zu verdeutlichen, dass dieses Moment des ,, Verstehens" bei Taylor allzu oft dem Moment des kritischen Urteils widerstreitet.

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zu sein, wird wahrscheinlich eher i.iber die notwendigen Begriffe fi.ir eine kritische Diskus­sion verfi.igen, und es ist wahrscheinlicher, dass er sich von diesen Praktiken gesti.itzt (oder verraten) fi.ihlt und die notwendige Leidenschaft zur Gesellschaftskritik besitzt.

Aber das Bedi.irfnis des Kritikers nach einem Sinn der gesellschaftlichen Positionierung ist auch eine strategische Frage. Um wirksam zu sein, muss ein Kritiker sich auf die Ideale und Einstellungen sti.itzen, die fi.ir das in Frage kommende Publikum bedeutungsvoll sind und an die es eine gewisse Bindung hat. Versaumt der Kritiker dies, riskiert er, dass er die eigene Botschaft erhabener Vergessenheit oder bloBem literarischen Interesse i.ibergibt -dies war das Schicksal der Russischen Intelligentsia im 19.Jahrhundert und vielleicht auch das Schicksal von Henry Adams Kritik der demokratischen Gesellschaft im Amerika des spaten 19. Jahrhunderts. Betrachten wir im Gegensatz dazu Michael Walzers Nacherzah­lung des ,,diesseitigen" Berichts der ,,Errettung oder Befreiung" in der Exodusgeschichte, die sich auf einen Text sti.itzt, der groBen Einfluss auf die westlichen Vorstellungen von Be­freiung ausi.ibte und der weiterhin eine zentrale kulturelle und politische Rolle im gegen­wartigen Israel spielt: Walzers Arbeit an diesem Text scheint weniger eine Arbeit aus Liebe zu dieser Geschichte zu sein als vielmehr das Resultat eines Sinns fi.ir die strategische Be­deutung dieses Textes fi.ir sakulare Radikale und religiose, orthodoxe Israelis. Da er ge­fahrliche messianische Tendenzen im Denken und in der Praxis beider Gruppen aufdeckt und diese Tendenzen zu bekampfen wi.inscht, erarbeitet Walzer seine Kritik in Form einer Neuinterpretation der Exodusgeschichte - einer Geschichte, die fi.ir beide Gruppen eine zentrale Bedeutung besitzt. 15

SchlieBlich besteht der kritische Wert der Ausbildung eines Sinns fi.ir die gesellschaftli­che Positionierung in dessen ethischer Dimension. Es hat niemals einen Mangel an Kriti­kern gegeben, die beanspruchten, ein Monopol auf die Wahrheit zu haben. Besonders im 20. Jahrhundert hat die Idee des Fi.ihrer-Intellektuellen, ausgestattet rnit der Autoritat und Fahigkeit, die widerspenstigen Massen zu fi.ihren und zu lenken, zuweilen einen hohen Preis an Freiheit und Menschenleben gekostet. Zu groBe kritische Distanz kann genauso gefahrlich sein wie zu geringe. Bedenklich ist, dass Kritiker, die glauben, dass ihre Kritik die Wahrheit i.iber die Gesellschaft ausdri.ickt, wenig Grund haben, den wirklichen Wi.in­schen der Menschen Gehor zu schenken; diese konnen als ideologische Verzerrungen ver­worfen werden. Unter bestimmten Umstanden kann dies eine manipulative politische Pra­xis im Namen eines hoheren Wertes ohne Ri.icksicht auf die erklarten individuellen Prioritaten bestarken, obgleich wir anmerken sollten, dass internalistische Kritiker, die be­anspruchen, uns i.iber die _wahren Bedeutungen unserer sozialen Praktiken aufzuklaren, auch nicht gegen manipulative Tendenzen immun sein mi.issen.

Eine andere Sorge besteht darin, dass exzessive Distanzierung das kritische Vorstel­lungsvermogen beeintrachtigen kann. Weitblick ist manchmal ein Vorteil, aber er kann auch den Blick auf das Naheliegende verstellen. In dieser Hinsicht ist es interessant, die Kritik der Frankfurter Schule an der Ausbildung des Warencharakters rnit der Sympathie zu vergleichen, die Orwell in The Road to Wigan Pier rnit den Bindungen der gewohnli­chen, arbeitenden Bevolkerung an ihre gewohnliche Habe und ihre Vergni.igungen aus­dri.ickt. Orwell verstand, wie nur wenige seiner Zeitgenossen auf der Linken, dass diese ge-

15 Ygl. Michael Walzer, Exodus und Revolution, Berlin 1988, 13-27.

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wohnlichen Freuden und Bestrebungen die englische Arbeiterklasse zu einem unwahr­scheinlichen Kandidaten fiir den revolutionaren Erfolg machten. Gleichwohl brachte ihn dies nicht dazu, in ganzlichen Pessin1ismus iiber die Moglichkeiten politischer Veranderung zu verfallen, wie dies einige auf der Linken taten, die widerwillig dahin gelangten, seine Schliisse iiber die Einstellungen der Arbeiter zu teilen. Auch war Orwell nicht versucht, die alltaglichen Freuden als reine Erfindungen zum Zweck der sozialen Kontrolle zu denun­zieren. Im Ergebnis waren Orwells politische Erwartungen der Arbeiterklasse gegeniiber meines Erachtens zu alien Zeiten weniger stark von Selbsttauschung gepragt als die seiner Zeitgenossen. 16 Der zentrale Gedanke besteht darin, dass die Absicht, die Menschen und ihre Praktiken von au/Jen und aus einiger Entfernung zu sehen, dazu fiihren kann, wichtige Aspekte in1 Leben der Menschen zu ignorieren, Aspekte, bei denen sich herausstellen kann, dass sie von politischer Bedeutung sind. Manchmal ist es eben wichtig fiir einen Kri­tiker, gesellschaftliche Praktiken von innen zu untersuchen.

Ill. Kritische Perspektiven des Externalismus

Es ware jedoch falsch zu behaupten, dass die Absicht zur kritischen Distanz einfach ein Pehler oder das Ergebnis arroganter intellektueller Anspriiche ist. Tatsachlich wird der An­trieb zur Distanzierung, anders als die Ausbildung eines Sinns fiir gesellschaftliche Positio­nierung, haufiger als unbedingt erforderlich fiir die Gesellschaftskritik angesehen, und aus diesem Grund neigt sie vielleicht dazu, in raumlichen Metaphern verstanden zu werden . Der Wunsch, aus der gesellschaftlichen Hohle zu treten, dem Einfluss der Stammesidole zu entkommen, ist Teil eines gleichermaBen natiirlichen wie unerlasslichen Bestrebens, die Irrtiimer und Verzerrungen, die mit besonderen Beziehungen verbunden sind, zu vermei­den. Manchmal kann das auf ein Verlangen nach deutlicher und tiefer Erkenntnis zuriick­gehen und auf den Wunsch, unbequeme Wahrheiten nicht zu verleugnen.17 Dies ist Tei! der urspriinglichen philosophischen Absicht, einen klaren und unverzerrten Blick auf die mensch lichen Verhaltnisse zu gewinnen, und es ist ein Bereich, in dem Philosophie und Ge­sellschaftskritik sich oft als argwohnische und als ziemlich schlecht zusammenpassende Bettgenossen erweisen. Es ist kein Zufall, dass wir uns an William Cobbett oder George Orwell nicht als groBe politische Theoretiker erinnern, die uns umfassende und neue Er­kenntnisse des politischen Lebens erschlossen. Solche Kritiker sind vie! zu interessiert daran , die Struktur einzelner Praktiken und Obel zu erfassen, um auf der allgemeinen Ebene zu wirken, die fiir die politische Theorie charakteristisch ist. Im Gegensatz dazu wol­Jen sich externalistische Gesellschaftskritiker iiber und jenseits von bestehenden Ansich­ten und Verpflichtungen bewegen und sie durch genauere Auffassungen ersetzen. Zurn Beispiel muss die Rede iiber Moralitat in die einfachere Sprache der Ni.itzlichkeit i.ibersetzt werden. Unklare literarische Beschreibungen der mangelnden Obereinstimmung zwischen Individuen und ihren Gesellschaften mi.issen in das Vokabular von lch, Es und Ober-lch

16 Vgl. George Orwell , The Way to Wigan Pier, New York 1958, 88-90. 17 Alan Wolfes Erorterung des ,,realistiscben" Stils der Gesellschaftskritik, die er mit der erkliirenden

Sozialwissenschaft verkntipft, bietet uns das gleiche Anliegen von Seiten eines zeitgenossischen So­ziologen. Vgl. Alan Wolfe, Marginalized in the Middle, Chicago 1996, 37-39 und 46--51.

560 Jonathan Allen, Zwei Perspektiven der Gesellschaftskri tik

tibertragen werden, und die Komplexitat von Geschichte und Kultur muss in Begriffen des Klassenkampfes und der Ideologie verstanden werden.

Externalistische Gesellschaftskritik kann manchmal weniger von der Absicht motiviert sein, einen aufgeklarten Blick auf das soziale Verhalten zu erlangen, als von der Absicht, einen ,,unpersi:inlichen Standpunkt" einzunehmen, von dem aus meine eigenen besonde­ren Plline, meine idiosynkratischen Auffassungen von Wert, Vergntigen etc. zusammen mit denen anderer Individuen auf Grund unparteilicher Kriterien beurteilt werden ki:innen. Dieses Bestreben wird angetrieben von einem Gefilhl moralischer Gerechtigkeit. Thomas Nagel behauptet folglich , dass ich mit der Einnahme des unpersi:inlichen Standpunktes nicht irgendwie zu wissen aufhi:ire, dass eine besondere Perspektive in der Welt meine eigene ist. Yielmehr lasse ich diese Tatsache beiseite, und durch einen Prozess der Ab­straktion von meinen eigenen besonderen Verpflichtungen, Angelegenheiten und Wtin­schen gelange ich dazu anzuerkennen, dass auch andere weitgehend ahnliche Projekte und Gefilhle haben, und dass ,,das Leben eines jeden zahlt, und niemand wichtiger als der an­dere ist" .18

Yerschiedene Debatten der jtingsten Zeit innerhalb der politischen Theorie haben die Frage ins Zentrum gertickt, wie erfolgreich derartige Prozesse der Abstraktion von beson­deren Bindungen eigentlich sein ki:innen. Kritiker dieser Sichtweise erheben manchmal den Einwand, es sei nicht mi:iglich, einen ,,unpersi:inlichen Gesichtspunkt" einzunehmen. Yielmehr wtirden entsprechende Versuche ihre partikularen Ansichten und Yerpflichtun­gen einfach als universale und unparteiliche moralische Wahrheiten ausgeben. Mir scheint, dass im Kontext der Diskussion Uber Gesellschaftskritik die eigentliche Antwort auf diese Art von Einwand darin besteht zuzugeben, dass er wirkliche Oberzeugungskraft besitzt. Gesellschaftskritiker sollten sensibel dafilr bleiben, bis zu welchem Grad ihre Versuche, zu unpersi:inlichen und aufgekllirten Ansichten der Welt zu gelangen, parteiisch und begrenzt bleiben; sie sollten keine Angst davor haben, die Mi:iglichkeit von Befangenheit und Yer­zerrung in ihren Urteilen einzuraumen. Das heiBt aber nattirlich nicht, dass jeder Grad der Abstraktion von persi:inlichen Bindungen und Projekten unmi:iglich ist oder dass die A b­sicht, eine solche Position einzunehmen, ein Missverstandnis darstelle oder wertlos sei. Dieser Typ externalistischer Gesellschaftskritik mag in mancher Weise problematisch sein, und er mag nicht ganzlich realisierbar sein. Aber damit ist noch nicht gesagt, dass ihm kein Platz in der Praxis der Kritik zusteht.

Die externalistische Geseilschaftskritik kann von der Absicht gepragt sein, eine unver­zerrte, allgemeine und unparteiliche Ansicht der sozialen Welt zu erreichen. Aber sie kann ebenso gut durch eine andere Art von Distanzierung motiviert sein: vom Yerlangen nam­lich, anders zu sehen oder den Standpunkt der Marginalisierten einzunehmen. Manchmal drangt sich einem eine exzentrische Sicht auf die Gesellschaft auf. Manchmal muss ein vi:il­lig privilegierter Kritiker sich um sie bemtihen, obgleich diese Kritiker oft durch gewisse Erfahrungen ein Gefilhl ftir die Absurditaten ihrer gesellschaftlichen Lage entwickeln ki:innen. Auch kann eine Kombination solcher Erfahrungen wirksam sein.

So erinnert sich Vaclav Havel daran, dass er sich als Konsequenz seiner Zugehi:irigkeit zu einer privilegierten Familie von seinen Mitstudenten entfremdet filhlte: ,,[I]ch filhl te

18 Vgl. Thomas Nagel, Equality and Partiality, Oxford 1991, 11.

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mich ,auBerhalb', ausgeschlossen, gedemtitigt <lurch meinen hoheren Status" .19 Aber er en­det damit, dass sich diese Erfahrung ftir seine zuktinftige Karriere als Dramatiker und Ge­sellschaftskritiker als wertvoll erwiesen habe: ,,Was sonst als ein tiefes Geftihl des Ausge­schlossenseins kann eine Person besser befahigen, die Absurditat der Welt und der eigenen Existenz zu sehen? [ ... ] Offensichtlich hat sich das GeftihJ des Ausgeschlossenseins ohne eigenes Verschulden, sowohl in der Kindheit als auch spater, als ich aktiv verfolgt wurde, am Ende als produktiv herausgestellt."20 Von Havel kann gesagt werden, er habe sich das anfangliche Schicksal des Ausgeschlossenseins oder des Marginalisiertseins angeeignet und ihm literarische und kritische Form verliehen.

Es ist schwer vorstellbar, wie das kritische Unternehmen tiberhaupt in Gang kommen konnte, wtirde es nicht eine gewisse Anregung <lurch den Blick erfahren, der die Gesell­schaft von einem ungewohnlichen oder ungerechtfertigterweise vernachliissigten Blick­winkel her betrachtet. Genau wie in den unpersonlichen Formen der Distanzierung, kon­nen sich Kritiker nattirlich Uber das AusmaB tiiuschen, in dem sie wirklich marginalisiert sind oder in dem sie sich erfolgreich mit marginalen Individuen und Gruppen identifiziert haben. Wie bereits gesagt, heillt das jedoch nicht, dass dem Versuch, eine Position an den sozialen Randern einzunehmen oder sie sich vorzustellen, kein Wert zukommt und keine notwendigen und anderweitig nicht erreichbaren kritischen Einsichten hervorbringt.

Diese drei Formen des Strebens nach einer externalistischen Kritik haben ihre stilis­tischen Begleiterscheinungen. Die externalistische Kritik der ersten beiden Arten nimmt, anders als die internalistische Kritik, wahrscheinlich einen technischeren und ,,wissen­schaftlicheren" Ton und das entsprechende Vokabular an. In der Tat ist es in beiden Fallen unumganglich, dass die Sprache der Teilnehmer <lurch ein anderes, ,,klareres", sparsame­res oder genaueres Vokabular ersetzt wird. Es gibt jedoch einen bedeutenden Unterschied

· zwischen diesen zwei Form en externalistischer Kritik. ,, Wissenschaftlicher" Externalismus kann normative Diskussionen insgesamt zu vermeiden suchen. Eine Art trockene Esote­rik kann hier zutage treten, und der Kritiker kann die Maske des wissenschaftlichen Be­obachters aufsetzen, um explizit moralische Argumente zu verdrangen oder zu umgehen. Dies gilt sowohl ftir Marx wie in mancher Hinsicht ftir Michel Foucault. Andererseits bleibt der Externalismus der unpersonlichen Moralitat durchgehend normativen Diskussionen und Argumenten verpflichtet.

Der Antrieb zur Distanzierung und Trennung sowie die Wahl einer externalistischen Ge­sellschaftskritik an Stelle des Modells der internalistischen Kritik, wie sie oben skizziert wurde, kann noch in anderer Weise entstehen. Es gibt Zeiten im Leben der reflektiertesten und moralisch bewusstesten Menschen, in denen uns gewisse Aspekte unserer Gesell­schaften mit Abscheu erftillen. Wir wollen nicht mit ihnen in Verbindung gebracht werden, wir wollen uns von ihnen distanzieren, um ihren entstellenden Einfluss auf unser Leben aufzudecken und um sie dadurch umso wirksamer zu beseitigen. Wie im Fall der ersten bei­den Formen der externalistischen Kritik, findet der Externalismus des absichtlichen Exils einen stilistischen Ausdruck - aber wahrend er mit dem wissenschaftlichen Externalismus gelegentlich die moralische Rede und die Esoterik vermeidet, ist es wahrscheinlicher, dass

19 Vaclav Havel, Disturbing the Peace, New York 1991, 5. 20 Ebd. ,6.

562 Jonathan Allen, Zwei Perspektiven der Gesellschaftskritik

er auf eine leidenschaftliche Rhetorik zurtickgreift oder sein Publikum von dessen fest ge­fi.igtem Selbstverstandnis fortlockt. Dies kann er zum Beispiel erreichen, indem er ihm die fremdartige Schonheit der Oberschreitung vor Augen fi.ihrt, mit trostlosen Beschreibungen der sozialen Kontrolle Angst und Abscheu in ihm hervorruft oder es mit indirekten An­spielungen und kontraintuitiven Yergleichsbildern aufri.ittelt.21 Der Externalismus des ab­sichtlichen Exils ist oft, aber nicht immer mit dem Externalismus der Marginalitat verbun­den; er kann in seinen Bestrebungen und AuBerungen auch ohne solche Verbindungen bleiben.

In all ihren Formen kann die Erwiderung des externalistischen Kritikers auf einen als bose, verzerrend oder tauschend wahrgenommenen Kontext zerstOrerische Form anneh­men; sie kann zu Selbsthass und zur versuchten totalen Ablehnung vergangener Identita­ten fi.ihren, oder es kann zu tragischen Gesten des Selbstopfers oder des Selbstexils kom­men. Wir sollten aber auf keinen Fall daraus schlieBen, dass solche Entscheidungen irnmer auf perverse Weise selbstgefi:illig oder selbstaufopfernd sind und dass sie niemals moralisch gerechtfertigt sein konnten. Zu oft ist das Schicksal der ,,schonen Seele" tragisch. Aber es mag doch bewundernswert sein oder wenigstens notwendig.

Wie es strategische Grtinde fi.ir die Ausbildung eines Bewusstseins gesellschaftlicher Po­sitionierung gibt, so kann die Absicht, eine externalistische Kritik zu formulieren, von stra­tegischen Oberlegungen des rhetorischen Erfolges motiviert sein. Wahrend es manchmal, um sich GehOr zu verschaffen, notig ist, sich auf vertraute Selbstbilder oder Oberzeugun­gen zu berufen, mag der Schock des Neuen oder die Herausforderung gewohnter Einstel­lungen zu anderen Zeiten wirksamer sein, um die Menschen aus ihrer moralischen Selbst­gefi:illigkeit zu rtitteln. Ein faszinierendes Beispiel bietet dafi.ir der si.idafrikanische Dichter und Dissident Breyten Breytenbach, der zunachst seine herausragende SteUung als in Afri­kaans schreibender Dichter benutzte (instrumenteU zur Formung und Erweiterung der von den Afrikaander-Nationalisten hochgeschatzten Sprache), um Eigenschaften der na­tionalistischen Identitat anzugreifen. Dann jedoch ,,entsagte" er auf Grund moralischer und strategischer Oberlegungen offentlich seiner Afrikaansidentitat und weigerte sich fi.ir den groBten Tei! der achtziger Jahre des 20. Jahrhunderts, in Afrikaans zu schreiben. Es liegt ohne Zweifel etwas Zwanghaftes und wenig Oberzeugendes in diesem Yerzicht, und Breytenbach ist seither zu seiner fri.iheren Praxis zuri.ickgekehrt, in seiner ,,Heirnatspra­che" zu schreiben. Aber die personlichen und ki.instlerischen Kosten dieser Verweigerung sollten nicht unterschatzt werden. Und auch die Bedeutung der Geste blieb nicht ohne Eindruck auf den Apartheid-Staat oder die nationalistischen Bewacher der Kultur. In stra­tegischer und vielleicht auch in moralischer Hinsicht ist Breytenbachs temporare Ent­scheidung zu kritischer Distanz verni.inftig und vertretbar.22

21 Natiirlich denke ich bier vor allem an Michel Foucault. 22 Vgl. Michael Walzer, Zweifel und Einmischung, a. a. 0. , 287-306. Walzer scheint bemUht, Breyten­

bach als ,,verbundenen Kritiker" darzustellen, den nur die Umstande in Distanz und Exil getrieben haben. Damit wird freilich Breytenbachs Wunsch nach Einbindung in ein umfassenderes SUdafrika vernachlassigt. Auch seinem damaligen Zorn gegenUber den kulturellen Institutionen der Afri­kaander wird man hiermit nicht gerecht. Zudem batten auch einige verhaltnismaBig aufgeklarte na­tionalistische Denker eine lojale kritiek entworfen. Breytenbach verwarf <las ganz bewusst, wenn

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Ich habe hier vier Typen externalistischer Kritik vorgestellt: den Externalismus der wis­senschaftlichen Distanzierung, der unpersonlichen Gerechtigkeit, der Marginalitat und des absichtlichen Exils. Obwohl ich denke, dass diese vier Versionen der externalistischen Per­spektive einige zentrale ethische und strategische Motivationen der Kritiker einfangen, die den Externalismus unterstreichen, glaube ich nicht, eine erschopfende Typologie der ex­ternalistischen Perspektive vorgelegt zu haben. Es mag sehr wohl andere Versionen geben, die hier nicht erwahnt wurden. Ich hoffe, gezeigt zu haben, <lass die Motivationen, die den Externalismus speisen, komplex sind und nicht einfach im Streben nach einer unanfecht­baren ,,gottlichen Sicht der Dinge" grUnden. Ich gebe zu, dass diese Arten des Externalis­mus in der Praxis oft - vielleicht meistens - in der einen oder anderen Kombination vor­kommen, genauso, wie sie gewohnlich mit einer internalistischen Perspektive verknUpft oder vermengt sind.23 Dennoch scheint es der MUhe wert, sie zu unterscheiden, um sich Uber die verschiedenen Motivationen, die den Kritiker zum Externalismus treiben, be­wusst zu werden, und ebenso Uber die verschiedenen Starken und Schwachen dieser kriti­schen Stile.

IV. Schluss

Diese kurze Erorterung muss als eine erste Annaherung an die Schwierigkeiten des Stand­orts und der Distanz, an die Starken und Schwachen der internalistischen und externalis­tischen Gesellschaftskritik genUgen, mit denen Gesellschaftskritiker konfrontiert sind. Zurn Schluss mochte ich vier zentrale Punkte dieser Darstellung hervorheben. Erstens: Die Absicht der Darstellung der Gesellschaftskritik, die ich bier prasentiert babe, besteht darin, die ,,Praktik" der Gesellschaftstheorie zu beleuchten, uns daran zu erinnern oder uns klarer sehen zu !assen, was wir eigentlich tun, wenn wir Gesellschaftskritik betreiben. Keineswegs soil ein Stil von Gesellschaftskritik einem anderen abstrakt vorgezogen wer­den; in der Tat glaube ich, dass die Meinung, es gabe einen abstrakten oder allgemeinen Gegensatz zwischen den beiden Stilen oder Perspektiven, wenig Sinn macht. Vielmehr ent­stehen Gegensatze zwischen den beiden Perspektiven unter besonderen Umstanden, und das genaue Gleichgewicht und die Art und Weise der Kombination von internalistischer und externalistischer Kritik ist daher zum groBen Tei! eine Sache der kontextuellen Be­wertung <lurch die Gesellschaftskritiker. In der Formulierung solcher Bewertungen sollten Kritiker, die die Arten von strategischen Oberlegungen der Effektivitat, Struktur und Klar­heit, die ich hier erwahnt habe, in Erwagung ziehen (und das tun sie ja im Allgemeinen), auch den ethischen Entscheidungen und Gefahren begegnen, die das Hervorheben sowohl internalistischer als auch externalistischer Kritik beinhaltet. Modelle von Gesellschaftskri-

23

auch nicht ganz ohne Ambivalenz. Eine andere Sicht auf Breytenbachs ziemlich tragische Laufbahn bietet Lawrence Weschler, Calamities of Exile: Three Nonfiction Novellas, Chicago 1998. Internalistische und externalistische Perspektiven konnen miteinander zusammenhangen oder sich vermischen. Die Satire etwa beruft sich auf feststehende ethische Ansichten, wahrend sie zugleich allzu selbstsichere ethische Bindungen untergrabt. Und die Persischen Briefe Montesquieus bieten eine faszinierende Mischung von Internalismus und Externalismus. Sie bewegen sich vom einen zum anderen: Montesquieu kritisiert seine eigene Gesellschaft aus der Sicht der ,,Perser", wahrend er die ,,Persische Kultur" wiederum mit einem aufkliirerischen Ausblick konfrontiert.

564 Jonathan Allen, Zwei Perspektiven der Gesellschaftskritik

tik sollten uns darin unterstiitzen, die Auswirkungen unserer Entscheidungen und die Ri­siken zu erkennen. Sie soil ten nicht unser Verstandnis davon blockieren.

Zweitens: Gleich, ob der kritische Nachdruck auf die internalistische oder die externalis­tische Kritik gelegt wird, immer sind Gewinne und Kosten, Vorteile und Nachteile damit verbunden. Klarheit oder Einfachheit der Einsicht und der unpersonlichen Gerechtigkeit sind oft auf Kosten der Struktur und Effektivitiit erworben. Andererseits kann, was ich als die ,,Generositat" des internalistischen Kritikers beschrieben babe - seine Bereitschaft, sich direkt auf lokale Oberzeugungen und Praktiken einzulassen und einige davon als Hin­tergrund seiner Kritik zu akzeptieren -, ihn anfallig fiir Forderungen machen, im Namen der Loyalitiit zu schweigen. Oder sie kann ihn jenen entfremden, gegen deren ungerechte Behandlung er sich wendet, und ihn zu sehr in genau jene Obel verstricken, die er zu de­nunzieren wiinscht. Es ist nicht einfach, sich bier zu entscheiden.

Drittens: Obwohl internalistische und externalistische Kritik in ihren extremen Formen und in einigen Kontexten Gegensiitze biJden konnen , sollte diese Opposition besser ver­standen werden als eine Frage konfligierender Wahlmoglichkeiten beziiglich der Gewich­tung denn als vollstiindige Antithese. lch babe angedeutet, dass es ein Moment kritischer Distanz in alien bewussten gesellschaftlichen Beziehungen gibt und dass dieses Moment tatsachlich von der symbolischen und bedeutsamen Struktur sozialer Praktiken und kultu­reller Artefakte unterstiitzt wird. Wenn das der Fall ist, dann beinhaltet die internalistische Gesellschaftskritik Momente und Mittel der Entfremdung, ebenso wie die externalistische Kritik sich nicht von Mitteln der Gewohnung befreien kann. Die interessanten Fragen lau­ten, ob der Kritik diese notwendig doppelte Angewiesenheit bewusst ist und wie die Kom­bination und Nebeneinanderstellung von Stilen und Perspektiven in jedem Fall von Ge­sellschaftskritik erreicht wird. Nach meinem Dafiirhalten macht die Gesellschaftskritik dann Fortschritte, wenn sich ihre Autoren sowohl ihres unvermeidbaren Vertrauens auf in­ternalistische und externalistische Perspektiven als auch der dringenden Notwendigkeit bewusst sind, die Pehler jeden Stils mit den Tugenden des anderen zu korrigieren.

SchlieBlich babe ich versucht anzudeuten, dass internalistische und externalistische Kri­tiken am besten als Perspektiven verstanden werden, die innerhalb des individuellen Selbst entstehen. Dieser Gedanke wird in der gegenwartigen Literatur manchmal von der Ten­denz verdeckt, sich bei der Diskussion dieser Perspektiven auf riiumliche Metaphern zu stiitzen. lch fand diese Metaphern natiirlich auch niitzlich. Aber sie verleiten uns dazu, iiber Gesellschaftskritik in Begriffen struktureller oder gar geographischer Ortlichkeit oder Distanz nachzudenken. Dies ist nicht immer irrefiihrend - das Exil zum Beispiel ist ein Zustand physischer Entfernung von einem Land. Aber wiihrend strukturelle Ortlich­keit und Distanz einigen Einfluss auf die kritische Botschaft haben , ist psychische oder in­nere Orientierung in jeder Hinsicht genauso wichtig. lch babe behauptet, dass unsere Auf­fassungen vom Selbst und vom Wert eng mit unserer Auffassung des gesellschaftlichen Kontextes zusammenhangen; im Entwickeln und Aneignen dieses Sinns von Identitat und dem, was fiir uns wichtig ist, werden wir gestOrt und bleiben manchmal angesichts der An­forderungen, die von internalistischen und externalistischen Gesellschaftskritikern gestellt werden, wie angewurzelt stehen. Und diese Anforderungen treten natiirlich (obwohl wir sie vielleicht unterdriicken mogen) im Prozess der Selbstreflexion auf. Gesellschaftskritik und die gewohnliche Erfahrung von Selbstkritik konnen rniteinander verbunden sein, ob­gleich Selbstkritik natiirlich nicht immer in Gesellschaftskritik miindet (sie kann sich

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ebenso in individueller moralischer Veranderung oder Therapie auBern). Theorien der Ge­sellschaftskritik beweisen selten einen Sinn fiir die inneren Erfahrungen des Selbst, die sich mit der Gesellschaftskritik verbinden - Unsicherheit, innerer Aufruhr, Argwohn, Ironie, Scham, Schuld, Begehren, utopische Sehnsucht, das Streben nach reiner Erkenntnis und Freiheit von entstellenden Verstrickungen. Ich glaube, dass diese Lticke zu Unrecht besteht und ein eher eindimensionales und mechanistisches Bild von Gesellschaftskritik begtins­tigt. Ftir die Theorien der Gesellschaftskritik ware die Berticksichtigung der Moralpsycho­logie und der ,,psychischen Okonomie" des Selbst sowohl der Kritiker als auch der Emp­fanger der kritischen Botschaft von auBerordentlichem Nutzen.24 Ich kann eine solche Theorie hier nicht entwickeln. Aber ich hoffe, dass meine Oberlegungen zumindest die Notwendigkeit einer solchen Theorie aufgezeigt haben.

Aus dem Amerikanischen von Jurgen Brenner

Prof Dr. Jonathan Allen, University of Illinois at Urbana-Champaign, Department of Politi­cal Science, 361 Lincoln Hall, 702 South Wright Street, Urbana, IL 61801-3696, USA

24 Der Begriff der ,,psychischen Okonomie" stammt von C. Fred Alford, The Self in Social Theory, New Haven 1991, 22. Hans Joas' Buch Die Entstehung der Werte (Frankfurt/M. 1999) bietet einige hilfreiche Reflexionen Uber die Entstehung von Werten aus Erfahrungen innerhalb des Selbst, die dennoch Uber die innere Erfahrung hinausreichen.

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